//339//

HELMUT SCHMIEDT

Literaturbericht



Die Geschichte der Karl-May-Rezeption ist seit jeher auch die Geschichte diverser Kuriosa gewesen: erfreulicher wie überflüssiger, anregender wie ärgerlicher. Der diesjährige Literaturbericht hat einige neuere Phänomene dieser Art zu verzeichnen.

Da ist zunächst einmal Albrecht P. Kanns Buch "Karl May - So war sein Leben"(1). Der Text beruht auf einer in den fünfziger Jahren erschienenen Illustriertenserie und setzt eine Tradition fort, für die etwa auch Barthels "Letzte Abenteuer um Karl May" und Weiszts "Karl May - der Roman seines Lebens" stehen: nicht um die möglichst exakte Erfassung biographischer Ereigniszusammenhänge geht es hier, sondern um die eher romanhafte, freie Ausgestaltung einiger bekannter Etappen in Mays Lebensweg, der keine tiefergreifenden aufklärerischen Intentionen zugrundeliegen. Von »all jenem heute so gern geübten biographischen Sezieren [...], das oft in einer Art Persönlichkeits-Striptease ausartet« (8), will Kann dabei nichts wissen. Stattdessen erfahren wir, wie ein Gendarm May gegenüber »schnauzte« (14) und die Stimme eines Polizeivorstehers »schnarrte« (15), bei welcher Gelegenheit May »aschfahl« (53) wurde und was seine Mutter sagte, als der Filius von seiner Blindheit kuriert war: nämlich »Karl, wie bin ich glücklich« (30). Wir müssen Kann schon glauben, daß er bereits in seiner Jugend »alles, was Karl May betrifft, mit wahrem Feuereifer studiert [hat]« und daß er auch später alles sammelte, »was ich über ihn finden konnte« (7); das Schöne an dieser Erkenntnisfreude ist, daß Kann sich den Blick von ihr kaum hat trüben lassen, daß er ganz unbefangen bleibt, wie z. B. seine Äußerungen über Mays vermeintliche Frühreisen oder dessen kriminelle Delikte zeigen: das Dunkel, in das May selbst diese Themen gehüllt hat und das wir ihm verzeihen können -, wird von Kann wiederhergestellt und, entgegen allen neueren Erkenntnissen, fast noch übertroffen. Hinzu treten handfeste Fehlinformationen: es ist geradezu skandalös und auch unter


//340//

dem Etikett der romanhaften Biographie nicht entschuldbar, wenn Kann ein lobendes Schreiben Thomas Manns an May zitiert (149), bei dem es sich in Wahrheit um eine zwei Jahrzehnte später an Forst-Battaglia gesandte Bemerkung zu dessen May-Schrift handelt (vgl. Karl-May-Jahrbuch 1933, 134 f., sowie: Die Briefe Thomas Manns, Regesten und Register, Bd. I, 1889-1933, 608). Ebenso irreführend ist das generelle Bild, das Kann von der Persönlichkeit Mays entwirft: der verkommt zum harmlosen und langweiligen Genie, das von einer mißgünstig gestimmten Umwelt mit penetranter Boshaftigkeit verfolgt wird, während alle Einsichtigen ihm ungeschmälert ihre Reverenz erweisen müssen; die Brüche und Sprünge im Charakter dieses Mannes, die ihn und mittelbar auch seine Werke zu einem so faszinierend schillernden Beobachtungsgegenstand machen, werden entfernt, bis nur noch eine Schablone übrigbleibt. Es ist, sagen wir es geradheraus, die Schablone des Kitschromans, die sich Kann - darin gewiß dem Ersterscheinungsort seines Werkes verpflichtet - zurechtbastelt, und deutlicher als alle Beschreibungen mag ein Zitat illustrieren, wie die Tendenz des Buches aussieht. Es geht um jene Szene, in der May Emma Pollmer einen Heiratsantrag macht. May spricht da (101): »"Seitdem ich Sie damals bei meiner Schwester gesehen habe, kann ich Sie nicht vergessen, Fräulein Emma." Das Mädchen blickte ihn selig an. Karl preßte ihre zarte Hand an seine Brust. "Emma, wollen Sie meine Frau werden?" brachte er mit stockender Stimme hervor. Ohne zu überlegen, antwortete sie: "Ja." - Karl war selig.« Das hat durchaus den indiskreten Charme einer traditionsreichen Pornographie des Gemüts und ist als solches ein zweifellos seinerseits passabler Beobachtungsgegenstand. Aber "Karl May - So war sein Leben"? So war es eben nicht.

War es vielleicht so: »Am Abend sitzt Emma bei ihm. Er wundert sich, wie er in drei Tagen vergessen konnte, wie sanft sie streichelt. "Hühnlichen, wenn du wüßtest!" Sie bohrte ihre Stirn gegen seine Schulter, dabei lacht sie glucksend, glücklich. "Karli, wir heiraten!"« (145)? Der Text stammt von dem Leipziger Schriftsteller Erich Loest, der seine Novelle über Mays Waldheim-Zeit (vgl. Jb-KMG 1976, 300 f.) inzwischen zu einem umfangreichen "Karl-May-Roman" ausgearbeitet hat, welcher unter dem Titel "Swallow, mein wackerer Mustang" in der DDR und in der Bundesrepublik(2) er-


//341//

schienen ist. Loests Text setzt ein mit der Haftstrafe in Waldheim und folgt Mays Vita bis zu seinem Tod: »Hat er wirklich, sich ein letztes Mal aufrichtend, gerufen: "Sieg, großer Sieg, ich sehe alles rosenrot!" - Oder hat Klara, nur sie war dabei, gefühlt, daß er es hätte rufen können?« (417).

Diese Schlußsätze sind wohl das Meisterstück des gesamten Romans: zum einen pointieren sie die Unsicherheit des Autors Loest, der einerseits Biograph, d. h. exakt arbeitender Forscher, und andererseits Romancier sein will (ein Gesichtspunkt, um dessen Problematik sich der Text sonst kaum einmal kümmert); zum anderen rücken sie die Protagonisten selbst in jene Zwischenwelt aus Sein und Schein, in der Realität und Fiktion nicht mehr auseinanderzuhalten sind, in der die Ränder verschwimmen und die Gewißheit klarer Erkenntnisse längst verlorengegangen ist. Wie dies bei May aussieht, deutet schon das Bild auf dem Umschlag des Buches an, das ein Pferd hinter Gittern zeigt: der traurigen Wirklichkeit des Gefangenseins kontrastiert der Traum vom ganz anderen, freien Leben, der sich um so ungebärdiger ausspinnen läßt, je bedrückender die Verhältnisse sind; die Produktion von Literatur eröffnet einen Fluchtraum, über dem sich die erlittenen Mißhelligkeiten vergessen lassen, mehr noch: durch den sie z. T. nachträglich korrigiert werden können. »Worte schaffen neue Wahrheiten« (229) und neue Welten, in denen Karl May zunehmend intensiver lebt.

Fast alle Besonderheiten des Mayschen Lebensweges ergeben sich aus dieser kompensatorischen, therapeutischen Funktion der Phantasie: die Entwicklung der Old-Shatterhand-Legende, die öffentliche Ineinssetzung Mays mit seinem Romanhelden also, entsteht daraus wie von selbst und ebenso die unendliche Reihe der Streitigkeiten mit Emma, die nicht einsehen kann und will, daß materielles Wohlergehen nicht das letzte Ziel der Bemühungen des Gatten ist. Für Loest ist May ein teils ängstlicher und zurückhaltender, teils zum Ausgleich der Angst polternd auftrumpfender Mann mit vielen Zügen des Durchschnittsmenschen, der seine Phantasie ebensosehr braucht, wie er an ihr leidet: fast immer denkt er ans Schreiben, Erfolge und Mißerfolge werden unentwegt zu abenteuerlichen Ereignissen stilisiert, und in der ersten Nacht mit Emma behält er die Unterhosen an (96). Mays Umwelt ist letztlich hilflos gegenüber dieser inkommensurablen Mischung aus schnö-


//342//

der Gewöhnlichkeit und Genie: Emma träumt vom sozialen Aufstieg, der im Umgang mit literarischen Größen bewanderte Bildungsbürger Fehsenfeld hat noch nie einen ähnlichen Schriftsteller getroffen, Klara will May Freiräume zum Ausagieren seiner Neigungen verschaffen, und die Kritiker und May reden beharrlich aneinander vorbei.

Loest schildert das alles in kurzen, lakonischen Sätzen, die man sehr schnell lesen und durchschauen kann; einige poetische Überanstrengungen fallen unangenehm auf: »Pollmer nickt mümmelnden Mundes« (79). Um seine Generalthese hinlänglich zu untermauern, zitiert er viel aus den Werken Mays und bringt ausführliche Zusammenfassungen mehrerer Romane, vom "Waldröschen" bis zu "Winnetou IV". Auch mit der Sekundärliteratur hat Loest sich offenbar eingehend vertraut gemacht; selbst die Schlucht, durch die das Ich des Erzählers »an der Seite des schönen Häuptlingssohns« reitet, verengt sich, wie von Arno Schmidt beobachtet, korrekt »von Süd nach Nord« (29). Größere sachliche Fehler sind Loest, soweit ich sehe, nicht unterlaufen, wenn May auch wohl kaum vor 1900 nach einem Werk namens "Zobeljäger und Kosak" befragt werden konnte (288) und Bertha von Suttner das vielzitierte »Feuer der Güte« (417) in seiner Seele gewiß nicht hat "baden" lassen wollen. Solche überflüssigen Ungenauigkeiten fallen kaum ins Gewicht: anders als bei Kann sind sie nicht Ausdruck einer simplifizierenden, alles Widersprüchliche tilgenden oder einebnenden Tendenz, einer vorgefertigten Schablone, sondern Ergänzungen einer adäquaten Perspektive, die sich einer Mischung aus Fakten und Fiktionen bedient, um ihren diffizilen Gegenstand in den Griff zu bekommen.

Aber trotz ihrer informativen, um Aufklärung bemühten Orientierung läßt Loests Roman-Biographie manche Wünsche offen, und das liegt an der konsequenten Begrenzung seiner Sicht. Wer Loests Generalthese von der therapeutischen Funktion des Schreibens einmal erkannt hat, der erfährt kaum etwas über Karl May, was sich nicht schon in den vorliegenden biographischen Studien genauer nachlesen ließe; ähnlich folgenlos bleibt der Eindruck, den Loest von Mays Werken gewinnt. Daß die Literatur für May ein Mittel zur Lebensbewältigung, -erweiterung und -ergänzung wurde, ist gewiß korrekt, aber das wissen wir ja nun aus mittlerweile


//343//

sehr zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, und die literarische Stilisierung einer solchen Vita hätte doch wohl, über die illustrierende Auffächerung dieses Komplexes hinaus, die Aufgabe, andere und weiter ausgreifende Facetten zu erschließen: verfügt nicht das literarische Werk, im Gegensatz zur informativen Abhandlung, über eigene, durch seine ästhetischen Implikationen konstituierte Möglichkeiten, sonst nicht erreichbare Erkenntnisse zu vermitteln ? Ich erinnere an Arno Schmidts "Sitara", dessen wissenschaftliche Faktur ja nur Camouflage ist: de facto haben gerade der Verzicht auf szientifische Akribie und ihre Ersetzung durch ausgesprochen literarische Verfahrensweisen, wie die Betonung der Subjektivität und der Assoziationsvielfalt, zu einem Werk geführt, dessen zentrale Thesen wir heute für gegenstandslos halten mögen, das aber gerade ob seiner ästhetisch erzeugten Widerborstigkeit zu einer Vielzahl intensiver Reaktionen und Überlegungen geführt hat; ohne "Sitara" stände die May-Forschung heute gewiß ärmlicher da. Von Loests Roman werden solche produktiven Provokationen nicht ausgehen; er malt recht geschickt nur das aus, was wir schon vorher als mehr oder weniger sichere Erkenntnis haben verbuchen können. Natürlich ist ein Karl-May-Roman nicht dazu da, Lücken in der wissenschaftlichen Literatur zu füllen; aber er kann, eben weil er ein Roman mit dem ihm eigenen Argumentationspotential ist, selbständige, innovativ wirkende Einsichten oder wenigstens Anstöße erarbeiten, die anderen Autoren, die sich an die konsequente Handhabung fachwissenschaftlicher Methoden gebunden zeigen, nicht zugänglich sind. Gerade an diesem Punkt versagt Loest: wer Wollschlägers May-Monographie und dazu die Jahrbücher der Karl-May-Gesellschaft gelesen hat, findet Wichtiges daraus wieder, zu gefälligen Situationsschilderungen und Szenenabläufen montiert, aber kaum etwas darüber hinaus. Loests Roman ist eine im wesentlichen verläßliche Teilbiographie, die ansprechend erzählt ist und Kitsch-Schablonen ebenso meidet wie einen eigenen, vor Extremen nicht zurückschreckenden Zugriff auf ihr Sujet. Wer über Mays Lebensweg noch wenig weiß, kann hier einiges lernen; wer viel weiß und einen Teil davon anschaulich wiederholt bekommen möchte, wird das Buch ebenfalls mit Gewinn lesen; wer sich aber von der Tatsache, daß ein nicht ganz unbekannter Schriftsteller in einem in der May-Rezeption vielfach


//344//

mißbrauchten Genre tätig geworden ist, neue Aufschlüsse oder Anregungen erhofft, wird enttäuscht werden.

Zu den erwähnten Kuriosa der May-Rezeption zählte zweifellos das von Siegfried Augustin und Thomas Ostwald herausgegebene "Karl-May-Jahrbuch 1978", das ich im Jb-KMG 1979 besprochen habe. Bei Abwägung aller Schwächen und Stärken - deren nicht geringste es war, daß das Werk sich jedem Besitzer einer Hundephobie als obligatorische Lektüre antrug - wollte es mir damals scheinen, als müsse man das Buch insgesamt eher skeptisch beurteilen; durch die Detailkritik, die Claus Roxin später vorgelegt hat (in den Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 43/1980), wurde diese Auffassung beträchtlich erhärtet. Genauso wie Kann fehlte es den meisten Mitarbeitern des Buches an Willen und Mut zum ernsthaften Zugriff auf das Phänomen Karl May, und die Unternehmungslust eines der Herausgeber, der den Rezensenten und/oder die Karl-May-Gesellschaft mit einem Gedicht über einen Frosch bedachte (Magazin für Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur 23/1979), hätte sich besser in entsprechend originellen May-Analysen entladen. Die beste Antwort auf alle Kritik aber wäre es gewesen, wenn der Nachfolger des beanstandeten Werkes, das "Karl-May-Jahrbuch 1979"(3), ergiebiger ausgefallen wäre; das ist leider nicht der Fall. Wie im ersten Jahrbuch herrscht die Tendenz zur überwiegend belanglosen Anekdote vor, wie damals fehlen unter den vorgelegten Dokumenten beinahe gänzlich jene, nach denen in der Forschung das dringendste Bedürfnis besteht: authentische May-Texte. Ich gebe zur besseren Information eine inhaltliche Übersicht. Der erste Teil des Buches bringt drei aus den Karl-May-Jahrbüchern der zwanziger Jahre bekannte Aufsätze von Franz Kandolf, einen bisher nicht veröffentlichten Beitrag desselben Autors, eine kurze Würdigung Kandolfs durch Josef Höck und einen weiteren Aufsatz aus einem der alten Jahrbücher. Der zweite Teil befaßt sich mit den literarischen Quellen Mays: Erich Mörth vergleicht einige der Mayschen Orientbücher mit einem Werk des Forschungsreisenden Amand von Schweiger-Lerchenfeld, wobei ca. 95 Prozent des Textes aus der Aneinanderreihung von Zitaten bestehen; Werner Poppe schreibt über die nordamerikanischen Indianersprachen im Werk Mays, und seinem Beitrag angefügt ist eine rund dreißigseitige Kopie einschlägiger Wörterverzeichnisse,


//345//

die im Besitz Mays waren und in denen er einige Anstreichungen vorgenommen hatte; Josef Höck und Thomas Ostwald vergleichen Texte Mays und Gerstäckers, wobei die Arbeitsleistung der heutigen Autoren sich auch hier auf knappe Hinweise (unter denen der fehlt, daß sich Gerhard Klußmeier des Themas in den Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 25 und 26/1975 schon kritisch angenommen hat) und auf Inhaltsangaben konzentriert, während Kopien und Zitate die größere Rolle spielen. Den dritten Teil des Buches füllen kurze Abhandlungen über Frauen im Leben Karl Mays aus; die Autoren sind Ludwig Patsch ("Karl Mays erste Liebe"), Roland Schmid (Das "Album A. Schneider" und "Anna Schlott") sowie Fritz Maschke ("Karoline Selbmann geborene May" und "Bausteine zur Klara-May-Biographie, 2. Teil").

Niemand wird den Wert der vorgelegten alten Texte und Quellen schmälern wollen, und es mag für manchen May-Freund ein eigentümliches Erlebnis sein, wenn er in Mays indianischem Wörterverzeichnis die Apachen-Vokabeln für Blitz und Wind von des Meisters eigener Hand angestrichen findet. Aber kann das ausgleichen, daß nach wie vor ungleich wichtigere Dokumente - von den unveröffentlichten Briefen Mays bis zu den späten autobiographischen Schriften, von den nachgelassenen Gedichten bis zu den erhalten gebliebenen Handschriften einiger veröffentlichter Werke - fehlen? Kann man wirklich eine May-Jahrbuch-Reihe rechtfertigen, die sich neuen Einsichten beinahe gänzlich verschließt, ohne sich mit ihnen ernsthaft auseinanderzusetzen, die unter den verfügbaren Dokumenten stets die garantiert unanstößigen herausgreift und deren Publizierung dann weitgehend an die Stelle eigener Untersuchungen setzt und die teilweise Abhandlungen bringt, die, wie Höcks Kandolf-Aufsatz, mit Karl May fast nichts mehr zu tun haben? May, als ein leidender, irrender, fehlerhafter, skrupelloser, verfolgter Mensch und als ein extrem widersprüchlicher Schriftsteller, kommt hier ebensowenig vor wie bei Kann; wenig mehr als ein trauliches Abziehbild bleibt von ihm übrig (mit ganz wenigen Einschränkungen: man beachte S. 179, wo er immerhin der Lüge bezichtigt und ein Plagiator genannt wird). Charakteristisch ist Roland Schmids Kommentar zum Aufsatz über "Karl Mays erste Liebe": man spürt förmlich seine Genugtuung darüber, dem Verehrten posthum wieder eine Untugend ausgetrieben zu haben,


//346//

wenn er feststellt, »daß es sich [...] um eine letztlich platonische Angelegenheit gehandelt haben dürfte, wobei von "Stubenrecht" sicherlich keine Rede gewesen ist« (211). Das mag ja stimmen; aber wie hilfreich wäre es, wenn diese Abteilung der May-Forscher mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln auch einmal andere Seiten des Meisters detailliert beleuchten würde!

Manche älteren Arbeiten verdienen einen Neudruck, andere nicht. Zu den uneingeschränkt erfreulichen Kuriosa der letzten Zeit zählt es, daß 1979 innerhalb weniger Wochen gleich zwei May-Studien wieder zugänglich gemacht wurden, die Jahrzehnte zuvor veröffentlicht worden waren und damals den Beginn einer ernsthaften wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Karl May im universitären Bereich markierten: die Dissertationen von Heinz Stolte(4), 1936 erstmals erschienen, und Viktor Böhm(5), 1955 veröffentlicht; Stoltes Studie war die erste Dissertation zum Thema überhaupt, und ihr folgten bis 1955 nur noch zwei weitere. Beide Abhandlungen leisteten also gewissermaßen Pionierdienste. Indessen reicht ihre Bedeutung über die einer historischen Momentaufnahme hinaus, die nur wissenschaftsgeschichtlich von Interesse wäre: daß noch die neuere Sekundärliteratur beide Werke immer wieder zitiert, macht ihren Rang hinreichend deutlich.

Stolte legte seine Arbeit als eine Art Überblick an: er bespricht nacheinander die vorhandene Sekundärliteratur (überwiegend Beiträge aus den alten Karl-May-Jahrbüchern), den Lebensweg Mays, seine ästhetischen und pädagogischen Ideale und gibt schließlich, im umfangreichsten Teil der Arbeit, eine facettenreiche, mit Beispielen arbeitende Werkanalyse. Böhm ist in erster Linie an den Gründen für Mays gewaltigen Publikumserfolg interessiert: er sucht sie einerseits in äußeren Umständen, also in der Werbung im weitesten Sinne, dann aber auch in den Werken selbst, wobei er etwa die Funktion des Helden, den exotischen Schauplatz und die Konstruktion der Handlung erörtert. Beide Autoren greifen also sehr weit aus: viele neuere Forschungsrichtungen deuten sich bei ihnen, wenn auch oft recht vage, schon an, und was dabei an Präzision in der Detailbeobachtung fehlt, kehrt im Perspektivenreichtum des Zugriffs wieder. Gewiß zeigen beide Arbeiten auch deutlich die Spuren ihrer Entstehungszeit, die der Argumentation a


//347//

priori Grenzen setzen: was Stolte z. B. zum Ober- und Unterschichtlichen der Literatur schrieb, erscheint heute so nicht mehr haltbar, ohne ganz irrelevant zu sein, und Böhms Kapitel zur psychologisch-soziologischen Aktualität ist, vergleicht man es mit späteren Untersuchungen, recht unergiebig ausgefallen. Aber solche Beschränkungen gehören zum Wesen jeder wissenschaftlichen Arbeit; entscheidend ist, daß dem Gegenstand anhaltend diskutable Perspektiven abgewonnen werden, und das ist in beiden Studien der Fall, wobei die Stoltesche Dissertation nicht zuletzt deshalb besondere Beachtung verdient, weil sie zu einer Zeit entstand, die der freien wissenschaftlichen Forschung nicht eben zuträglich war.

Beide Bücher sind mithin in doppelter Hinsicht interessant: als Beispiele für die frühe May-Rezeption im universitären und auch publizistischen Bereich und als immer noch anregende Wegweiser für heutige Untersuchungen. Mir scheint freilich, als habe Böhm unter diesem Aspekt eine nicht ganz glückliche Editionsform gewählt: er hat in der Neuausgabe zwar die Grundkonzeption der Arbeit beibehalten, den ursprünglichen Text jedoch »durch Streichung bzw. Ersetzung überholter Passagen, Neuformulierung verbesserungsbedürftiger Abschnitte, Mitteilung und - soweit im Rahmen dieser Arbeit sinnvoll - Diskussion neuer Fakten, Hypothesen und Behauptungen auf den derzeitigen Stand gebracht« (7). Der Wunsch, eine solche Aktualisierung vorzunehmen, mag verständlich sein; im Ergebnis aber ist - und anderes war nach einem Vierteljahrhundert wohl auch nicht möglich - ein etwas unglücklicher Zwitter entstanden, der einerseits seine Historizität und damit auch die von ihr ausgehenden Impulse zu verdecken sucht und andererseits den direkten Anschluß an die aktuelle Forschungssituation doch nur selten findet. Sinnvoller ist da die Neuausgabe der Stolteschen Dissertation: sie umfaßt den Reprint der alten Buchveröffentlichung und bringt dazu ein neues Vorwort des Verfassers, in dem er zunächst auf die Umstände verweist, unter denen die Arbeit entstand, dann einen bisher ungedruckten Kommentar seines Erstgutachters vorlegt und schließlich behutsam einige Revisionen seiner damaligen Thesen andeutet. Im übrigen zeigen sich beide Autoren May gegenüber sehr wohlgesonnen; daß auch einer Haltung, die es zur Apologie nicht immer sehr weit hat, beträchtliche


//348//

Erkenntniserfolge beschieden sein können, fällt um so deutlicher auf, wenn man zwei der oben besprochenen Werke dagegenhält.

Deren Verfasser sind sich gewiß weitgehend darin einig, daß insbesondere der psychoanalytische Untersuchungsansatz in der neueren May-Forschung von Übel ist, und wenn sie entsprechende Vorwürfe geäußert haben, geschah das selten ohne den Hinweis darauf, die Autoren der einschlägigen Abhandlungen seien keine professionellen, gründlich ausgebildeten Psychoanalytiker, sondern Amateure, Laien und damit Dilettanten. Den Autor einer neueren psychoanalytischen May-Studie, Dieter Ohlmeier(6), treffen solche Einwände nicht: er ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Psychotherapie und Gruppentherapie an der Gesamthochschule Kassel; die Mitglieder der Karl-May-Gesellschaft kennen ihn seit seiner Teilnahme an der Podiumsdiskussion zur psychoanalytischen May-Forschung im Rahmen der Hannoverschen Tagung von 1979. Ob die sichtbare Qualifikation dieses Autors die Gegner der psychoanalytischen Studien bei der Lektüre freundlich stimmen wird, ist freilich sehr zu bezweifeln.

Ohlmeiers zentrale Fragestellung richtet sich auf den May-Leser, nicht auf die Person des Schriftstellers: was bindet die überwiegend jugendlichen Lesermassen an Mays Werk, was ist verantwortlich für die dauerhaft intensive Rezeption? Zur Beantwortung der Frage wird als exemplarisch der erste Teil des "Winnetou" herangezogen, als dessen psychoanalytisch relevantes Grundelement Ohlmeier eine spezielle Reaktionsbildung auf infantile Sexualphantasien entdeckt, »bei der nicht so sehr Entwicklungsprozesse, sondern wie unter einem Wiederholungszwang immer die gleichen Trieb- und Konfliktkonstellationen auftreten und schließlich unaufgelöst, quasi "arretiert" in einen literarischen Leerlauf münden und sich auch so - als ein "Nichtreifen-Können" - dem Leser mitteilen« (339). Die Inhalte dieser Konstellationen erschließt der Autor zunächst durch die Dechiffrierung der die Beziehungen aller Romanfiguren prägenden Sexualsymbolik: im Zweikampf zwischen Old Shatterhand und Winnetou z. B. erkennt er »Züge eines sadistisch gefärbten Geschlechtsverkehrs [...], der mit einer partiellen Kastration (Stich durch die Zunge, Verlust der Sprache und der verbalen Fähigkeit zur Aufklärung des Konflikts) einhergeht« (342), in der Heilung des verletzten Shatterhand »eine tiefgreifende Re-


//349//

gression auf das Stadium des primären Narzißmus« (343), durch die die verbotene Annäherung an den mit zahlreichen sexuellen Attributen ausgestatteten Winnetou gesühnt wird; die Reihe der Vaterfiguren umfaßt Mr. Henry, Intschu-tschuna und Klekih-petra und verweigert »eine Verschmelzung beider Komponenten des Vaterbildes - der sadistisch-kastrationsdrohenden und der liebevollen, zur Identifikation einladenden« (347); der bisexuelle Sam Hawkens trägt »passiv-feminine Züge; er ist kastriert und impotent« (347) und weist gleichzeitig »weiblich-mütterliche Züge auf« (347 f.); die Schurken, wie Rattler und Tangua, stehen für die »aggressiv-sadistischen Triebwünsche« (348 f.); Nscho-tschi wird die vollständige Erfüllung der weiblichen Identität verwehrt, damit für den Helden »die Kastrationsdrohung gebannt bleibt« (351). Nachdem so die durch das Figurenensemble verkörperten Triebschicksale bestimmt worden sind, untersucht Ohlmeier, welche Adoleszenzkonflikte damit bei den Lesern reaktiviert werden. »Es handelt sich vor allem um die "Gruppenbezogenheit" des Ichs in der Adoleszenz, ferner um einige seiner charakteristischen Abwehrmechanismen (Projektion und Regression), seine Neigung zu Idealbildungen, den Kampf um eine eindeutige Geschlechtsidentität und schließlich um die häufigen Adoleszenzkrisen, die mit einer Objektspaltung, mit der Beeinträchtigung der Realitätswahrnehmung so wie dem Rückzug auf narzißtische Objektbeziehungen einhergehen« (358). Zum Abschluß werden noch kurze Überlegungen zu einer möglichen generellen Indisposition der Deutschen im Umgang mit ihren Adoleszenzkonflikten angestellt.

Ich habe so ausführlich zitiert, um Form und Stoßrichtung der Ohlmeierschen Argumentation deutlich werden zu lassen: der Autor hält sich nicht lange bei methodischen Vorüberlegungen auf und formuliert wie selbstverständlich mit einem ausgeprägten psychoanalytischen Vokabular und im Dienste einer die vorwiegend sexuellen Implikationen bloßlegenden Interpretation. Ich denke, daß dieser Geradlinigkeit, die manchen irritieren und provozieren mag, zunächst einmal eine Kommentierung angemessen ist, die von zwei völlig entgegengesetzten Standpunkten ausgeht: dem des eher traditionell gesonnenen Literaturwissenschaftlers, der das psychoanalytische Deutungsverfahren grundsätzlich bedenklich findet, und dem des überzeugten Verfechters psychoanalytischer Methoden.


//350//

Zum einen: Ohlmeiers Arbeit bestätigt mit ungewöhnlicher Deutlichkeit alle Einwände gegen die psychoanalytische Literaturforschung, insbesondere den Vorwurf, sie sei an einer Erfassung der spezifischen Charakteristika eines literarischen Werkes gar nicht interessiert, sondern nur an der Bestätigung eigener, a priori vorgegebener Erkenntniskategorien, die zwanghaft auf die Literatur übertragen werden. Die psychoanalytische Forschung hält ein bestimmtes Arsenal an Interpretationsmechanismen und Theoriefragmenten bereit, dessen flexible Handhabung es erlaubt, überall das bestätigt zu finden, was nach der zugrundeliegenden Überzeugung - ohnehin überall vorhanden sein muß. Das bedeutet konkret: die psychoanalytische Theorie hat bestimmte Vorstellungen von der Systematik der sexuell determinierten Adoleszenzkonflikte und ihrer Omnipräsenz; sie ist ferner überzeugt, daß die Massenwirkung, die ein literarisches Werk bei jugendlichen Lesern ausübt, nur durch den Bezug auf entsprechende sexuelle Regungen erklärt werden kann. Daraus ergibt sich, daß eine psychoanalytische Textinterpretation immer das wiederfinden muß, was nach ihrer eigenen Theorie zwangsläufig im Text bereitliegt, und aufgrund ihres ausgefeilten Systems zur Entschlüsselung sexueller Symbolik kann die notwendige Analyse ständig aufs neue gelingen: da wird dann jeder längliche Gegenstand zum Phallussymbol, jeder Aggressionsakt zur Kastrationsdrohung, und an dem bedauernswerten Sam Hawkens wird gar ein »introjizierter Penis« entdeckt: »in Gestalt des blutig-roten Kopfes« (347). Für das wirkliche Verständnis des literarischen Werkes - wie ist es in ästhetischer Hinsicht beschaffen? Wie funktioniert es, jenseits des präfixierten Schematismus, überhaupt ? - und wohl auch für das seiner Wirkung ist damit gar nichts gewonnen.

Zum anderen: die Untersuchung des "Winnetou I" macht einmal mehr deutlich, welche Entdeckungen zur Rezeptionsforschung wie auch zur Werkästhetik der psychoanalytische Zugriff auf die Literatur befördern kann. Ohlmeier läßt sich ausführlich auf den Text des Romans ein: der gibt schon in seinem sprachlichen Duktus bisweilen sogar in den Namen, die latente sexuelle Dynamik frei, die ersichtlich die Beziehungen der Protagonisten und damit die gesamte Handlung prägt. Der Schritt, die Verbindung herzustellen zwischen den dabei zitierten Konflikten und jenen, die die jugendli-


//351//

chen Lesermassen bewegen, liegt nahe und erbringt einleuchtende Übereinstimmungen; daß dies gerade bei einem Text geschehen kann, der explizit auf jegliche Verbalisierung sexueller Thematik verzichtet, bestätigt zusätzlich die Qualitäten, die Mays Werk für jugendliche Leser besitzt und für solche, die Adoleszenzkonflikte immer wieder mobilisieren müssen. Die Tragfähigkeit der Untersuchung zeigt sich besonders an jenen Stellen, an denen sie Eigentümlichkeiten in der manifesten Handlung des Romans erklärt, die sonst rätselhaft blieben: daß der Held einen ebenso lächerlichen wie nützlichen Mentor wie Sam Hawkens hat, daß er ein schweres Leiden und eine in jeder Hinsicht unglückliche Liebesgeschichte erlebt, daß gleich mehrere seiner besten Freunde Gewalttaten zum Opfer fallen - das alles sind ja Dinge, die im Rahmen der Gattungstradition ebensowenig selbstverständlich sind wie im Vergleich zu anderen Werken Mays und die auch durch die Handlungsführung keineswegs zwingend gefordert werden; die Erläuterungen Ohlmeiers aber vermögen diese Elemente hinreichend zu erhellen, so daß nicht nur der Psychoanalytiker, sondern jeder engagierte May-Leser auf seine Kosten kommt; von jenen abgesehen, die von vornherein einen Text für unziemlich halten, in dem sie Worte wie Penis und Kastration finden (und die vielleicht gerade deshalb Karl May lesen müssen, aber das ist schon wieder ein neuer Aspekt des Themas).

Vermutlich hat jeder dieser beiden Kommentare einiges für sich. Es ist wohl alles, wenn man so will, "richtig", was Ohlmeier beobachtet, und der Vorwurf, er sei am spezifisch Ästhetischen des Werkes nicht interessiert, wäre zurückzuweisen mit dem selbstverständlich anders gelagerten Interesse, das der Psychoanalytiker im Vergleich zu seinem Kritiker verfolgt. Dennoch scheint mir gerade am Schnittpunkt von Werkanalyse und Rezeptionsforschung ein Problem offenzubleiben, das in psychoanalytischer wie in literarischer Hinsicht von Belang ist: kann wirklich primär die Reaktivierung der Adoleszenzkonflikte einschließlich ihrer herkömmlichen Lösungsversuche der Grund für die Massenwirkung Mays sein? Treibt das Werk nicht über eine solche Bestätigung hinaus, strebt es nicht, kraft seines ästhetischen Arrangements, eine Utopie an, die zwar auf die aus der empirischen Praxis bekannten psychischen Regungen zurückgreift, sie zumindest intentional aber zu transzen-


//352//

dieren sucht? Ist nicht gerade dieser - wenn auch noch so vage Vorgriff ein entscheidender Grund für die Faszination, die Mays Werk auf so viele Leser ausübt? Daß die aus der äußeren Realität geläufige psychische Dynamik sich in Mays Werk konsequent spiegelt, hat Ohlmeier zur Genüge dargelegt; aber das Mehr an Dynamik, das May aus der Spiegelung und literarischen Montage empirisch greifbarer Elemente eigenwillig herausschlägt und das auf vorerst noch undeutliche Utopien zielt, verdiente genausoviel Beachtung. Gemessen an der Realität, geht die psychoanalytische Rechnung hier restlos auf; doch erst da, wo sie nicht mehr aufgeht, beginnt die besondere Leistung der Kunst. Zu untersuchen wäre dieser Komplex freilich dann doch nur unter Rückgriff auf die ästhetische Faktur des Werkes, also schon rein quantitativ unter Dimensionen, die den Rahmen der Ohlmeierschen Abhandlung gesprengt hätten.

Die Dialektik aus der Fixierung auf das, was ist, und dem Vorgriff auf das, was sein sollte, ist auch in der sozialgeschichtlich orientierten May-Forschung immer wieder herausgestellt worden: daß Mays Werk sich zwischen reiner Affirmation und Apologie der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und einem ebenso diffusen wie intensiven Aufbegehren gegen sie bewegt, hat schon Ernst Bloch betont. Das Mischungsverhältnis und seine konkreten literarischen Konsequenzen bedürfen allerdings weiterer Untersuchung, und ihr haben Manuel Köppen und Rüdiger Steinlein mit einer Analyse des "Verlorenen Sohn"(7) neues Material zugeführt; die im Untertitel ihrer Abhandlung auftauchenden Begriffe Vertröstung und Rebellion sind es, die hier die Ambivalenzen in der sozialen Orientierung signalisieren.

Der "Verlorene Sohn" bietet sich schon deshalb zu derartigen Untersuchungen an, weil er zur Gänze in Deutschland spielt und damit seine politisch-sozialen Implikationen weniger exotisch-verdeckt und sublimiert vorweist, als es die späteren Abenteuerromane tun. Dennoch wäre, wie die Autoren mit Recht betonen, jedes simplifizierende Realismus-Verständnis fehl am Platze, denn in Mays Roman findet die Realität »nur insofern Eingang, als sie geeignet erscheint, Material für den Aufbau der Bühne des sieghaften Helden-Ich zu liefern« (280). Trotz solcher Ausrichtung der Realitätsübertragung auf die weitgehend utopische Konstruktion


//353//

des führenden Genies finden die Autoren gerade an diesem Punkt eine erste Antwort auf ihre Frage, welche damals verbreiteten Gedanken zu Politik und Gesellschaft Mays soziale Entwürfe geprägt haben mögen bzw. - wenn man die Problematik der Einflußforschung umgehen will - welche Parallelen zwischen den Entwürfen des Romans und sozialen Konzeptionen in der geschichtlichen Wirklichkeit bestanden.

Den Fürsten des Elends, der dank seiner ungeheuren individuellen Potenz ganze Menschenmassen aus ihrer Not befreit, sehen Köppen und Steinlein in Analogie zur Person Ferdinand Lassalles: ein regelrechter Mythos umgab damals in weiten Kreisen der Arbeiterschaft den Begründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins; Lassalle erhielt, als vermeintlicher Retter der darbenden Proletarier, ähnlich messianische Attribute zugeteilt wie Mays Romanheld. Die allgemeine Richtung der sozialen Tagträume Mays entspricht, so die Autoren weiter, im wesentlichen dem deutschen Frühsozialismus Weitlingscher Prägung: hier wie dort finden sich die Stilisierung der moralischen Integrität der Ausgebeuteten, die sie deutlich über ihre Peiniger stellt, der Appell zur Verkörperung wahren Menschentums, die Mobilisierung religiöser Vorstellungen, die ihr Zentrum nicht im Jenseitsglauben, sondern in der praktischen Bewährung im Hier und Jetzt haben, die Hoffnung auf eine sich irgendwann durchsetzende "Gerechtigkeit"; mögen zwischen Mays und Weitlings Gedanken im einzelnen auch manche Differenzen bestehen, so sind die Gemeinsamkeiten doch unübersehbar, zumal wenn man sie den Überlegungen von Marx und Engels oder auch den Intentionen der organisierten Sozialdemokratie, die die Kolportageliteratur verwarf, gegenüberstellt. Die Klischees der Kolportage verdunkeln freilich Mays Blick auf die wirklichen Hintergründe des sozialen Elends, auf übergeordnete Strukturen und Machtverhältnisse, und so bezeugt die Analyse am Ende zweierlei: daß Mays Befreiungsphantasien »aus sehr ähnlichem Stoff gemacht [sind] wie die im Horizont der damaligen Arbeiterbewegung noch relevanten Sozialutopien« und daß man den May des "Verlorenen Sohn" als »einen v e r h i n d e r t e n bzw. v e r u n g l ü c k t e n proletarischen Erzähler« (288) bezeichnen kann.

Diese Sicht ergänzt die Perspektiven, unter denen Gert Ueding in seinem Buch "Glanzvolles Elend" die rebellischen Phantasien Mays


//354//

gesehen hat: ging es dort um die Mobilisierung bürgerlicher Humanitäts- und Emanzipationsideale des 18. Jahrhunderts, so steht hier der Bezug auf proletarische Traditionen im Vordergrund; daß das eine das andere nicht ausschließt, daß die evidente Unzeitgemäßheit der Mayschen Sozialkritik sogar auf innere Verknüpfungen beider Quellen verweist, wird von den Autoren eher angedeutet als ausgeführt. Nicht sinnvoll ist es allerdings, wenn sie »die Umrisse authentischer [...] Befreiungsphantasien« (288) gegen die vermeintlich störenden Klischees der Kolportage ausspielen, deren sich May bedient, und dabei bedauern, daß aufgrund der Vermischung beider Phänomene »nicht der wirklich große soziale Roman entstehen konnte« (288). In der Tat ist ja das Kolportageschema bzw. Mays eigenwilliger Umgang damit - zunächst einmal das Medium zur Erkenntnis und Vermittlung aller gesellschaftlichen Widrigkeiten, und wenn die Analyse auch vorübergehend eine heuristische Trennung zwischen dem sozusagen eigentlichen sozialen Bewußtsein hinter den Romaninhalten und seiner konkreten literarischen Codierung vornehmen mag, so sind zum Schluß doch beide Seiten zusammenzusehen: nicht nur trotz, sondern auch wegen des Rückgriffs auf simple Kolportageklischees und letztlich durch sie und ihre Verarbeitung konstituiert sich die literarische Welt des "Verlorenen Sohn" samt ihren kritischen Implikationen. Auch dieser Einwand freilich wäre, wie jener gegen Ohlmeier, nur zu erledigen im Rahmen einer erheblich weiter ausgreifenden Studie; im vorgegebenen Rahmen aber vermittelt die Arbeit Anregungen in eine Richtung, die bisher noch kaum beachtet worden ist.

Diese Untersuchung hätte vor ca. zwölf Jahren, da der "Verlorene Sohn" nur in der verstümmelten Version der Bamberger Ausgabe allgemein zugänglich war, noch kaum durchgeführt werden können; und damit stoßen wir wieder auf das penetrant leidige Thema der Edition und Bearbeitung des Mayschen Werkes, das sich erst in den letzten Jahren zu entschärfen begonnen hat. Abermals sei betont: nicht die Bearbeitung an sich, die gezielte Ausrichtung auf ein breites Publikum ist in erster Linie bedenklich; zu kritisieren sind vielmehr die unzureichende Offenlegung der Bearbeitungstätigkeit sowie die Tatsache, daß eine Fülle höchst wichtiger Texte über Jahrzehnte hinweg in ihrer von May geschaffenen Form gar nicht zugänglich war. Die Karl-May-Gesellschaft hat es


//355//

sich seit ihrem Bestehen zur Aufgabe gemacht, auf diesem elementaren Arbeitsfeld der Textsicherung für Remedur zu sorgen, und ihre Bemühungen haben gerade in den letzten Jahren Erfolge gezeitigt, die auch hier festgehalten werden sollen. Ein Verzicht auf solche Hinweise mit dem Gedanken daran, die Karl-May-Gesellschaft könne nicht gut in ihrem Jahrbuch die eigenen Publikationen lobend erwähnen, erschiene mir falsch: jeder Literaturbericht hat auch die Aufgabe, relevante Publikationen dauerhaft zu verzeichnen, und gerade bei einem Schriftsteller, dem vermutlich nie eine historisch-kritische Ausgabe zuteil werden wird, sollte diese Chronistenpflicht höheren Rang haben als kollektive Selbstbescheidenheit.

Anders als etwa die verdienstvolle, wenngleich nicht fehlerfreie May-Edition des Pawlak-Verlags konzentriert sich die Tätigkeit der May-Gesellschaft - wohl auch aus Kostengründen - auf die Anfertigung von Reprints; damit wird ein Höchstmaß an Authentizität garantiert, und in manchen Fällen bietet sich diese Publikationsform schon an wegen der Vermittlung der ursprünglichen Buch- und Zeitschriftenausstattungen, eines kulturgeschichtlich nicht ganz uninteressanten Moments. Ein Teil der Publikationen orientiert sich an der thematischen Zusammengehörigkeit der betreffenden Werke, ein anderer besorgt die Zusammenstellung nach dem gemeinsamen Erscheinungsort. Zur ersten Gruppe zählt die Sammlung der Marienkalender-Geschichten(8), also eines seit jeher recht umstrittenen Teils des Mayschen Oeuvre, das dennoch bei genauerer Betrachtung in sich unterschiedliche Strukturen offenbart und damit die zentrale literarische Fähigkeit Mays, einem engen inhaltlichen und formalen Schema immer neue Variationen abzugewinnen, in ihren Stärken und Schwächen hervorragend sichtbar macht. Zur zweiten Gruppe gehören die Neudrucke der in der Zeitschrift "All-Deutschland" bzw. der Parallelausgabe "Für alle Welt" - eine bemerkenswerte Titelverbindung ! - abgedruckten kürzeren Erzählungen(9) sowie des am gleichen Ort erschienenen Doppelromans "Scepter und Hammer" und "Die Juweleninsel"(10). Vor allem aber zählt zu dieser Gruppe die Neuveröffentlichung der Romane und Erzählungen, die Karl May in der großen Unterhaltungszeitschrift "Deutscher Hausschatz" veröffentlichte(11); die Arbeit für dieses Blatt brachte dem Autor den entscheidenden Durch-


//356//

bruch in der Publikumsgunst, und so schrieb er von 1879 bis 1898 fast regelmäßig für den "Hausschatz" und dann noch einmal von 1907 bis 1909 das Werk "Der Mir von Dschinnistan", das manche Leser für sein künstlerisch bedeutendstes halten. Die "Hausschatz"-Edition, die demnächst in elf Bänden vollständig vorliegen wird, enthält Frühfassungen einiger der bekanntesten Romane Mays (vom in der Buchform sechsbändigen Orientroman bis zu den ersten Teilen des "Silberlöwen"), und sie hat damit einen Umfang angenommen, der bisher nur von den Ausgaben kommerziell arbeitender Verlage erreicht wurde. Zu erwähnen ist schließlich noch der außerhalb der Karl-May-Gesellschaft publizierte, aber von einem ihrer Mitarbeiter maßgeblich geförderte Reprint der Zeitschrift "Schacht und Hütte"(12), die May zu Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn redigiert und mit mancherlei Texten beliefert hat.

Selbstverständlich mag vieles von dem, was auf diese Weise neu zugänglich wurde, vor allem dem Bibliophilen Freude machen, dem eingefleischten Fan, und die »vielfältigen Spezialuntersuchungen« (Einführung zu "Schacht und Hütte"), die die Herausgeber sich immer wieder erhoffen, werden in manchen Fällen Illusion bleiben. Dies ist aber gewiß nichts, was zu bespötteln wäre, und letztlich handelt es sich hier auch um eine philologische Grundlagenarbeit, die vielleicht schon in ein paar Jahrzehnten aus Mangel an authentischem Material nicht mehr geleistet werden könnte. Einige der Textfassungen tauchen in den späteren Buchausgaben ohne große Änderungen wieder auf, andere aber sind nur in z. T. erheblicher Überarbeitung durch May selbst ("Der Mir von Dschinnistan") oder durch andere ("Scepter und Hammer" und "Die Juweleninsel") abermals publiziert worden. Der Neudruck der Frühfassungen und der Vergleich mit den späteren Versionen aus Mays eigener Feder ermöglichen nun den Blick auf eine Seite des Schriftstellers, die bisher nur unzureichend geprüft worden ist: die von ihm selbst forcierte Vorstellung einer Schreibtätigkeit, die innere Impulse und Assoziationen spontan, ohne weitere Überarbeitungen und Reflexionen in druckreife Schreibvorlagen umsetzt, versagt hier. Daß dieses Bild nicht immer seine Richtigkeit haben wird, zeigen auch einige der Kommentare, die den Textausgaben hinzugefügt sind: so etwa Claus Roxins Überlegungen zu "El Sendador", die beinahe en passant deutlich machen, wie das konsequente Spiel mit der magi-


//357//

schen Zahl drei die gesamte Konstruktion des Werkes steuert. Die meisten dieser Kommentare verbinden eine beispielhafte, von großer Sorgfalt zeugende Präzision in der bibliographischen Arbeit - vorbildlich sind z. B. Herbert Meiers Ausführungen zu den zahlreichen Ausgaben der "Waldkönig"-Erzählungen - mit durchweg anregenden Interpretationsansätzen (zumal bei Claus Roxin und Walther Ilmer in den Überlegungen zu den "Hausschatz"-Werken), so daß der Leser mit dem Text auch gleich ein Analyseangebot erhält. Es ist zu hoffen, daß die anhaltende Welle der May-Editionen über die Förderung der Schönheit von Bücherschränken hinaus im intendierten Sinne dauerhafte Wirkungen erzielt.

Abschließend sei noch kurz auf ein Werk verwiesen, in dem Karl May explizit nur wenige Male und in jeweils ganz nebensächlichen Zusammenhängen auftaucht, das aber eine Fülle von Gedanken ausbreitet, in deren Licht der psychologischen und soziologischen May-Forschung neue Erkenntnisse zuwachsen könnten: Klaus Theweleits 1977 zuerst erschienene, jetzt in einer zweibändigen Taschenbuchausgabe vorliegende Studie über "Männerphantasien"(13). Theweleit befaßt sich, abseits aller gern gehandelten handlichen Theoriesysteme, mit den psychisch-physischen Dispositionen faschistischen Denkens, Fühlens und Handelns, soweit sie aus literarischen Werken des Faschismus selbst erschließbar sind. Er konzentriert sich dabei auf die Vorgeschichte des Nationalsozialismus, aber er tut dies ohne denunziatorische Freund-Feind-Schemata und den penetrant gereckten moralischen Zeigefinger (der ihm schon seiner Gestalt wegen verdächtig wäre), und immer wieder greift die Untersuchung über den begrenzten Zeitraum weit hinaus. Daß Theweleit faschistische Neigungen weitgehend als Reaktionen ihrer Träger auf den eigenen Körper und einen speziellen Umgang mit seinen Funktionen begreift, mag zunächst bizarr oder gar albern klingen, doch die konsequente Verfolgung dieses Problemkomplexes in den verschiedensten öffentlichen und privaten Lebensbereichen, die sich auf die Auswertung einer geradezu beängstigenden Materialfülle stützt, eröffnet derart anregende Perspektiven, daß das Unternehmen sich ohne allen Zweifel gelohnt hat, auch wenn es den meisten Lesern einiges abverlangt und Fachhistoriker zum Widerspruch reizen wird.

Theweleit registriert die Ängste des faschistischen Mannes und


//358//

seine Abwehrmaßnahmen dagegen. Beides zusammen mündet in ein Weltverständnis, das sich aus der Einrichtung und Hypertrophierung einiger weniger Kontraste speist. Theweleits Protagonisten stellen die tradierten Ideale des Reinen, Erhabenen, Hohen in sehr eigenwilliger Wendung gegen das Schmutzige, Anrüchige, Niedere; die asexuelle, quasi körperlose Frau kontrastiert der verworfenen, der Hure, die oft Jüdin, Proletarierin und Kommunistin in einem ist und die vermeintliche sittliche Integrität des Mannes bedroht; eine straff organisierte Kultur stößt auf ungezügelte und unkoordinierte Regungen, ebenso die gelenkte, durchstrukturierte faschistische Masse auf rohe und rote Haufen (Theweleit zitiert nicht aus Indianerbüchern, sondern aus literarischen Erzeugnissen der Freikorps-Zeit); Rituale aller Art stehen gegen ziellose Unruhen, die sich einer Ordnung nicht fügen wollen. Die Angst des Faschisten kulminiert, wörtlich und bildlich, in der Angst vorm Fließen und Strömen: gegen derartige Bewegungen muß er Dämme errichten, zum Schutz der eigenen Identität, die ihre Grenzen bedroht sieht; daß gelegentlich noch im heutigen Sprachgebrauch die Rechte die "rote Flut" abwehren - und die Linke "braune Sümpfe" trockenlegen will, verweist auf diese Zusammenhänge.

In Mays "Ardistan und Dschinnistan" strömt am Ende der Fluß wieder, der lange Zeit versiegt war; in seiner "Satan"-Trilogie finden wir in der Gestalt der Judith geradezu ein Musterbeispiel jener sinnlichen, schmutzigen, habgierigen jüdischen Frau, die der Faschist zur Konstruktion seines Weltbildes benötigt. Ich vermute, daß die Beispiele repräsentativ sind: so wie das eine dieser, das andere jener Seite zuzurechnen ist, so dürfte Mays Werk insgesamt bei einer Konfrontation mit der Arbeit Theweleits außerordentlich divergierende Eigenheiten freigeben.



1 Albrecht Peter Kann: Karl May - So war sein Leben. Hamburg 1979

2 Erich Loest: Swallow, mein wackerer Mustang. Karl-May-Roman. Hamburg 1980

3 Roland Schmid/Thomas Ostwald (Hg.): Karl-May-Jahrbuch 1979. Bamberg-Braunschweig 1979

4 Heinz Stolte: Der Volksschriftsteller Karl May. Beitrag zur literarischen Volkskunde (Reprint der Erstausgabe von 1936 mit einem Vorwort des Verfassers). Bamberg 1979


//359//

5 Viktor Böhm: Karl May und das Geheimnis seines Erfolges. Gütersloh 21979

6 Dieter Ohlmeier: Karl May. Psychoanalytische Bemerkungen über kollektive Phantasietätigkeit. In: Materialien zur Psychoanalyse und analytisch orientierten Psychotherapie. Bd. IV, 4 (1978), 337-360

7 Manuel Köppen/Rüdiger Steinlein: Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends (1883-85). Soziale Phantasie zwischen Vertröstung und Rebellion, in: Horst Denkler (Hg.): Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Stuttgart 1980, 274-292

8 Karl May: Christus oder Muhammed. Marienkalender-Geschichten (Reprint der Karl-May-Gesellschaft, mit einem Vorwort von Herbert Meier). Hamburg o. J. (1979)

9 Karl May: Für alle Welt (Reprint der Karl-May-Gesellschaft, mit einer Einführung von Erich Heinemann). Hamburg o. J. (1977)

Karl May: Der Waldkönig. Erzählungen aus den Jahren 1879 und 1880 (Reprint der Karl-May-Gesellschaft, mit einem Vorwort von Herbert Meier). Hamburg o. J. (1980)

10 Karl May: Scepter und Hammer/Die Juweleninsel (Reprint der Karl-May-Gesellschaft, mit einer Einführung von Herbert Meier), Hamburg o. J. (1978)

11 Karl May: Erzählungen und Romane in "Deutscher Hausschatz". 11 Bände (Reprints der Karl-May-Gesellschaft und der Buchhandlung Pustet, mit Anmerkungen und Kommentaren zu Werkgeschichte, Analyse und Interpretation von Claus Roxin, Walther Ilmer u. a.). Regensburg o. J. (1976 ff.)

12 Karl May (Hg.): Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg-, Hütten- und Maschinenarbeiter (Reprint der Originalausgabe von 1875, mit einer Einführung von Klaus Hoffmann). Hildesheim-New York 1979

13 Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2 Bde. Reinbek 1980


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz