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KARL MAY

Winnetou ·
Eine Reiseerinnerung



Ich war nach den Vereinigten Staaten gekommen, um »Land und Leute kennen zu lernen«, hatte den civilisirten Osten zur Genüge durchstreift und befand mich nun in New Orleans, von wo aus ich zunächst nach St. Louis dampfen und dann durch die Prairieen das Felsengebirge gewinnen wollte. Meine Ankunft in der Metropole des Südens fiel grad in diejenige Jahreszeit, in welcher der »gelbe Jack« und das schwarze Fieber den Aufenthalt am unteren Missisippi für den Weißen gefährlich machen. Wer nicht von der eisernen Nothwendigkeit festgehalten wurde, der beeilte sich, die dünsteschwangere Atmosphäre des sumpfigen Flußdelta's zu verlassen, um sie mit der reineren Luft von höher gelegenen Orten zu vertauschen. Die vorsichtige Aristokratie der Stadt hatte sich längst unsichtbar gemacht. Diejenigen, welche aus geschäftlichen Rücksichten noch zurückgeblieben waren, suchten fortzukommen, denn schon erzählte man sich von mehreren plötzlichen Sterbefällen, und so faßte auch ich gar bald den Entschluß, meinem Verweilen keine längere Ausdehnung zu geben, sondern vielmehr schon die nächste Gelegenheit zur Reise nach der Hauptstadt von Missourie zu benutzen.

So stand ich denn, das Steamboot erwartend, am Landeplatz, und Ned, der alte grauköpfige Neger, welcher als Factotum meines Hotels mir seine besondere Zuneigung geschenkt und jetzt den Koffer getragen hatte, lehnte neben mir an einem der Eisenkrahnen, mit deren Hülfe die ungeheuersten Lasten an und von Bord gehoben werden, und machte unter grinsendem Zähnefletschen seine drolligen Bemerkungen über die verschiedenartigen Gestalten, welche geschäftig um uns wogten oder, wie wir, harrend am Ufer standen.

Da plötzlich packte er mich am Arme und gab mir eine so kräftige


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Wendung, daß ich mich nach rückwärts drehte. Dann erhob er den Arm und deutete mit demselben in das vor uns wühlende Gedränge hinein.

»Sehen Master dort Indian?« frug er in seiner gebrochenen Art und Weise.

»Welchen? Meinst du den finsteren Patron, welcher grad auf uns zusteuert?«

»Yes, yes, Master! Kennen Master Indian?«

»Nein.«

»Indian sein groß Häuptling von Pimo, heißen Winnetou und sein best' Schwimm in United Staates.«

»So? Dazu gehört viel!«

»Well, well, Sir, aber es sein so, es sein actuelly so! Oder glauben Master, daß Ned Lügen sagen?«

Ich entgegnete Nichts und sah mir den Mann, welcher jetzt, den Blick weder rechts noch links wendend, in stolzer Haltung an uns vorüberschritt, genau an. Sein Name war mir nicht unbekannt; ich hatte im Gegentheile viel von ihm erzählen hören, aber immer an der Wahrheit der wunderbaren Geschichten, welche über ihn und ganz besonders über seine Fertigkeit und Ausdauer im Schwimmen coursirten, gezweifelt. Winnetou war der berühmteste Häuptling der Apachen, deren bekannte Feigheit und Hinterlist ihnen unter ihren Feinden den Schimpfnamen »Pimo« zugezogen hatte; doch seit er zum Anführer seines Stammes gewählt worden war, hatten sich die Feiglinge nach und nach in die geschicktesten Jäger und verwegensten Krieger verwandelt, ihr Name wurde gefürchtet bis über den Kamm des Gebirges herüber, ihre Unternehmungen waren stets vom besten Erfolge begleitet, sie unternahmen in geringer Männerzahl und mitten durch feindliches Gebiet hindurch die kühnsten Streifzüge, und es gab eine Zeit, in welcher an jedem Lagerfeuer und im kleinsten Boarraume ebensowohl wie im Salon des feinsten Hotels Winnetou mit seinen Streichen den stehenden Gegenstand der Unterhaltung bildete. Da plötzlich war er am Missisippi erschienen, um, nach seiner eigenen Ausdrucksweise, die »Hütten der Bleichgesichter« zu sehen und mit dem »Vater der weißen Männer«, dem Präsidenten zu sprechen. Seine wenigen Begleiter hatte er in die am westlichen Ufer des Flusses gelegenen Wälder zurückgeschickt und die Reise nach Washington ganz allein unternommen. Das war vor einigen Monaten gewesen, und nun kehrte er zurück, um die gewaltige Entfernung von dem »Vater


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der Ströme« bis an die Küsten des stillen Weltmeeres von Neuem zu durchmessen, ein Vorhaben, welches ihn mit tausenderlei Gefahren in Berührung bringen mußte.

Er schien im Anfange der fünfziger Jahre zu stehen, seine nicht zu hohe Gestalt war von ungewöhnlich kräftigem und gedrungenem Bau, und insbesondere zeigte die Brust eine Breite, die einen hoch aufgeschossenen und langhalsigen Yankee in die respectvollste Bewunderung zu setzen vermochte. Der Aufenthalt im civilisirten Osten hatte ihn genöthigt, eine dort weniger auffällige Kleidung anzulegen, aber das dichte, dunkle Haar hing ihm in langen, schlichten Strähnen bis weit über die Schultern herab, im Gürtel trug er ein Bowiemesser nebst Kugel- und Pulverbeutel, und aus dem Regentuche, welches er malerisch um die Achsel geschlungen hatte, sah der verrostete Lauf einer Büchse hervor, die vielleicht schon manchem »Westmanne« das letzte Valet gegeben hatte.

Da kam eine offene Equipage, in welcher ein ältlicher Herr und eine junge, verschleierte Dame saßen, dahergerollt. Mit etwas auffälliger Rücksichtslosigkeit drängte der reich gallonirte Kutscher das Geschirr durch die Menge und knallte mit der Peitsche um die Ohren der im Wege Stehenden. Erschrocken fuhren die Leute auseinander, und nur der Indianer schritt ruhig und unbekümmert um den hinter ihm entstehenden Lärmen weiter und wich kein Haar breit von seiner ursprünglichen Richtung ab. War ja doch zur Seite Raum genug für den Wagen, welcher ebenso gut drüben auf dem kurzen Setzpflaster wie hier auf den glatten, breiten Quadern fahren konnte.

»Weg da vorn, Rothhaut! Oder bist Du etwa taub?« rief der Rosselenker. Und als der Angeredete trotz des harschen und lauten Zurufes seinen Weg, ohne sich umzudrehen, fortsetzte, fuhr er, die Peitsche schwingend, fort. »Troll Dich bei Seite, Nigger, oder meine Peitsche zeigt Dir den Weg!«

Obgleich der Ausdruck »Nigger« die größte wörtliche Beleidigung für einen Indianer enthält, schien der Voranschreitende dieselbe doch nicht zu beachten, sondern ging langsam weiter. Da knallte die Peitsche, und der scharfe Riemen derselben strich dem rothen Manne grad über das Gesicht, so daß die Spuren des Hiebes sofort zu bemerken waren. In demselben Augenblicke aber stand der Getroffene auch schon auf dem Bocke, riß dem ungezogenen Burschen mit einem von unten nach oben geführten Stoße der geballten Hand Lippe und


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Nase auf, hob ihn dann vom Sitze empor und schmetterte ihn mit solcher Wucht herunter auf die Steinplatten, daß er, Arme und Beine von sich streckend, laut- und regungslos liegen blieb.

Die Pferde standen still. Es war dies Alles so schnell geschehen, daß der im Wagen sitzende Herr nicht Zeit gefunden hatte, seinem Untergebenen zu Hülfe zu kommen, jetzt aber riß er einen Revolver aus der Tasche und rief, denselben auf den Indianer richtend:

»Zounds, Canaille, das ist für Dich, wenn der Mann nicht binnen einer Minute wieder auf dem Bocke sitzt!«

Ohne eine Miene zu verändern oder auch nur mit der Wimper zu zucken, zog der Bedrohte mit blitzesschneller Bewegung die Büchse hervor und legte auf den Yankee an. Der Hahn knackte, und ganz gewiß wäre es zwischen den Beiden zu einer ernsten That gekommen, wenn nicht einige rasch herbeigeeilte Policemens durch ihr Bitten den Besitzer der Equipage bewogen hätten, die Waffe an sich zu nehmen.

»Bitte, fahrt weiter, Sir«, mahnte der Eine von ihnen, »Euer Kutscher hat sich wieder erhoben und wird wohl, das zerrissene Gesicht abgerechnet, keinen großen Schaden genommen haben. Er mußte doch wissen, daß nach den Gesetzen der Indsman ein solcher Schlag nur mit dem Tode gesühnt werden kann!«

»Well, well, aber mischt Euch nicht in meine Angelegenheiten, Ihr Leute! Was Ihr da von den Gesetzen dieser rothen Kerle sagt, das mag meinetwegen ganz wahr sein, mich aber gehen sie ganz und gar Nichts an. Ich bin der Colonel Webster aus Lindsfort und weiß ganz genau, wie ein freier Amerikaner mit solchen Burschen umzuspringen hat. Tretet vom Wagen zurück; ich werde mit dem Scalpmanne auch ohne Euch fertig!«

Die Situation schien eine gefährliche und also auch interessante zu werden. Nach Art und Weise der Amerikaner, welche sich nur selten in die Händel Anderer mischen und ihre Theilnahme an einem Streite meist nur dadurch an den Tag legen, daß sie Raum zum Ausfechten desselben geben, hatten die Umstehenden einen Kreis um den Wagen gebildet, um zu sehen, wie die Begebenheit enden werde. Da ertönte die schrille Pfeife des herandampfenden Steamers, und sofort nahm die Angelegenheit eine friedliche Wendung.

»Steig auf, Jim!« rief der Colonel. »Das Boot ist schon da.«

Winnetou zog den Lauf seiner Büchse zurück, setzte den Hahn in Ruh und sprang herab. Das Geschirr rollte der nahen Landungsbrücke


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zu, der Kreis der Neugierigen löste sich schnell auf; und ein Jeder beeilte sich, auf dem Dampfer einen möglichst guten Platz zu erobern.

Es war nicht das gewöhnliche äußerst comfortabel eingerichtete Passagierboot, sondern eins jener riesigen Packetschiffe, welche zur Personenbeförderung nur ausnahmsweise und zwar meist dann dienen, wenn bei Beginn der Fieberzeit der Andrang der Reisenden ein schwer zu bewältigender ist. Deshalb entbehrte das Fahrzeug aller jener Bequemlichkeiten, mit denen der praktische Amerikaner sich das Reisen weniger beschwerlich macht, und die Passagiere mußten Platz nehmen, wo und wie sie ihn fanden.

Ich erstieg, nachdem mein Neger sich verabschiedet hatte, einen Haufen Waarenballen, welcher eine Reihe viereckiger Kästen flankirte, die sich fast über das ganze Deck hinzog. Da oben hatte ich eine freiere Aussicht als unten, auch strich mir der kühlende Lufthauch bemerklicher um die Stirn, und rechnete ich dazu die Ungenirtheit, mit welcher ich mich hier nach Belieben ausstrecken konnte, so war mein Platz ein verhältnismäßig ganz prächtiger.

Von meinem erhöhten Standpunkte aus Umschau haltend, gewahrte ich, daß sowohl der Besitzer der Equipage mit seiner Dame als auch Winnetou, der Indianer, anwesend waren. Ersterer hatte sich mit seiner Begleiterin vorn neben der Sprintverkeilung niedergelassen, und Letzterer, dem es in dem wirren Gedränge zu schwül und unhehaglich werden mochte, kletterte an den Ballen empor und streckte sich dann, um mir meinen Sitz nicht streitig zu machen, auf dem ersten der Kästen aus, von denen ich vorhin sprach.

Kaum aber hatte er Platz genommen, als ein Laut die Luft erschütterte, der so tief und grollend, so entsetzlich klang, daß sämmtliche Passagiere erschrocken emporsprangen und sich nach der Ursache dieses fürchterlichen Brüllens umschauten. Nur Winnetou blieb ruhig sitzen, obgleich das zornige, donnerähnliche Rollen grad aus dem Kasten unter ihm hervorgedrungen war. Kein Zug seines braunen, unbeweglichen und jetzt von der dicken Peitschenschwiele entstellten Angesichtes verrieth eine auch nur leise Spur von Ueberraschung oder gar Bestürzung, und die erschrockenen Laute auf dem Decke schien er kaum eines halben Blickes für werth zu halten.

Da öffnete sich eine Lucke, aus welcher ein Mann stieg, bei dessen Anblicke mir jenes Brüllen sofort erklärlich wurde. Ich hatte ihn in Boston, in Newyork und später auch in Philadelphia und Charlestown


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gesehen und mit ihm so ziemlich innige Bekanntschaft geschlossen. Es war Fred Forster, der berühmte Thierbändiger, welcher damals mit seiner Menagerie die bedeutenderen Städte der Vereinigten Staaten besuchte und überall, wohin er kam, durch die Macht, welche er selbst über die wildesten Bestien ausübte, gerechtes Aufsehen erregte.

Die Kästen gehörten ihm und enthielten die Käfige seiner zoologischen Untergebenen. Der Indianer hatte auf dem ambulanten Logis des Löwen Platz genommen, denselben durch das dabei verursachte Geräusch aus der Siesta aufgeschreckt und ihn zu den unmelodischen Lauten veranlaßt, auf welche Forster herbeigeeilt kam, um sich über ihre Ursache aufzuklären.

In dem vorsichtigen Europa würde man sich allerdings sehr hüten, die Beförderung einer completen Menagerie ohne großes Bedenken und die umfassendsten Vorsichtsmaßregeln zu übernehmen. Der Amerikaner aber ist auch in solchen Dingen weniger difficil. In dem Lande, welches er bewohnt, hat die Gefahr ihre ständige Heimath; man ist vertraut mit ihr; man kennt sie in den verschiedensten ihrer Gestalten, man achtet sie, aber man fürchtet sie nicht, und da man gewohnt ist, den ungezähmten Bewohnern der Wildniß, wenn sie sich in gezähmtem Zustande befinden, zu begegnen.

Nur das Unerwartete hatte die Reisenden erschreckt. Als man jetzt die Bestimmung der zahlreichen Kästen begriff; lachte man über die Furcht, welche man gezeigt hatte, und der Besitzer der Thiere wurde von allen Seiten gedrängt, die Umhüllung der Käfige zu lüften.

»Well, ich habe sehr Wenig dagegen, wenn es Euch Spaß macht, Ladies und Gentlemans, etwas frische Luft wird den Kreaturen auf alle Fälle wohl thun. Aber fragt den Capt'a; auf eigene Faust darf ich es nicht unternehmen!« antwortete er und wandte sich dann an den Indianer.

»Wollt Ihr nicht so gut sein und von Eurem Throne steigen, Mann? Der Löwe ist König und mag nicht gern Jemanden über sich leiden!«

Der Angeredete machte, ohne die Lippen zu öffnen, durch eine leichte, abweisende Handbewegung bemerklich, daß es ihm hier oben ganz gut gefalle und er gar nicht die Absicht habe, seinen Platz zu verlassen.

»Gut, Master Büffelkind; mir soll es Recht sein. Aber beklagt Euch dann auch nicht, wenn Euch etwas Unerwünschtes passirt!«

Jetzt brachte man den Capitain herbei, welcher nach einigem Zögern


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die Erlaubniß gab, die Käfige auf der einen Seite von den Bretterwänden zu befreien. Mit HüIfe der Thierwärter war dies bald geschehen, und da Forster diese Gelegenheit gleich zur Fütterung der Thiere benutzen wollte, so war den Zuschauern ein höchst interessantes und unterhaltendes Schauspiel geboten.

*

Die Sammlung bestand aus meist wirklich prachtvollen Exemplaren, und ganz besonders war es ein bengalisches Königstigerweibchen, welches die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Das Thier war erst vor Kurzem gefangen, von Indien nach Amerika gebracht und da von seinem jetzigen Besitzer gekauft worden. In der freien Wildniß aufgewachsen und noch fast vollständig ungezähmt, bot es einen imposanten Anblick dar und riß durch den Bau seiner gewaltigen Glieder, die urkräftige Geschmeidigkeit seiner Bewegungen und den markerschütternden Ton seiner Stimme zu lauten Ausrufen der Bewunderung hin.

»Geht Ihr auch in diesen Käfig?« frug einer der Umstehenden den Thierbändiger.

»Warum nicht? Von Außen ist die Bestie nicht zu zähmen, man muß hinein, wenn man ihr Respekt einflößen will.«

»Aber Ihr riskirt dann jedesmal dabei das Leben.«

»Das habe ich schon tausendmal gethan und bin es also so ziemlich gewohnt. Uebrigens treffe ich meine Vorkehrungsmaßregeln, ich bin niemals unbewaffnet, wenn ich mich einem Thiere nahe, dessen ich nicht vollständig sicher bin. Ein einziger Hieb mit diesem Todtschläger hier betäubt, wenn er kräftig geführt wird und richtig trifft, den stärksten Löwen. Aber ich brauche ihn wenig, die Macht eines ächten und rechten Bändigers liegt wo ganz anders. Zuweilen trete ich ohne jede Waffe in die Käfige.«

»Aber in diesen hier würdet Ihr Euch wohl nicht so wagen!«

»Wer sagt Euch das? Ich getraue es mir in jedem Augenblick zu thun, und auch jetzt. Zwar hat die Tigerin ihre Ration schon gerochen, das Fleisch aber noch nicht gesehen, und so lange ihr Auge nicht auf Blut gefallen ist, habe ich keine Veranlassung, mich vor ihr zu fürchten.«

»Nein, Ihr werdet Euch nicht zu ihr hinein wagen!« meinte, näher


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tretend, der Colonel, welcher bisher abgesondert von den Uebrigen die Käfige besehen hatte, während seine Dame, sich vor den Insassen derselben scheuend, auf dem Vordertheile des Schiffes geblieben war und dort über die Reiling hinweg in das Wasser sah, welches rauschend an dem stolzen Buge emporschäumte. »Ich wollte wohl hundert Dollars für diese meine Behauptung gegen Jeden setzen, der diese Summe parirt!«

Der Yankee besitzt eine Leidenschaft für das Wetten, und wo sich ihm eine pikante Gelegenheit bietet, dieser Passion Vorschub zu leisten, läßt er sie sicher nicht vorübergehen.

»Ihr seid ziemlich unvorsichtig, Sir!« antwortete Forster. »Seht, wie furchtlos und ruhig der Indianer da auf dem Käfige des numidischen Löwen sitzt. Glaubt Ihr wirklich, daß ich, der Besitzer und Meister dieser Thiere, weniger Muth besitze?«

»Pshaw!« machte der Colonel mit einer verächtlichen Handbewegung. »Bei diesem Menschen ist es nicht Muth, sondern Ignoranz, Dummheit. Hätte er ein Verständniß für das Gefährliche seiner Lage, so würde er bald hier unten bei uns stehen oder sich in irgend einen Winkel verkriechen. Er kennt ja den Löwen gar nicht. Diese rothen Hallunken verstehen nur, den Feind feiger Weise zu beschleichen und ihn dann nächtlicher Weile und hinterrücks mit Uebermacht zu überfallen. Aber einer Gefahr offen und frei in das Auge zu schauen, dazu fehlt ihnen nicht mehr als Alles.«

Winnetou verstand vielleicht jedes dieser Worte, aber die Züge seines scharfgeschnittenen Gesichtes blieben unbeweglich, und nach wie vor fuhr er fort, die Waldparthien, welche am rechten Ufer des Flusses bis heran an das Wasser traten, aufmerksam zu mustern. Für Das, was in seiner Nähe vorging und gesprochen wurde, schien er nicht die mindeste Beachtung übrig zu haben.

»Ihr irrt Euch in dem Indianer ebenso wie in mir. Wer die Völker der Prairien so kennen gelernt hat wie ich, der hat eine weniger verächtliche Vorstellung von ihren Fähigkeiten und Eigenschaften. Ich bin ein Weißer, aber ich habe gar manchen Rothen gesehen, der selbst dem besten Kentuckymanne zu rathen aufgegeben hätte.«

»Macht Euch nicht lächerlich mit dieser ehrenwerthen Gesellschaft, Master! Laßt nur das erste beste Eurer kleineren Thiere, meinetwegen dort das Stachelschwein, heraus, und ich bin überzeugt, daß der Indianer, sobald er es in Freiheit sieht, vor lauter Angst und Bangigkeit


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sofort in den Fluß springen wird. Diese Canaillen sind ebenso feig, wie sie grausam zu sein verstehen, ich kenne sie besser als Ihr. Man kann wohl aus einem guten Trapper zwanzig Indsmann, nie aber aus tausend Indsmann einen einzigen festen Trapper schneiden. Sie haben weder Geist noch Gefühl, weder Verstand noch Gemüth, sie sind eben Indsmann, sie sind keine Menschen. Aber wir kommen von unserer Wette ab!«

»Ich halte sie. Cap'tän, Ihr seid Zeuge!«

»Das bin ich«, antwortete der Befehlshaber des Fahrzeuges, »aber ich darf kaum zugeben, daß Ihr in der festgesetzten Weise zu dem Tiger geht, denn ich habe die Verantwortung für Alles zu tragen, was bei mir an Bord passirt.«

»Das kann Euch Niemand bestreiten, doch werdet Ihr keinem freien Bürger der Vereinigten Staaten verbieten können, mit seinem Eigenthume zu thun, was ihm beliebt. Das Thier gehört mir, und ich kann den Käfig betreten, jetzt oder später, heut' oder morgen, bewaffnet oder unbewaffnet, zur Dressur oder in Folge einer Wette, eben ganz nach meinem eigenen Ermessen und Wohlgefallen. Oder meint Ihr etwa anders? Und was den Unfall betrifft, so könnte er doch nur mir allein begegnen, und da bin ich doch wohl Mannes genug, die Verantwortung selbst zu tragen. Ist es so oder nicht?«

Der Capitain war selbst Yankee genug, um das lebhafteste Interesse für eine so seltene Wette zu hegen, und da er mit der ausgesprochenen Warnung seiner Pflicht genügt zu haben glaubte, so meinte er zustimmend:

»Wenn Ihr die Folgen auf Euch nehmt, so kann ich Nichts dagegen haben. Thut also, was Ihr wollt!«

»Well, Sir! Tretet zurück, Ihr Leute!« befahl Forster und übergab dem Colonel die mit dem Todtschläger versehene Peitsche. Dann näherte er sich mit festen, sichren Schritten dem Käfige und schob, das Auge groß und voll auf das Thier gerichtet, den Riegel zurück.

Die Tigerin hatte sich in dem Hintergrunde des engen Raumes niedergeduckt und lag, den breiten, kurzen Kopf auf den ausgestreckten Vorderpranken, mit an der Wand emporstrebendem Schwanze und blinzelnden Augen am Boden. Als der Bändiger sich der Thür näherte, riß sie die Lider weit auf und richtete die rollenden Lichter mit unheimlichem und drohendem Blicke auf ihn hin. Die blutgierige Bewohnerin der indischen Dschungel war durch die Gegenwart so vieler Menschen


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aus ihrem Traume von der fernen Heimath aufgeschreckt und an ihre Gefangenschaft erinnert worden. Die in's Grüne flimmernden Pupillen verengerten sich mehr und mehr, die Tatzen wurden gekrümmt und an den Körper gezogen, der hintere Theil des Raubthieres erhob sich leise und fast unmerklich; in dem Augenblicke, in welchem der Riegel klirrte, flog ein kurzes Zittern über das weiche, schöngezeichnete Fell, und in dem nächsten Momente donnerte ein Entsetzen erregender Laut zwischen den Eisenstäben hervor. Die Tigerin war mit unwiderstehlicher Wucht gegen die Thür gesprungen und schnellte, während Forster durch den Stoß, welchen sein Körper von der Letzteren erhalten hatte, weit fortgeschleudert wurde, in mächtigen Sätzen über das Deck dahin.

Ein allgemeiner Angstschrei erfüllte die Luft, und Jeder suchte sich so schnell wie möglich zu retten. Es war eine Minute der fürchterlichsten Bestürzung und Verwirrung. Sämmtliche Thiere der Menagerie erhoben ihre heulenden, brüllenden, kreischenden und tobenden Stimmen, die Menschen stürzten über einander den Lucken, Winkeln, Masten und Strickleitern zu, man rief um Hülfe, suchte nach allen möglichen Waffen und vollführte dabei einen solchen Lärm, daß sogar das arbeitende Keuchen der Maschine unhörbar wurde.

Ich war wieder auf die Ballen gesprungen, welche ich vorhin verlassen hatte, um Forster zu begrüßen, und blieb da oben, vor Grausen unbeweglich, stehen, denn da vorne grad vor mir, sah ich das arme Mädchen unrettbar verloren noch an der Reiling stehen. Das entsprungene Thier hatte seinen Lauf gerad auf sie zu genommen und duckte sich, kaum noch acht oder neun Schritte von ihr entfernt, zum verderblichen Sprunge nieder. Das Gesicht des armen Kindes war todtesbleich und starr wie das einer Leiche, mit wie nach Hülfe ausgestreckten Armen stand sie da, keiner Bewegung fähig, und wenn nicht ein fast Unmögliches geschah, so mußte sie in der nächsten Sekunde zerfleischt am Boden liegen.

Da sprang mit katzenhafter Behendigkeit eine Gestalt an mir vorbei, von dem Ballen hinunter, voltigirte in weiten, raubthierartigen Sprüngen über den in der Mitte des Schiffes liegenden freien Raum hinweg an der Tigerin vorüber, packte das Mädchen mit der Linken, stützte sich mit der Rechten auf die obere Pfoste der Reiling und war einen Augenblick später in den tiefen, schmutzig gelben Fluthen des Missisippi verschwunden. Es war Winnetou.

Ein einziger Ruf, der aus allen Kehlen kam, stieg empor. War es


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ein Ruf der Freude oder neuen Schreckens? Es war schwer zu beantworten, denn gleich nach den Beiden hatte sich auch die Tigerin über die Deckumfassung geschnellt. Alles eilte nach der Brüstung des Schiffes, um hinab zu sehen, und mit schallender Stimme commandirte der Capitain.

»Mann am Steuer, beidrehen! Stopp, stopp, Maschinist!«

Eine geraume Zeit, während welcher man kaum zu athmen wagte, verging. Das Raubthier lag, die vier Pranken ruhend von sich gestreckt, auf dem Wasser und bewachte mit glühenden Augen jede Bewegung desselben. Da, kaum einige Manneslängen von ihm entfernt, tauchte plötzlich die Gestalt des Indianers mit raschem Stoße in die Höhe, so daß er fast mit dem halben Körper über die Oberfläche des Stromes emporschoß und man deutlich bemerken konnte, daß sich das jetzt ohnmächtige Mädchen mit beiden Armen krampfhaft fest an seinen Hals geklammert hatte.

Kaum aber hatte er Zeit gehabt, Athem zu holen, so schoß die ihn erblickende Tigerin auf ihn zu. Er fuhr wieder in die Tiefe, tauchte eine Strecke entfernt von Neuem zum Athem empor, ward von dem Thiere sofort wieder verfolgt und hinunter getrieben, und so währte die fürchterliche Jagd eine ganze Weile, welche bei den statthabenden Verhältnissen zu einer Ewigkeit wurde.

Man hatte eine Menge Taue ausgeworfen und das Fallreep niedergelassen, aber der kluge Indianer wußte recht wohl, daß diese Vorkehrungen ihm nichts nützen konnten, denn noch ehe er mit ihrer Hülfe einige Fuß hoch empor gekommen wäre, hätte die Tigerin ihn erreicht gehabt. Es gab nur ein Mittel, sich zu retten. er mußte unter dem Fahrzeug hinwegtauchen, und das war nicht unmöglich zu bewerkstelligen, da die Maschine stand. Hätte er um das Fahrzeug herumschwimmen wollen, so hätte das verfolgende Thier seine Absicht bemerkt, und das Emporklimmen wäre ihm dann am Backbord ebenso unmöglich gewesen wie jetzt am Steuerbord.

Er versuchte daher, so lange wie möglich an der Oberfläche des Wassers zu bleiben, um die nöthige Luft zu schöpfen. Eine Handbewegung deutete seine Absicht an; dann verschwand er wieder.

»Taue über Backbord!« befahl der Capitain.

Alles eilte nach der angegebenen Seite, und wirklich währte es nicht lange, so erschien Winnetou über den Fluthen und ruderte auf das nächste Seil zu, welches herniederhing.


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»Cheer up, cheer up, come on, munter, munter, vorwärts!« mahnte der Capitain, und in seiner Stimme klang so deutlich die größte Angst, daß sich Alle besorgt und mit fragendem Blicke nach ihm umwandten.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, deutete er mit ausgestreckter Hand hinaus auf die gelben Wogen. Aller Augen folgten der Richtung seines Armes, und Aller Lippen riefen auch sofort die zur Eile treibenden Worte nach, welche er ausgesprochen hatte.

In nicht gar weiter Entfernung waren drei Furchen zu bemerken, welche sich mit vehementer Schnelligkeit dem Schiffe näherten.

»Um Gotteswillen, rasch, rasch, die Krokodile kommen!« rief es die ganze Seite des Schiffes entlang.

»Mein Kind, mein armes Kind!« wehklagte der Vater des Mädchens. Er hatte schon an Rettung geglaubt und sah die Tochter sowohl als auch ihren muthigen Beschützer jetzt einer neuen und größeren Gefahr ausgesetzt. Mit aufgerissenen Augen und angstverzerrten Zügen legte er sich weit über die Brüstung hinaus und streckte die zitternden Arme hinab, als müsse er Beide erfassen, noch ehe sie von den Alligatoren erreicht werden konnten.

Winnetou hatte den warnenden Ruf vernommen. Ein einziger, rückwärts gerichteter Blick belehrte ihn über die große Nähe der neuen Feinde, er griff nach dem Taue, und mit Anspannung aller Kräfte kletterte er nicht, nein, schnellte er sich sprungweise mit beiden Händen zugleich an demselben in die Höhe. Da er das Mädchen nicht halten konnte, war es ein Glück, daß die Ohnmacht ihr die Arme fest um seinen Nacken hielt, und noch hatte er kaum den dritten Theil der Deckhöhe erklommen, so vernahm er unter sich einen dumpfen Laut, als ob zwei Balken zusammengeklappt würden: das erste der Krokodile hatte die Seite des Schiffes erreicht und nach ihm geschnappt. Er war gerettet. Mit ruhigeren Griffen turnte er sich nun vollends empor und stieg über die Reiling auf das Deck.

Sämmtliche Anwesende wollten auf ihn zueilen, wurden aber von einem lauten Rufe davon abgehalten.

»Die Tigerin, schaut Leute, die Tigerin kommt!«

Es war so. Sie hatte den Verschwundenen gesucht und kam jetzt um das Hintertheil des Schiffes herüber nach Backbord geschwommen. Schnell eilten Alle wieder an die Brüstung, und nur der Vater blieb bei der bewußtlosen Tochter zurück.

Die ruhigen und sicheren Bewegungen des schönen, kraftvollen


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Thieres boten einen wirklich prächtigen Anblick. Leicht und spielend ruderte es sich über die Wogen dahin und ließ die mächtige Muskulatur des geschmeidigen Körpers jetzt mehr als sonst vorher in die Augen fallen. Da richtete es den Blick nach der Stelle, an welcher Winnetou emporgeklettert war, und in demselben Momente noch hatte es eine Wendung gemacht, um zu fliehen. Aber schon war es zu spät: drei Furchen zogen sich blitzesschnell nach dem Punkte hin, wo die Tigerin sich befand; es erfolgte ein Brüllen, so schrecklich und entsetzlich, daß sich den Hörern die Haare sträubten; das Wasser wurde zu Schaum und Gischt gepeitscht und in hochfliegenden Flocken umhergespritzt, es erklang ein tiefes, dumpfes Gurgeln und Röcheln, eine kreiselnde, trichterförmige Oeffnung bildete sich in dem Wasser, dessen gelbe Farbe sich in Blutroth verwandelte, und dann ward es still: die Alligatoren hatten die Tigerin in die Tiefe gezogen.

Mit einem allgemeinen »Ah« der Erleichterung machten sich die Herzen der Zuschauer frei von der Beklemmung, welche bisher auf ihnen gelegen hatte, und dann suchten die Augen nach den zwei Leuten, welche eng verschlungen in der Nähe des Maschinendaches standen.

»Sie lebt noch; sie ist schon wieder zu sich gekommen!« rief es von allen Seiten, und der Capitain trat hinzu, um dem erschöpften Mädchen und ihrem von der Angst nicht weniger angegriffenen Vater seine Cajüte zur Verfügung zu stellen.

Das Boot nahm seinen Lauf von Neuem auf. Forster blickte betrübt nach der Stelle zurück, an welcher ihm das schönste seiner Thiere verloren gegangen war, und die Uebrigen frugen nun auch nach Winnetou. Die Büchse wieder über der Schulter und das Regentuch am Arme, hing er hoch droben in den Wantensprossen und bohrte das scharfe Auge in das düstere Waldesdickicht am jenseitigen Ufer. Kein Zuruf brachte ihn herab; selbst auf die Bitten des wieder nach Oben gekommenen Colonel's hatte er keine Antwort, es war augenscheinlich, daß er da drüben nach Etwas suchte.

Da, nach langer Zeit, als die allgemeine Aufmerksamkeit sich schon seit Viertelstunden von ihm gewendet hatte, gab er mit dem in der Luft geschwungenen Tuche ein weithin sichtbares Signal. Vom Schilfgewirr des Ufers hatte sich ein Canoe abgelöst, in welchem sich zwei Indianer befanden, die mit kräftigen Ruderschlägen dem Dampfer zustrebten. Sie kamen, ihren Häuptling abzuholen. Der Sohn der Wildniß kennt keine Station; er nimmt Abschied von der Civilisation da, wo es ihm


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paßt und er die Seinen erwartet. Er stieg herab und gab mit einer kurzen Handbewegung dem Capitain das Zeichen, daß er scheiden wolle.

Da legte sich eine Hand auf seine Schulter, und eine zitternde Stimme sprach:

»Du darfst nicht gehen. Du hast mir meine Tochter gerettet, und ich will Dir dankbar sein!«

Der Colonel war es. Im Augenblicke hatte sich um die Beiden ein Kreis gebildet. Der Indianer drehte sich langsam um und maß den Sprecher mit ernstem Blicke vom Kopfe bis zu den Füßen herab. Seine Gestalt reckte sich in die Höhe, seine Augen blitzten leuchtend über die Umstehenden, und seine Stimme klang scharf und hell, als er die ersten Worte sprach, welche man von ihm hörte.

»Der weiße Mann irrt. Die rothen Männer haben keinen Muth und kein Herz, sie sind keine Menschen. Winnetou hat nicht die junge Squaw retten wollen, sondern er ist nur deshalb in die Fluthen des heiligen Vaters gesprungen, weil er sich fürchtete vor dem Stachelschweine, welches die Bleichgesichter losgelassen haben. Howgh!«

Mit stolzem Neigen des Hauptes wandte er sich um, warf das Tuch über die Achsel, stieg das niedergelassene Fallreep hinab und fuhr mit seinen beiden Leuten davon. Er hatte zu den vielen kühnen Thaten, welche über ihn von Mund zu Munde gingen, eine neue gefügt.

Noch lange sah man sein reiches, mähnenartiges Haar im Winde wehen, noch länger lag der Klang seiner Stimme den Hörern im Ohre, am längsten aber dachte man an den Edelmuth, mit welchem er dem Colonel Böses mit Gutem vergolten hatte. Ich ahnte damals nicht, daß ich ihn bald wiedersehen würde, und doch habe ich an seiner Seite die Prairie in ihrer ganzen Länge und Breite durchstrichen, bin ihm mein Leben mehr als zehnmal schuldig, habe von zahlreichen Abenteuern zu berichten, bei denen ich ohne ihn verloren gewesen wäre, nenne ihn den besten, treuesten und edelsten meiner Freunde, und wenn von einem Menschenkinde die Rede ist, welches den Namen eines Helden verdient, so kann ich nicht anders, ich muß dabei immer denken an Winnetou, den Häuptling der Apachen. ---

Unveränderter Nachdruck aus: »Omnibus«, Illustrirtes Wochenblatt. 17. Jg, Hamburg 1878, Heft 40 und 41. Die Zäsur zwischen den beiden Fortsetzungen wurde durch ein Sternchen gekennzeichnet.


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