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HANS WOLLSCHLÄGER

Das zehnte Jahrbuch



Methodendiskussionen sind selten fruchtbar in ihrem Ergebnis, und wären sie es, käme am Ende das Dogma heraus, so müßte man ja auch ängstlich werden: der Anspruch auf Unfehlbarkeit ist der auf Herrschaft und nimmt sich im Gebiet der Geist- und Kunstbetrachtung nicht nur unstatthaft, sondern in hohem Grade auch lächerlich aus; ja, selbst den Naturwissenschaften dürfte ein späteres, fortgeschrittenes Denken - man darf das schon seit Beginn dieses Jahrhunderts zuversichtlich prophezeien - gewisse Entdeckungsblindheiten, gar Irrtümer als in ihren methodischen Zwängen begründet vorhalten. Nicht zufällig auch fiel die so strenge Methodendiskussion der 60er Jahre in den Literaturwissenschaften mit der zunehmenden Reglementierung der Universitätsstudien zusammen; beides steht in vielleicht sehr engem Kontext, und die Soziologie, die damals ihre Interessensphäre eindrucksvoll erweitern konnte, leidet bis heute daran, daß sie zwar alles Mögliche als Sozialphänomen zu betrachten imstande ist, nur kaum als solches sich selbst. Man wird wohl grundsätzlich nicht schlecht beraten sein, wenn man der Diskussion von Methoden, sich einem literarischen Werk und seinen vielfältigen Wirkungen zu nähern, nichts anderes abverlangt, als daß sie die Vielfältigkeiten des Möglichen miteinander konfrontiert, und diese mitsamt ihrem Widerspruch zuletzt zum Reichtum des Werkes selber fügt, das sie hervorgerufen hat. Ihr Wert liegt darin, daß sie vor sich geht und die Forschung aus der Starre des bloßen Verfahrens, das oft ein bloßes Sich-verfahren-haben ist, immer neu ins Lebendige zurückholt; dies muß auch ihr eigentliches Ergebnis sein. Wo sie sich damit bescheidet, wo sie vor dem offiziellen Ziel versagt, sozusagen zu einem endlichen Mehrheitsbeschluß durchzudringen, zur Einschwörung auf ein bestimmtes Verfahrensdogma, ist sie jedenfalls nur ihrer eigenen, ganz gleichgültigen Dynamik nach gescheitert: tatsächlich bleibt in diesem Scheitern gerade die Freiheit, die sie meinen sollte, bewahrt.


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So fruchtbar gescheitert ist auch die Methodendiskussion mit dem Thema »Literaturwissenschaft und Psychoanalyse«, die 1979 im Mittelpunkt der V. Mitgliederversammlung der Karl-May-Gesellschaft stand: sie blieb vom zwingenden Resultat einer Einigung verschont und lebendig im Kontrast ihrer Freiheiten einschließlich der zum ausführlichen Unrechthaben. Sich dieses Unrechthaben gegenseitig zu bescheinigen, nahm die Energie der Gesprächsteilnehmer voll in Anspruch, so daß über die Statements hinaus nicht bis zu einem Punkt vorzudringen war, wo man hätte beginnen können, undefensiv aufeinander zu hören. Die Enttäuschung des Gesprächsleiters Dr. Martin Lowsky, der sein Bemühen, zu speziellen Fragen der Karl-May-Interpretation zu gelangen, von den Teilnehmern vereitelt sehen mußte, mochte Entschädigung aber in der Teilnahme des Publikums finden, das den Darlegungen unermüdlich folgte, den Fragenkreis schließlich selbst erweiterte und sich auch nicht nehmen ließ, das Element des Gesunden Menschenverstands zu vertreten. Lowsky hatte das Zusammentreffen sorgfältig und von langer Hand vorbereitet, und die ausführlichen Vor-Stellungnahmen - von Wolf-Dieter Bach, Volker Klotz, Hainer Plaul, Claus Roxin, Helmut Schmiedt, Heinz Stolte und Gerd Ueding - gehörten ebenso mit zum Ergebnis, wie sie zugleich die Ausgangslinie bildeten; sie waren von März bis September 1979 in den Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (Nrn. 39-41) abgedruckt worden. Es erwies sich da erneut, daß in Ruhe ausformulierte Darstellungen dem aus dem Augenblick kommenden Diskutieren überlegen bleiben, und so behalten sie auch nach Abschluß der ganzen Unternehmung ein Vorrangsgewicht vor dem knappen Referat der mündlichen Beiträge.

Teilnehmer an der Diskussion waren: Wolf-Dieter Bach, Schriftsteller, zzt. Fachreferent für Sprachen an der VHS Ulm; Dr. Harald Fricke, Literaturwissenschaftler, Hochschullehrbeauftragter in Göttingen; Prof. Dr. Volker Klotz, Literaturwissenschaftler, Hochschullehrer in Stuttgart; Prof. Dr. Dieter Ohlmeier, Psychoanalytiker, Hochschullehrer für Psychotherapie in Kassel; Dr. Helmut Schmiedt, Literaturwissenschaftler; Hans Wollschläger, Schriftsteller. Der Vortrag, mit dem Volker Klotz die Veranstaltung einleitete, ist im vorliegenden Jahrbuch abgedruckt. Von seinen Thesen fand die Beschreibung der literaturwissenschaftlichen Aufgaben


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allgemeine, meist stillschweigende Zustimmung. Die Diskussion entzündete sich dagegen lebhaft an der »Gewichtung«, mit der er die anderen Methoden der Literaturanalyse versah - vorab die soziologischen und psychoanalytischen Ansätze, denen er lediglich die Bedeutung von »Hilfswissenschaften« zuerkennen wollte. Wolf-Dieter Bach wies mit Nachdruck auf die »dialektische Beziehung zwischen Autor und Werk« und erklärte den »Versuch, hier Trennungen herzustellen, für einen Rückfall hinter den Erkenntnisstand, der eigentlich seit Hegel gewonnen ist«. Immer stehe »im Zentrum die Person, die des Autors wie die des Lesers«; sie sei »in der Literatur immer das Nadelöhr, durch das alles hindurchgeht«, und eben dies begründe methodisch »die Anwendung psychoanalytischer Optiken«, ja den »Primat der Psychoanalyse« überhaupt. Die »abstrakten, reinen Abläufe der Literaturbetrachtung«, wie sie an Universitäten gepflegt wird, seien ihm immer als Ausdruck von »Berührungsangst« erschienen: man dürfe da »nicht wirklich auf die Werke sich einlassen«, sondern müsse »eine gewisse Distanz wahren, sonst könne man sie nicht wahrnehmen«; dies halte er »für ganz falsch«. Er wünsche sie »als sinnlich aufnahmefähige Person in ihrer ganzen Sinnlichkeit zu erleben. . . Denn was wollen wir mit der Literaturwissenschaft? Wir wollen doch, daß wir Literatur besser verstehen, daß wir mehr aus ihr erfahren, daß wir reicher nach der Lektüre entlassen werden«. Das werde bei May »nicht dadurch erreicht, daß man ihn von irgendetwas herleitet, von der Abenteuerliteratur etwa«; mit solchen Fragestellungen sei »eher die Literaturwissenschaft eine Hilfswissenschaft« zu nennen. - Harald Fricke bekannte dagegen, wie sehr ihm als Literaturhistoriker »aus dem wissenschaftlichen Herzen gesprochen« sei, was Klotz »grundsätzlich zur Relation anderer wissenschaftlicher Methoden und der eigentümlichen der Literaturwissenschaft gesagt« hatte. Er wandte sich sodann einer vehementen, logistisch begründeten Kritik der Psychoanalyse selbst zu: sie sei »keine Theorie, sondern eine Therapie« und stehe nur »bei Laien in dem Ruf, eine anerkannte Wissenschaft zu sein«; dies sei sie »mitnichten«; sie sei vielmehr »nicht nur nach wie vor höchst umstritten, sondern bislang auch noch bei jedem ernstzunehmenden wissenschaftstheoretischen Test durchgefallen«; ihre Erklärungen hätten den Charakter einer »Patience mit so lockeren Regeln, daß sie immer aufgeht«. Unter


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dem großzügigen Beifall der getadelten Laien bestritt Fricke schließlich die Existenz des Unbewußten überhaupt. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft definierte er dahin, daß sie »die literarischen Werke und ihren historischen Zusammenhang sachadäquat zu erklären« habe; für diese Aufgabe könne »ihr eine beliebig manipulierbare Pseudotheorie wie die Psychoanalyse offensichtlich von geringem Nutzen sein«. - Diese Ausführungen bezeichnete Dieter Ohlmeier als »kabarett-reife Leistung«, die zeige, »wie man mit Wissenschaften umgehen kann, die man nicht kennt«. Er befragte den »Brustton der Überzeugung« und erklärte ihn zur »angstbedingten Umkehrung, die Herr Fricke offenbar nötig hatte, uns vorzuführen«. Das Hauptgewicht seines Plädoyers für die Zuständigkeit der Psychoanalyse legte Ohlmeier auf die psychische Interaktion, die zwischen Autor und Leser immer stattfinde: gerade Karl May »zeichnet sich dadurch aus, daß er seine Leser in einer ungeheuer direkten Weise an die Entwicklungsbedingungen der menschlichen Psyche heranführt, vor allen Dingen an die Triebgrundlagen der Persönlichkeit und ihrer Entwicklung, einschließlich ihrer Konflikte«. Er stellte die Frage, ob May »nicht in besonderem Maße geeignet« sei, »uns als Leser - als Kinder wie als Erwachsene - in einen psychischen Prozeß wieder hineinzuversetzen, der unserm eigenen Entwicklungsprozeß ein Stück weit entspricht«: insofern sei sein Werk »überindividuell und nicht in kurzschlüssiger Weise gesellschaftsabhängig«. - Helmut Schmiedt suchte das aus dem Diskussionszwang zugespitzt entstandene Entweder-Oder wieder zusammenzuführen und zu versöhnen; er wehre sich »energisch dagegen, daß man den eigenen Standpunkt um jeden Preis in den Vordergrund« rücke, und plädiere für einen methodischen »Laisser-faire-Liberalismus«. Karl May werde, wie sich in den verschiedenartigen Arbeiten der Jahrbücher bereits gezeigt habe, »geradezu zum klassischen Fall der interdisziplinären Forschung«. Aber: »Das "Wahre" ist für uns kaum noch erkennbar - entsprechend behutsam sollte man argumentieren.« - Hans Wollschläger bekannte gegen Volker Klotz seine schon mehrfach ausgesprochene Geringschätzung der Soziologie und wollte der Psychoanalyse auch oberhalb der germanistischen Zielsetzungen eine zentrale Funktion für die Literaturdeutung zugewiesen wissen. Im übrigen wies er beschwichtigend darauf hin, daß die Jahrbücher zur Genüge bewiesen,


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»nicht nur wie breit gefächert die methodischen Versuche sind, das Thema May einzukreisen, sondern auch wie viele verschiedene "Meinungen" da nebeneinander Platz haben«: diese Freiheit (»auf deren Ergebnisse wir, nach zehn Jahren Arbeit, wirklich zufrieden mit dem Finger zeigen können«) sei »die beste Rahmenform für ein Erkenntnisunternehmen, das ja selber keinen Anspruch erhebt, endgültige Ergebnisse vorzutragen und sozusagen dauernd "letzte Worte" zu sprechen, sondern einen Entwicklungsprozeß darstellt, ein lebendiges Probieren und Sich-Annähern«. Dieses Sich-Annähern »in einen geschlossenen Marschtakt zu bringen«, bestehe gar kein Anlaß, und diskutabel könnten nur die Ergebnisse im einzelnen sein. »An ihren Früchten soll man sie erkennen - auch unsere Methoden.«

Das vorliegende zehnte Jahrbuch zeigt vielleicht erneut, wie einträchtig die verschiedenen methodischen Ansätze in der Praxis nebeneinander bestehen können und daß die von Volker Klotz befürchtete »literaturkritische Priesterherrschaft« keine sehr drohende Gefahr darstellt. Selbst der rein formale Wunsch, der im Anfang die Konzeption und Komposition der Jahrbücher bestimmte, nämlich geschlossene Themenkreise auch möglichst geschlossen zu behandeln, hat ja inzwischen vor der Fülle der andringenden Möglichkeiten zurücktreten müssen: - es ist das nur formal wohl zu bedauern, im Sinne der Rahmenweite des Forschens aber sicher auch ein Gewinn. So steht Wolf-Dieter Bachs Essay durchaus unfeindlich neben dem Vortragstext von Volker Klotz; so vertragen sich die Arbeiten von Klotz, Martin Lowsky, Christoph F. Lorenz, Helmut Schmiedt, Heinz Stolte und Hermann Wiedenroth so harmonisch miteinander, daß die Frage nach ihrem methodischen Ausgangspunkt leicht wieder vergessen werden kann. Das Aktenmaterial schließlich, das den Ermittlungen Klaus Hoffmanns zu danken ist und mit dessen schrittweiser Veröffentlichung Gerhard Klußmeier in diesem Jahrbuch beginnt, gibt auch von dieser Seite unserer Forschungsaufgaben her zu erkennen, wie offen, ja uneingrenzbar das Thema May immer noch ist; es wird es noch geraume Zeit weiter sein: es wird, in seiner modellhaften Vielschichtigkeit, wohl über unser aller Lebens- und Denkspanne hinausreichen.


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