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VOLKER KLOTZ

Über den Umgang mit Karl May ·
Unter anderm: psychoanalytisch: unter anderm *



V o r b e m e r k u n g

Es geht darum: Voraussetzungen, Ziele und Verfahren beim (nicht nur lesenden) Umgang mit Karl May öffentlich und gemeinsam zu erörtern. S c h i e f liefe diese Unternehmung, wenn sie ausarten würde:

- zur selbstzwecklichen Methodendiskussion schierer Wissenschaftstheorie unter Fachsimplern.

- zum zähnefletschenden Bekennen und Verschanzen des je eigenen Standpunkts.

- zum unverbindlichen Alles-Gelten-Lassen, das Toleranz verwechselt mit Beliebigkeit.

Die drei genannten Gefahren sind nicht aus der Luft gegriffen. Dazu ein paar Bemerkungen. Zu s e l b s t z w e c k l i c h e r   M e t h o d e n d i s k u s s i o n ist etwas ausgeartet, was vor 20 Jahren zumal in der Literaturwissenschaft dringend nötig war und immer noch nötig ist: zu klären, wie und wozu man sich denn mit Literatur wissenschaftlich befassen solle -namentlich in einer öffentlich geförderten und öffentlich verpflichteten Einrichtung wie der Universität. Solche nötigen Klärungen entfernten sich jedoch alsbald in immer abstraktere Theoriengefilde, die wenig mehr zu tun hatten mit der konkreten Ausgangsfrage.

Z ä h n e f l e t s c h e n d e s  B e k e n n e n  u n d  V e r s c h a n z e n sehe ich dort am Werk, wo der eigene durchaus sinnvolle Standpunkt apologetisch verfochten wird. So in den folgenden Sätzen eines profilierten May-Forschers, dessen polemischer Schwung mir ebenso viel ästhetisches Vergnügen wie Mißbehagen in der Sache bereitet:

* Vortrag gehalten auf der Tagung der Karl-May-Gesellschaft zu Hannover am 27. Oktober 1979


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»Daß die psychoanalytische Methode das literarische Werk wie Anamnesematerial behandelt und ihm Erkenntnisse über das Unbewußte seines Urhebers abzugewinnen weiß, begegnet heute noch immer stark formulierten Einwänden und Widerständen. Deren affektive Besetzung ist freilich zu auffallend, als daß sie mit ihr nicht zugleich entkräftet sein müßten; aber auch wo ihnen die intellektuale Deckbegründung gelingt, wird, wer zu einiger Einsicht in die seelische Grundmechanik schöpferischer Prozesse gelangt ist, nicht zögern, sie zu verwerfen« (Jahrbuch 1972/73, S. 11). Abgesehen, daß davon keine der vorgebrachten Behauptungen belegt wird, heißt das doch wohl: mögliche Einwände gegen das eigene Vorgehen - das literarische Werk gleichzusetzen mit den unliterarischen Äußerungen des lebenden Autors innerhalb einer psychoanalytischen Behandlung -, sind befangen, mithin sachlich nicht stichhaltig; desto stichhaltiger das Vorgehen, gegen das sie sich wenden. Wenn ich hier gerade auf Hans Wollschläger eingehe, der gewiß so hart im Nehmen wie im Geben ist, dann auch deshalb, weil ich selber, freilich mit gemischten Gefühlen, jener Branche zugehöre, die er besonders gern und leidenschaftlich beutelt: der germanistischen Literaturwissenschaft. Ob er sie bei diesem Beuteln trifft, mag unter anderm ein Vergleich ergeben zwischen den hier vorgetragenen Überlegungen und seiner gedruckten Meinung: »im Fall May jedenfalls nimmt die May-Gesellschaft weiterhin die Aufgaben der Germanistik wahr, während die Germanistik die der Soziologie verwaltet und diese so für die allgemeine Literaturwissenschaft freistellt« (Vorwort zum Jahrbuch 1977).

Schließlich zur dritten Gefahr für unsre Unternehmung: ein u n v e r b i n d l i c h e s  A l l e s - G e l t e n - L a s s e n. Sie droht allemal, wo gegensätzliche oder auch nur abweichende Standpunkte zur öffentlichen Schaudiskussion versammelt werden. Da ist rasch die sterilisierende Rundfunkparole von der »Ausgewogenheit« zur Stelle. Da wird geglättet und besänftigt, werden Grenzen verwischt, die zu verdeutlichen gerade wichtig wäre, um dem gemeinsamen Gegenstand gerecht zu werden. So viel zu den Gefahren, denen wir, sprechen wir sie von vornherein an, leichter begegnen können.


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S i n n v o l l hingegen wäre die Unternehmung, wenn sie praktische Folgen hätte:

- indem sie Vertreter unterschiedlicher Standpunkte dazu ermuntert, deutlicher zu erfahren, was die andern, aber auch deutlicher zu begründen, was sie selber tun, wenn sie mit Karl May umgehen.

- indem sie den Vertretern unterschiedlicher Standpunkte eine wünschenswerte Übereinstimmung erleichtert über die Gewichtung und den Zusammenhang bisher oft isoliert gestellter Fragen an Karl May. Woraus - im Idealfall - ein noch produktiveres, weil klareres und bewußteres Zusammenspiel der unterschiedlichen Forschungsansätze hervorgehen könnte.

- indem sie der breiten Mehrheit der KMG und der noch breiteren Öffentlichkeit von Karl-May-Interessierten - die aktiv keine Forschung betreibt, sondern sie nur hinnimmt - Gelegenheit gibt, uns schreibender Minderheit auf die Finger zu schauen. Es könnte dies zu einer demokratisierenden Auflockerung von literaturkritischer Priesterherrschaft führen. Und das erscheint mir überhaupt und zumal bei einem Autor angebracht, der wie Karl May erfolgreich für die Vielen schrieb.

Anlaß unsrer Diskussion war die Frage: wie angemessen und tauglich, wie einsehbar und überprüfbar der psychoanalytische Umgang mit literarischen Sachverhalten sei, namentlich mit dem Sachverhalt Karl May. Die Frage wurde erweitert und verallgemeinert zur Frage nach dem generellen wissenschaftlichen - bescheidener: bedenkenden, deutenden, erörternden - Umgang mit literarischen Sachverhalten, namentlich mit dem Sachverhalt Karl May. Denn es gibt einen weiten Spielraum recht unterschiedlicher theoretischer Ansätze und methodischer Verfahren, Literatur zu erfassen. Wenn also Psychoanalyse eine von mehreren Umgangsweisen mit Literatur ist, kann unsre Frage nicht lauten: ist dieser besondere Umgang mit Karl May überhaupt berechtigt? Sondern: wo ist innerhalb des weiten Spielraums der Ort, an dem Psychoanalyse gefordert ist?

Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier noch eine spröde terminologische Anmerkung vorgebracht. Psychoanalyse verstehe ich als ein Verfahren und eine Richtung innerhalb einer umfassenderen Betätigung namens Psychologie. Deren Gegenstand sind


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psychische Verläufe, Tatbestände, Zusammenhänge bei menschlichen Individuen oder Gruppen. Die verschiedenen Untergebiete von Psychologie wie etwa Entwicklungs- oder Gestalt- oder Wahrnehmungs- oder Sozialpsychologie können abweichende, sogar unvereinbare theoretische Voraussetzungen haben. Gleichwohl treffen sie sich im gemeinsamen Gegenstand. So auch die Psychoanalyse. Dieses Verhältnis zwischen der übergreifenden allgemeinen Psychologie und der darin einbezogenen besonderen Psychoanalyse ist gemeint, wenn fortan die Bezeichnung »Psychologie/Psychoanalyse« auftaucht. Das geschieht immer dort, wo ein bestimmter Aspekt des Sachverhalts »Karl May« angesprochen wird, für den sowohl Psychologie im allgemeinen wie Psychoanalyse im besonderen zuständig erscheint.

Noch etwas. Die folgenden Thesen und Bemerkungen werden keine Aussagen darüber enthalten, ob bestimmte psychoanalytisch orientierte Arbeiten zu Texten von Karl May im Rahmen psychoanalytischer Theorie und Praxis fachgerecht vorgegangen sind oder nicht; und ob ihre Ergebnisse, gemessen am Maßstab dieser Disziplin, haltbar erscheinen oder nicht. Dazu fehlt mir die Kenntnis, aber auch die sichere Überzeugung bezüglich der Voraussetzungen, von denen zumindest die klassisch freudianische Phase dieser Disziplin ausgeht. Wichtiger sind wohl auch hier, genauso wie bei andern Hilfs-Wissenschaften (dazu: siehe unten), grundsätzliche Fragen. Zum Beispiel: Macht der literarische Gegenstand diese oder jene Theorien und Methoden erforderlich? Werden sie - ob psychoanalytisch oder soziologisch - in der Anwendung dem gerecht, was wir sinnvollerweise über diesen Gegenstand wissen wollen? Lassen sie, als veröffentlichte Abhandlung, zu, daß der Leser den Gedankengang in jedem Schritt kritisch überblicken und die Ergebnisse messen kann an seinen eigenen Leseerfahrungen? Eine Passage, wo mir das beispielsweise nicht gelingt, entnehme ich dem sonst sehr anregenden Essay von Wolf-Dieter Bach: »Die Zweiläufigkeit des archaisierten Schießzeugs (des Bärentöters, V. K.) symbolisiert Zweiläufigkeit der Libido: zurück zur Mutter und voran zur Frau. Vom alten Büchsenmacher Henry als Phallus-Vermächtnis übernommen, drückt er den Wunsch aus, dem Vater gleich zu werden; der hieß Heinrich.« (Jahrbuch 1971, S. 54)


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T h e s e n  u n d  B e m e r k u n g e n

Karl May wäre uns gleichgültig - wir wüßten wahrscheinlich garnichts von seiner Existenz -, gäbe es nicht seine Werke. Das gleiche gilt für Shakespeare oder Kleist, Balzac oder Brecht. Denn: gäbe es nicht ihre Werke, kein Mensch würde sich um die Person Shakespeares oder Kleists, Balzacs oder Brechts scheren. Sie hätten noch so besonders gelebt haben mögen, sie wären uns gleichgültig. Das besondere Werk ist es, das die Leser für den interessieren kann, der es geschrieben hat - und nicht andersrum. Das gilt auch für Karl May. Bevor der unbefangene Leser etwas weiß über die psychischen, sozialen, somatischen und weltanschaulichen Probleme jenes Mannes, stößt er auf Erzählungen, die allein durch ihre besondere poetische Verfassung anziehen. Danach erst, falls der Leser an purer Lesesensation nicht genug hat, mag er vielleicht mehr wissen wollen: wie denn das Werk beschaffen ist, das ihn da anzieht; woher es kommt und wohin es führt, wenn das Werk so ist, wie es ist. Dabei wird er wahrscheinlich der Persönlichkeit, den Lebensumständen, der geschichtlichen Situation und anderen Bewandtnissen des Autors nachfragen. Dieser unbefangene Leser, der wir alle einmal waren - und streckenweise, hoffentlich, immer noch sind -, sollte nie vergessen und abgehängt werden. Ihm und den tatsächlichen Verhältnissen alltäglicher Lesepraxis entspricht, wer vom Werk ausgeht und nicht von seinem Autor; wer den Produzenten um des Produkts willen zuratezieht und nicht umgekehrt.

Nun mag einzuwenden sein, ob nicht bei Karl May die Dinge etwas anders liegen als sonst. Immerhin ist bei ihm, dank eigenem und fremdem Zutun, eine ungewöhnlich enge Verschränkung von Person und Werk gegeben. Nicht nur durch die Ich-Legende, die eine Fortsetzung seiner Vita in den fabulierten Abenteuern behauptet hat. Auch in der außerordentlichen Vergegenständlichung des Produzenten in seinen Produkten. Denn es gibt wohl kaum einen zweiten Autor in Deutschland, dessen Name wie in diesem Fall so ganz und gar aufgeht in der Sache. Der gängige Sprachgebrauch sprichts aus: Man liest »einen Karl May«; sieht »einen Karl May« im Schaufenster liegen; findet, daß die wahren »Karl Mays« jene mit den Deckelbildern der grünen Fehsenfeld-


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ausgabe seien (oder gerade nicht). Die Bücher sind gemeint, ja ein ganzes poetisches Terrain, eine ganze, ungeheuerliche Phantasiewelt - aber der Mann kommt dafür auf mit Tauf- und Familienname.

Wenn dem so ist, wenn Werk und Person derart ineinander übergehen, warum sie dann voneinander trennen? Eben darum: weil sie derart ineinander übergehen. Andernfalls mehrt und erweitert einer, der das faszinierende Phänomen »Karl May« aufhellen will, die eigenen Mythen des Autors, statt sie zu durchleuchten. Andernfalls verliert der klärende Interpret den nötigen Abstand zum Werk, ohne den er es weder für sich noch für andere hinreichend einsehen und einschätzen kann. Andernfalls ist der Interpret wenig mehr als postumer Bauchredner eines Autors, der ihm nicht einmal bei falschen Tönen den Mund stopfen kann. Vorrangiger und hauptsächlicher Gegenstand der Karl-May-Forschung ist demnach das Werk. Die Beschäftigung mit den äußeren - biographischen - und inneren - psychischen - Lebensverhältnissen des Autors ist so gesehen belangvoll nur dort, wo sie die Einsicht in seine Werke fördert. Seine literarischen Werke abzusuchen auf biographische oder tiefenpsychologische Anzeichen, um letztlich ein möglichst lückenloses Persönlichkeitsbild des Autors zu rekonstruieren, würde daher die tatsächlichen literarischen Verhältnisse verkehren. Der gleiche Einwand wäre zu richten gegen entsprechende soziologische oder geistesgeschichtliche oder theologische Versuche. Gegen Versuche mithin, die Karl Mays Werke lediglich als Auskunftsquelle hernehmen, um ein Bild der gesellschaftlichen und politischen Umstände seiner Zeit und Klasse zu entwerfen; oder ein Bild der Gedanken und Glaubensgehalte, die damals und dort im Schwang waren. Solche Anstrengungen sind nicht prinzipiell abwegig. Nur, sie gehören ins Arbeitsfeld der Psychologie, Soziologie, Geschichte, Theologie. Sie gehören nicht ins Arbeitsfeld von Literaturkritik und Literaturwissenschaft, deren Erkenntnisziel vornehmlich die Beschaffenheit und Anziehungskraft bestimmter literarischer Werke ist.

Sind demnach, innerhalb literarischer Fragestellungen und angesichts von Literatur, biographische, psychologische, soziologische, theologische Überlegungen unerheblich und unergiebig? Keineswegs. Literaturanalyse käme zu unzulänglichen Ergebnissen, würde


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sie sich damit abfinden, lediglich zu beschreiben, was im Text geschrieben steht. Wer wissen will, warum der Text so ist wie er ist, und warum er (im Fall May) gar noch eine so außerordentlich massenhafte und fortdauernde Anziehungskraft ausübt, der muß über den Text hinausgehen. Er wird dann auf äußere Umstände stoßen, die dazu beigetragen haben, daß der Text so wurde und so anzieht, wie das der Fall ist. Mannigfache Umstände, teils miteinander, teils gegeneinander wirkend, sind da schließlich im fertigen poetischen Werk zum Zug gekommen.

Ich werde solche Umstände nicht bloß aufzählen - so, als kämen sie im poetischen Werk gleichrangig und beliebig nebeneinander zum Zug. Ich werde sie vielmehr gewichten und in ihrem Zusammenhang skizzieren. So, wie es vom literarischen Gegenstand und vom literarischen Interesse an diesem Gegenstand her geboten erscheint. Dabei gehe ich zunächst davon aus, was die schiere Textbeschreibung erfragen und beantworten kann, um dann auf die weiteren Umstände zu kommen, die sie zurate ziehen muß, wenn sie mehr als nur beschreiben soll.

Schiere Textbeschreibung fragt bei einem Werk von Karl May - unter anderm -: nach der Art und Abfolge, nach Start und Ziel der erzählten Begebenheiten; nach den beteiligten Personen, ihren Eigenschaften und Wertvorstellungen, Interessen und Konflikten; nach dem Schauplatz (weit weg oder nah beim Leser; geographisch festgelegt oder symbolisch oder beides in einem); nach der Zeit (wann die Erzählung spielt, wie lang sie dauert); nach dem Spannungsbogen, nach der Sprache und nach der Komposition des Werks, und schließlich danach, was für ein insgesamtes Weltbild aus diesen und andern Merkmalen des Werks entsteht.

Schon hier, auch wenn sie noch garnicht dem Woher, Warum und Wozu des Niedergeschriebenen nachspürt, stößt die schiere Textbeschreibung auf Momente, die sie nur unsicher oder überhaupt nicht einzuschätzen vermag. Zumal dann, wenn sie etwas darüber aussagen soll, ob es sich bei bestimmten auffälligen Zügen des Texts um die eines charakteristisch einmaligen Werks oder eines beliebigen Dutzendwerks handelt. Sie muß da zwangsläufig über den vorliegenden Textbestand hinausgehen. Und zwar, fast ebenso zwangsläufig, in bestimmte Richtungen: zu den besagten äußeren Umständen, die eine mögliche E i g e n a r t des Texts


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erst einmal kenntlich und dann vielleicht auch begreiflich machen. Da sind zunächst rein literarische Umstände. (»zunächst«: für den unbefangenen Leser, der meist wenig weiß von biographischen, psychischen, sozialgeschichtlichen u.a. Umständen des Autors). Man wird bereits mehr und genaueres an »In den Kordilleren« feststellen, wenn man diesen Roman mit »Winnetou« oder »Schut« oder »Am Jenseits« vergleicht: auf Gemeinsamkeiten wie auf Abweichungen. Dies ist die erste und vorsichtige Überschreitung der engen Text-Peripherie. Die nächste wäre eine, die über das Gesamtwerk Karl Mays hinausgeht. Das kann in zwei Richtungen geschehen.

Einerseits in den zeitgenössischen literarischen Umkreis: durch einen Querschnitt, der ermittelt, was zu jener Zeit an vergleichbarer oder entschieden andersartiger Literatur veröffentlicht wurde; und wo innerhalb dieses Querschnitts die Mayschen Werke, die früheren aber auch die späteren, ihren Ort und ihre Eigenart behaupten. Andrerseits lassen sich seine Werke, durch einen Längsschnitt, in der Tradition bestimmter literarischer Gattungen sehen und einreihen. In jahrhundertealten Gattungen, deren poetischen Bestand Karl May aufgegriffen und ausgebaut oder auch ungewußt fortgesetzt hat: Abenteuerroman, Märchen, Humoreske, allegorische Erzählung (à la Quevedos »Sueños«, Swifts »Gulliver«, Bunyans »Pilgrims Progress«).

Solche literaturgeschichtliche Einkreisung ist unerläßlich. Andernfalls läßt sich nicht entscheiden, was in Karl Mays Text eigenständig und was als überindividuelle literarische Konvention anzusehen ist. Dennoch reicht sie längst nicht aus. Denn es besteht wohl kein Zweifel darüber, daß literarische Werke, also auch die von Karl May, beides sind: p e r s ö n l i c h e poetische Verarbeitung von eigenen Erfahrungen, indem sie geschrieben worden sind; und a l l g e m e i n v e r b i n d l i c h e poetische Verarbeitungsmodelle von durchgängigen Erfahrungen, indem sie veröffentlicht worden sind.

Da nun aber die Erfahrungen, die Karl May oder sonst ein Autor verarbeitet, keineswegs nur aus literarischen Lesefrüchten bestehen, wäre eine nichts als literaturgeschichtliche Einkreisung seiner Werke unzureichend. Der Autor verarbeitet zwar auch literarische Erfahrungen, und er tut es mit Hilfe literarischer Formen, Motive und Verfahren, die er vorfindet. Doch der schiere


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Wortlaut von »Durch die Wüste« oder »Im Reiche des silbernen Löwen« oder »Waldröschen« und mehr noch die Frage nach Woher, Warum und Wozu dieser Werke weist über die Literatur hinaus: auf Umstände im Leben dieses ganz bestimmten Autors und auf Umstände der sozialen Umwelt zu seiner ganz bestimmten geschichtlichen Zeit.

Hier kommen nun - unterm Gesichtspunkt der Entstehung und Wirkung des Texts - Psychologie und Soziologie ins Spiel. Sie sind unentbehrlich. Aber nur in der Rolle von Hilfswissenschaften, die den literarischen Sachverhalt erhellen. Also nicht in der Rolle von Hauptwissenschaften, die den literarischen Sachverhalt auswerten, um letzten Endes zu exemplarischen Charakter- und gesellschaftsanalytischen Ergebnissen zu gelangen. Denn die wären ohne den Umweg über poetische Texte leichter und sicherer zu haben.

Ich greife noch einmal meinen grobknochigen Definitionsversuch von oben auf. Ein literarisches Werk ist beides auf einmal: geschriebene Verarbeitung der persönlichen Erfahrungen, die der Autor mit den allgemeinen Erfahrungen macht; und veröffentlichtes poetisches Angebot an den Leser, seine eigenartigen Erfahrungen zu verarbeiten, die er mit den allgemeinen Erfahrungen macht. Wer dieser Definition zustimmt, wird einsehen, daß da sowohl Psychologie/Psychoanalyse wie Soziologie gefordert sind. Denn im literarischen Werk sind sowohl subjektive wie objektive, innerpersönliche wie gesellschaftliche Bewegkräfte wirksam. Die Zuständigkeiten der beiden Wissenschaften und ihr notwendiges Zusammenspiel lassen sich etwa folgendermaßen skizzieren.

Soziologie, vor allem in der Spielart von Sozialgeschichte, ist nötig, um den gesellschaftlichen Erfahrungsbereich zu ermitteln, den Karl May mit seinen schreibenden und lesenden Zeitgenossen teilt. Hätte er ausschließlich private Erfahrungen verarbeitet, müßte unverständlich bleiben, wie er so viele Leser - mit andersartiger äußerer und innerer Biographie - hat ansprechen können. Solche Rekonstruktion des überpersönlichen sozialgeschichtlichen Erfahrungsbereichs wird zweckmäßigerweise in einem nicht allzu kleinen und datenkleinlichen Maßstab geschehen. Denn sonst wäre die Fortwirkung von Karl Mays Werken unter geschichtlich veränderten Umständen rätselhaft. Es sind also längerfristige gemeinsame Erfahrungsschwerpunkte auszumachen, die heutige


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Leser mit denen im späten 19. Jahrhundert teilen. Von hier aus, unterstützt durch eine gleichfalls geschichtlich verankerte Entwicklungspsychologie, lassen sich auch Anhaltspunkte gewinnen für auffällige Umgewichtungen der Leserschaft Karl Mays im Lauf von bald hundert Jahren: von Erwachsenen zu Jugendlichen und umgekehrt.

Psychologie, (auch) in der Spielart der Psychoanalyse, ist nötig, um zu ermitteln, wie das Subjekt Karl May mit jenen allgemeinen Erfahrungen - des weiteren gesellschaftlichen wie des engsten familiären Umkreises - fertig geworden ist; und was es, einzigartig, daraus gemacht hat in seinen literarischen Werken. Andernfalls bliebe unverständlich, was den besonderen Unterschied bedingt zwischen Mays Werken und denen von andern Autoren, die unterm gleichen gesellschaftlichen Erfahrungsdruck geschrieben haben. Genau hier hat Psychologie und namentlich Psychoanalyse ihren ebenso wichtigen wie schwierigen Aufgabenbereich innerhalb literarischer Sachverhalte. Sie kann erkunden, was zu den einmaligen, unverwechselbaren Zügen des einzelnen und des gesamten Werks eines bestimmten Autors - hier Karl Mays - beigetragen hat. Sinnvoll wird sie diesem Problem nur beikommen, wenn sie Sozialgeschichte und Sozialpsychologie hinzuzieht. Denn es muß meines Erachtens zu schiefen Ergebnissen kommen: wenn man die mehr oder minder verdeckten Traumata eines Autors, die in seinem Werk ausgespielt oder auch überspielt werden, von seiner sozialen Erfahrung isoliert. Soziale Erfahrung ist in diese Traumata ebenso eingegangen wie in die literarischen Maßnahmen, sie zu bearbeiten.

Psychologie/Psychoanalyse und Soziologie - hier, wie gesagt, in der Rolle von Hilfswissenschaften bei der Aufhellung literarischer Sachverhalte - haben in der Karl-May-Forschung noch weitere Aufgaben. Es sollen hier nur einige davon genannt sein. Zum Beispiel insachen Karl-May-Legende. Psychologie/Psychoanalyse und Soziologie könnten da, wiederum gemeinsam, ermitteln, wie es zu dieser Legendenbildung kam, und was sie ausgerichtet hat. Und zwar beiderseits, nicht nur beim Autor, auch bei seiner Leserschaft. Die Fragen, die sich hier stellen, sind durchaus belangvoll: was hat uns jugendliche und manche erwachsenen Leser (etwa Beiträger zu Karl-May-Jahrbüchern der zwanziger Jahre) so inständig glauben und hoffen lassen, das Fabulierte sei


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wahrhaftig geschehen? Karl May sei ganz und gar Kara Ben Nemsi? Die Waffen und Pferde seien greifbar von und in dieser Welt?

Schließlich fänden Psychologie/Psychoanalyse und Soziologie ein nicht minder aufschlußreiches Objekt: in der Karl-May-Forschung selbst. Denn zweifellos haben bestimmte psychische Mechanismen und gesellschaftliche Umstände dazu beigetragen, daß unser Umgang mit Karl May in den letzten zwanzig Jahren so gelaufen ist, wie er gelaufen ist. Ich will dazu einige Mutmaßungen riskieren. Riskant sind sie: weil sie sich vorerst so rasch kaum begründen lassen; und weil sie vielleicht bei den Diskussionspartnern Ärgernis hervorrufen. Es läßt sich immerhin dämpfen, indem ich auch meine eigenen Karl-May-Arbeiten den kritischen Mutmaßungen aussetze.

M u t m a ß u n g e n  ü b e r  R i c h t u n g  u n d  G e s t u s  n e u e r e r  K a r l - M a y - F o r s c h u n g e n

Werk und Person von Karl May haben im öffentlichen Bewußtsein mehr als ein halbes Jahrhundert als minderwertig gegolten. Hauptvorwurf: massenhaftes Lesefutter für Jugendliche oder Unterentwickelte, produziert von einem moralisch bedenklichen Charakter. Von Ausnahmen wie Ernst Bloch oder auch Heinz Stolte abgesehen, gab niemand gern zu, als ernster Mensch die Mayschen Werke ebenso gern oder gar lieber noch zu lesen als etwa die anerkannten von Keller, Dostojewskij, Thomas Mann. Diese öffentliche Einschätzung hat sich in den letzten 20 Jahren etwas geändert. Vor allem dank Arno Schmidt, Hans Wollschläger und den Aktivitäten der Karl-May-Gesellschaft. Dennoch: daß die zuletzt genannten und einige andere, darunter ich, kein ganz ungetrübtes Verhältnis zum Sachverhalt »Karl May« haben; daß ihnen vielmehr - weniger bewußt als unbewußt - jenes hartnäckige öffentliche Vorurteil selber zu schaffen gemacht hat, dafür gibt es manche Anzeichen. Solche Anzeichen sprechen aus der Richtung und aus dem Gestus der meisten neueren Forschungen. Inwiefern?

In der R i c h t u n g der Karl-May-Forschung herrschen quantitativ zwei Tendenzen vor: biographische Verhältnisse zu erfassen;


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sowie, eins im andern, Texte und Lebenslauf des Autors psychoanalytisch auszuloten. Diese Schwerpunkte des Interesses fallen besonders auf, weil sie woanders liegen als jene, die im gleichen Zeitraum bei der sonstigen Literaturkritik und Literaturwissenschaft anzutreffen sind - wenn sie sich mit allgemein anerkannten Autoren befaßt. Ich vermerke das durchaus nicht abschätzig, bin vielmehr heilfroh, nicht auch noch in der Karl-May-Forschung auf die Kürzelsysteme der Textlinguistik oder den elaborierten Geheimcode fortgeschrittener Semiotiker zu stoßen. Immerhin, diese Interessenschwerpunkte machen stutzig und verlocken zu psycho-soziologischer Deutung.

Erste Mutmaßung: die Forscher gehen von der begreiflichen Absicht aus, einen Autor, den sie schätzen, vom falschen öffentlichen Makel zu befreien, er sei kriminell oder teilweise geistesgestört. Dieses schöne und tapfere Unternehmen entspricht ziemlich genau dem der Karl Mayschen Helden, die gleichfalls mit Vorliebe arglose Rufmordopfer retten. So sucht man nach äußeren Lebenszeugnissen und psychischen Anhaltspunkten, die Karl Mays tatsächliche oder vermeintliche Normwidrigkeit erklären, rechtfertigen und der bürgerlichen Öffentlichkeit akzeptabel machen sollen. Nächste Mutmaßung: das geschieht nicht allein dem geschätzten Autor zulieb, sondern auch dem forschenden Subjekt zulieb. Wer hält schon auf die Dauer eine Zwietracht mit öffentlichen Vorurteilen in sich aus? Wer lebt gern unterm allgemeinen inzwischen wahrscheinlich verinnerlichten Verdacht, sich ernsthaft mit minderwertiger Literatur abzugeben, selbst wenn er aus gutem Grund von deren hohem Wert überzeugt ist?

Von daher ließe sich auch erklären, wieso es zu der beträchtlichen Umwertung innerhalb des Gesamtwerks gekommen ist. Sie ist ebenso auffällig wie jene Interessenschwerpunkte auf Biographik und Psychoanalyse. Denn auch diese Umwertung weicht erheblich ab: diesmal nicht vom allgemeinen Stand der Literaturwissenschaft, sondern vom Mehrheitsvotum der Karl-May-Leser. Die breite Leserschaft hielt und hält sich immer noch fast ausschließlich an seine Reise-, Jugend- und Kolportageromane. Anders eine markante Gruppe der heutigen Karl-May-Forscher. Sie schätzt sehr viel höher das symbolische Spätwerk ein und das ganz im Einklang mit dem Eigenurteil des Autors. (Daß, nebenbei,


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die eigene Werk-Einschätzung von Künstlern eine fragwürdige Sache ist, beweisen die Fehldeutungen Raimunds, Hebbels, de Chiricos.) Diese Meinung wurde gewiß noch befeuert durch den großkunstrichterlichen Spruch von Arno Schmidt, beim späten May handle es sich um Deutschlands vorletzten Großmystiker - was immer das sei.

Es soll hier nicht auf Wert oder Unwert des Spätwerks eingegangen werden; dazu wird ein andermal Gelegenheit sein. Nur, mir scheint diese - entschieden unpopuläre - Hochschätzung ähnlich begründet zu sein wie die vorherrschenden Richtungen von Biographik und Psychoanalyse. In diesem Fall reinigt man den Autor nicht vom unerträglichen öffentlichen Vorwurf einer kriminellen oder geistigen Abnormität. Sondern vom offenbar ebenso unerträglichen öffentlichen Vorwurf eines literarischen Infantilismus und Populismus. Auch dieser Rettungsakt rettet mit dem Geretteten die Retter selbst. Sie müssen sich nicht länger im Kreis von jugendlichen oder entwicklungsgebremsten oder simpel spannungsgierigen Lesermassen sehen. Ein Kreis, der im deutschen Bildungsbürgertum nie besonderes Ansehen genoß. So liest und forscht man sich empor ins esoterische Reich der Minderheitenliteratur. Ein, gleichfalls wohl unbewußtes, Bedürfnis, das wiederum Psychologen/Psychoanalytiker wie Soziologen interessieren mag.

Dabei hat Karl May selbst geradezu beispielhaft vorgelebt und vorerzählt: wie einer wertvolle Energien verschwenden kann in Rechtfertigungs- und Anerkennungskämpfen gegenüber öffentlichen Normen, die er persönlich letzten Endes garnicht gutheißt. So kams bei ihm und so kommts bei seinen forschenden Nachfahren zu einer schlechterdings paradoxen Austragung: zum eifernden Kampf um die Gunst der Fremdbestimmung. May und die Mayforscher gleichen da dem Mann in Franz Kafkas »Vor dem Gesetz«. Sie wollen durchs Tor um jeden Preis, wollen sich dem Gesetz unterwerfen, selbst dann, wenn sie es weder einsehen noch billigen. Drum ist zu fragen: Selbst wenn Karl May ein übler Verbrecher gewesen wäre oder ein Geistesgestörter; selbst wenn er, objektiv, weiter nichts als schiere Jugendliteratur geschrieben hätte - was sollte uns hindern können, uns an seinen Werken zu entzücken und zu eben diesem Entzücken zu stehen, ohne Wenn und Aber?


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Nach wie vor bleibe ich im Rahmen fragwürdiger Mutmaßungen, wenn ich in den bevorzugten Fragestellungen - Biographik, Psychoanalyse - und dem bevorzugten Gegenstandsbereich - Spätwerk - noch weitere psycho-soziale Anzeichen ausmache. Sie ähneln den schon angedeuteten Identifikationsneigungen des Forschers mit dem Autor und mehr noch mit seinen abenteuerlichen Helden. Der Forscher also macht sich stark in der Rolle des rettenden Helden, der den Autor befreit; analog zu dessen fabuliertem Helden, der unschuldige Opfer im abenteuerlichen Fantasiegelände befreit. Die Rollengleichheit wird noch deutlicher, beachtet man die besonderen Tätigkeiten, die gerade positivistische Biographik und Psychoanalyse - obwohl sie in Ansatz und Ziel auseinanderklaffen - gemeinsam haben: Spurensuchen und Spurensichern; detektivische Findigkeit, dem Verborgenen und Verschütteten nachzuspüren; Bereitschaft und Fähigkeit, aus scheinbar geringfügigen Indizien gewichtige Schlüsse zu ziehen; all dies mit dem befriedigenden Anspruch, die authentische Tatsächlichkeit, die versteckt ist unter der trügerischen Oberfläche, schließlich ans Licht zu bringen. Läge Psychoanalyse mir näher, als es der Fall ist, würde ich dem Verdacht nachgehen, ob bei diesem eifrigen Tun nicht vielleicht die übermächtige Vaterfigur Old Shatterhand/ Kara ben Nemsi im nachhinein durch die Lesersöhne eingeholt und überflügelt werden soll.

Nun zum G e s t u s der neueren Karl-May-Forschung. Auch er läßt besagte Befangenheit erkennen. Nüchtern und unprätentiös ist er bei jenen Forschern, die sich auf nachprüfbare Fakten und Sachverhalte des Mayschen Lebens und Werks einlassen. Dieser Gestus der Nüchternheit - durchaus nicht gleichzusetzen mit Gleichgültigkeit oder gar Vorbehalt - schwindet, je weiter einer den festen Boden datierbarer Tatsachen verläßt und sich den Lüsten der Deutung hingibt. Verzeihen Sie, wenn hier ein verärgerter Hinweis auf eigene Karl-May-Essays fällt. Empfindlicher Mangel meiner Aufsätze aus den sechziger und frühen siebziger Jahren ist ein witzelnder Ton, eine selbstgefällige Sprachspielerei auf Kosten des Gegenstands (in »Akzente«, 1962; in Festschrift Käte Hamburger, 1972). Rückblickend läßt sich das nicht bloß mißbilligen, sondern auch durchschauen. Offenbar war hier die gleiche Befangenheit am Werk, die sich in diesem Fall auf andere -


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bösartigere - Weise Luft gemacht hat als bei den Biographen, Psychoanalytikern und Spätwerkverehrern: durch die Pose ironischer Herablassung zum Gegenstand »Karl May« sollte wohl die verinnerlichte öffentliche Ächtung sogenannter unseriöser Literatur überspielt werden.

Befangenheit muß sich nicht an herablassende Ironie halten. Sie kann auch aus ernsteren Gesten sprechen: hymnisch oder okkult vertraulich oder im barschen Ton unfehlbarer Ausschließlichkeit. Textbeispiele lassen sich den Jahrbüchern unschwer entnehmen. Auch die beiden oben angeführten Zitate von Wollschläger und Bach können dafür zeugen.

F a z i t

Es läßt sich also sagen: das Spektrum unsrer Umgangsformen mit Karl May ist reich. Sowohl das der theoretischen Ansätze und methodischen Annäherungen, wie auch das der Äußerungsweisen. Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Standpunkten, soweit sie nicht schon hergestellt wurden, sind weiterhin dringend nötig. Sie sind auch möglich. Vorausgesetzt, wir strampeln uns frei von den oben gemutmaßten Befangenheiten. Vorausgesetzt, wir raufen uns zusammen in der Frage, was denn die vorrangig wissenswerten Seiten des literarischen Sachverhalts »Karl May« sind. Vorausgesetzt, lustvolle Neugier und diskussionsbereite Offenheit bewegt unser Treiben, ohne alle Beklemmungen gegenüber öffentlichen Vorurteilen, die wir nicht zu teilen brauchen. Ein Autor, der derart eigenständige und eigenwertige, derart vielfältig faszinierende, zudem bald hundert Jahre massenerfolgreiche Werke geschrieben hat, ein solcher Autor hat keinen postumen Waschzwang nötig. Er hat verdient, davon verschont zu bleiben.

Ich komme zum Schluß. Alles in allem hat die Karl-May-Forschung der letzten 20 Jahre, unterschiedliche Wege einschlagend, bemerkenswerte und weiterführende Ergebnisse hervorgebracht. Kein Vergleich mit den possierlichen Unternehmungen in den alten Karl-May-Jahrbüchern (die ihrerseits eine interessante Extrauntersuchung leserpsychologischer Natur verdienen würden). Immer deutlicher zeichnet sich jedoch ab, daß da zentrale Fragen noch


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offen sind. Sie konnten von keiner der einschlägigen Forschungsrichtungen beantwortet werden: weder von einer psychoanalytischen noch von einer soziologischen, weder von einer biographischen noch von einer literaturpsychologischen, weder von einer geistesgeschichtlichen noch von einer literaturgeschichtlich textanalytischen.

Das ist keine Schande. Denn diese Fragen sind von Literaturkritik und Literaturwissenschaft, so weit ich sehe, bislang auch bei keinem andern Autor hinlänglich beantwortet worden. Es handelt sich um ein ganzes Fragenbündel, das oben schon angesprochen worden ist. Nämlich: nach der unverwechselbaren E i n z i g a r t i g k e i t e i n e s l i t e r a r i s c h e n W e r k s wie zum Beispiel »Satan und Ischariot« und eines Gesamtwerks wie der Zusammenhang alles dessen, was Karl May literarisch verfaßt und veröffentlicht hat. Die Fragen lauten: was macht, im Unterschied zu andern Werken, den einzigartigen poetischen Umriß und die einzigartige poetische Binnenschraffur dieses Werks aus? Wie sind sie zustandegekommen? Und aufgrund welcher Energien - gespeist aus ästhetisch verarbeiteten psychischen und sozialen Erfahrungen - übt dieses Werk seine ebenso einzigartige Faszination aus? Eine Faszination, die sich von Generation zu Generation verändert haben mag, aber dennoch ihre Einzigartigkeit behauptet hat.

Dieses Fragenbündel zu beantworten, dazu reichen die genannten Forschungseinrichtungen, jede für sich, nicht aus. Sie alle sind gefordert. Aber nicht nebeneinander und schon garnicht gegeneinander. Ein gemeinsam zu klärendes genaueres Frageprogramm könnte Fluchtlinien andeuten, wie diese unterschiedlichen Forschungsansätze ineinander greifen. Dazu könnten wir hier erste Schritte machen. Gelingt es, dann kriegen wir etwas hin, was die gestandene Literaturkritik und Literaturwissenschaft heute kaum bei einem andern Autor zustandebringt. Gerade die Karl-May-Gesellschaft bietet da Chancen. Denn in ihr treffen sich, auf erfreulich unsterile Weise, fachkundige Amateure, sprich: Liebhaber, und Fachleute, die Amateure sind. Außerdem gibt es hier - anders als etwa in Schulen, Universitäten oder stipendiengebundenen Forschungsteams - keine institutionellen Nötigungen, die eine Zusammenarbeit beengen.


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