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HEINZ STOLTE

Das elfte Jahrbuch



Das elfte Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, das wir hier vorlegen, wird seinen Lesern (wie schon einige seiner Vorgänger) durch seinen bedeutenden Umfang auffallen. Es findet da - zu dauernder Spannung und Beunruhigung der Herausgeber - seit Jahren eine Art Wettlauf statt: zwischen den steigenden Herstellungskosten, den sich fortwährend vermehrenden Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung, das heißt der Masse der anfallenden Manuskripte, und den freiwilligen Spenden, die uns unsere Mitglieder für die Fortsetzung unserer Arbeit zukommen lassen. Eine Art Wettlauf: Jahr für Jahr verteuert sich die Herstellung, und hätten wir für diesen Zweck nur die normalen Jahresbeiträge der Mitglieder, so müßte unser Buch von Jahr zu Jahr dünner und schließlich ganz aufgegeben werden. Dagegen sehen wir, daß der Eifer unserer Autoren sich von Jahr zu Jahr steigert und immer mehr vorzügliche Arbeiten der Publikation harren. In diesem Dilemma sind die freiwilligen Spenden die entscheidende Hilfe. Unsere freundlichen Mäzene haben auch im vergangenen Jahre den Wettlauf mit der Teuerung gewonnen; so ist es denn möglich gewesen, nicht nur Mehrkosten der Herstellung auszugleichen, sondern auch den Umfang des Jahrbuchs über das gewöhnliche Maß auszudehnen. Den Herausgebern ist es deshalb ein dringliches Anliegen, an dieser Stelle den Spendern für ihre neuerliche Opferbereitschaft herzlichsten Dank zu sagen. Das Phänomen ist ja ebenso erstaunlich wie rührend: daß in einer Zeit, in der das öffentliche Leben weithin von ruppigen Forderungen widerhallt, Menschen - wie hier - bereit sind, selbstlos bedeutende Summen für einen ideellen wissenschaftlichen Zweck zu spenden. Aber sicherlich: nur so entsteht und erhält sich K u l t u r . Den Herausgebern ist es im übrigen sehr wohl bewußt, welcher Motivation sie den Spendensegen verdanken. Hinter aller sachlichen Beflissenheit für die von uns betriebene For-


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schung steckt doch, Karl May betreffend, was Ernst Bloch in seinem Aphorismus zu unserem Jahrbuch 1971 die »schöne Erinnerung« genannt hat: ein Quentchen unvergilbter Liebe.

So war es denn also möglich, in dem hier vorgelegten Jahrbuch die ganze Skala der unterschiedlichen Forschungsvorhaben und -bereiche der Karl-May-Gesellschaft zu repräsentieren.

1. Zur B i o g r a p h i e hat Hainer Plaul (Ererbte Imagination) in Ergänzung zu seiner im Jb-KMG 1979 veröffentlichten Darstellung der Kindheit Karl Mays »genealogische Erkundungen« über »drei schriftstellernde Stammverwandte« beigetragen. Gerhard Klußmeier setzt seine im Jb-KMG 1980 begonnene Dokumentation aus den Beständen des Staatsarchivs Dresden fort mit den Akten des Prozesses, den Karl May 1910-11 gegen Hieronymus Richard Krügel geführt hat, um die Verleumdungen durch seinen Erzfeind Lebius zu entkräften, und Claus Roxin hat mit seiner »juristischen Nachbemerkung« die den Tatbestand abschließend bewertenden Erläuterungen beigesteuert. Damit ist nun die Legende von Mays Rolle als »Räuberhauptmann«, die in der Sekundärliteratur noch bis in jüngste Zeit gespukt hat, endgültig und dokumentarisch widerlegt. Etwas Erfreulicheres aus dem Leben des Schriftstellers hat Hans-Dieter Steinmetz in seinem Aufsatz über die Villa »Shatterhand« behandelt, wobei er mit bemerkenswerter Detailkenntnis zugleich die Geschichte des Radebeuler Distrikts einbezogen hat.

2. Wie sich die Fakten, Konflikte, Probleme aus dem Leben des Schriftstellers in seinen literarischen Werken spiegeln und wie sie Gehalt und Struktur dieser Werke bestimmen, das ist in einigen Aufsätzen zur L i t e r a t u r p s y c h o l o g i e in unseren Jahrbüchern schon behandelt worden. Diesmal hat Monika Evers einen bedeutenden Beitrag zur Aufhellung solcher Zusammenhänge geliefert: Ihr Essay über Karl Mays Kolportageroman "Der verlorene Sohn", den sie als "Tagtraum und Versuch der literarischen Bewältigung persönlicher Existenzprobleme des Autors" deutet, verdient besonders hervorgehoben zu werden. Die Sonde, die hier in verborgene Bereiche des Psychischen dringt, ist geeignet, den eigentlichen schöpferischen Impuls im Leben Karl Mays verstehbar zu machen, bis hin zu der einleuchtenden These, mit der die Verfasserin schließt: »Nicht von ungefähr hinterließ May ein riesiges Werk. Sein seeli-


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sches Wohlbefinden schien gebunden an die Kontinuität des Tagträumens, an kontinuierliche Arbeit gegen die Lebensangst.«

3. Die Reihe der I n t e r p r e t a t i o n e n einzelner Werke, insbesondere solcher, die verschollen oder wenig bekannt waren, setzt Helmut Schmiedt (Der Löwe Sachsens) mit seiner Untersuchung zu einem lyrischen Frühwerk Karl Mays fort, jenem »panegyrischen Gedicht« auf den König Albert von Sachsen, das gedichtet zu haben sicherlich nicht zu den Ruhmestaten des Autors gehört, an dem Schmiedt aber durch Vergleich mit den späteren Abenteuererzählungen manche uns von dort her bekannte Züge entdeckt.

4. Der Erforschung der Q u e l l e n und der h i s t o r i s c h e n  H i n t e r g r ü n d e Mayscher Werke widmen sich zwei neue Untersuchungen. Bernhard Kosciuszko (In meiner Heimat gibt es Bücher) hat die Quellen der Sudan-Romane Karl Mays behandelt, Ekkehard Koch (Der Weg zum "Kafferngrab") die historischen und zeitgeschichtlichen Hintergründe von Karl Mays Südafrika-Erzählungen. Beide eröffnen uns abermals Einsichten in die »Werkstatt« des Erzählers, wo die Daten und Fakten der Wirklichkeit ihre Metamorphose zu poetischen Motiven einer freischwebenden Phantasiewelt erfahren.

5. Eine oftmals aufgeworfene Frage hat denjenigen, die sich mit Karl May wissenschaftlich beschäftigt haben, seit jeher eine gewisse Verlegenheit bereitet, die Frage nämlich, wie denn dieses ungeheure schriftstellerische Gesamtwerk des sächsischen Erzählers in die Kategorien, Epochen und Traditionen der L i t e r a t u r g e s c h i c h t e eingeordnet werden sollte. Wo liegen seine geistesgeschichtlichen Ursprünge? Welches sind die nächst-verwandten Phänomene? Wo ist der legitime Ort dieses Opus? Welche Wirkungen sind darin integriert, welche sind von ihm ausgegangen? Zu diesem Problemkomplex hat jetzt Harald Fricke (Karl May und die literarische Romantik) eine Hypothese vorgetragen, die vielleicht bei anderen Fachphilologen einiges Erstaunen hervorzurufen geeignet ist: Die programmatische Forderung, die einst Friedrich Schlegel zum Begriff der »romantischen« Dichtung formuliert hat, sie müsse eine »progressive Universalpoesie« sein (samt den Folgerungen, die er daran geknüpft hat), sei von keinem der eigentlichen Romantiker, wohl aber von Karl May erfüllt worden. Damit wird nun die gewiß schon häufig geäußerte Meinung, bei Karl May gehe


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es doch recht romantisch zu, in den Rang einer exakten und präzisen, wissenschaftlich evidenten Erkenntnis erhoben. Ekkehard Koch (Jedes irdische Geschöpf hat eine Berechtigung zu sein und zu leben) hat in seiner Abhandlung glaubhaft gemacht, daß zu den geistesgeschichtlichen Einflüssen, die auf Karl May stark eingewirkt haben, außer Lessing vor allem auch Herder gehört hat. Bedenkt man nun, wie vielfach ihrerseits die Romantik Herdersche Ideen aufgegriffen und reaktiviert hat, so fügt sich Kochs Hypothese gut zu derjenigen Frickes. Auf eine ganz andere Verwandtschaft, nämlich die zwischen Mays Abenteuererzählungen und einem neueren, gegenwärtig viel diskutierten Dichtwerk hat Franz Cornaro (Karl-May-Ähnliches in J. R. R. Tolkiens Dichtung "Der Herr der Ringe") aufmerksam gemacht. Wenn es sich auch nicht hat nachweisen lassen, daß Tolkien May gelesen hat, so ist doch die von Cornaro vorgeführte Übereinstimmung durchaus verblüffend; um so mehr übrigens, falls es sich dabei wie es doch scheint - um bloße typologische Verwandtschaft zweier Tagträumer handelt.

6. Über die inzwischen angefallene Karl May betreffende L i t e r a t u r werden unsere Leser durch Helmut Schmiedt (Literaturbericht), Christoph F. Lorenz (Landesherr und Schmugglerfürst) und Wolf-Dieter Bach (Mit Mohammed an Karl May vorbei) informiert, und über die Arbeit der Karl-May-Gesellschaft berichtet, wie in allen vorangegangenen Jahresbänden, Erich Heinemann. Diesmal wird man aus den Literatur- und Arbeitsberichten insgesamt ersehen, daß die Beschäftigung mit Karl May, die kritische Rezeption und Reflexion dieses literarischen Phänomens, gegenwärtig offenbar zu einer bisher noch nicht konstatierten Fülle kulminiert ist: ein Tatbestand, den unsere Gesellschaft durchaus zu begrüßen Ursache hat.

Wegen überraschender, jedenfalls nicht vorherzusehender Komplikationen gestaltete sich die Herstellung des Jahrbuches diesmal besonders schwierig. Für die dadurch entstandene Verzögerung der Herausgabe bittet der verantwortliche Herausgeber um Nachsicht.


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