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HERMANN WIEDENROTH

Die beiläufige Rolle der »Jüngstentages Heiligen« im Erzählwerk Karl Mays

Now behold, a marvelous work is about
to come forth among the children of men. (1)



I

Nachdem in den Schluchten des Balkan der sympathische Pseudo-Buchhändler und Uhrmacher Ali Sprüche 30,17 (Das waren die Bibelworte: »Ein Auge, welches den Vater verspottet und sich weigert, der Mutter zu gehorchen, das werden die Raben am Bache aushacken und die jungen Adler fressen.«) zitiert hat, bleibt dem Ich-Erzähler und großmächtigen Helden die wörtliche Rede wohl aus, aber der stillstaunende Augenblick wird fleißig genutzt, dem ehrfürchtig harrenden Hausschatz-Publikum wieder ein Beispiel von der unwiderstehlichen Macht des göttlichen Wortes zu geben, welches da wirkt, wie »ein Hammer, der Felsen erschmettert!« . Und weil, vom eigenen ganz zu schweigen, der Ruhm Gottes erst so recht aus dem Gegensatz leuchtet, wird hurtig aufgezählt, was nicht mithalten kann: Wo hat der Kuran, wo haben die Vedas und wo hat (man verzeihe!) die Offenbarung der »letzten Heiligen«, ich meine das Machwerk jenes Joe Smith, welches er book of the Mormons nannte, eine Stelle von so gewaltiger, unmittelbarer Wirkung aufzuweisen?

Zugleich wird das katholische Leservolk indirekt gewarnt, sich mittelst eines entsetzlichen Studiums auch noch in das Kin-kuangking(2), welches Buddha's Lehren enthält, oder indische und ägyptische Weisheiten zu vertiefen - es gibt doch nur das eine Gotteswort, von dem es so lieblich heißt: »Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege«, und dessen strafende, vernichtende Macht doch auch nicht erschütternder geschildert werden kann, als in der fürchterlichen Stelle. »Und er wurde zu Stein!« (3)

Erstaunlich ist, zunächst, die Tatsache, daß Karl May der Kette östlicher Weisheitsbücher mitten in einer orientalischen Reise-


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erzählung, nicht ohne sich vorher devot zu entschuldigen, ein Kleinod, ein überhaupt nur mit Kopfschütteln zu nennendes Pendant, anhängt, welches er, falsch und flüchtig, book of the Mormons nennt: »The Book of Mormon: an account written by the hand of Mormon, upon plates taken from the plates of Nephi. By Joseph Smith, Junior, author and proprietor. Palmyra: E. B. Grandin 1830«(4) - allein, er wird nach kurzem Überlegen gefunden haben, daß es im Westen bei den Amerikanern schier nichts östlichem Schrifttum Vergleichbares gebe, bis auf eben jenes Machwerk, »Das Buch Mormon«.

»Und hier haben wir es nicht einmal mit
gewöhnlichen Bleichgesichtern zu thun, sondern
mit Leuten, welche sich so außerordentlich
fromm stellen und sich den Namen
"Die Heiligen der letzten Tage" gegeben
haben!«
. (5)

II

Wenig kommt dem an Schwierigkeit gleich: die sachlich-ehrliche Geschichte einer Religionsgemeinschaft zu schreiben. Die einen sehen in Joseph Smith, dem Gründer der »Church of Jesus Christ of Latter-day Saints«, den bedeutendsten Mann nach Jesus Christus einen auserwählten Propheten, Seher und Offenbarer - womit alles gesagt wäre; was mehr könnte ein Sterblicher gewesen sein? Die anderen schimpfen ihn den größten Betrüger aller Zeiten, einen durchtriebenen Scharlatan, Gotteslästerer, Sittenstrolch, und der Katalog ließe sich unschön lang fortsetzen. Es gibt in den leidigen Religionsfragen keine Sachlichkeit; die Atmosphäre ist emotionsgeladen - wie Theo-logie ein Widerspruch in sich selbst ist, läßt sich über die eigentlichen Glaubensinhalte, vor allem der christlichen Kirchen und mit Christen, nicht diskutieren. Wohl aber läßt sich die Geschichte festhalten. Und daß selbst die Mormonen am Phänomen »christlicher Geschichtsschreibung« übereifrig beteiligt sind, wird allein den nicht wundernehmen, der sich längere Zeit bemüht hat, den Quellen näherzukommen; dem Laien werden immer nur, und freilich gutgläubig, sorgfältig herauspräparierte Ausschnitte der Kirchengeschichte präsentiert. Die Geschichte der Mormonen wird noch zu schreiben sein.(6)

Die Entwicklung des Mormonentums wurde in Deutschland, im Rahmen des Möglichen, penibel verfolgt - bis 1895 erschienen


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wenigstens 15 deutschsprachige Bücher, die sich ausschließlich mit den »Heiligen der letzten Tage« beschäftigen; hinzu kommen zahllose Reiseberichte, in denen ganze Kapitel, oder doch längere Abschnitte, den Mormonen gewidmet sind, und fast jede Zeitschrift brachte irgendwann irgendwelche Berichte - und Gerüchte - aus Utah.(7) Auslösender Faktor für das allgemein große Interesse an den »wunderlichen Heiligen«(8) dürfte, neben allen Skurrilitäten, deren man, bis in die Gegenwart, aus Amerika ja manches gewöhnt ist, an erster Stelle die »den Principien des christlichen Familienlebens«(9) widersprechende Institution der Polygamie gewesen sein. »Mormone« und »Vielehe« waren und sind den weitesten Bevölkerungskreisen synonym. Der Vielehe haben die Mormonen, gerade in Europa, einen bewundernswerten Bekanntheitsgrad zu verdanken.

Karl May konnte seine Reiseerzählungen mit »Jüngstentages Heiligen« ausstaffieren, ohne den historischen Hintergrund sonderlich erhellen zu müssen - folglich wurde auch die, vorsichtshalber immerhin angeschaffte, Sekundärliteratur nicht ausgeschöpft: das maßgebliche Werk in seiner Bücherei, Robert von Schlagintweits »Die Mormonen oder Die Heiligen vom jüngsten Tage von ihrer Entstehung bis auf die Gegenwart«, 2., vermehrte Ausgabe, Cöln und Leipzig 1878, ist nie aufgeschnitten worden(10); von der »Heftigkeit des Kennverlangens, die den eigentlichen Autodidakten bezeichnet«, kann hier die Rede nicht sein. Außer den Abhandlungen der gängigen Konversationslexika standen Karl May in seiner eigenen Bibliothek vor allem vier weitere Autoren zur Verfügung, die sich der Mormonen angenommen haben; konkret läßt sich an keiner Stelle nachweisen, daß May die entsprechenden Kapitel verarbeitet hat. Zur Kenntnis hat er sie vielleicht genommen, aber nur allgemeinste Begriffe und Wendungen sind in das Werk eingeflossen: Israel Joseph Benjamin, Drei Jahre in Amerika 1859-1862, 3. Theil, Reise in den Nordwestgegenden Nord-Amerika's, Hannover 1862, Ss. 45-88; William Hepworth Dixon, Neu Amerika, Jena 1868, Ss. 116-232; Theodor Kirchhoff, Reisebilder und Skizzen aus Amerika, Erster Band, Altona u. New York 1875, Ss. 119-158; Balduin Möllhausen, Wanderungen durch die Prärien und Wüsten des westlichen Nordamerika . . ., 2. Auflage, Leipzig 1860, Ss. 433-440.(11)

Wahrscheinlicher ist, und vage begründen läßt sich, daß May


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durch die Lektüre kleiner Zeitschriftenaufsätze angeregt wurde, die Mormonen erst zu erwähnen und, wie noch dargestellt wird, später als exotische Dekoration jenseits der Indianerromantik in Nordamerika massiv einzusetzen. So findet sich z. B. das Wortmaterial der eingangs zitierten Stelle aus den »Schluchten des Balkan« in dem hochpolemischen Artikel von Moritz Busch »Die Mormonen-Bibel«, Gartenlaube 37, Leipzig 1877, S. 616; das »Buch Mormon's« wird als »Machwerk« Joseph Smith's bezeichnet, der »darauf eine kleine Gemeinde« begründete, »die trotz des ungeheuren Blödsinns der Lehre, welche ihr als Offenbarung vorgetragen wurde, ... gewachsen und gediehen ist, so daß sie jetzt in allen Ländern, die englisch reden, zahlreiche Mitglieder zählt . . .«; Busch nimmt an, »daß den Lesern der Glaube und die Geschichte der Mormonen . . . in den Hauptzügen bekannt sind«; Karl May hat sich der Annahme, wiewohl nicht ausdrücklich, angeschlossen. In der »Illustrierten Welt« heißt es 1891 in der kurzen Beschreibung einer Ansicht von Salt Lake City u. a.: »Heute spricht man vom Ankauf großer Länderstrecken in Mexiko, wohin die von den streng gehandhabten Sittengesetzen der Vereinigten Staaten verfolgten Heiligen der jüngsten Tage überzusiedeln gedenken, numerisch stark gelichtet allerdings durch die Desertion einer großen Anzahl ihrer Anhänger, besonders solcher weiblichen Geschlechtes. Zugegeben muß werden, daß in Utah, dem Mormonenstaate, der Bienenfleiß der Sektirer aus Wüsteneien fruchtbare Ackerfelder geschaffen hat; die Grundlage ihrer Religion aber, die ganze innere Organisation, ihr Kommunismus und das despotische Auftreten ihrer Führer passen nicht in einen staatlichen Organismus wie der nordamerikanische, der seinen Bürgern Freiheit der Person und des Eigentums gewährleistet.«(12) »Die Felsenburg« ist der ausgesponnene Faden dieser Pressemeldung und ähnlicher Notizen in anderen Blättern.

Die Vermutung Franz Kandolfs, Karl May habe womöglich »früher einmal mit irgendeinem Vertreter dieser Sekte trübe Erfahrungen gemacht« oder sei wenigstens »auf eine unliebsame Weise mit ihnen zusammengetroffen«(13), läßt sich so unzureichend erhärten wie widerlegen. Die Herren Burton aus Pittsburg, wohl die ersten Amerikaner, denen May, 1869, begegnete, sind mit Sicherheit keine Mormonen gewesen - in Pittsburg, Pennsylvania, gab es 1869 noch keine Gemeinde(14); bei dem bekannten Tobias


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Preisegott Burton im »Geist des Llano estakado« liegt die Betonung ganz auf dem Mittelnamen - der Zuname Burton signalisiert für May - das ist die Folge der Bekanntschaft auf dem Ottenstein- den Amerikaner schlechthin.(15)

Bereits seit dem 21. Oktober 1855 gab es in Dresden eine kleine Mormonengemeinde(16); daß auch Karl May von den Ausläufern missionarischer Regsamkeit der Mormonen berührt werden konnte, soll nicht bestritten werden; allein, die Hypothese führt zu keinen neuen Erkenntnissen.

. . . (obwohl gerade die Mormonen bei ihm
übel wegkommen; er hat da mehrere,
diabolisch-schöne Schurken - jenun: auch
May's Kismet war es, meist schlecht informiert
zu sein) (17)

III

Die erste, und nun wirklich ganz beiläufige, Erwähnung der Mormonen im Erzählwerk Karl Mays liegt in dem Kriminalroman »Auf der See gefangen« begraben, der 1878 in der Wochenzeitschrift »Frohe Stunden« im Verlag Bruno Radelli, Dresden u. Leipzig, erscheint. Dik Hammerdull, der schweigsamste Mann zwischen den Seen und dem Busen von Mexiko, rechtfertigt sich einem Fremden gegenüber mit den Worten: »Glaubt Ihr denn, Sir, daß Dik Hammerdull auf dem Kollege zu so und so zehn Jahre lang herumgelaufen ist, um Reden zu studiren?« , gibt eine solide Grundsatzerklärung und muß sich dann sagen lassen: »... Ihr seid auf dem Kollege gewesen, denn Ihr könnt reden trotz des besten Mormonentreibers.« (18) Unverändert, obwohl unklar bleibt, was denn die eigentlichen Qualitäten eines »Mormonentreibers« bedingen - das soll wohl ein besonders redebeflissener Proselytenmacher sein -, wird dieser Ausspruch mit seinem Kontext 1895 in Band XV der Gesammelten Reiseerzählungen, dem zweiten Band der durch ein verlegerisches Ungeschick auseinandergerissenen Old-Surehand-Trilogie, wieder erscheinen.(19)

Zwei Jahre später, 1880, gibt sich Old Shatterhand im »Deadly dust« des Deutschen Hausschatzes dem ältesten eines Voyageur-Trupps, Williams, als Regenzauberer in der Wüstenei zu erkennen, und prompt wird er, das ewige Identitätsproblem, für ein Mitglied


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- was läge auch näher, so weit hinten im nordamerikanischen Westen? - der Mormonen-Kirche gehalten: »Ihr wart gewiß einmal da drüben in Utah am großen Salzsee und gehört zu den »Heiligen der letzten Tage«, die auch so ähnliche Wunder thun, wie Ihr.« - »Allerdings war ich einmal drüben,« erwidert der als Master Schlabbermaul verunglimpfte Held und lenkt dann ab, »habe es jetzt aber nicht mit den letzten Tagen, sondern zunächst mit dem heutigen Tage und mit Euch zu thun.« (20) Nach acht Wochen, in der entsprechenden Nr. 39 des sechsten Hausschatz-Jahrgangs, werden Old Shatterhand und seine Begleiter von einem mexikanischen Ranchero gestellt, als sie sich eben an dessen Rinderbestand gütlich tun; Sans-ear kehrt die eher peinliche Situation ins Komische, indem er sich und seine Gefährten für Mormonen aus der großen Salzseestadt ausgibt - guten Glaubens macht der Ranchero kurz darauf seine Donna mit den »Gefangenen« bekannt: »Diese drei Weißen sind Missionare aus der Mormonenstadt, welche nach San Francisco wollen, um Californien zu bekehren.« - »Hülfe, Hülfe! Missionare, welche Kühe stehlen und tödten und Vaqueros fressen wollen!« (21) Aber es sind ja keine echten Missionare: »Wir sind keine Mormonen, Donna Eulalia! Wir machten nur einen Scherz.« (22) Einen Scherz, der keiner weiteren Erklärung bedarf: irgendwann mal etwas gehört vom seltsamen Volk in den Felsengebirgen hatte wohl auch der Anspruchsloseste unter den Anspruchslosen; ein beredter Miniaturbeweis für die Popularität der »Mormonenfrage« damals. War zuerst Old Shatterhand unfreiwillig für einen »Heiligen der letzten Tage« gehalten worden, und hatte er sich durch sein Wortspielchen nicht ausreichend distanziert, läßt er jetzt Sans-ear freie Hand und deckt den Scherzschwindel erst auf, als es denn doch zu arg wird: - weil der Ranchero und seine Donna Mormonen, Räuber und mögliche Mörder in einen Topf werfen, und man, bei allem Spaß, nicht in den Ruf von Räubern und Mördern kommen will, muß man sich auch von den Mormonen lossagen: ». . . sie sind keine Mormonen und keine Räuber und Mörder! Ich spreche sie frei.« (23) Wir werden sehen, daß Karl May nie »wirkliche« Mormonen beschrieben hat.

Im »Geist des Llano estakado« wird das Motiv umgekehrt. Stealing Fox, einer der »Geier«, die ahnungslose Auswanderer vom rechten Weg abbringen und in das sichere Verderben führen, tritt als Mormone verkleidet, und mit den schlechtesten Absichten, auf:


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Er war durchaus in schwarzes Tuch gekleidet und trug ein kleines Päckchen in der Hand. . . Der hohe Chapeau claque, welcher ihm tief im Nacken saß, gab ihm, zumal er eine Brille trug, im Verein mit dem dunklen Anzuge das Aussehen eines Geistlichen.

Er trat mit eigentümlich schleichenden Schritten näher. . .

». . . Ich heiße Tobias Preisegott Burton und bin Missionar der Heiligen des Jüngsten Tages.«

Er sagte das in einem sehr selbstbewußten und salbungsvollen Tone, welcher aber keineswegs den beabsichtigten Eindruck auf den Farmer machte, denn dieser meinte achselzuckend:

- und es folgt eine der für das 19. Jahrhundert und Deutschland typischen Meinungen über die Mormonen; ein redlicher, wenn auch erheblich zu oberflächlicher Einwand gegen die »Jüngstentages Heiligen« aus beider, der Protestanten und Katholiken, Sicht, über den Karl May zeitlebens nicht hinausgewachsen ist:

»Ein Mormone seid Ihr also? Das ist keineswegs eine Empfehlung für Euch. Ihr nennt euch die Heiligen der letzten Tage. Das ist anspruchsvoll und überhebend, und da ich ein sehr bescheidenes Menschenkind bin und für Eure Selbstgerechtigkeit nicht den mindesten Sinn habe, so wird es am besten sein, Ihr schleicht in Euren frommen Missionsstiefeln sogleich weiter« (24)

Im übrigen aber ist alles nur Maskenspiel mit umgekehrtem Vorzeichen: nicht daß der vermeintliche Burton für die Beteiligten Mormone ist, führt zu Differenzen - immerhin darf er ja bleiben, essen und trinken und, wenn es denn sein muß, auch übernachten -; nein, wie er seine Rolle spielt, und es schimmern die wahren Züge des Schurken durch, wird zum Vorwurf erhoben; das Unechte ist das störende Moment: »Ich vermute sehr, daß Ihr eine ganz andere Miene aufsteckt, wenn Ihr Euch mit Euch allein befindet.« (25) Der Mormone tritt hinter den gottlosen Verbrecher zurück. Daß dieser ausgerechnet die Maske eines Mormonen vorhält, ist durchaus nicht handlungstragendes Element; wohl aber Dekor, mit dem reizvollen Hauch des Geheimnisvollen und Fremden: - und exotischer als alle Eingeborenen mußten wohl jene Emigranten anmuten, die, von der zivilisierten Welt völlig abgeschnitten, in kürzester Zeit eine eigene Kultur aufgebaut hatten und nun mit den merkwürdigsten Sitten und Gebräuchen von sich reden machten. »Er hat sich« , wird im nachhinein resümiert, »Tobias Preisegott Burton genannt und unter der Maske eines frommen Missionars der Mormonen eine Reisegesellschaft in den Llano locken wollen.« (26)

In der Chronologie der Erwähnungen folgt ein winziges Inter-


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mezzo. So interessant es gewesen wäre, über das Schicksal seines ehemaligen ominösen Vorgesetzten, im »Scout«, vom Erzähler etwas mehr zu erfahren, - immerhin war dieser Vorgesetzte der eigentliche Anstoß zur Auswanderung nach Amerika, und später traf ich diesen sehr ehrenwerthen Herrn zu meinem größten Erstaunen als Mormonenapostel wieder. Er hatte Untergebene gefunden, welche weniger rücksichtsvoll gewesen waren als ich, war abgesetzt worden und auch nach Amerika gegangen, wo er als Apostat einen Platz unter den »Heiligen der letzten Tage« mit dem Heile seiner Seele bezahlte. (27) - Karl May hat diesen Faden nie aufgegriffen.(28)

Das Thema ist am bedeutendsten in der »Felsenburg« ausgeführt, dem ersten Teil der späteren »Satan und Ischariot«-Trilogie; ohne Unterbrechung wird vom Herbst 1893 bis zum Herbst des folgenden Jahres Woche für Woche ein Abschnitt dieser Reiseerzählung im Deutschen Hausschatz publiziert - daß Karl Mays Werk in der Regel, bis ins Alter, lieferungsweise erschien, und welchen Einfluß diese Erscheinungsweise dann wieder auf die Struktur gerade der umfangreichen Romane hatte, ist bis heute kaum im Ansatz ausreichend beachtet oder gar untersucht worden.

Argwöhnisch fragt sich Old Shatterhand, als er die Eintragung »Harry Melton, Heiliger der letzten Tage« - und die englische Sprache, in der die Zeile geschrieben war, ist künftig eine Art Markenzeichen für die Mormonen - im Fremdenbuch einer kleinen Herberge im mexikanischen Guaymas gelesen hat, welche Angelegenheit den Mormonen so weit in den Süden geführt haben könnte. Harry Melton ist die verkörperte Disharmonie - nicht nur äußerlich; wohl hat er sich als »Heiliger der letzten Tage« in das Fremdenbuch eingeschrieben, in der Praxis aber gebärdet er sich außerordentlich katholisch, läßt den Rosenkranz beständig kreisen, verneigt sich vor dem Heiligenbild und nimmt stets Weihwasser - ein Mormone mit dem Rosenkranze! Vielweiberei und Weihwasser! Das Buch Mormon und die Verbeugung vor einem Heiligenbilde! Dieser Mann war jedenfalls ein Heuchler, und seine Heuchelei mußte einen Grund haben. (29)

Einen ausgedehnten Vortrag über die Ab- und Aussichten der Mormonen hält einer von Meltons Verbündeten, Weller - der wirkliche Name des vermeintlichen Burton im »Llano estakado« war übrigens auch Weller -, seinem Sohn:


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»Es ist vorauszusehen. daß wir über kurz oder lang aus den Vereinigten Staaten fort müssen. Utah, ist für uns verloren, und unsere schöne große Salzseestadt wird in nicht ferner Zeit den Unheiligen in die Hände fallen. Die Vielweiberei ist nun einmal gegen die sogenannte christliche Moral und gegen die Gesetze der Union, deren Bewohner ja die »allermoralischsten« sind; wir aber lassen nicht von ihr, und so wird und muß es zu einem Auszuge kommen, welcher allerdings an Großartigkeit in der Geschichte nicht seinesgleichen haben wird. Was war der Auszug der Kinder Israel aus Ägypten gegen die gewaltige Völkerwanderung, welche dann eintreten wird, wenn die Heiligen der letzten Tage mit Weibern und Kindern, mit Hab und Gut die Staaten verlassen! Man hat gefragt, wohin? Nach Norden, also nach Kanada? Nein, denn Kanada ist englisch, und das fromme und doch so sündhafte England duldet die Vielweiberei auch nicht. Nach Ost oder West, also über das Meer? Auch nicht. Also nach Süden! Da liegt Mexiko mit seinen weiten, der Kultur noch harrenden Strecken und seiner großen, nach Süden gerichteten Expansionsfähigkeit. Die Gesetze Mexikos erwähnen die Vielweiberei gar nicht; sie ist also nicht verboten, folglich erlaubt. Mexiko wird sich, wenn seine Regierung einmal längere Zeit in kräftigen Händen sich befindet, weit nach Süden ausdehnen und zu einem großen, mittelamerikanischen Weltreiche werden, welches sich von den Vereinigten Staaten keine Gesetze vorschreiben läßt. Hier ist der Platz für uns; hier ist die Wohnstätte unserer Nachkommen, welche sich vermehren werden wie der Sand am Meere. Hier also müssen wir uns bei Zeiten festsetzen, und darum strecken wir zunächst die Fühler aus, um zu erfahren, mit welchen Verhältnissen wir zu rechnen haben. ... Das ist der erste Schritt, den wir über die Grenze thun; gelingt er uns, so werden bald zahlreiche andere Brüder folgen.« (30)

Und später bemerkt Old Shatterhand:

»Die Sache scheint von langer Hand und mit großer Umsicht eingeleitet zu sein. Es handelt sich jedenfalls um das Einnisten der Mormonen in dieser Gegend. Daß dies in so schurkischer Weise geschieht, ist wahrscheinlich nur Melton's Sache und geschieht nicht auf einen von der großen Salzseestadt ausgehenden Befehl. Er hat den Auftrag, sich hier festzusetzen, führt denselben aber auf seine Weise aus.« (31)

Das ist die entscheidende Wendung - vor das anfangs so langsam und sorgfältig aufgebaute Bild des Mormonen schieben sich die diabolischen Züge Meltons: er ist das Böse, die Verkörperung hämisch dämonischer Mächte - die wirklichen Mormonen in der Salzseestadt sind nur insofern mitschuldig, als sie die Wölfe im Schafspelz nicht erkannten und ihnen obendrein großes Vertrauen schenkten, ein tragisch anmutendes Schicksal: Leider hat der Häuptling der Apatschen recht!(32) Wenn die Mormonen solche Menschen wie Melton, die Wellers und den Player nicht nur unter sich aufnehmen, sondern sie sogar als Gründer neuer Niederlassungen aussenden, so gleicht ihre Sekte einer faulen Frucht, welche nicht am Stamme reifen wird, sondern unten am Boden verwesen muß. (33)

Im weiteren Verlauf der Erzählung kommt Karl May praktisch nur notgedrungen, dem Fluß der Handlung verpflichtet, auf die


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Mormonen zurück. Kurz wird erwähnt, daß Old Shatterhand in der Felsenburg Meltons etwas über dreißigtausend Dollars findet; ob das Geld sein Eigentum war oder den Wellers teilweise mit gehörte oder auch aus der Mormonenkasse stammte, das ging mich nichts an. Ein Stoß Briefe beweist schließlich, daß er über die Grenze gekommen war, um im Interesse der Mormonen eine größere Landstrecke zu erwerben und so den ersten Schritt zur Verbreitung derselben auch in Mexiko zu thun. Zwei oder drei von ihnen enthielten Beweise darüber, daß er sich mit den Weller's verbunden hatte, die Erwerbung auf unehrlichem Wege vorzunehmen, um sich eine ansehnliche Summe für die eigenen Taschen zu verdienen. (34)

Und damit haben die Mormonen ihre Rolle im Erzählwerk Karl Mays ausgespielt - eine beiläufige Rolle; sie gehörten zur Ausstattung, waren Maske und Schmuck, blieben dabei aber fremd und wurden allenfalls in ihren Auswüchsen flüchtig skizziert: den Kern des Mormonismus seiner Zeit, das Leben in Utah, hat Karl May nicht geschildert - nicht erfaßt? - und dabei stand ihm durchaus bedeutende Literatur seiner Zeitgenossen zur Verfügung.

Für den fleißig katholisierenden May der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts trifft Amalie Schoppes Erklärung, mit der sie den Entschluß ihres Romanhelden, Arnold, die Mormonenstadt Nauvoo zu verlassen, begründet, »der Umgang mit den fanatischen Mormons konnte für einen Mann von seinem Geiste und Verstande nur im höchsten Grade langweilig seyn, ja gewissermaßen, wenn er noch länger fortgesetzt würde, deprimirend auf seine geistigen Fähigkeiten einwirken...«(35), sicher nicht zu; wohl aber für den Karl May, der 1906 an Sascha Schneider schreibt: Unverstand, Intoleranz, Prüderie, Nüchternheit, Poesielosigkeit, Fetischismus, das Alles ist ja richtig, aber das s o l l  u n d  m u ß  d o c h  a n d e r s  w e r d e n, nicht? Und w e n n es anders zu werden hat, von wem soll denn diese Änderung angeregt und durchgesetzt werden? Doch nur von Denen, die hierzu berufen sind und von der »Natur« hierzu ausgerüstet wurden! Wer aber sind diese Berufenen? Etwa die Schulpedanten selbst? Oder die salbungsvollen, breitmäuligen, lippenlosen »Heiligen der letzten Tage« ? Das nur zu denken wäre lächerlich! Diese Veredelung kann nur von der Seite kommen, von welcher alles Edle, alles wirklich Schöne und wirklich Große quillt, also v o n  d e r  -  K u n s t! (36) - was immer das sein mag: - Kunst.


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1 The Doctrine and Covenants of The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints. Salt Lake City 1973, Section 4,1 (»Nun siehe ein wunderbares Werk ist im Begriff, unter den Menschenkindern hervorzukommen«)

2 Gold-Glanz-Buch

3 Karl May: Giölgeda padishanün. Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche. Der letzte Ritt, in Deutscher Hausschatz (künftig: DH) XII. Regensburg 1885/86, 40. Reprint der KMG und der Buchhandlung Pustet 1978, 200

4 Titel der amerikanischen Erstausgabe; in allen folgenden Auflagen wird Joseph Smith nurmehr als Übersetzer genannt.

5 DH XX, 446

6 hierzu Hermann Wiedenroth: Die Mormonen in Hamburg. Materialsammlung, ungedrucktes Manuskript. Hamburg 1978. Vorwort und Anhang

7 a.a.O.

8 Die Gartenlaube 6. Leipzig 1869, 89

9 I. J. Benjamin II.: Drei Jahre in Amerika 1859-1862, 3. Theil. Hannover 1862, 45

10 Mitteilung von Roland Schmid, Archiv des KMV

11 nach F. Kandolf, A. Stütz und M. Baumann: Karl Mays Bücherei, D. Amerika, I. Nordamerika, in: KMJB 1931, 231-234. »Es steht nur zu hoffen, daß dieses unzulängliche Hilfsmittel einmal durch einen exakten Katalog ersetzt werden kann, der bei den einzelnen »vielen Lieblingen« auch vermerkt, wie weit sie - durch Anstreichungen erkennbar - von May durchgearbeitet wurden und wieweit sie nur, unaufgeschnitten bzw. -gebrochen, einen Ruheplatz in den Regalen fanden.« Hans Wollschläger, Jb-KMG 1970, 154

12 Illustrirte Welt 39, 1891, 600

13 KMJB 1927, 441

14 Brief von David M. Mayfield. Historische Abteilung der Kirche Jesu Christi etc., Salt Lake City, an den Verfasser

15 ausführlich Hainer Plaul: Alte Spuren, Jb-KMG 1972/73, 221-225

16 Gilbert W. Scharffs: Mormonism in Germany. Salt Lake City 1970, 18

17 Arno Schmidt: Trommler beim Zaren. Karlsruhe 1966, 210

18 466, Reprint der KMG

19 Karl May: Ges. Reiseerzählungen XV. 127. Freiburg 1895

20 DH Vl, 487, Reprint 148

21 a.a.O. 618 (192)

22 a.a.O. 619 (193)

23 a.a.O.

24 Karl May: Der Sohn des Bärenjägers, 2. Teil, Der Geist des Llano estakado. Stuttgart-Berlin- Leipzig o.J., 262

25 a.a.O. 263

26 a.a.O. 406

27 DH XV, 170, Reprint, 7

28 »Die Rache des Momonen« oder »Schwarzauge« kann hier noch nicht gebührend berücksichtigt werden: ein früher Abdruck blieb bis heute unaufgefunden: selbst im Archiv des KMV ist offensichtlich jenes Belegstück abhanden gekommen, das einst den Bearbeitern von Band 48 der Gesammelten Werke als Vorlage diente.

Laut Ekkehard Bartsch, Jb-KMG 1972/73, 94f., hat May »Die Rache des Mormonen« vermutlich zu einer vorliegenden Illustration für eine der von Kürschner nach dem Bruch mit Spemann, Sommer 1889, edierten Zeitschriften geschrieben. Hainer Plaul hat inzwischen, erfolglos, die nachstehenden Jahrgänge von »Ueber Land und Meer« durchgesehen: Normal-Ausgabe. Bd. 61-66, 1889-1891 Oktav-Heftausgabe. Jg. 1888/89, Bd. 1 und 3 (Bd. 2 fehlte!). Jg. 1889/90-1891/92. Ich habe den Text auch in der »Illustrirten Welt«, 38.-40. Jg., 1890-1892 nicht nachweisen können.

Zu klären, wieweit Karl May die kleine Erzählung Möllhausen nachempfun-


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den hat und wie dann wieder Leopold Gheri das Thema ausweitete, bleibt einer späteren Arbeit vorbehalten.

29 DH XX, 26

30 a.a.O. 216

31 a.a.O. 445

32 s. Motto zu Abschnitt II

33 DH XX, 458

34 a.a.O. 728, 730

35 Amalie Schoppe: Der Prophet. II. Theil. Jena 1846-65

36 in Hansotto Hatzig: Karl May und Sascha Schneider. Bamberg 1967, 111


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