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CHRISTOPH F. LORENZ

Vom Haß zur Liebe ·
Karl Mays »Marienkalender-Geschichten« als Dokumente der inneren Entwicklung ihres Verfassers



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Nur wenige Werke Karl Mays haben auch in seiner Anhängerschaft so heftige Diskussionen ausgelöst und ein - von wenigen Ausnahmen abgesehen - so negatives Urteil gefunden wie die 18 »Marienkalender-Geschichten«, deren erste im Jahre 1891, die letzte (»Merhameh«) erst im Jahre 1910 publiziert wurde.(1) Wenn Herbert Meier in seinem Vorwort zur Reprint-Ausgabe der sogenannten »Marienkalender-Geschichten«(2), die von der Karl-May-Gesellschaft herausgegeben wurde, die Feststellung trifft, daß »bei der Nennung des Begriffs "Marienkalender-Geschichten" die Kritik mancher May-Leser laut« werde, denn (so Meier) »die aufgepfropfte Moral und drastische Schwarz-Weiß-Malerei verschiedener dieser Erzählungen stellen an die Geduld des Lesers einige Anforderungen«(3), so muß man betonen, daß dies bereits eine recht gemäßigte und differenzierte Auffassung darstellt. In der Tat gibt es auch andere, weitaus drastisch-negativere Beurteilungen. Hans Wollschläger ließ in seiner Karl-May-Biographie jedenfalls kaum ein gutes Haar an den »bereits erwähnten Marienkalendereien«(4): Er spricht von »förmlich greulichen Geschichten nach dauernd gleichem Schema: dauernd muß sich erweisen, daß Gott sich nicht spotten läßt: Die Guten, die ihr Leben anweisungsgemäß selig verbringen, werden am Ende sorgfältig abgelohnt - die Bösen hingegen, die's von Zeit zu Zeit mit kleinen Flüchen quittieren, verfallen irgendeinem ausgeklügelt gräßlichen Geschick.«(5)

Diese Betrachtungsweise muß, obwohl sie nicht unrichtig ist, doch als recht vergröbernd und wenig differenziert bezeichnet werden, zumal die Motive und die Tendenz der Marienkalender-Geschichten mit dem von Wollschläger vorgeschlagenen Schema nur ungenü-


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gend erfaßt werden können. Zweierlei läßt er unberücksichtigt: zum einen die Tatsache, daß keineswegs alle dieser Geschichten in »Zermalmungs«- oder Vernichtungsszenen gipfeln, und ferner die Frage, warum May in den neunziger Jahren - also auf dem Gipfel seiner »Macht« als Schriftsteller - plötzlich in das Lager der christlichen »Erbauungsschriftsteller« übergeschwenkt sei und warum denn so viele Maysche Werke dieser Periode in entsetzlichen »göttlichen Strafgerichten« kulminieren (»Weihnacht«, »Im Lande des Mahdi« III). Claus Roxin, der die letzten Jahre vor der großen Orient-Reise, die Großzeit der »Old-Shatterhand-Legende« also, eindrucksvoll beleuchtet hat, deutet solche »Angstträume« aus der psychologischen Verfassung Mays zu dieser Zeit und beurteilt die Marienkalender-Geschichten im übrigen keineswegs eindeutig negativ: »Die Schuld am Mißlingen liegt aber nicht, wie vielfach angenommen wird, darin, daß May sich einer Tendenz der Marienkalender hätte anpassen wollen. May hat vorher und nachher ganz andere und teilweise vortreffliche Kalendergeschichten geschrieben; andererseits sind die meisten dieser »Zermalmungsszenen« gar nicht in Marienkalendern erschienen.«(6)

Man müßte noch hinzufügen, daß die Kritik an den »Marienkalender-Geschichten« sich auffallenderweise immer auf Geschichten wie »Christus oder Muhammed«, »Maria oder Fatima«, »Ein amerikanisches Doppelduell« und besonders »Old Cursing-Dry« zu beschränken schien; dagegen lassen sich Erzählungen wie »Scheba et Thar«, »Die »Umm ed Dschamahl««, »Der Kutb« oder »Mutterliebe« nur begrenzt in ein Schema einordnen, das in Mays Beiträgen für die Marienkalender nur die »ideologisch überanstrengten kurzen Parabelgeschichten« sieht, »die jeweils eine bestimmte Sünde oder Tugend an einem mühevoll präparierten Beispielfall vorexerzieren«.(7)

Das läßt sich auch daran beweisen, daß die Erzählungen »Merhameh« und »Bei den Aussätzigen«, die immerhin auch in Marienkalendern erschienen sind (der Erstdruck von »Bei den Aussätzigen« war allerdings bereits 1907 herausgekommen, und zwar im »Grazer Volksblatt«, der Druck im »Eichsfelder Marienkalender« für 1909 stellt einen unveränderten Nachdruck dieser Erstausgabe dar), in keiner Arbeit über die Marienkalender-Geschichten Erwähnung finden. Gerade die Tatsache, daß solche dem Alterswerk Karl Mays


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zuzurechnenden Texte in Marienkalendern veröffentlicht worden sind, ohne daß sie die in den anderen Kalendererzählungen festzustellenden naiv-religiösen Tendenzen aufweisen würden, beweist, daß Roxins Behauptung, das teilweise Mißlingen von Mays Marienkalender-Geschichten sei nicht darauf zurückzuführen, daß die Herausgeber der Marienkalender May auf eine gewisse übersteigert-religiöse Tendenz festgelegt hätten(8) oder daß dieses Mißlingen überhaupt mit einer solchen - zweifellos vorhandenen - Tendenz der Marienkalender-Geschichten zu begründen sei, offenbar einiges für sich hat. In diesem Sinne muß Herbert Meiers Behauptung, das völlige Fehlen einer »apologetischen Tendenz« in Mays nicht in einem Marienkalender veröffentlichter Erzählung »Christi Blut und Gerechtigkeit« dürfe »kaum dazu angetan gewesen sein, daß einer der Marienkalender-Verleger die Erzählung genauso abgedruckt hätte«(9), als wenig wahrscheinlich bezeichnet werden.

Die oben geschilderte kontroverse Diskussion der Marienkalender-Geschichten macht eine genauere Untersuchung der einzelnen Erzählungen nicht nur wünschenswert, sondern sogar notwendig. Auch Herbert Meier fordert eine solche wissenschaftliche Analyse.(10) Die vorliegende Arbeit möchte einen bescheidenen Beitrag zur Erforschung dieses nicht uninteressanten Bereiches des Mayschen Schaffens leisten. Anhand der in dem Reprint-Band »Christus oder Muhammed« vorgelegten sämtlichen Marienkalender-Geschichten soll überprüft werden, welche Motive in den Erzählungen bevorzugt behandelt werden und wie die Lösungen aussehen, die der Autor Karl May für die in den jeweiligen Geschichten angeschnittenen Probleme anbietet. Es gilt ferner die Frage zu klären, ob alle Erzählungen dieselben Tendenzen und Ansichten aufweisen oder ob es eine Entwicklung in den immerhin innerhalb eines Zeitraumes von fast 20 Jahren (1891-1910) erschienenen Geschichten gibt. Haben die gewandelten Ansichten des alten Karl May dazu geführt, daß die nach der Orient-Reise veröffentlichten Marienkalender-Geschichten sich von den in den neunziger Jahren erschienenen Erzählungen wesentlich unterscheiden?


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Bei der Durchsicht der Marienkalender-Geschichten fallen zunächst diejenigen ins Auge, die bereits im Titel andeuten, daß die in der jeweiligen Erzählung angeschnittenen Probleme eine »Entweder-Oder-Entscheidung« verlangen: »Christus oder Muhammed« und »Maria oder Fatima« sind in der Tat Erzählungen, in denen das Christentum beziehungsweise seine spezifisch katholischen Ausprägungen (Marienkult) und der Islam in entschiedenen Gegensatz gestellt werden. Das Zentralmotiv der beiden Geschichten ist denn auch die Frage, welche Religion mehr Macht habe: Das Christentum oder der Islam. Die Parallelität dieser Geschichten besteht darin, daß in jeder von ihnen der Ich-Erzähler von einem Mohammedaner dazu aufgefordert wird, den Beweis dafür anzutreten, wer mächtiger sei: der »Christengott« oder Mohammed. Die Vermessenheit dieses Verhaltens wird nicht nur dadurch hervorgehoben, daß für den Erzähler Karl May und für sein - überwiegend katholisches - Lesepublikum die Frage von vornherein so beantwortet werden mußte, daß nur Christus wahrer Gott und Mohammed ein falscher Prophet sei, sondern der Moslem wird auch dadurch als fanatischer Frevler dargestellt, daß er den Ich-Erzähler und den christlichen Glauben aufs furchtbarste beleidigt.

Eine Erzählspannung in dem Sinne, daß der Ausgang dieser »Glaubenswetten« in irgendeiner Weise zweifelhaft wäre, gibt es also in keiner dieser beiden Geschichten; von vornherein ist das Unterliegen des Moslems nicht zu bezweifeln. Jedoch setzt gerade hier die Erzählkunst Mays an, indem sie die gleiche Moral auf höchst unterschiedliche Weise exemplifizieren läßt. Dabei besteht ein wesentlicher Unterschied schon in der Wahl der Schauplätze, denn »Christus oder Muhammed« beginnt in Marseille, also sozusagen auf christlichem Terrain. Im Zoologischen Garten von Marseille, wo sich Kapitän Frick Turnerstick und Kara ben Nemsi/Karl May anläßlich einer gemeinsamen Schiffsreise (die ausnahmsweise einmal nicht dem Abenteuer dient, denn Turnerstick hat seinen Freund Charley durch ein Schreiben, in dem er ihn einlud, als sein Gast an Bord seines neuen Schiffes »The Courser« eine Art Mittelmeerkreuzfahrt zu unternehmen, aus seiner häuslichen Ruhe gerissen) auf einem Spaziergang befinden, holt das Abenteuer die


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beiden Reisenden schon bald ein. An der Stelle im Zoologischen Garten, wo ein Holzkreuz daran erinnert, daß hier vor einigen Jahren ein Zoowärter von einem ausgebrochenen Panther getötet worden sei, begegnet ihnen ein Moslem, der gleich bei seinem ersten Auftreten als haltloser Fanatiker gekennzeichnet wird: »Für die Seele eines toten Christen gibt es kein Heil, denn alle Anhänger dieser Götzendienerei müssen in die Hölle wandern. Wäre ich an der Stelle des Getödteten gewesen, so hätte ich den Namen des Propheten angerufen, und der Panther wäre voller Schreck entwichen. Vor dem Gebete eines Christen aber fürchtet sich keine Katze.« (12)

Die Handlungsweise des Moslems ist dadurch gekennzeichnet, daß er in seinem Haß gegen die Christen alle durch Anstand und gute Sitten gesetzten Grenzen mißachtet und vor allem die Gefühle der Christen, in deren Land er ja immerhin Gast ist, in rüdester Weise verletzt, indem er das Holzkreuz umstürzt. Der rücksichtslose Charakter dieser Handlung wird auch dadurch hervorgehoben, daß das umkippende Kreuz den Kapitän Turnerstick um ein Haar erschlagen hätte. Die wesentlichen Punkte dieser Szene sind also folgende: Der blinde Glaubenshaß macht den Moslem verstockt, er bewegt ihn zu unverantwortlichen Handlungen, die sowohl die religiösen Gefühle der anderen Zoobesucher verletzen als diese auch in die Gefahr bringen, einen ernsthaften körperlichen Schaden davonzutragen.

Der vom Haß geprägten blind-fanatischen Handlungsweise des Moslems ist das Verhalten der Christen Turnerstick und Charley nun allerdings kaum wesentlich entgegengesetzt: der Moslem wird, nachdem er freilich den Ich-Erzähler und den ganzen christlichen Glauben mit wütendem Hohn beleidigt hat, von einem der berühmten Fausthiebe des großen Old Shatterhand/Kara ben Nemsi/Karl May zu Boden gestreckt.

Offenbar soll den Lesern suggeriert werden, das Verhalten des Moslems verlange nach einer fühlbaren Bestrafung: Gewalt wider Gewalt. Für die Tendenz dieser Geschichte ist es recht bezeichnend, daß der Moslem in rüder Schwarz-Weiß-Zeichnung als heilloser, seelisch völlig verhärteter Schurke den beiden Bilderbuch-Christen Charley und Turnerstick gegenübergestellt wird, die zwar weit davon entfernt sind, dem Feind auch noch die andere Wange entgegenzuhalten, aber doch immer darum besorgt erscheinen, sein Leben


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zu schonen. Während der Moslem nach dem Auftritt im Zoologischen Garten den beiden Christen blutige Rache schwört und in der Folge tatsächlich einen Versuch unternimmt, den Ich-Erzähler und Turnerstick zu ermorden, macht Charley dem Kapitän Turnerstick Vorwürfe, daß er bei der Vereitelung dieses Mordanschlages nicht sorgfältiger darauf geachtet habe, das Leben des Moslems zu schonen. Der Kapitän zieht sich freilich auf den Grundsatz »Wie Du mir, so ich Dir« zurück, ist also - und darin besteht eine gewisse Inkonsequenz der Geschichte - dem Prinzip der Rache noch beinahe ebenso stark verhaftet wie der Moslem: »Vielleicht bin ich zum Mörder geworden. Das ist keineswegs ein angenehmes Gefühl. Aber wenn ich bedenke, daß er Euch Rache geschworen und dann auf Euch geschossen hat, so meine ich, daß ich mir keine schweren Vorwürfe zu machen brauche. Der Kerl ist in seine eigene Grube gefallen und drin ertrunken.« (13)

Von solchen kleineren Unstimmigkeiten abgesehen, gelingt es Karl May jedoch, sein Konzept durchzuführen, nämlich den fanatischen, vor einem Mord nicht zurückschreckenden Moslem durch den von der christlichen Liebe beseelten Ich-Erzähler Charley alias Karl May zu der göttlichen Gnade, sprich: zum Christentum führen zu lassen. Dies geschieht nun allerdings, indem sich die Handlung in übertrieben-unrealistischer Weise auf ein dramatisches Ende hin zuspitzt: In Tunis, wo der Moslem mit seiner Familie (Frau und Sohn) lebt, trifft Charley mit der Frau des Moslems zusammen. Sie ist schon lange heimliche Christin, wird sich dessen aber erst bewußt, nachdem sie mit Charley ein Glaubensgespräch geführt hat, in dem sich der wunderbare Orient-Reisende auch als großer Missionar erweist (hier wird ein Wunschtraum Mays deutlich, nämlich der, Macht über menschliche Seelen zu besitzen, die sie zur wahren Religion der Liebe bekehrt). In »Christus oder Muhammed« ist sich May allerdings noch nicht bewußt, daß diese Religion der Liebe nicht dadurch Eingang in die Herzen der Menschen findet, daß der Christ den Moslem von der Unrichtigkeit der Lehre Mohammeds überzeugen müßte. Der naive Gedanke, daß es darauf ankomme, zwischen Christus und Mohammed zu entscheiden, wobei dann nach Auffassung Mays nur die Ansicht möglich sei, daß »Mohammed (. . . ) Haschisch gegessen und seine Suren erträumt« habe, »Christus aber ( . . . ) am Kreuze gestorben« sei, »um die Sünden


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aller Welt auf sich zu nehmen« (14), führt zu schrecklichen Verdrehungen der christlichen Lehre. Die Frage, »wer Recht hat, Christus oder Muhammed« (15), im Grunde genommen ein völlig bedeutungsloses Problem, das die Religion auf das Niveau eines bloßen Wettkampfes herabwürdigt, nimmt im weiteren Verlauf der Erzählung einen entscheidenden Platz ein: ein riesiger schwarzer Panther bedroht Frau und Kind des Moslems, der Mohammed vergeblich um Hilfe anruft. Erst als die Frau ihm die Worte des Vaterunser vorspricht und er sie nachbetet, gelingt es dem Erzähler, den Panther vor seine Büchse zu bekommen und ihn zu erschießen. Frau und Kind des Moslems, der übrigens Abd el Fadl (Vater der Güte) heißt,(16) werden auf diese Weise gerettet, und der Moslem sieht in der glücklichen Wendung, die im Grunde genommen doch nur auf die Geschicklichkeit und den Einsatzwillen Charleys zurückzuführen ist, einen göttlichen Fingerzeig: Er nimmt das Christentum an, weil »Allah dem Propheten und dem Khalifen nicht die mindeste Macht gegeben hat. Wer zu ihnen betet, bleibt ohne Erhörung; aber Isa, der Christ, besitzt alle Macht im Himmel und auf Erden, und wer sich im Vertrauen an ihn wendet, wird Erhörung finden. Ich habe es erlebt und werde von nun an an ihn glauben.« (17)

Die Geschichte wirft zugleich ein recht bezeichnendes Schlaglicht auf die Art der Religiosität, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vorherrschte: Auf der einen Seite ein Gefühlschristentum, das oft einen naiven Glauben an die prompte Verwirklichung des göttlichen Prinzips der Bestrafung für die Sünder und der Belohnung der Gerechten einschloß, so daß man wähnte, bereits hier auf Erden empfange jeder den gerechten Lohn seiner Verfehlungen beziehungsweise seiner gerechten Taten, auf der anderen Seite aber die starke Hinwendung zu einem rational geprägten Christentum (Verstandeschristentum), die dazu führte, daß der Gläubige seine Gläubigkeit auf reale Beweise göttlicher Macht stützen wollte. Der Moslem in »Christus oder Muhammed« bleibt nämlich nur solange ungläubig und verstockt, bis Karl May alias Charley als Werkzeug der göttlichen Vorsehung ihm handgreiflich vor Augen führt, daß nur Christus seine Familie retten könne. Andererseits zeigt sich auch hier der starke Drang des Autors Karl May, seinem heftigen Verlangen nach Geltung und Ansehen (in der menschlichen Gesellschaft, aber offenbar auch vor Gott) da-


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durch literarischen Ausdruck zu verleihen, daß sein alter ego Charley/Kara ben Nemsi in fast allen Marienkalender-Geschichten zum Vollstrecker des göttlichen Willens wird.(18)

Die Grundkonzeption von »Christus oder Muhammed«, nämlich die Gegenüberstellung des fanatisch hassenden Moslems auf der einen Seite und des inbrünstig liebenden Christen auf der anderen Seite, wobei dem Moslem durch ein göttliches Wunder (Rettung seiner Familienangehörigen aus einer schier hoffnungslosen Lage), dessen irdischer Vollstrecker der christliche Gegenspieler ist, die Nichtigkeit seines Glaubens und die Kraft des Christentums vor Augen geführt werden, hat Karl May für »Maria oder Fatima« fast unverändert übernommen. Durch die erneute Verwendung des Motivs von der wunderbaren Rettung der Familienangehörigen eines fanatischen Moslems (hier ist es der Schiit Schir Saffi), verbunden mit einer Glaubenswette (der schiitische Fatima-Kult wird gegen den christlichen Marienkult gesetzt) wirkt die Erzählung bei weitem nicht so originell wie »Christus oder Muhammed«. Vielmehr ist es Karl May kaum gelungen, die »Machart« seiner Geschichte geschickt von der der »Christus oder Muhammed«-Erzählung abzuheben. Es wird in geradezu peinlicher Weise deutlich, daß Karl May die Absicht hatte, die Grundidee seiner oben besprochenen Marienkalender-Geschichte auf den Gegensatz Maria-Fatima zu übertragen ohne daß er sich um die erzählerische Verwirklichung dieser Idee allzuviele Gedanken machen wollte. Da der Maria- und der Fatima-Kult in der Tat bis in Äußerlichkeiten (Rosenkranzgebete) erstaunliche Ähnlichkeiten aufweisen, war die Möglichkeit gegeben, die beiden Kulte in Form eines Glaubensstreites gegeneinander auszuspielen: die Schiiten verlangen von Kara ben Nemsi den Nachweis, daß Maria mächtiger als Fatima sei, indem sie die Entscheidung davon abhängig machen, wer die Gebete der Schiiten erhöre und ihre von den Akrakurden gefangen genommenen Verwandten befreie. Der Feldzug des Schiiten Schir Saffi gegen die Akrakurden muß scheitern, damit der Christ Kara ben Nemsi die Gefangenen siegreich befreien kann und dadurch den Beweis erbringt, daß Maria mächtiger ist als Fatima. Wie bei »Christus oder Muhammed« schließt sich die Bekehrung des Moslem-Führers (Schir Saffi) an, nun aber mit dem charakteristischen Unterschied, daß der Moslem in »Christus oder Muhammed« den Bekehrungsversuchen Charleys


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aufmerksam folgte und er sich schließlich - wie aus einem an das Ende der Erzählung gestellten Brief des Abd el Fadl hervorgeht - sogar taufen ließ, während Schir Saffi in »Maria oder Fatima« sich zwar schließlich auch für die christliche Religion ausspricht, die Bekehrungsreden Kara ben Nemsis zunächst aber gar nicht auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein scheinen: Während dieser Arbeiten arbeitete ich auch an Schir Saffi; daß auch der Islam Christum anerkennt, ihn sogar das Weltgericht halten läßt über die Lebendigen und die Toten, ihn Isa Ben Marryam nennt, die heilige Gottesmutter aber Marryam Omm Isa, dies alles erklärte ich ihm. Mehr konnte ich bei seinem verknöcherten Schiitismus nicht thun; aber was ich sagte, haftete doch einigermaßen.(19)

In ausgesprochen raffinierter Weise gibt sich der Ich-Erzähler hier betont bescheiden; um so mehr wird sein Bekehrungstalent dadurch hervorgehoben, daß der Schiit Schir Saffi am Ende bekennt, daß er letztlich Maria über Fatima stelle (wurde doch vorher der verknöcherte Schiitismus des Schir Saffi herausgestellt). Derartige Subtilitäten, die beweisen, daß das Ich-Ideal des Ex-Sträflings und Schriftstellers May in der Figur des gelegentlich auch als Missionar überaus erfolgreichen Kara ben Nemsi eine besonders strahlende Ausprägung gefunden hat, sind mehr als die übertriebene Tendenz oder die literarische Machart von »Maria oder Fatima« dazu angetan, dieser Marienkalender-Geschichte die Interessen des Lesepublikums zu sichern.

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Die Marienkalender-Geschichten, in denen auf eine derart plakative Weise die Macht des Christentums und die Macht des Islam einander gegenübergestellt werden, sind freilich eher in der Minderzahl. Dagegen hebt sich eine weitere Gruppe von Erzählungen ab, die den Konflikt zwischen Haß und Liebe, zwischen Unglauben und Glauben (wobei in den Marienkalender- Geschichten der 90er Jahre, auch noch in »Bei den Aussätzigen«, die Position des Unglaubens durch die Anhänger des Islams, die des Glaubens durch die echten - nicht nur Namens-- Christen repräsentiert wird) innerhalb einer (islamischen) Familie stattfinden lassen. Wieder lassen sich für


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diesen Typus der Marienkalender-Geschichte zwei aufschlußreiche Beispiele finden, von denen das eine sich durch seine wesentlich geschicktere Machart von dem anderen deutlich abhebt. Die Rede ist von den Erzählungen »Mater dolorosa« und »Der Verfluchte«.

Der Titel »Mater dolorosa« und die einzelnen Kapitelüberschriften der Erzählung, »Fatima Marryah«, »Yussuf Ali«, »Hussein Isa« und »Es Salib«, weisen bereits darauf hin, daß die Geschichte sich auf zwei Ebenen bewegt: die realen Ereignisse werden symbolisch überhöht im Sinne einer freilich recht primitiv angewandten religiösen Sinngebung. Die Familie des Schiiten Yussuf Ali erscheint bereits durch die Namensgebung als Abbild - natürlich in beschränkten, irdischen Dimensionen - der Heiligen Familie Yussuf (Joseph) - Marryah (Maria) - Isa (Jesus). Hinzu kommen (als weiterer Namensbestandteil) die Namen islamitischer Heiliger: Fatima (die Lieblingstochter des Propheten) - Ali (der Kalif und Mann Fatimas) - Hussein (einer der beiden Söhne Fatimas; die Ermordung Husseins bewirkte das moslemitische Schisma in Sunniten und Schiiten). Damit ist die Grundtendenz der Geschichte schon skizziert: die ursprünglich schiitische Familie wird im Verlauf der Erzählung zur vorbildlichen christlichen Familie, zu einem wahrhaftigen Abbild der Heiligen Familie.

Freilich müssen bis dahin noch einige entscheidende Konflikte ausgetragen werden. Wiederum ist der Ich-Erzähler, der große Kara ben Nemsi, der Vollstrecker des göttlichen Willens: er bewirkt die Wandlung der islamitischen Familie, in der die Liebe nicht zu Hause ist, zu einer christlichen Familie.

Im Zentrum der Konflikte, die auf dem Weg zu der angedeuteten glücklichen Lösung ausgetragen und ausgeräumt werden müssen, steht Fatima Marryah, die »Mater dolorosa«. Wie die Gottesmutter muß auch sie durch einige schmerzhafte Prüfungen gehen, deren erste gleich am Beginn der Erzählung steht: von den Sunniten, die in dieser Erzählung den unversöhnlichen Haß im Kontrast zu der unerschütterlichen Liebe der Fatima Marryah und den Unglauben im Gegensatz zu dem christlichen Glauben, den die Familie Yussuf Alis am Ende angenommen hat, symbolisieren, mit Hunden gehetzt, wird sie von Kara ben Nemsi, der hier wieder so recht als Helfer in größter Not dargestellt wird, vor ihren Häschern gerettet. Dabei wird neben dem Glauben der Fatima Marryah (»sie ist


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außerdem eine verfluchte Schiitin, welche sogar von dem Heilande der Christen redet« (20)) noch ein anderes Motiv für den inbrünstigen Haß, mit dem sie von den Sunniten verfolgt wird, genannt: »Es herrscht Blutrache zwischen uns und ihrem Stamme.« (21)

Die Blutrache ist überhaupt ein zentrales Motiv in den Reiseerzählungen Karl Mays; in den »Marienkalender-Geschichten« gewinnt es eine besondere Bedeutung dadurch, daß es geradezu als Symbol für den fanatischen Haß gebraucht wird, mit dem sich die Moslems in den Marienkalender-Geschichten an Andersgläubigen und Stammesfeinden rächen. Gerade aber dieser Haß ist es, der in den Marienkalender-Geschichten ja überwunden werden soll, indem Karl May ihm die Religion der Liebe, das Christentum, gegenüberstellt. Freilich erweist sich Karl May selbst in diesen Geschichten häufig als der Religion der Liebe noch nicht würdig, denn er qualifiziert den Islam oft in undifferenzierter Weise als reine Haßreligion oder gar als Religion der Lüge (22) ab; jedoch findet sich in den Marienkalender-Geschichten auch eine andersartige Behandlung des Blutrache-Motivs, besonders in der Erzählung »Blutrache«.

In der Geschichte »Mater dolorosa« spielt allerdings das Motiv des Glaubenskampfes in einer Familie(23) eine weitaus wichtigere Rolle als das Motiv der Blutrache. In der Familie Yussuf Alis liegt nämlich manches im Argen, wie Kara ben Nemsi erfährt, als er mit Yussuf Ali in dessen Zelt zusammensitzt, um mit ihm über die glückliche Rettung seiner Frau Fatima Marryah zu sprechen. Hierbei sagt der Ich-Erzähler das in aller Deutlichkeit, was die Leser der Erzählung bereits ahnen konnten, daß nämlich diese orientalische Familie, von der der Leser bisher nur Vater und Mutter kennt, eine in das »Wilde Kurdistan« transponierte heilige Familie ist. »Eure drei Namen sind Yussuf Ali, Fatima Marryah und Hussein Isa. Jede dieser drei Personen hat einen moslemitischen und einen christlichen Namen. Ali und Fatima waren die Eltern von Hussein, welcher von seinen Gegnern getötet wurde. Yussuf (Josef) und Marryah (Maria) waren die Eltem von Isa, welchen seine Feinde ans Kreuz schlugen.« (24)

Mit dieser Bemerkung macht Kara ben Nemsi Yussuf Ali ungewollt Mut, über eine große Sorge, die ihn bewegt, sprechen zu können: sein Sohn Hussein Isa, der nach der Absicht des Vaters


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ein mächtiger Streiter des Propheten werden sollte, ist ein Diener des christlichen Patriarchen von Mossul geworden. Nun sieht sich der Vater von den strengen Grundsätzen seines Glaubens dazu gedrängt, entweder seinen Sohn verstoßen zu müssen oder auf Mittel und Wege zu sinnen, ihn von dem - seiner Meinung nach - falschen Pfad des Christentums abzubringen. Dabei ist Yussuf Ali aber keiner der unbeugsam strengen Moslems, die uns sonst in den Marienkalender-Geschichten begegnen; vielmehr zeigt Karl May auf geschickte Weise, daß Yussuf Ali selbst auf dem Wege zum Christentum ist, dies aber nicht mit der ihm vom Islam vorgeschriebenen Rolle des strengen Familienoberhaupts in Einklang bringen kann. Allerdings führt die Erklärung des heimgekehrten Sohnes Hussein Isa, daß er ein christlicher Priester geworden sei, zu einer dramatischen Auseinandersetzung mit seinem Vater. Nun zeigt aber gerade diese Auseinandersetzung, daß sich der Vater in eine Art krampfhafte Erregung gesteigert hat, die durchaus unnatürlich ist und sogar dazu führt, daß er dem Gast Kara ben Nemsi in seiner Aufregung einen fürchterlichen Hieb versetzt: Er hielt erschrocken inne. Er hatte gethan, was nicht er selbst, sondern was der Teufel seines Zornes gewollt hatte - er hatte mich geschlagen. Da mir das undenkbar gewesen war, so hatte ich mich nicht zur Abwehr bereit gehalten und den Schlag in das Gesicht also voll und gewichtig empfangen, von einer solchen Riesenhand. Ich taumelte zurück und griff nach dem Auge. Es war, was der Kunstausdruck einen Sauhieb nennt ( ... ) (25)

Diese ganze Szene trägt den Stempel des Außergewöhnlichen, denn an kaum einer Stelle in den anderen Erzählungen wird Kara ben Nemsi so stark verletzt wie hier(26), und es wird auch deutlich, daß die Handlungsweise Yussuf Alis von ihm nicht als gewollter Angriff, sondern als Zeichen für das Außer-sich-Sein des Kurden interpretiert werden muß. Immerhin verzichtet Kara ben Nemsi, ganz im Gegensatz zu Geschichten wie »Christus oder Muhammed«, wo kräftige Fausthiebe ausgeteilt werden, auf eine irgendwie geartete Vergeltung. Die Quittung für das Verhalten Yussuf Alis wird ihm vielmehr durch die göttliche Vorsehung zuteil, denn die Stammesfeinde, die bereits Yussufs Frau Fatima Marryah grausam gequält hatten, nehmen Isa gefangen und hängen ihn an einem von ihnen selbst errichteten Holzkreuz auf. Seine Eltern, die ihm in törichter


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Weise bis in das Lager der feindlichen Kurden folgen, werden ebenfalls gefangen; so bildet denn die »heilige Familie« im Lager der Feinde eine wahrhaftige Kreuzigungsgruppe. Durch diesen Einfall bekommt die Erzählung eine geradezu mystische Überhöhung, die freilich auf heutige Leser wie ein Fremdkörper wirkt: auf ihrem Weg vom Islam zum Christentum, vom Haß zur Liebe, muß die Familie Yussuf Alis den Weg über das Leiden, über das Kreuz im wahrsten Sinne des Wortes beschreiten. Hussein Isa, der christliche Priester, der ein Licht des Islam hatte werden sollen (27), muß am Kreuz leiden wie Christus, nur nicht für die Verfehlungen der Menschen insgesamt, sondern vielmehr für den Starrsinn seines Vaters. Natürlich kommt es zu einer im Sinne der Marienkalender glücklichen Lösung: die ganze Familie wird durch Kara ben Nemsi befreit, und Yussuf Ali will fortan im Zeichen des »Salib«, des Kreuzes Christi, mit seiner Familie leben. Aber man spürt doch, daß diese Lösung der Geschichte teuer erkauft ist.

Gerade wegen ihrer mystischen Komponente macht diese Erzählung den Leser der heutigen Zeit ein wenig ratlos: einerseits ist sie sicherlich wegen des weitgehenden Verzichts auf plakative Beschimpfungen des Islam und wegen der recht klar und einleuchtend durchgeführten Grundthematik zu loben, andererseits wirkt die Kreuzigungsszene Hussein Isas einigermaßen befremdlich, unwahr, ja sogar süßlich. Man meint nämlich beinahe, sie sei wegen ihrer - unleugbaren - Wirksamkeit auf die Geschichte in ihrer ursprünglichen Anlage zusätzlich aufgepfropft worden, um die Tendenz der Erzählung auch dem »Uneinsichtigsten« deutlich zu machen.

In der Erzählung »Der Verfluchte«, die ein Jahr nach »Mater dolorosa« in derselben Publikation, nämlich dem von Karl Mays Hausverleger Pustet herausgebrachten »Regensburger Marienkalender«,erschien, hat Karl May wesentliche Motive der »Mater dolorosa«-Erzählung übernommen und in charakteristischer Weise abgewandelt. Wieder wird der Konflikt zwischen einem strengen mohammedanischen Vater und seinem Sohn, der sich dem Christentum zugewandt hat, geschildert. Freilich ist dieser Konflikt in »Der Verfluchte« weitaus zugespitzter dargestellt, als dies in »Mater dolorosa« der Fall war. Konnte man dort davon sprechen, daß Yussuf Ali seinen Sohn trotz seines Glaubenswechsels liebt und erst durch den Zorn über die unerwartete Entdeckung, daß dieser


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bereits ein christlicher Priester geworden sei, zu seinem grausamen Verhalten gebracht wird, so ist Osman Bei in »Der Verfluchte« deutlich als ein der Liebe unwürdiger Fanatiker gekennzeichnet. Schon die Tatsache, daß er als Einsiedler Abdahl und Oberster der ganz strengen Mohammedaner seinen Sohn wegen des Wechsels zum christlichen Glauben verflucht und verstoßen hat und bereits beim bloßen Anblick eines Christen in wahnsinnsähnliche Zustände gerät, weist ihn als unheilbaren Fanatiker aus. Überhaupt wird der Fanatismus der ganz strengen Mohammedaner in dieser Erzählung in beklemmender, aber nicht unrealistischer Weise dargestellt. Das Verhalten der Menschenmenge bei der Weihe der heiligen Fahne knüpft an die Beobachtungen an, die Orientreisende des 19. Jahrhunderts in ihren Reisebüchern geschildert hatten: Der Empfang der nacheinander ankommenden und meist nur durchziehenden Pilgerhaufen bestand in einem heiseren Allah-Gebrüll, und über die Einweihung der »heiligen Fahne will ich lieber gar nichts sagen. Diese Menschen waren eben beinahe toll vor religiöser Begeisterung, sie schrieen wie die Tiger, verwundeten sich, um dem Propheten ihr Blut zu weihen, und ergingen sich in ähnlichen andern Verrücktheiten, bei denen ich förmlichen Ekel empfand. (28)

Auf der einen Seite läßt sich zwar konstatieren, daß die Darstellungsweise Mays das tatsächliche Verhalten fanatischer Islam-Pilger wohl recht eindrucksvoll und zutreffend widerspiegelt, auf der anderen Seite muß man aber festhalten, daß solche Passagen zur Stützung einer fragwürdigen Tendenz der gesamten Erzählung dienen, nämlich der Abwertung des Islam, durch die das Christentum um so positiver erscheinen soll. Dies zeigt sich besonders, wenn Karl May das erste Gespräch zwischen dem Ich-Erzähler Kara ben Nemsi und dem Sohn des Obersten der ganz Strengen , dem Verfluchten , wiedergibt. Kara ben Nemsi kommt dort bei der Betrachtung der Umstände, unter denen der Verfluchte aus seinem väterlichen Haus vertrieben wurde, zu dem Urteil: »Dein Vater ist der strengste, der eifrigste Bekenner des Islam, und Du, sein einziges Kind, hast den Kuran verworfen. Ich kenne beides, die Bibel und den Kuran, das helle, lebenspendende Licht des Christentums und den glühenden, versengenden Brand der Lehren Muhammeds, ich kenne auch das Menschenherz und verstehe, daß Dein Vater Dich von sich gestoßen hat.« (29)


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Einige Ansätze zu einer tiefergehenden Betrachtung des Problems sind hier durchaus gegeben: zwar zeigt der Erzähler vom Standpunkt des Mitmenschen aus Verständnis für die religiösen Irrwege des Einsiedlers, doch muß er aus einer recht einseitigen, christlich-dogmatischen Position heraus den Grundirrtum des Obersten der ganz Strengen nicht darin erblicken, daß er die islamische Religion in rücksichtslos-fanatischer Weise ausübt und ihr damit im Grunde genommen auch nicht gerecht wird, sondern der Christ Kara ben Nemsi führt den blinden Religionseifer des Einsiedlers auf eine fanatische Grundeinstellung aller Mohammedaner, also letztlich auf die Lehre Mohammeds selbst, zurück. Darin liegt der entscheidende Mangel der Marienkalender-Geschichten, freilich - wie man hinzufügen muß - aus heutiger Sicht.

Kaum einen Vorwurf dürfte man dem Autoren dagegen daraus machen, daß er die Erzählung »Der Verfluchte « aus der dramatisch zugespitzten Anfangskonstellation heraus zu einem reichlich schauerlichen Ende bringt: der Einsiedler wird für die unnachsichtige Verfolgung seines leiblichen Sohnes dadurch bestraft, daß seine häufig wiederholte Verwünschung »Allah zerschmettere Dich« in einem göttlichen Strafgericht an ihm selbst zur Realität wird. Bei der Verfolgung der Christen stecken die fanatischen Moslems unter der Führung des Einsiedlers nämlich die katholische Kapelle des Ortes, in welcher die wenigen Katholiken der Stadt ihre Andacht zu verrichten pflegten (30), in Brand; dadurch bricht der ganze Felsen zusammen und begräbt die Mohammedaner unter seinen Trümmern. Dieses furchtbare Ende ist - in der Sicht des Autors - die Konsequenz aus der - scheinbar - unheilbaren Haß-Besessenheit des Obersten der ganz Strengen . Als radikales Heilmittel für seinen - im Gegensatz zu Yussuf Ali in der Erzählung »Mater dolorosa« -unheilbaren Unglauben bleibt nur der Tod, den Gott als Strafe verhängt. Dieses Ende der Geschichte ist zwar einerseits von erschreckender Härte, aber es muß als notwendige Konsequenz angesehen werden, wenn man die Grundtendenz des Verfassers, wonach die Moslems sich durch blinden Glaubenshaß(31), die Christen durch verzeihende Liebe auszeichnen, akzeptiert. Bezeichnenderweise wird der Oberste der ganz Strengen nicht von seinen Glaubensgenossen begraben, sondern von Katholiken.(32)


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Der schreckliche Abschluß von »Der Verfluchte« findet eine logische, wenn auch wenig erfreuliche Fortsetzung in den beiden Marienkalender-Geschichten, die von den Kritikern dieses Teils der schriftstellerischen Werke Karl Mays immer als besonders negative Beispiele angeführt werden: »Old Cursing-Dry« und »Ein amerikanisches Doppelduell«. Beide Erzählungen sind in demselben Jahr, nämlich 1897, erstmals erschienen, wenn auch in verschiedenen Marienkalendern. »Old Cursing-Dry« war, wie 7 weitere der Marienkalender-Geschichten, als Beitrag für den »Regensburger Marienkalender« geschrieben worden. »Ein amerikanisches Doppelduell« erschien im »Einsiedler Marienkalender« und wurde unter dem Titel »Ein Blizzard« später in Band 23 der »Gesammelten Reiseerzählungen« aufgenommen. Daß dieser bisher unbekannte Erstabdruck der Erzählung »Ein Blizzard« wiederentdeckt wurde, ist Hainer Plaul, dem Ostberliner Karl-May-Forscher, zu danken.(33)

Sowohl die Erzählung »Old Cursing-Dry« als auch »Ein amerikanisches Doppelduell« spielen nicht im Orient, sondern im Wilden Westen und bilden damit eine Ausnahme unter den Marienkalender-Geschichten. Nur in »Mutterliebe« und in »Christ ist erstanden« wird Amerika noch einmal als Schauplatz gewählt (in »Christ ist erstanden« ist es Südamerika; die Erzählung knüpft stark an Mays große Reiseerzählung »El Sendador«(34) an). Durch die teilweise Übernahme des beliebten und bewährten Personals der Amerika-Romane Mays (Winnetou und die »verkehrten Toasts« , Dick Hammerdull und Pitt Holbers, aus »Old Surehand« dem Leserpublikum Karl Mays bereits rühmlich bekannt) versuchte May wohl an die großen Erfolge seiner Reiseerzählungen anzuknüpfen. Der große Unterschied zu Werken wie der »Winnetou«-Trilogie besteht freilich darin, daß die erwähnten Marienkalender-Geschichten die bereits erwähnte religiös-didaktische Tendenz der gesamten »Marienkalendereien«, wie Wollschläger diese Geschichten abwertend nennt, in ganz besonderem Maße aufweisen.

Es wurde schon mehrfach beobachtet, daß May in seinen Marienkalender-Geschichten, die ja immerhin in hohem Grade Auftragsarbeiten sind, häufig dieselben Grundmotive in zwei


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Geschichten (nur unwesentlich variiert) verarbeitet hat. Dies liegt sicherlich auch daran, daß die Geschichten, deren Tendenz auch auf das Gesamtniveau und die Intentionen der Marienkalender zurückzuführen ist, für Karl May hauptsächlich eine attraktive Möglichkeit zum Nebenverdienst darstellten. So behandeln denn auch »Old Cursing-Dry« und »Ein amerikanisches Doppelduell« im Grunde genommen dasselbe Thema: hier geht es nicht um den Gegensatz zwischen Islam und Christentum oder zwischen dem Christentum und irgend einer anderen Religion, sondern Karl May behandelt das Problem Unglauben - Glauben an dem Fall eines zum Mörder gewordenen »Westmannes«, dessen Vorliebe zu gräßlichen Flüchen aller Art ausführlich beschrieben wird (Fletcher in »Old Cursing-Dry«) oder eines Gaunerpaares (Grinder und Slack in »Ein amerikanisches Doppelduell«), die aus Habgier einen Mord an den Brüdern Burning, zwei Goldsuchern, begehen und an denen die Flüche »Ich will erblinden« oder »Ich will wahnsinnig werden« , die sie ständig im Munde führen, in wahrhaft schrecklicher Weise in Erfüllung gehen.

Das Motiv des vom rechten Wege abgewichenen Westmanns wurde von Karl May in bemerkenswerter Weise in seiner »Old Surehand«-Trilogie gestaltet: in der Gestalt des Old Wabble. Freilich war es Old Wabble gestattet, für seine Sünden am Schluß, in der ausführlichen, die Grenzen des Kitsches nicht von fern streifenden Sterbeszene die Verzeihung für seine Sünden zu erlangen und von seinem hartnäckigen Unglauben geheilt werden zu dürfen. Eine derart differenzierte Behandlung wird der Gestalt des »Old Cursing-Dry« nicht zuteil. Wegen seiner Vorliebe zu haarsträubenden Flüchen, die in der Erzählung durch Auslassungen gekennzeichnet werden, hat der Westmann Fletcher den Beinamen »Old Cursing-Dry« erhalten. Wie Old Wabble haßt auch er die Indianer inbrünstig: Man hatte oft in meiner Gegenwart von diesem Menschen erzählt, den der Fremdeste sofort an seinen gräßlichen Ausdrücken erkennen mußte. Ja, er war ein Westmann, aber einer der allerniedrigsten Sorte Es gab keine That, deren er nicht fähig war, der Strick hatte schon oft über seinem Haupte geschwebt; in seinem Indianerhasse überbot er den grausamsten Feind der roten Rasse, und man erzählte sich da von ihm Dinge, bei denen man förmlich fühlte, daß sich die Haare emporsträubten. (35)


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Fletcher ist deswegen von allen echten Westmännern verachtet worden. Denn in seinem grausamen Indianerhaß und in einer auf schreckliche Weise zynischen Selbstherrlichkeit setzt er sich immer wieder über alle Verpflichtungen gegenüber seinen Mitmenschen hinweg. Dies steht im krassen Gegensatz zu der hochstehenden ethischen Haltung der echten Westmänner, deren Idealvertreter Old Shatterhand ist. Das göttliche Strafgericht, und das scheinen die heftigen Kritiker dieser Erzählung nicht deutlich genug erkannt zu haben, ist ja nicht nur als Folge seiner schrecklichen Flüche, sondern auch als gerechte Vergeltung für den brutalen und hinterlistigen Mord an zwei Indianern zu betrachten. Man wird allerdings die primitive Vorstellung, daß Gott den Fluchenden bestraft, indem er seine Verwünschungen an ihm selbst wahrmacht, nicht teilen können; der Glaube an die göttliche Allmacht wird dadurch, daß Fletchers Ausruf, er wolle erblinden und zerschmettert werden, wenn er der Mörder der beiden Indianer sei, buchstäblich in Erfüllung geht, reichlich strapaziert. Immerhin gehört die Szene, in der das Savannengericht über Fletcher entscheidet, zu den eindrucksvollsten, die Karl May je geschaffen hat: Der Beweis war erbracht. Als nun Fletcher das Wort zu seiner Verteidigung erhielt, konnte er nichts vorbringen als Flüche und Verwünschungen, welche in den bereits zweimal ausgesprochenen Worten endeten, daß er erblinden und zerschmettert sein wolle, wenn er der Mörder sei. Da er das Wort vor der Jury hatte, mußten wir ihn aussprechen lassen; es war aber kaum anzuhören. Dazu sein Aussehen! Sein Gesicht glich eher dem eines wütenden Tieres als einem menschlichen! (36)

So übertrieben derartige Szenen auch wirken möchten (und in »Ein amerikanisches Doppelduell« kommen ähnliche Passagen vor), so muß man doch zugeben, daß sich selbst in den schrecklichen Vernichtungsorgien dieser Geschichten, wo die göttliche Rache an den Bösewichtern ausführlich geschildert wird, die ungewöhnliche Erzählkunst Mays manifestiert: Fletcher schießt sich bei dem Versuch, Pats avat zu töten, erst das Pulver in die Augen und erblindet, um anschließend von einem Felsen abzustürzen und zerschmettert zu werden, wobei sich sein Sterben buchstäblich in Zeitlupe vollzieht; Grinder in »Ein amerikanisches Doppelduell« verliert in einem Blizzard - Naturkatastrophe als Zeichen des göttlichen Zornes - sein Augenlicht, sein Kumpan Slack aus Angst vor dem


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Zusammenbrechen der Blockhütte, in der sie sich befinden und die vom Schneesturm zerstört wird, den Verstand.

Schließlich mag man in solchen Geschichten auch ein Zeichen für die als Folge jahrelanger Entbehrung (Arbeits- und Zuchthausaufenthalt) gerade in der Zeit seiner größten Erfolge gehäuft auftretenden Angstpsychosen Karl Mays(37) und ihre literarische Verarbeitung erblicken. Andererseits könnte auch ein übersteigertes Selbstgefühl des erfolgsverwöhnten Reiseschriftstellers, der sich gerade recht eindringlich in das Ich-Ideal Old Shatterhand beziehungsweise Kara ben Nemsi eingelebt hatte, literarisch in solchen Szenen den Niederschlag gefunden haben, wo der gottähnliche Ich-Erzähler zum Werkzeug göttlicher Vergeltung wird oder aber die himmlischen Strafen mit schaudernder Ergebenheit konstatiert. Auffallenderweise häufen sich in dieser Zeit die Szenen in seinen Erzählungen, in denen der Erzähler die Sterbestunde eines recht verstockten Bösewichts durch Gebet und geistlichen Trost erleichtert -Old Shatterhand als Missionar!(38)

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Eine weitere Gruppe von Marienkalender-Geschichten soll hier nur summarisch besprochen werden, weil in ihnen das Vorherrschen einer religiösen Thematik, welches für die anderen Beispiele dieser Werkgruppe im Schaffen Karl Mays charakteristisch ist, nicht beobachtet werden kann. Trotzdem (oder vielleicht deswegen?) müssen die Erzählungen »Der Kutb«, »Die »Umm ed Dschamahl«« und »Scheba et Thar« als recht gelungen und vor allem sehr spannend bezeichnet werden.(39) Religiöse Vorurteile gegenüber dem Islam spielen in diesen drei Geschichten nur eine untergeordnete Rolle: So wird in »Der Kutb« der islamische Glaube an einen wohltätigen Schutzgeist, eben den sogenannten Kutb, dadurch ironisiert, daß der Diener des Kutb, ein Bettler, der an dem Tor Esch Schahad in Kairo, wo der Kutb von den gläubigen Mohammedanern besonders verehrt wird, seinen Bettlerplatz hat, durch den Aberglauben der Leute viele Almosen empfängt. Kara ben Nemsi wird von diesem wohltätigen Bettler vor den Europäermorden in Ägypten gerettet, indem der Bettler ihm so lange Unterkunft gewährt, bis er


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Kairo ohne Gefahr verlassen kann. Auf diese Weise darf Kara ben Nemsi den Bettler einige Tage als Diener des Kutb vertreten und erweist in dieser Funktion einem Soldaten eine Wohltat. Es wird dieser Soldat sein, der später Kara ben Nemsi dabei hilft, den entführten Sohn eines französischen Händlers wiederzufinden und zu befreien. Die Zentralfrage der Erzählung »Zufall oder Schickung?« beantwortet Karl May daher so, daß er die Existenz der göttlichen Vorsehung entschieden bejaht.

Die Erzählungen »Scheba et Thar« und »Die »Umm ed Dschamahl«« sind erzählerisch weniger anspruchsvoll als »Der Kutb«; Karl May hat sie 1898 in die Buchausgabe der ersten beiden Bände von »Im Reiche des silbernen Löwen« aufgenommen, wobei »Die »Umm ed Dschamahl«« zu dem Schlußkapitel des zweiten Bandes, »Ein Rätsel«, umgearbeitet wurde (mit zum Teil erheblichen Änderungen und Erweiterungen).(40)

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Ohne Zweifel konnten die bisher analysierten Marienkalender-Geschichten Karl Mays die Vorwürfe von Kritikern wie Wollschläger oder Klotz nicht widerlegen, daß diese Erzählungen eine sehr starke religiöse Tendenz aufweisen, die auf einem naiven Glauben an die Macht der göttlichen Vorsehung und auf eine feindliche Haltung gegenüber den nichtchristlichen Religionen (besonders dem Islam) schließen lassen. Freilich konnte auch gezeigt werden, daß die Erzählungen trotzdem literarisch keineswegs anspruchlos sind. Vielmehr ist die Art und Weise, in der May seine Marienkalendereien auf wenige U r-Motive zurückführt, höchst interessant. In allen diesen Geschichten steht Glaube gegen Unglaube, verzeihende Liebe gegen unnachgiebigen Haß, Versöhnung gegen Vergeltung, und es läßt sich zeigen, daß die besten dieser Geschichten sogar ein deutliches Abrücken von allen plakativen Tendenzen (Christentum gegen Islam) erkennen lassen. In der Tat scheint May sich in den neunziger Jahren allmählich von dem väterlichen Erbe, der großen Härte, Vergeltungssucht etc. freigemacht zu haben. Es gibt nämlich Marienkalender-Erzählungen, in denen eine versöhnliche Tendenz über eine mitleidslose Abqualifizierung der Mohammedaner als


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Ungläubige zu siegen beginnt. Ansätze zu einer differenzierteren Gestaltung werden bereits dort sichtbar, wo Namenschristen, die sich durch ihr vorgebliches Christentum von einem verwerflichen Tun nicht abhalten lassen (der armenische Mädchenhändler in »Der Kys-Kaptschiji« ist ein solcher Namenschrist) als im buchstäblichen Sinne Unchristen entlarvt werden. Ihnen sind die überzeugten Mohammedaner, falls es sich nicht um Fanatiker handelt, in durchaus positiver Weise gegenübergestellt. Karl May stellt sie als gläubige Menschen, wenn auch als Nichtchristen, dar, oder er bevorzugt islamische Figuren, die bereits innerlich zu Christen geworden sind und nur noch dem äußeren Erscheinungsbilde nach als Mohammedaner bezeichnet werden können. Dies gilt in ganz besonderem Maße für den kleinen Hadschi Halef Omar, der in den Marienkalender-Geschichten als ein Christ aus Überzeugung, nicht durch Erziehung und Geburt beschrieben wird.

Eine innere Entwicklung des Verfassers Karl May, die von einem strengen Beharren auf der Bestrafung von sündig gewordenen Menschen in seinen Erzählungen immer mehr absehen läßt, manifestiert sich bereits in einigen Marienkalender-Geschichten vor der großen Zäsur im Leben Karl Mays, die durch seine Orientreise markiert wird. In den mechanischen göttlichen oder irdischen Strafgerichten der großen Reiseerzählungen schwingen nicht nur die bitteren Erfahrungen seiner Sträflingsjahre mit, sondern auch einige vom Vater ererbte Seeleneigenschaften. wie unnachgiebige Härte gegenüber Verfehlungen anderer, Jähzorn oder Rachsucht. Demgegenüber hat Hans Wollschläger in einer hochinteressanten Studie aufgezeigt, wie das Spätwerk Mays in immer größerem Maße von einer Hinwendung zum mütterlichen Prinzip kündet.(41) Diejenigen Marienkalender-Erzählungen, in denen ein programmatisch-versöhnlicher Schluß an Stelle der göttlichen Strafgerichte in den anderen Geschichten steht, wie beispielsweise die bisher kaum beachtete Erzählung »Blutrache« oder auch die zweiteilige Geschichte »Mutterliebe«, zeigen Karl May bereits auf dem Wege zu der Gedankenwelt der Spätwerke. Dem widerspricht auch nicht unbedingt die Tatsache, daß May nach der Veröffentlichung von »Blutrache« (1895) noch eine so ausgesprochen unnachgiebige Geschichte wie »Ein amerikanisches Doppelduell« verfassen konnte. Auch an anderen Werken des May'schen Schaffens läßt sich ja nachweisen, daß


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die innere Entwicklung des Verfassers keineswegs in chronologischer Folge an den literarischen Produkten kontinuierlich überprüft werden kann. Die literarische Verarbeitung solcher inneren Vorgänge geschieht schließlich nicht auf die Weise, daß diese seelischen Prozesse immer unmittelbar in Literatur umgesetzt würden.

Das zentrale Motiv der Erzählung »Blutrache« ist die Überwindung des strengen Rache- und Vergeltungsprinzips. Daß diese für einen in der Tradition der Blutrache aufgewachsenen Araber höchst erstaunliche Wandlung ausgerechnet von Omar ben Sadek vollzogen wird, den die Leser des »Deutschen Hausschatzes«, die Karl May zu Beginn seiner Erzählung nachdrücklich an die früher in dieser Zeitschrift von ihm erschienenen Reiseerzählungen erinnert, aus »Giölgeda padishanün« gerade als engagierten Verfechter des orientalischen Prinzips »Auge um Auge - Zahn um Zahn« kannten, mag als besonders geschickter Schachzug Karl Mays angesehen werden. Immerhin spielte die Tatsache, daß »Blutrache« im »Regensburger Marienkalender« des »Hausschatz«-Verlages Pustet erschien, wohl auch eine Rolle bei der Entscheidung des Verfassers, in dieser Erzählung (wie auch in anderen Marienkalender-Geschichten) bewußt auf das Personal seiner großen Orientreiseromane zurückzugreifen. Dabei tritt die recht spannende Handlung in »Blutrache« mehr in den Vordergrund als bei anderen Marienkalender-Geschichten, in denen die Tendenz oft so plakativ angebracht ist, daß die innere Logik der Erzählung darunter leidet (der Zufall spielt in Geschichten wie »Christus oder Muhammed« oder »Mater dolorosa« eine oft allzu große Rolle). Immerhin ist die Fabel, die Karl May in »Blutrache« ausführt, auch besonders interessant: Kara ben Nemsi und seine Gefährten werden von dem Scheik des Stammes der Handhala unter falschem Namen (er nennt sich Abd el Kahir und behauptet, Scheik der Muntefik-Araber zu sein) auf einen Ritt nach Alt-Basra geführt, um von ihm und seinen Stammesgenossen ausgeraubt zu werden. Unter anderem nehmen die vorgeblichen Muntefik-Araber die berühmten »Zauberflinten« Kara ben Nemsis mit sich. Bei diesem Überfall wird Omar ben Sadeks Schwager, Mend ben Hadschi Schukar, getötet, und an seiner Leiche schwört Omar ben Sadek Blutrache: »Effendi, ich weiß, daß Du milder denkst als wir. Ich habe schon einmal einen Racheschwur gethan, damals auf dem Schott, unter dessen Salz- decke mein Vater verschwunden war,


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und später mich nicht durch den Tod des Mörders gerächt, sondern ihn nur geblendet; diesmal aber werde ich keine Gnade walten lassen, sondern meine Hand ebenso in Abd el Kahirs Blut tauchen, wie ich sie jetzt in dasjenige des Ermordeten getaucht habe. Willst Du mir dazu verhelfen?« (42)

Damit scheint der Verlauf der Geschichte in einem gewissen Sinne vorprogrammiert zu sein: Der Leser wartet auf eine spannende Rachejagd und einen abschließenden teilweisen Verzicht Omar ben Sadeks auf die Blutrache, um die Gefühle seines christlichen Freundes Kara ben Nemsi nicht allzu sehr zu verletzen (wie in »Giölgeda padishanün«). Allerdings werden diese Erwartungen des Lesers weitgehend getäuscht; zwar findet die spannende Rachejagd statt, aber sie führt zunächst auf lauter falsche Spuren, von denen sich eine freilich im weiteren Verlauf als die letztendlich einzig richtige erweist.

Die erste falsche Spur ist die Angabe des Mörders und Räubers, er heiße Abd el Kahir und sei Scheik der Muntefik-Araber. Der Name Abd el Kahir (Vater der Tugend) paßt nun offensichtlich überhaupt nicht zu der Verhaltensweise des gewissenlosen Räubers. Die Vermutung liegt also nahe, daß der Name ein geborgter ist. Die besondere Komik des weiteren Handlungsverlaufes besteht jetzt darin, daß Kara ben Nemsi beim Mutessarif in Basra vorspricht, um ihn um Hilfe bei der Jagd nach Abd el Kahir zu bitten, der wirkliche Abd el Kahir aber gerade zu derselben Zeit beim Mutessarif eine Privataudienz hat. Kara ben Nemsi merkt am Verhalten des Mutessarif und seines Gastes sehr schnell, daß sie die Nennung des Namens Abd el Kahir im Zusammenhang mit einem Raubüberfall höchst verwundert hat: »Wenn dies der Fall ist, so habe ich richtig geahnt, und der Mann ist gar nicht Abd el Kahir, der Scheik der Muntefik gewesen.« / »Er war es nicht, denn Abd el Kahir sitzt hier vor Deinen Augen neben mir.« (43)

Diese erste falsche Spur ist für den weiteren Handlungsverlauf allerdings von eher untergeordneter Bedeutung. Die zweite falsche Spur führt die Leser dagegen ganz in das Zentrum der Erzählung, an ihren Kern: Auf der Jagd nach dem Räuber, der sich den Namen des Scheiks Abd el Kahir als Tarnung für seine dunklen Vorhaben zulegte, findet Omar ben Sadek ein offenbar von seinen Eltern ausgesetztes kleines Kind, das er »Lakit« (Findling) nennt und mit


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großer Liebe betreut. Nun will es der Verfasser so, daß dieses Kind ausgerechnet der Sohn des gesuchten Räubers und Mörders ist. Sobald Omar ben Sadek dies erfährt und mit dem Mörder zusammentrifft, gerät er in einen heftigen Gewissenskonflikt: soll er um der Liebe willen, die er zu dem Knaben gefaßt hat, seinem Vater, an dem er eigentlich Blutrache üben müßte, verzeihen? Was ist stärker, Liebe oder Haß? Es zeigt sich nun, daß die Liebe (die ja auch das Hauptgebot des christlichen Glaubens ist) das Seelenleben Omar ben Sadeks grundlegend verwandelt hat. In der Tat verzichtet er nicht nur auf eine blutige Rache, sondern auch auf den ihm zustehenden Blutpreis, den der Räuber durchaus zu zahlen bereit ist, »wenn ich nur meinen Sohn und mein Weib wieder bekomme und für sie leben darf«. (44)

Nun stellt sich heraus, daß der eigentliche Mörder bereits im Kampf getötet worden ist, was den Weg zu einer allgemeinen Versöhnung freimacht. Auch der Scheik der Muntefik-Araber, der wirkliche Abd el Kahir, muß auf Rache verzichten: Was wollte der Scheik der Muntefik nach dem Beispiele von Güte machen, welches ihm Omar gegeben hatte? Er mußte auch verzeihen und alle Rachegedanken fallen lassen. Wie eigentlich christlich fühlte und handelte man hier und jetzt in diesem an der Pilgerstraße gelegenen Hause, wo der muhammedanische Fanatismus bisher jährlich blutige Orgien gefeiert hatte! (45)

So scheint sich in dieser Erzählung bereits eine geänderte Einstellung Karl Mays zum Problem Schuld und Sühne niedergeschlagen zu haben: die verwandelnde Kraft der Liebe, die im Spätwerk programmatisch den Mächten Haß und Krieg, die in der Realität vorzuherrschen scheinen, gegenübergestellt wird, wird hier bereits an die Stelle eines blinden Rachegedanken gesetzt.

Auch in der in zwei Teilen erschienenen Erzählung »Mutterliebe« ist die Wendung zum Mütterlichen, zum Prinzip der Liebe, deutlich durchgeführt. Freilich nimmt die Geschichte von der Upsaroka-Mutter, die von den feindlichen Sioux zusammen mit ihren Söhnen gefangen genommen wurde und in eine Grube gesteckt worden ist, in der drei Klapperschlangen liegen, teilweise kitschige Züge an. Um ihre Kinder zu retten, hatte die Upsaroka-Mutter nämlich den ihre Hände zusammenhaltenden Riemen mit den Zähnen zernagt und, als sie dadurch die Arme frei bekam, im Finstern nach den


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Schlangen gesucht, um sie unschädlich zu machen, was nur dadurch geschehen konnte, daß sie eine nach der andern erwürgte. Daß sie dabei selbst und zwar viele Male, gebissen wurde, kam bei ihr nicht in Betracht. (46) Die selbstlose Liebe der Mutter, die sich auch durch den drohenden Tod nicht schrecken läßt, erweist sich in dieser Erzählung als mächtiger als der Haß der übermächtigen Feinde.

Darüber hinaus zeigt Karl May auch in »Mutterliebe«, daß die Fähigkeit zur aufopferungsbereiten Nächsten- und Mutterliebe nicht an die Religionszugehörigkeit gebunden ist; der wahrhaft christlichen Indianermutter (dabei wird in dieser Geschichte völlig darauf verzichtet, eine Bekehrung der Indianerin zum Christentum zu schildern) steht der schurkische Namenschrist Folder gegenüber, der aus Rachsucht die Sioux gegen die Upsaroka-Mutter und ihre Kinder aufgehetzt hatte. Ihm kann die christliche Verzeihung freilich nicht gewährt werden, weil er selbst zu keiner Verzeihung bereit war.

7

Weisen die Marienkalender-Geschichten »Mutterliebe« und »Blutrache« bereits auf die pazifistisch-versöhnliche Tendenz des May'schen Spätwerks hin, so ist es nicht verwunderlich, wenn eine bedeutende späte Erzählung Mays, »Merhameh«(47) (1909), in einem Marienkalender erschienen ist. Merhameh, die Personifikation der Barmherzigkeit, eine der zentralen Frauengestalten in dem großen späten Roman »Ardistan und Dschinnistan«, stiftet Friede zwischen den Stämmen der Münazah und der Manazah, zwischen denen die Blutrache herrschte. Die wahre Liebe Merhamehs, die mütterliche und jungfräuliche Züge in sich vereint(48), vermag das, was bisher unmöglich schien: sie bringt den Stämmen den Frieden. Ermöglicht wird dies dadurch, daß sie den von den Münazah gefangenen Bruder des Scheiks der Manazah vor der Rache der Münazah beschützt. Wie die Frau Trägerin der Liebe sein kann, so kann sie aber auch den Haß bringen: dies demonstriert Karl May an der Frau des Scheiks der Münazah, die den Todfeind Ali ben Masuhl nicht beschützen will. In der Ich-Sucht der Frau des Scheiks liegt der Grund allen Übels, wie Karl May prononciert feststellt. Möglicher-


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weise wollte er in der liebenden Frauengestalt der Merhameh und in der hassenden Frauengestalt der Scheiksfrau seine eigenen Eheerfahrungen, wie er sie sehen mußte, widerspiegeln: daß die Periode, in der das väterliche Erbteil in seinem Seelenleben bestimmend war, die »Haß-Periode« also, auch die Zeit seiner Ehe mit Emma Pollmer war, die Spätwerk-Periode und die große Wendung zum Mütterlichen aber mit seiner Orientreise, die ihn erstmals mit Klara Plöhn seiner späteren Frau, in engen Kontakt brachte, begann, mag in ihm die Vorstellung erweckt haben, Emma Pollmer sei die treibende Kraft seiner »dunklen« Zeit gewesen, mit Klara, dem »Herzle« , habe dagegen die Zeit der Liebe, des eigentlichen Werkes begonnen. Diese verzeihliche Selbsttäuschung hat in den Figuren der Merhameh und der Scheiksfrau ihren Niederschlag gefunden, und es wirkt wie eine Reminiszenz an die Zeit der Angstträume und Vernichtungsfantasien, wenn der tragische Irrtum des Scheiks der Manazah, der seinen eigenen Bruder erschießt, weil er meint den Scheik der Münazah, den - wie er glaubt - Mörder seines Bruders vor sich zu haben, erst den Weg bahnt zum ewigen Frieden, der am Ende der »Merhameh«-Erzählung mit dem Ruf »Es sei Friede! Es sei Friede!« (49) begrüßt wird. An die Stelle der Vernichtung ist der Friede getreten.

Die Tatsache, daß eine solche pazifistische, von Liebe durchzogene Erzählung in einem Marienkalender erschien, beweist, daß Mays Tätigkeit für die Marienkalender nicht nur eine »Brotarbeit« war: zweifellos war bei ihm eine echte innere Zuneigung zum Katholizismus und vor allem zum Marienkult vorhanden, die auch damit zusammenhängen mag, daß er in Maria schon früh die »große Mutter«, die große Liebende, erblickte; das ganze Spätwerk Mays mit seiner unbewußt »mütterlichen Tendenz« könnte daher im weiteren Sinne als »marianisch« bezeichnet werden.



Bei der Abfassung der vorliegenden Arbeit, die zweifellos etwas zu knapp ausgefallen ist, um allen achtzehn Marienkalender-Geschichten wirklich gerecht werden zu können, stand mir mein Freund Herbert Fischer, Bonn, mit Rat und Tat zur Seite. Daher sei sie ihm in Dankbarkeit gewidmet.

1 Die in zwei Teilen erschienenen Erzählungen »Mutterliebe« und »Der Kys-Kaptschiji« wurden je als eine Erzählung gerechnet.


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2 Christus oder Muhammed. Marienkalender-Geschichten. Reprintdruck der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1979 (in Zukunft abgekürzt: Marienkalender-Geschichten).

3 Marienkalender-Geschichten 7 (der Einfachheit halber wird stets nach der fortlaufenden Seitenzählung des KMG-Reprints zitiert).

4 Hans Wollschläger: Karl May. Zürich 2/1976, 87

5 Wollschläger, ebd.

6 Claus Roxin: »Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand«. Jb-KMG 1974, 60

7 Volker Klotz: Durch die Wüste und so weiter. Über Karl May, in: »Akzente«, 9. Jahrgang, München 1962, Seite 374; charakteristischerweise werden als Beispiele für Klotz' Thesen die Erzählungen »Gott läßt sich nicht spotten« und »Ein Blizzard« (so heißen die Geschichten »Old Cursing-Dry« und »Ein amerikanisches Doppelduell« in den nahezu unveränderten Fassungen, die Karl May in den Band 23 seiner Gesammelten Reiseerzählungen, »Auf fremden Pfaden«, Freiburg 1897, aufnahm) angeführt. Leider scheint Klotz die Erzählungen nur flüchtig gelesen zu haben, denn er ordnet die Inhaltsangabe von »Ein Blizzard« der Geschichte »Gott läßt sich nicht spotten« zu!

8 Interessanterweise kommt auch Walter Schönthal im 5. Sonderheft der KMG (1976), Christliche Religion und Weltreligionen in Karl Mays Leben und Werk, 15, zu der Feststellung, das »Mißlingen dieser Geschichten« habe »seine Ursachen (.. .) nicht in Mays katholischer Tendenz«.

9 Einleitung zum Reprint der Marienkalender-Geschichten, 23

10 ebd. 24

11 ebd. 26

12 ebd. 27

13 ebd. 28

14 ebd. 34

15 ebd. 34

16 Ein recht unpassender Name für einen so rachsüchtigen und vom Haß getriebenen Menschen! Freilich will die Erzählung auch zeigen, daß erst das Christentum, das er schließlich annimmt, ihn befähigt, ein wirklicher »Vater der Güte« zu werden.

17 Marienkalender-Geschichten 37

18 In seiner interessanten Abhandlung über Karl Mays Kindheit und Jugend (Der Sohn des Webers. Über Karl Mays erste Kindheitsjahre 1842 1848, in: JbKMG 1979) kommt Hainer Plaul zu dem Schluß, daß Karl May als Kind durch übermäßige und oft falsch placierte Liebesbezeugungen seiner Mutter und Großmutter auf der einen Seite und durch die ungewöhnliche Härte seines Vaters auf der anderen Seite ein gestörtes Verhältnis zu seiner Umwelt bekam. Besonders die Verzärtelung durch seine Mutter und Großmutter habe bei ihm ein starkes Liebesbedürfnis erzeugt, ohne daß er auf der anderen Seite genügend gegen Verweigerung dieses Grundbedürfnisses gefeit gewesen sei. (Vgl. Jb-KMG 1979, 40). Dies kommt im literarischen Werk besonders der neunziger Jahre dadurch zum Ausdruck, daß der auf dem Gipfel seiner Popularität stehende Schriftsteller sein literarisches alter ego Kara ben Nemsi/Old Shatterhand bisweilen nahezu messianische Züge annehmen läßt.

19 Marienkalender-Geschichten 207

20 ebd. 40

21 ebd. 40

22 Vgl. die Stelle »Muhammed hat Haschisch gegessen und seine Suren erträumt«: Marienkalender-Geschichten 34

23 Dieses Motiv kommt auch in »Christus oder Muhammed« vor, aber eher am Rande, als weiterer Beweis für den blinden Glaubenseifer des Abd el Fadl.

24 Marienkalender-Geschichten 45

25 ebd. 46

26 Von den »Todes-Karavane«-Szenen in Band 3 der »Gesammelten Reiseerzählungen« muß man freilich absehen.


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27 Marienkalender-Geschichten 50

28 ebd. 59

29 ebd. 55

30 ebd. 63

31 Freilich werden solche Ansichten durch die Realität des 20. Jahrhunderts nicht gerade widerlegt: beispielsweise wurde aus dem Iran nach der sogenannten »Islamischen Revolution« von Hinrichtungen berichtet, denen körperliche Züchtigungen (100 Peitschenhiebe!) vorausgingen.

32 Marienkalender-Geschichten 63

33 Vgl. Hainer Plaul: Über wiederentdeckte Abdrucke von May-Erzählungen in: M-KMG 22 (1974), 22

34 Zur Interpretation von »El Sendador« vgl. die Abhandlungen von Ekkehard Koch, Bernhard Kosciuszko, Engelbert Botschen und Walther Ilmer in: JbKMG 1979

35 Marienkalender-Geschichten 92

36 ebd. 102

37 Vgl. dazu Claus Roxin, in: Jb-KMG 1974, 60

38 Als Beispiele seien der Tod Old Wabbles oder der Schluß von »Old Cursing-Dry« (Marienkalender-Geschichten 104) angeführt; eine Laienpredigt hält Kara ben Nemsi in »Maria oder Fatima« (Marienkalender-Geschichten 203): er predigt wohl über eine Stunde lang und gar ohne Vorbereitung!

39 Interessanterweise lobt beispielsweise Meier in seinem Vorwort zum KMG-Reprint der Marienkalender-Geschichten besonders die durchaus untypische Marienkalender-Erzählung »Der Kutb« als »recht liebenswert und zudem spannend« (Marienkalender-Geschichten 7).

40 Vgl. dazu Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den »Silbernen Löwen«, Anmerkung 67, in: Jb-KMG 1979, 133

41 Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«, in: Jb-KMG 1977/73, Seite 11-99

42 Marienkalender-Geschichten 68

43 ebd. 70

44 ebd. 76

45 ebd. 76

46 ebd. 239

47 Eine ausführliche Interpretation der großartigen »Merhameh«-Erzählung würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Der Verfasser hofft aber, an anderer Stelle noch einmal zu diesem Thema Stellung nehmen zu können.

48 In der Tat hat die Gestalt der Merhameh auch etwas Marianisches an sich.

49 Marienkalender-Geschichten 218


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