//193//

HELMUT SCHMIEDT

Literaturbericht



Sind die Zusammenhänge, in denen Literatur entsteht und wirkt, durch Bilder sinnvoll zu illustrieren? Zum Beispiel: dient es dem Verständnis poetischer Werke, wenn wir zuhauf Fotografen geliefert bekommen von der Geburtsstadt ihres Autors, von seinen Verlegern und von den Einbänden, in denen sich seine Bücher vor fast einem Jahrhundert präsentierten? Der literaturwissenschaftliche Positivismus des späten 19. Jahrhunderts und seine Epigonen hätten solche Fragen ohne Zögern bejaht, aber dem heutigen Leser will eine uneingeschränkte Zustimmung nicht so schnell von den Lippen gehen: denn geraten wir nicht in die Gefahr, im allzu intensiven Zugriff auf die Biographie eines Autors und sein privates und soziales Umfeld das Wesentliche zu vergessen, das ihn ja überhaupt erst interessant und bedeutend gemacht hat - das literarische Werk in all seinen charakteristischen Einzelheiten? Daß das Werk determiniert ist durch die persönlichen Erfahrungen seines Verfassers, die wiederum geprägt sind von den soziokulturellen Traditionen, in denen er lebt, und daß das Aufsuchen dieser Faktoren zu den wichtigsten Aufgaben einer nicht nur werkimmanent orientierten Analyse zählt, mag unbestritten sein; aber läßt nicht gerade die Karl-May-Forschung - nicht nur sie - , außerhalb und vor allem auch innerhalb der Gesellschaft, die dieses Jahrbuch publiziert, die Befürchtung aufkommen, hier werde der Literatur nur noch der Charakter eines Dokuments für historisch-soziale und psychische, d. h. im strengen Sinne außerliterarische Konstellationen zuerkannt; interessiert an den Werken noch in erster Linie ihre spezielle Beschaffenheit oder nicht eher die Tatsache, daß sie Aufschluß geben über die Ehe des Herrn Karl May mit Frau Emma, geb. Pollmer, über ambivalente Beziehungen zu den Eltern, den Kritikern und auch über die politischen Verhältnisse, in denen Herr May lebte? Wird damit nicht einerseits der Voyeur zufriedengestellt


//194//

und andererseits - bewußt oder unbewußt - versucht, unter Hinweis auf die komplexe Problematik des Menschen Karl May und seiner Zeit auch seine literarische Produktion aufzuwerten, obwohl es mit deren Qualität vielleicht nicht weit her und der Interpret ernsthaft an ihr auch gar nicht interessiert ist? Wird nicht ein insgesamt durchaus mediokrer Roman wie »Und Friede auf Erden« auf dubiose Weise über Gebühr behandelt, wenn wir uns vorwiegend der kathartischen Funktion vergewissern, die er für seinen Autor besaß, und uns daran erfreuen, daß May hier einen Pazifismus und Kosmopolitismus vertritt, der sich positiv von der vorherrschenden Ideologie seiner Zeit abhebt; wird also versucht, die Moralität seines Werkes stillschweigend seiner Qualität zuzuschlagen, auf daß sich von dieser ein besseres Gesamtbild ergebe? Aus der zustimmenden Beantwortung dieser Fragen folgte eine merkwürdige Kontinuität - wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen - zu den publizistischen Attacken, die May in seinen letzten Lebensjahren ertragen mußte: auch jene Kritiker bezogen sich kaum auf die literarische Produktion als das Ziel ihrer Angriffe, sondern auf die irritierende Zwielichtigkeit, in der sich die Person des Autors präsentierte.

Andererseits - um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen - ist May ein Schriftsteller, dessen Talente überwiegend die Vermittlung des Gegenständlichen, des sinnlich Erfahr- und Vorstellbaren erlauben. Abstrakte Reflexionen und theoretische Erörterungen sind seine Sache nicht; wann immer er überzeugende Gedanken und originelle Einfälle vermittelt, kommen sie in Gestalt konkreter Aktionen daher, in Form von Sachmotiven und Ereignissen, die szenisch zumindest potentiell darstellbar sind; da wäre es also doch angebracht, durch einen Bildband zu neuen Einsichten anzuregen? Die Plastizität seiner Schilderungen ist vermutlich einer der Gründe für deren Popularität, denn noch den absurdesten Details seiner Abenteuer ringt May eine selbstverständliche Durchsichtigkeit ab, die den bereitwilligen Leser ohne weiteres an die fiktive Heldenwelt bindet. Daß sich im Spätwerk die Konturen zu verwischen scheinen und der sachbezogene Dialog zugunsten einer Abfolge von Traumphantasien zurücktritt, mag den Ausschlag für die geringere Popularität dieser Erzählungen geben. Aber selbst hier, wo es nach Mays eigenem Zeugnis um Psychologie und sogar um die


//195//

Menschheitsgeschichte geht, verzichtet er nicht darauf, das Abstrakte im Gegenständlichen zu artikulieren: man denke nur an die Schutzengelphantasien, überhaupt an die Visionen des blinden Münedschi im »Jenseits« und vor allem an die Bilder von der Vergangenheit und Zukunft der Zivilisation, die noch im »Ardistan«-Roman auf den sehr schlichten Hintergrund einer Reisebewegung projiziert werden. Wo May brilliert, handelt es sich meistens um Dinge, die scheinbar mit den Händen zu greifen sind.

Nach solchen Vorüberlegungen wird man dem Ende 1978 erschienenen und im Februar 1979 zum »Buch des Monats« gekürten »großen Karl May Bildband«(1) mit Hoffnungen und Befürchtungen entgegensehen. Der Titel sollte ursprünglich ganz anders lauten, wurde dann aber - wohl mit Rücksicht auf Thomas Ostwalds May-Buch - geändert; die neue Formulierung scheint mir nicht ganz glücklich, läßt sie doch zunächst eher an Pierre Brice & Co. denken; außerdem fehlen ihr zwei Bindestriche. Der Untertitel aber macht hinreichend deutlich, um was es geht: eine Biographie in Dokumenten und Bildern wird vorgelegt, die Person Mays also steht im Mittelpunkt und nicht das, was May geschrieben und was man daraus gemacht hat. Die beiden Herausgeber und Autoren, Gerhard Klußmeier und Hainer Plaul, sind den Mitgliedern der Karl-May-Gesellschaft als engagierte Mitarbeiter seit Jahren bekannt; nicht zuletzt in den Jahrbüchern haben sie ihre Untersuchungen vorgelegt. Was insbesondere Plaul dabei geleistet hat, verdiente ob seiner repräsentativen Gültigkeit auch einmal einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden: die verschiedenen Stationen der Mayschen Vita, die Plaul mit Akribie durchleuchtet hat, sind durchaus Einzelfall und exemplarisches Modell zugleich, und wenn Plaul etwa mit der Auswertung diverser Gesetze und Verordnungen des 19. Jahrhunderts die Haftzeit Mays rekonstruiert, dann finden sich dabei Materialien, die nicht nur May-Experten - vielleicht nicht einmal in erster Linie sie - zu interessieren hätten; ähnliches gilt für weitere Arbeiten Plauls über andere Abschnitte der Biographie Mays, und im Ergebnis all dieser Forschungen entsteht fast so etwas wie eine Sozial- und Kulturgeschichte der unteren Bevölkerungsklassen im späten 19. Jahrhundert. Diesen Aspekt der Allgemeingültigkeit, die doch der Singularität der Person nichts nimmt, hat Plaul auch in den allzu kurzen Einführungstexten beachtet,


//196//

die den Kapiteln des Bildbandes jeweils vorangestellt sind, aber in diesem Rahmen kann es dabei natürlich nur zu andeutenden Hinweisen kommen, und wichtiger als alle Kommentare sind selbstverständlich hier die Bilder.

Was Plauls und Klußmeiers Arbeiten stets ausgezeichnet hat, findet sich in quasi gebündelter Form wieder: mit beeindruckendem Fleiß und in Zusammenarbeit mit zahlreichen Privatpersonen und Institutionen - vom Vogtländischen Kreismuseum in Plauen bis zur Lenin-Bibliothek in Moskau - haben sie auf fast zweihundert Seiten abbildbare Materialien aller Art zusammengetragen, die eine optisch eindrucksvolle Ergänzung der bisherigen Mono- und Biographien zum Thema darstellen. Mögen manche dieser Bilder dem Experten schon bekannt gewesen sein, so beeindruckt doch hier die Fülle der Dokumente, und jeder noch so kenntnisreiche Betrachter wird vieles finden, was ihm bisher unzugänglich war und ohne dieses Buch wohl auch geblieben wäre. Nahezu alle Personen, die auch nur in vager Berührung und kurzfristig mit Mays Vita zu tun hatten, werden in Bild und Wort vorgestellt; wie es in Ernstthal, an den Wirkungsstätten des Pädagogen May, in den Haftanstalten und an seinen späteren Aufenthalts- und Wohnorten aussah, wird eindrucksvoll demonstriert, und gerade bei diesen Bildern stellt sich der eben beschriebene Effekt ein: hier geht es nicht nur um die beliebige Privatgeschichte eines interessanten Individuums, hier rücken Sozial- und Kulturgeschichte ganz zwanglos ins Blickfeld. Die Bände der Freiburger Ausgabe und manches mehr werden in bunten Fotografien gezeigt, wie überhaupt generell Mays literarische Produktion so ausführlich präsent ist, als es eben angebracht erscheint. Es gibt wohl kaum einen im Zusammenhang der Konzeption des Buches zu vermittelnden Aspekt, der nicht berücksichtigt würde. Wer dennoch Kritik anmelden möchte, wird dies weniger mit dem Hinweis auf etwas, das fehlt, tun als vielmehr mit der Frage, ob nicht gelegentlich eine allzu übertriebene Liebe zu Details, abseitigen zumal, herrscht, die denn doch dem Verständnis der Problematik nicht recht dienlich ist: muß man wirklich Herrn Woldemar Ludwig Grenser im Bild vorstellen (S. 18), der zur Hebammenausbildung der Mutter beitrug; ist es sinnvoll, den Kapitelbeginn eines Sue-Romans zu reproduzieren, bloß weil May aus diesem Werk sein Pseudonym Latreaumont bezog (S. 83), oder


//197//

ein Bildnis des Historikers Heinrich von Sybel (S. 59), dessen Namen May in einem gefälschten Schriftstück verwendete? Das aber sind, im Blick auf den Gesamtwert des Buches, fast müßige Fragen: das Bemühen um größtmögliche Vollständigkeit in der Dokumentation liegt bei der Einzigartigkeit des Unternehmens nahe, und die absurden Einzelheiten versperren nicht den Zugang zum Zentrum des Ganzen. Doch was ist dieses Zentrum, und ist das Buch nicht noch etwas anderes als das Produkt einer mehr oder weniger vollständig gelungenen Fleißarbeit?

Will man seinen Inhalt in groben Zügen strukturieren, so ergeben sich zwei große Linien: da ist einmal der erfolglose, von Demütigungen und Niederlagen geschlagene, letztlich in jeder Hinsicht recht elende May, der zwischen Hinterhöfen, trostlos wirkenden Seminaren und den Haftanstalten pendelt und im Alter von dieser trüben Vergangenheit eingeholt wird; da ist zweitens der Erfolgsschriftsteller May, wie er sich emporarbeitet und dann, in den neunziger Jahren. endgültig reüssiert. Nicht allein die - übrigens gar nicht so zahlreichen - Bilder von May bezeugen diese Linien; ergänzend werden die abgebildete Umgebung, die verfügbaren Dokumente zum Indiz, und wer die 1896 bezogene »Villa Shatterhand« mit den Bildern aus der Geburtsstadt Mays vergleicht, wird erkennen, um was es diesem Mann in seiner Entwicklung wesentlich ging. Aber natürlich kann das Buch nicht die Geschichte eines stetig wachsenden Erfolges sein; wir wissen, wie schwer May auch in seinen besten Jahren - kurz vor der Jahrhundertwende etwa - an der Vergangenheit zu tragen hatte, und sei es in der Form ihrer strikten Verleugnung. Diese Verleugnung, bemüht sublimiert zum selbstgewissen Leben in Glanz und Gloria, prägt denn auch charakteristisch die Bilder der Zeit. Ob May sich in der Rolle und Ausstattung seines fiktiven Ich-Helden abbilden, ob er sich auf großer Fahrt im Orient oder in Amerika fixieren läßt, ob er im Kreis seiner Freunde als »Le Bourgeois Gentilhomme« (Wollschläger) paradiert oder hochtrabende Briefe an seine Anhängerscharen verschickt - stets wird deutlich, daß hier nicht jemand eine Persönlichkeit präsentiert, die für ihn selbstverständlich geworden ist und mit der er sich vollkommen identisch fühlt. Fast auf allen diesen Bildern setzt May ein starres, sprödes, gezwungenes Lächeln auf, in den Shatterhand- und Kara-Ben-Nemsi-Posen hält er die Beine mit angestreng-


//198//

ter Gelöstheit leicht gekrümmt, derart skurril die falsche Routine des Globetrotters vorspielend, und die Bilder seines Arbeitszimmers belegen, wie er sich durch die Dekorationen seiner Phantasiewelt einmauern und absperren will von der nach wie vor drohenden tristen Realität. Ähnlich wirken die Einbände seiner Bücher, deren kuriose Buntheit sicher nicht nur mit dem Zeitgeschmack zu erklären ist: als ziehe sich hier jemand, bevor man auch nur eine Zeile von ihm liest, hinter exotische Vorhänge zurück, die sein eigentliches Ich vor dem genauen Hinsehen schützen. Noch in der energischsten Kompensation des früheren Elends werden so dessen anhaltende Kräfte sichtbar, und alle vorgebliche Souveränität erweist sich als scheinhaft. Daß May auch im größten äußeren Erfolg nur ein sehr fehlbarer Rollenspieler ist und warum es sich, schaut man auf die Vergangenheit, so verhält, daß also die skizzierte zweite Linie seiner Biographie sich nur oberflächlich von der ersten löst - das wird durch das vorliegende Material optisch belegt. Im Wohlstandsbürger May steckt nachdrücklich und unabweisbar noch immer der leidende Proletarier; die Erfahrungen des Proletariers May sind in ihrer Strenge verantwortlich dafür, daß sich der Schriftsteller May so und nicht anders entwickelte. Mindestens zwei deutsche Spruchweisheiten hat dieser Bildband zum Thema: die vom Stoff, aus dem die Träume sind; und daß es sich bei Träumen um Schäume handelt.

Hier erlaubt es nun das Buch, zu den biographischen Phänomenen auch literarische Determinanten ins Auge zu fassen; der Bericht über Mays Realität schlägt implizit um in einen Beitrag zur Textanalyse. Der Glanz der Mayschen Heldenwelt resultiert ja nicht zuletzt aus dem Bemühen des Autors, einen utopischen Gegenentwurf zur realen, von ihm erlebten Welt zu konstruieren, und die Brüche in dieser Utopie bezeugen, wie unvollkommen der Versuch ausgefallen ist, wohl nur ausfallen konnte. Die May-Bücher erzählen so - ex negativo - vom Stigma der Jämmerlichkeit ihres Autors und seiner Lebensverhältnisse, noch in seine verwunschensten Wildwest-Mythen hat May sehr persönliche Realitätssegmente eingebracht; nicht nur ex negativo freilich: auch ganz direkt und unverkleidet wird das heimatliche Elend gelegentlich vorgeführt, und es mag mit der erweiterten Einsicht in diesen Tatbestand zusammenhängen, daß der Erzähler den Sitara-Roman abbricht, bevor sein


//199//

Held Dschinnistan, das gelobte Land, erreicht. Die Spannungen der Mayschen Vita spiegeln sich in denen des Werkes: in äußerst komplizierter Verzerrung allerdings - nur deshalb ist der Fall mehr als die banale Bestätigung geläufger Einsichten und von Belang -, vielfach gebrochen und in grob verschobenen Proportionen. Klußmeiers und Plauls Buch verhilft dazu, diesen Prozeß besser zu verstehen; die biographischen Details sind nichts dem Werk Äußerliches (und nun ließen sich auch die eingangs gestellten Fragen zuverlässiger beantworten); die Elemente des Werkes geben sich - unter anderem - als die Transformation all dessen zu erkennen, was die Autoren so reichhaltig dokumentieren. Mays Neigung zum Gegenständlichen erleichtert die Analyse, die sich an einem Bildband orientiert: so wie May die krause Verarbeitung seiner Vergangenheit wesentlich in Äußerlichkeiten betrieb, in der mühsam, aber so demonstrativ wie möglich praktizierten Anpassung an im Grunde fremde Rollen, so weisen sich auch seine Protagonisten durch ihre Taten, ihr Aussehen und durch konkrete, aktionsbezogene Gespräche aus, weit weniger dagegen durch komplexe, diskursive Erörterungen der Verhältnisse, durch die sie sich in die Wildnis verbannt und zu ihrem Treiben verurteilt sehen. Daß Mays Werke als Utopien zu lesen sind, ist heute eine weit verbreitete Erkenntnis; was es mit diesen im einzelnen auf sich hat, wäre zu erläutern auch im Rückgriff auf den Boden, dem sie entwachsen sind, und auf dessen anhaltende Präsenz. Die Ubiquität dieses Hintergrunds ist das eigentliche Thema der vorliegenden Materialsammlung.

Einige der ausuferndsten und komplexesten Traumphantasien Mays hat Klaus R. Meichsner in seinem Sammelband »Der Hakawati«(2) zusammengestellt. Der »Hakawati«, wie May sich selbst gern nannte: das heißt der Märchenerzähler, und es ließe sich nun lange darüber streiten, inwiefern der Begriff des Märchens die von Meichsner ausgewählten Texte angemessen bezeichnet, ob es sich eher um Kunst- oder um Volksmärchen handelt usw.; der Herausgeber selbst sagt dazu nicht viel, führt auch ergänzend die Vokabeln Sage und Legende ein und verzichtet sogar darauf, seine Auswahlkriterien im einzelnen bloßzulegen. Das scheint mir aber fürs erste kein gravierender Nachteil zu sein, denn für den aufmerksamen Leser werden die Gemeinsamkeiten zwischen den Textauszügen


//200//

ohne weiteres sichtbar. Was ich über Mays Abneigung gegen ausgedehnte abstrakte Reflexionen sagte, bestätigt sich auch hier, obwohl den zitierten Passagen z. T. wohl recht umfassende Intentionen zugrundeliegen: wer aber über genügend Phantasie verfügt, kann fast alle Schilderungen der sinnlichen Erfahrbarkeit unterwerfen. Dennoch heben sich die meisten Texte aus dem Gesamtwerk deutlich hervor, und das hängt mit der Fiktionsebene zusammen, auf der May sie angesiedelt hat. Die durchgängige Ebene der Reiseerzählungen ist bekanntlich die einer - wenngleich natürlich fiktiven - Realität, die freilich teilweise so abgerundet und isoliert von der tatsächlichen Wirklichkeit erscheint, daß sie sich schon als eine eigene Mythologie konstituiert, in der jedoch - wiederum: in verzerrender Abbildung - die historische Erfahrung aufgehoben ist (aufgehoben im doppelten, dialektisch-widersprüchlichen Sinne des Darin-Enthalten-Seins und des Überwunden-Werdens). Und diese sich als real gerierende Mythenwelt entwickelt nun wiederum ihre eigenen, in der Fiktion als solche ausdrücklich kenntlich gemachten Mythen, die auch eine, sagen wir mal: »höhere« Wahrheit enthalten: verklausulierte Erkenntnisse von teils abergläubischer Provenienz über eine Welt, deren Erkenntnisse auch schon die eines Zerrspiegels waren. Man lese als Beispiel die auf den Seiten 50ff. bei Meichsner wiedergegebene erste Kara-Ben-Nemsi-Legende aus »Durch die Wüste«: spielt Kara Ben Nemsi in der Tat schon die wundersame Rolle einer, sei's den Sagenhelden vergleichbaren, sei's legendarischen Figur, so dichtet ihm der Aberglaube der Beduinen gar an, ein Himmlischer zu sein, mit goldenem Helm, silberner Lanze und der Fähigkeit, die Feinde durch ein Licht wie hundert Sonnen zu blenden, so daß sie in ihr Verderben laufen. Das Bemerkenswerte ist nun, daß diese auf einer neuen Ebene gelagerte, an das Alte Testament erinnernde mythische Erklärung der Allmacht des Helden dessen Rolle im Grunde viel genauer erfaßt, als es die auf der fiktiven Realitätsebene angesiedelten Erklärungen des Ich-Erzählers tun, der alle Genialität des Kara Ben Nemsi rational auflösen möchte und doch nicht verhehlen kann, daß ihr Ergebnis die Gestalt letztlich in die Nähe jenes überirdischen Sendboten rückt. Noch komplizierter stellt der Fall sich dar in bezug auf die orientalischen Romane des Spätwerks, denen Meichsner den überwiegenden Teil seiner Texte entnommen hat: hier, insbesondere


//201//

natürlich im »Ardistan«-Roman, hat May schon die Lokalitäten frei und abgelöst von aller irdischen Geographie gewählt, andererseits diese Werke aber auch wieder als Replik auf überaus reale Verhältnisse konzipiert und ferner als eine Auseinandersetzung mit den eigenen früheren Abenteuerromanen à la »Wüste«. Die Mythologie, die hier sich ausdrücklich als solche entfaltet, ist von nun mindestens tertiärer Art, produziert von einem mythischen Kosmos, der sich bewegt zwischen prätendierter Selbständigkeit in der Form reiner Utopie und der Abhängigkeit von jenem Geflecht, in das die Beziehungen zwischen den Reiseromanen und ihrem realen Hintergrund verwoben sind. Näheres über diese Zusammenhänge auszuführen, erlaubt Meichsners Sammlung von Textauszügen nicht - der Fragmentcharakter ist denn auch die unvermeidliche Krux eines jeden derartigen Buches; in welchem Kontext z. B. die Kara-Ben-Nemsi-Legende steht, bleibt unklar , aber die von ihm vermittelten Texte liefern überaus anregende Materialien. Meichsner hat unter großen persönlichen Mühen, wie der einleitend abgedruckte Briefwechsel zeigt, einige der auch ästhetisch ansprechendsten Stücke des Mayschen Werkes zugänglich gemacht, und seine Arbeit ist um so höher zu bewerten, als er dies ganz außerhalb der eilfertigen Geschäftigkeit getan hat, die Mays Originaltexte in den letzten Jahren aus häufig allzu grell durchscheinenden kommerziellen Gründen wieder greifbar machte und deren Resultate bei allem Aufwand nicht immer befriedigend ausfielen.

Es hat sich nun zufällig so getroffen, daß etwa gleichzeitig mit Meichsners Anthologie Reclams Kriminalromanführer(3) erschienen ist, der Mays Abenteuerromane ohne große Umschweife für die Geschichte der Detektivliteratur reklamiert (was damit keineswegs zum ersten Mal geschieht). Über das Werk insgesamt ist an dieser Stelle nicht viel zu sagen: es füllt zweifellos eine Lücke in der deutschen Literatur zum Genre aus, und es ist von jener Art, die Rezensenten ermöglicht, klagend darauf hinzuweisen, was unbedingt noch hätte behandelt werden müssen und was man stattdessen hätte kürzer fassen können (und so wurde denn auch gleich in der ersten Besprechung, die ich las, angeführt, das alles sei ja sehr imponierend, aber Patricia Highsmith komme mit eineinviertel Spalten viel zu schlecht weg). Karl May also habe, sagt das Buch, überwiegend »versteckte Krimis« geschrieben und »Kara Ben


//202//

Nemsi, Old Shatterhand, Winnetou und die ihnen befreundeten Westmänner« (S. 255) seien letztlich, ausgewiesen durch ihre Tätigkeit beim Aufspüren von Verbrechern, Detektive; als charakteristisches Beispiel wird dann allerdings der in Deutschland spielende Münchmeyer-Roman »Der verlorene Sohn« vorgestellt, der sich selbst schon im Untertitel als »Roman aus der Criminal-Geschichte« bezeichnet. Mir scheint, gegen die generelle These ist nicht viel einzuwenden: Mays Abenteuerromane sind gewiß nicht nur, aber doch auch Kriminalromane, ebenso wie die von Meichsner gesammelten Textstücke nicht ausschließlich, aber eben doch zu einem Teil Märchen sind. Das ist wohl überhaupt ein bemerkenswertes Phänomen: May hat eine Fülle unterschiedlichster literarischer Gattungen - besser: mehr oder minder dominante Elemente daraus - aufgenommen und verschmolzen, vom Märchen bis zum Krimi, vom Schelmen- bis zum Bildungsroman, von der Groteske bis zum Heldenepos; im Spätwerk tritt noch einiges hinzu, die durchaus moderne Tradition jener Werke etwa, die beim Erzählen einer Geschichte zugleich die Grundlagen dieses Erzählens reflektieren, aber auch - damit allerdings nur einen früheren Text neu aufgreifend - die Tradition des panegyrischen Gedichts (»Der Löwe Sachsens«). Wer entsprechende Analysen in Angriff nimmt, hat kaum den Vorwurf zu fürchten, er treibe um eines puristischen Ideals willen unergiebige, nur sich selbst bestätigende Philologie: auch dieser Ansatz führt sehr direkt zu einem besseren Verständnis der May-Texte. So ließe sich etwa die Tradition des Reiseromans zum Ausgangspunkt nehmen, denn nichts anderes als ein ständiges Reisen ist ja das erste Grundprinzip aller Romane um Shatterhand/ Kara Ben Nemsi. Bei näherem Hinsehen zeigt es sich nun, daß die Reisen des Helden einerseits in der Linie der - geplanten, gezielten - Bildungsreise stehen, andererseits in der der von Überraschungen bewegten Irrfahrt. Kara Ben Nemsi alias Old Shatterhand reist, wie er oft genug bekundet, um Land und Leute und deren Kultur kennenzulernen, oft auch im Hinblick auf konkrete Verabredungen mit Freunden. Doch immer wieder stören unvorhergesehene Ereignisse die in Aussicht genommene Route, und auch die modifizierte Planung kann nicht unbedingt erfüllt werden; einen ersten Einblick in diese Problematik vermittelt der Beginn von »Surehand I«. Der Gedanke drängt sich auf, daß aus diesem Spannungs-


//203//

verhältnis zwischen gezielter und odysseehafter Reise - das noch akzentuiert wird durch die wechselnde Zusammensetzung und Größe der Reisegruppe - die Struktur so mancher Romane zu erschließen, das Labyrinth der Abenteuer in seinen Details transparenter zu machen wäre.

Karl Mays Romane lassen sich also durchaus auch ohne den Rückgriff auf sozial und psychologisch relevante Implikationen als recht komplexe Gebilde entschlüsseln: dies vermögen gattungstypologische und strukturanalytische Arbeiten zu erhellen, und der Göttinger Germanist Harald Fricke hat dazu - in gelegentlich etwas aggressiver Abgrenzung von der Arbeit der Karl-May-Gesellschaft - am Beispiel der »Surehand«-Trilogie einen überaus perspektivenreichen Aufsatz vorgelegt.(4) Seine Studie entfaltet ihre Einsichten in zwei grundlegenden Schritten: zunächst vergleicht sie den »Surehand« mit Werken, die sich - von der Odyssee über das Nibelungenlied bis zur modernen Science fiction - im weitesten Sinne dem Typus Abenteuerliteratur zuordnen lassen, sowie mit einer Reihe anderer literarischer Traditionen, und auf der Basis dieser Fixierung der May-Werke, die erste dominante Charakteristika sichtbar macht, erfolgt dann eine Analyse der literarischen Elemente, die den Roman zusammenhalten, bewegen und in seiner Individualität auszeichnen; mithin ergänzen sich der gattungstypologische und der strukturanalytische Ansatz in eindringlicher Verbindung. Hinsichtlich des ersten Aspekts führt Fricke eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Mays Text und anderen Abenteuerromanen an, die bei der Bilanz im wesentlichen zu einer einzigen, aber erheblichen Differenz führen: im »Surehand« geht es ständig, in der Zentralhandlung wie in zahllosen Details, um die Entdeckung und Entschlüsselung von Rätseln, und dies erzeugt eine Kohärenz der diversen Einzelabenteuer, wie wir sie in den herkömmlichen Aventiureketten nicht finden. Diese Abgrenzung von bestimmten literarischen Konventionen führt in die Nachbarschaft anderer Gattungen, auf die ich z. T. oben schon verwiesen habe; Fricke fügt ihnen - vom analytischen Drama bis zum Roman der deutschen Romantik - noch einige hinzu, und Mays Werk zeigt sich im Rahmen vielfältiger literaturgeschichtlicher Zusammenhänge, ungeachtet der Frage, ob eine »Abhängigkeitsforschung« im traditionellen Sinne hier besonders sinnvoll wäre. Im Ergebnis so zahlreicher


//204//

Annäherungen und Abgrenzungen entsteht mit »Old Surehand«, nach Fricke, ein geradezu singuläres Produkt, das durch die Autorität des erzählenden und erzählten Ich auf originelle Weise zusammengehalten wird und letztlich nur eine einzige Gattungsbezeichnung verträgt: Karl-May-Buch. Der vorsichtige Leser, der im gesamten Aufsatz eigentlich keine Äußerung findet, die die gelegentlichen Hinweise auf angeblich doch vorhandene Trivialitäten Mays näher zu begründen versucht, wird an dieser Stelle vielleicht mit einiger Skepsis registrieren, daß die hagiographische Grundtendenz, die Fricke der Karl-May-Gesellschaft vorwirft, nun auch seine Arbeit, freilich bei verschobenem Akzent, eingeholt hat: die konstatierte Individualität der künstlerischen Leistung werden wir ohne Bedenken als ein Kriterium für ihren Rang ansehen, und gerade der extrem weite Blick auf literaturgeschichtliche Felder, den Fricke für nötig hält und der ihn bis in die Welt der italienischen Oper sehen läßt, verleiht ja seinem abschließenden Urteil die besondere Stringenz und Beweiskraft.

Diesem Befund scheint dann allerdings zu widersprechen, daß Fricke als den gemeinsamen Nenner und das tragende Prinzip in Motivik, Struktur und Stil des Romans das Merkmal der Wiederholung herausstellt. Zu Wiederholung lassen sich leicht Monotonie und Einfallslosigkeit assoziieren, und der Werturteilsstreit in der Trivialliteraturdiskussion der sechziger und siebziger Jahre hat darauf insistiert, die kumulative, rein additiv - statt architektonisch - organisierte Struktur, die sich eben wesentlich aus reinen Wiederholungen speist, sei das herausragende Kennzeichen ästhetisch minderwertiger Literatur. Aber Fricke versteht die Wiederholung bei Karl May anders: nicht die folgenlose, öde Repetition eines beliebigen und belanglosen Immergleichen sei ihre Eigenart, sondern die Fähigkeit, Verbindungslinien herzustellen. Die ständige Wiederholung, Abwandlung und Spiegelung, die in der Mobilisierung weniger Grundmotive - Belauschen, Gefangennahme, Verfolgung etc. - schon sinnfällig zutagetritt, stiftet ein außerordentlich dichtes Beziehungsgeflecht, in dem jedes Detail das andere in neuem Licht erscheinen läßt. Damit bestätigt sich das Qualitätsurteil, das Fricke im Blick auf Gattungstraditionen abgibt: die Maysche Art der Wiederholung erzeugt Artistik, nicht Plumpheit.

In diesem Zusammenhang fällt noch eine Reihe erhellender


//205//

Detailbeobachtungen ab: so über den Zusammenhang der Surehand-Fabel mit den zahlreichen Binnenerzählungen, die bekanntlich schon in der Radebeuler Ausgabe aus der Trilogie entfernt und in einem eigenen Band separat gesammelt wurden, so vor allem auch über die Textfassung der Bamberger Bearbeiter, die den Roman von einer beträchtlichen Anzahl ästhetisch und strukturell bedeutsamer Formulierungen befreit und in seiner architektonischen Substanz verändert haben; Fricke geht freilich fehl, wenn er Gertrud Oel-Willenborg und Ingrid Bröning vorwirft, sich an die Bamberger Ausgabe gehalten zu haben, denn ihre Dissertationen galten nicht der künstlerischen Leistung, sondern vorwiegend der Popularität Mays, und die stützt sich heute nun einmal auf den Vertrieb der Bamberger Fassungen. Im Kontext der Analyse von Wiederholungen wird zum Bedauern des Lesers allerdings auch sichtbar, welche Grenzen die Kurzform des wissenschaftlichen Aufsatzes der Argumentation setzt: was es im einzelnen mit diesem Element auf sich hat und wie es arbeitet, das kann nicht näher belegt werden und bleibt jenseits der theoretischen Erörterung recht vage. Die Romanzitate, die der Autor im zweiten Teil seiner Abhandlung bringt, scheinen mir sogar durchaus geeignet, Zweifel an der Dignität der Mayschen Wiederholungsneigung aufkommen zu lassen, und wir können Fricke vorerst nur glauben, daß sie unberechtigt sind, daß vielmehr seine Beteuerungen hinsichtlich der Qualität dieses Phänomens den Kern der Sache treffen. Weitere Fragen ließen sich anschließen: wie steht es beim Blick auf Einzelheiten mit der Verwendung tradierter Gattungsmuster, in welcher Gestalt treten sie auf, welchem Zweck dienen sie in der Gesamtkonstruktion des Werkes? Mit einem Wort: was Frickes souveräne Überblicksperspektive erschließt, könnte bei der Detailarbeit leicht eine andere Gewichtung bekommen. Indessen wäre es falsch, die Abhandlung mit solchen Bedenken auch nur im geringsten abwerten zu wollen: was sich als ihre Schwäche zu offenbaren scheint, erweist sich schließlich, bei genauerem Hinsehen, als ihre Stärke. Gerade die Fülle der Perspektiven ist es ja, die zu den Einwänden führt, denn erst das besonders weite Ausgreifen auf bisher so noch nicht gesehene Zusammenhänge macht deutlich, wie unsicher das damit ins Auge gefaßte Terrain zur Zeit ist, welche Möglichkeiten hingegen seine Bearbeitung bietet. Daß Fricke noch mehr Fragen


//206//

aufwirft, als er in einem kurzen Aufsatz beantwortet, zählt nicht zu den geringsten Qualitäten des Beitrags.

Volker Klotz zieht das literarische Umfeld, in das er speziell Mays Kolportageroman »Der verlorene Sohn« stellt, erheblich enger als Fricke das des »Surehand«: sein Buch »Abenteuer-Romane«(5) befaßt sich mit einigen ausgewählten Beispielen dieser Spezies aus dem 19. Jahrhundert, wobei Klotz keinen Zweifel daran läßt, daß er sie (außer Mays Werk noch Romane von Dumas, Sue, Ferry, Retcliffe und Verne) für weitgehend repräsentativ hält. Klotz geht also anders als Fricke vor: während dieser eine möglichst große Vielfalt literaturgeschichtlicher Beziehungen andeutet, erörtert jener einen ganz bestimmten, engen Zusammenhang, den er dafür mit um so größerer Präzision ausleuchtet. Beide Arbeiten lassen sich, so unterschiedlich sie auf den ersten Blick wirken, mit großem Gewinn nebeneinander lesen. Für May-Fans ist von zusätzlichem Anreiz, daß Klotz sein Buch dem heiligen Mübarek gewidmet hat, »als Ausgleich dafür, daß er nicht drin vorkommt«; wer einsieht. warum er nicht drin vorkommen kann, hat das Buch verstanden.

Es ist an dieser Stelle überflüssig, viele Einzelheiten aus der Analyse des »Sohn« zu referieren, denn Klotz hat seine Thesen den Mitgliedern der Karl-May-Gesellschaft schon auf der Freiburger Tagung von 1977 vorgestellt und sie im Jahrbuch 1978 abdrucken lassen. Indessen erscheinen sie nun in einem ergänzenden Licht, da wir sie im Argumentationsrahmen des gesamten Buches lesen, den Klotz damals nur knapp hatte andeuten können. Das verändert ihre Substanz nicht; wohl aber ist jetzt klarer zu erkennen, wie wichtig es ist, den Roman Mays im Gefüge der Gattungsusancen seiner Zeit zu sehen, die Klotz wiederum im Rahmen übergeordneter literaturgeschichtlicher und sozialgeschichtlicher wie politischer Zusammenhänge zu fassen sucht. So wird einsichtig, wie es um die - bisher schon mehrfach in der Sekundärliteratur angedeutete - Verwandtschaft des »Sohn« zu Dumas' »Graf von Montecristo« und Sues »Geheimnissen von Paris« bestellt ist und wie es zu verstehen ist, daß Gustav Brandt zum Helden im Hier und Jetzt des damaligen Lesers wurde, statt in die Ferne zu schweifen, wie es die traditionellen Genies der Gattung bisher durchweg getan hatten.

Damit sind wir beim ersten Grundgedanken der Analyse: in weitaus stärkerem Maße als früher wird die heimatliche Gegenwart


//207//

zum Schauplatz des Abenteuers; angesichts der undurchschaubaren gesellschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert büßt die abgelegene Ferne einen Teil ihrer Attraktivität ein, was sich auch noch auf Retcliffes »Puebla« und Ferrys »Waldläufer« auswirkt, die einzigen der von Klotz besprochenen Romane, die an einem fremden Schauplatz festhalten. Klotz verfolgt, welche Position die Erzähler unter dieser Voraussetzung zu ihrer aktuellen Umgebung einnehmen, wie sie sie beurteilen, was sie von ihr fordern und erwarten. Für alle Romane gilt, daß sie zwischen der Apologie der vorgefundenen Verhältnisse und einem - zumindest untergründigen - Protest dagegen schwanken. Wie dies im einzelnen geschieht, welche Konsequenzen es für die Struktur und Handlung der Romane hat und wie das vorgegebene Reservoir der Gattungstraditionen seinerseits die Ideologie der Romane beeinflußt: das ist das zentrale Thema der Analyse, die mit vollem Recht für sich beanspruchen darf, sozialhistorisch bestimmte Analysen mit solchen der literarischen Form fugenlos zu verbinden. So erfahren wir etwas über zahlreiche Elementarsituationen der Angst und Unterdrückung und ihren geschichtlichen Hintergrund, zugleich aber auch über die Funktion, die sie für die Konstruktion des Romans besitzen; über die politischen Implikationen verschiedener Leitmotive und ihre Relevanz für die Struktur des Ganzen; über die Neigung der Romane zur Versinnlichung und Vergegenständlichung ihrer Probleme, was in formaler Hinsicht Konsequenzen für die Erzählhaltung hat und in sozialer sowohl affirmative als auch oppositionelle Regungen unterstützt.

Gewiß wäre über manche Details zu streiten: wenn Klotz registriert, May bezichtige »nirgends die Behörden der Korruption oder gar der Klassenjustiz, sondern immer nur der Unfähigkeit« (S. 163), so trifft das für die ausdrücklichen Kommentare sicher zu; aber dokumentiert May nicht auch, vielleicht ganz unterhalb der Schwelle seines Bewußtseins, den Punkt, an dem Unfähigkeit faktisch in Klassenjustiz umschlägt? Der Gedanke übertriebener Bravheit, den das Klotz-Zitat aufkommen läßt, ist freilich alles andere als das letzte Wort des Buches: Klotz kann ihn mit vollem Recht aussprechen, da er immer wieder auch die resistenten, aufsässigen Tendenzen der Abenteuerromane heraushebt; der oft kuriosen Dialektik der Werke kann in der Analyse wohl ebenfalls nur die Dialek-


//208//

tik beikommen und zwar eine von jener Art, die zwischendurch vor extremen Ausgriffen nicht zurückschreckt. »Eine restlos greifbare und begreifbare Welt und vollständige Menschen, die, aufgrund sicherer Wahrnehmungen, sich handelnd darin durchsetzen, von allen Hemmnissen und Trübungen zu befreien« (S. 212), das ist das Ziel der Abenteuerromane. Das Fazit, das Klotz damit ziehen kann, widerspricht der gerade in Kreisen der Literaturwissenschaftler immer noch gängigen Theorie von der Unterhaltungsliteratur als einem Sedativum, als Opium fürs Volk: nach Klotz muntert der Abenteuerroman, nimmt man alles in allem, den Leser auf, privater und politischer Unbeweglichkeit abzuschwören, die eingefahrenen Alltagsbahnen zu verlassen, den Blick auf Neues zu richten, »in unwegsames Gelände einzudringen« (S. 215).

Auch diese Wendung führt wieder zum - metaphorisch wie wörtlich gültigen - Begriff des Reisens: Fricke bezeichnet das Reisemotiv als das tragende Element des Abenteuerromans, Klotz verweist darauf, daß die wichtigste Reise des »Sohn«-Helden Gustav Brandt, die ihm in der Ferne die Grundlagen zu seiner grandiosen Strafaktion verschafft, aus dem Erzählvorgang weitgehend ausgeklammert wird. Anders als hier sieht es, wie gesagt, in den Shatterhand- und Kara-Ben-Nemsi-Geschichten aus, und das dort herrschende elementare Prinzip des über Länder und Kontinente ausgedehnten Reisens ist mir immer als der wichtigste Grund dafür erschienen, daß Mays Erzählungen stets nur mit unbefriedigendem Erfolg für Inszenierungen auf der Bühne und im Film bearbeitet werden konnten, denn dort ist jene Vision der ungehemmten, einen archaischen Freiheitsdrang signalisierenden Vorwärtsbewegung kaum adäquat wiederzugeben; im einzigen Werk, das May selbst als Drama eingerichtet hat, wird denn auch konsequent an einem Ort geblieben. Schon die in die Exotik ausgreifenden Münchmeyer-Romane haben ihre Protagonisten permanent in verschiedenste Gegenden versetzt, im »Waldröschen« etwa gleich in mehrere Erdteile, und im begrenztere Lokalitäten umfassenden »verlorenen Sohn« wird der Ausfall der Schilderung von Brandts Weg in die Fremde dadurch wettgemacht, daß sich ein erheblicher Teil der Spannung in der wechselnden Nähe und Ferne entfaltet, die jeweils zwischen den Akteuren und der Residenz, dem Zentrum des Geschehens, liegt. Eine genauere Analyse dürfte freilich zu dem Ergeb-


//209//

nis führen, daß es in den Kolportageromanen nicht so sehr wie etwa im »Surehand« die Reisebewegung als solche ist, die die Erzählung strukturiert, sondern vielmehr ihr Ergebnis: nicht daß man und wie man reist, ist von Bedeutung, sondern die Tatsache, daß man sich danach an ganz unterschiedlichen Orten befindet. Gleichviel: dies ist nur ein tendenzieller Unterschied, die grundsätzliche Relevanz der Vorstellung vom Reisen bleibt davon unberührt, und so sieht sich der, der das »Waldröschen« für die Bühne bearbeitet, vor ganz ähnlichen Schwierigkeiten wie jener, der dies mit »Winnetou« unternimmt. Götz Loepelmann und Astrid Fischer-Windorf sind das Risiko eingegangen, sich in der Form eines - wie es im Untertitel heißt - »melodramatischen Bilderbogens« mit dem »Waldröschen« einzulassen und ihn Ende 1977 im Schauspielhaus Hannover uraufzuführen; das Textbuch liegt vor.(6) Der Mut, so zu verfahren, ist schon überaus anerkennenswert, und »Waldröschen«-Experten mögen sich daran erfreuen, wie viel von der Handlung und der Atmosphäre des 2600 Seiten starken Opus bei allen notwendigen Kürzungen erhalten geblieben ist. Daß das Unmögliche nicht möglich gemacht wurde, die Bühnenfassung kaum mehr als einen Abklatsch von den kuriosen Ungeheuerlichkeiten des Originals vermittelt, ist den Bearbeitern ernsthaft nicht vorzuhalten, will man nicht von vornherein jede Legitimation zur Umformung des Werkes für ein ganz anderes Medium anzweifeln. Die kuriosen Ungeheuerlichkeiten: dazu zählt zunächst die irritierende Überfülle des Personals, der das Theater gerecht zu werden suchte, indem manche Schauspieler bis zu vier Rollen übernahmen; das deutet darauf hin, daß die meisten wichtigen Figuren in der Bühnenfassung vorhanden sind. Dazu zählt ferner das Wechselbad zwischen greulichen Massenszenen und zärtlichem Tête-à-tête, zwischen überschäumender, teilweise brutaler Wildheit und kitschiger Idylle. Dies ist schon wesentlich schwerer auf die Bühne zu bringen, und die Bearbeitung hat klugerweise auf die Imitation gigantischer Schlachtszenen verzichtet; die restlichen Kontraste deuten sich an und fordern das Geschick des Regisseurs und des Bühnenbildners heraus. Zur besonderen Atmosphäre des Originals trägt schließlich der skrupellose Umgang mit der Zeit bei: die Handlung umfaßt, grob gerechnet, die Zeit von drei Generationen, und May hat eine Erzählchronologie konzipiert, die auf lineares Fortschreiten ver-


//210//

zichtet, die mal um Jahrzehnte zurückblendet und später wieder ebensoviel Zeit beim Weg in die Zukunft überspringt. Die Bearbeiter haben diese wirre Zeitfolge begradigt, alles ist fein säuberlich an den Platz gerückt, an den es nach dem Gang der Ereignisse gehört, und ein Erzähler, der Zeit- und Ortswechsel übersichtlich erläutert, hilft dem Leser und Zuschauer weiter auf die Sprünge. Dies berührt wohl das Grundproblem, dem sich alle Probleme der Zeit- und Raumgestaltung als Teile einordnen lassen: die in jeder Hinsicht ausufernde Reihung abstrusester Geschehnisse, die sich mit dem Anspruch der Seriosität dauernd selbst in die Quere kommt, entwirft im Original ein Panorama, das Rationalität und Durchsichtigkeit ausgiebig ad absurdum führt; indem, wie Claus Roxin einmal sagte, alles »ver-rückt« ist, wird noch die am Ende sich durchsetzende Ordnung äußerst fragwürdig, und wir scheiden vom »Waldröschen« mit dem Eindruck eines teilweise freundlichen Infernos, in dem nichts so ist, wie es sein sollte. Mays epischer Extremismus (mitsamt der Biederkeit, die latent dennoch in ihm steckt) widerstrebt der Einbindung in eine Bühnenszenerie, die, was immer in ihr geschieht, die Wildheit doch zu einem beträchtlichen Teil domestizieren muß; schon die Einführung einer Erzählerfigur schafft eine Distanz zur Handlung, von der der Roman nichts wissen will. Vielleicht bleibt bei einer Theateraufführung tatsächlich nichts anderes übrig, als den Stoff in die Form eines virtuosen Spektakels zu zwängen. Ich stelle mir vor, daß eine Inszenierung von Peter Zadek optimal wäre, mit Gottfried John in zwei männlichen und einer weiblichen Hauptrolle und mit Musik von Udo Lindenberg, die dem Publikum im Sensurround-Verfahren um die Ohren geknallt wird.

1 Gerhard Klußmeier und Hainer Plaul (Hg.): Der große Karl May Bildband. Dokumente und Bilder. Hildesheim New York 1978

2 Klaus R. Meichsner (Hg.): Der Hakawati. Die Märchen von Karl May. Heidelberg 1978

3 Armin Arnold und Josef Schmidt (Hg.): Reclams Kriminalromanführer. Stuttgart 1978

4 Harald Fricke: Wie trivial sind Wiederholungen? Probleme der Gattungszuordnung von Karl Mays Reiseerzählungen, in: Uwe Baur und Zdenko Skreb (Hg.): Gattungen der Trivialliteratur. (in Vorbereitung)

5 Volker Klotz: Abenteuer-Romane. Sue-Dumas-Ferry-Retcliffe-May-Verne. München-Wien 1979

6 Götz Loepelmann und Astrid Fischer-Windorf: Das Waldröschen oder die Verfolgung rund um die Erde. Ein melodramatischer Bilderbogen von Karl May. Hildesheim-New York 1977.


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz