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GÜNTER SCHOLDT

Sitara und die Marmorklippen

Zur Wirkungsgeschichte Karl Mays



Die Wirkungsgeschichte literarischer Werke verdient nicht selten zumindest die gleiche Beachtung wie die Texte selbst. Ihre Erforschung führt zuweilen auf unerwartete Spuren, deckt mitunter Verbindungen auf, die zunächst alles andere als nahezuliegen scheinen. Dies gilt für das Schaffen der Schriftsteller Karl May und Ernst Jünger auf exemplarische Weise, Autoren, die man auf den ersten Blick wohl geneigt ist, literaturwissenschaftlich in gebührendem Abstand voneinander anzusiedeln: hier den auf Distanz pochenden Geistesaristokraten, den elitär-konservativen Verherrlicher des Weltkrieges, den skrupulös-preziösen Wortästheten, der verbissen an seinen Texten feilt und sie in immer neuen Fassungen seinem sprachlichen Ideal anzugleichen sucht; dort den um die Zustimmung seiner Leser buhlenden Volksdichter, der sich (um der ökonomischen Sicherung willen) in die Niederungen der Kolportage abzusteigen genötigt sah, den pathetischen Werber für Pazifismus und Humanität, den salopp fabulierenden und variierenden Produzenten phantastischer Unterhaltungsliteratur.

   Doch wie wenig solche Etikettierungen im Einzelfall über tatsächliche Zusammenhänge aussagen, belegt gerade dieses Beispiel. Es gibt nämlich das ausdrückliche und mehrfach abgelegte Bekenntnis Ernst Jüngers zu Karl May als Anreger und Erreger seiner Jugendphantasien. So erinnert er sich im "Abenteuerlichen Herzen" Old Shatterhands als Idol früher Tage(1), und auch die "Gläsernen Bienen" künden - in einer sicherlich autobiographischen Passage - von der großen Wirkung eines Mayschen Textes auf den Heranwachsenden:

»Nach dem Abendessen versammelten wir uns in der Sattelkammer ( . . . ) und setzten uns ( . . . ) auf einen Stoß von Pferdedecken, die Atjes Lager bildeten. Dort las er uns den "Sohn des Bärenjägers" vor -  d a s  war ein Buch. Es roch dort oben nach Pferden, nach Heu und Leder, und im Winter glühte der Eisenofen ( . . . ). Atje saß mit dem Buche vor der Stallaterne; wir hörten ihm voll Spannung zu. Es war eine neue Welt, die sich eröffnete.«(2)

Und schließlich belegen dies auch die unter dem Titel "Strahlungen"


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veröffentlichten Tagebücher, in die z. B. der damals 50jährige Autor eintrug:

»Unter den Büchern ( . . . ) war eine Seltenheit: die großen, unter Pseudonym veröffentlichten Kolportageromane von Karl May wie "Kapitän Nobody" und "Waldröschen oder eine Verfolgung rund um den Erdball". Der Anblick der Holzschnitte erinnerte mich lebhaft an die ungemeine Spannung, mit der ich als Sechzehnjähriger diese Bücher las. Die Leihbibliothekarin in Hameln führte sie nicht in ihren Listen und drückte sie mir verstohlen in die Hand. Sicher haben sie viel dazu beigetragen, daß ich zur Fremdenlegion ging.«(3)

   Der Hinweis betrifft die Zeit von 1911-13. Der Tod hat soeben das verzweifelte Ringen des greisen Karl May um seine bürgerliche Reputation beendet, als es den 18jährigen Ernst Jünger aus eben dieser bürgerlichen Sicherheit hinaustreibt in einen noch nicht zivilisierten, Abenteuer verheißenden, fremden Kontinent. Er veruntreut das vom Vater mitgegebene Schulgeld und reist heimlich nach Verdun, wo er in die Fremdenlegion eintritt. In Algier angekommen, ergreift er die erstbeste Gelegenheit zur Flucht aus der Routine des Garnisonslebens. Losgelöst von allen Sicherheiten, will er die Fremde erobern, in diesem Fall: Äquatorialafrika. Je unbehauster das Ziel, je gefährlicher der Plan, um so mehr erweckt dies das Interesse des Jünglings.(4) Die Eskapade des Legionärsrekruten dauert übrigens nicht lange. Nach einem Tag bereits wird der Ausreißer von Gendarmen geschnappt, nach drei Tagen ist er bei der Legion zurück, und sechs Wochen später befindet er sich dank einer geschickten diplomatischen Intervention seines Vaters wieder zu Hause.

   Es liegt auf der Hand, diese Jünglingsstreiche in Parallele zu setzen zu Mays Jugendsünden, den Hochstapeleien und fiktiven Reisen, den Visionen von der Sierra Morena bis Martinique und schließlich dem dubiosen »Räuberleben«, wenngleich auch der Unterschied sofort ins Auge fällt. Was bei Jünger allein aus Übermut, aus Erlebnisdrang und einem hypertroph wuchernden Gemütsleben geschieht, ist bei May zudem von wirtschaftlicher Not begründet, ist Ausfluß einer mißlichen sozialen Lage. Immerhin bleibt als Gemeinsamkeit die außergewöhnliche Reaktion auf die Bedingungen einer als unattraktiv empfundenen und erlittenen Realität und nicht zuletzt die Faszination durch abenteuerlich-exotistische Bereiche.

   Daß die Wirkung Mayscher Texte auf Jünger mit Ablauf der Kindheitstage zumindest nicht schlagartig abreißt, belegt eine Tagebuch-Stelle von 1918 aus der Chronik "Das Wäldchen 125". Noch im Schützengraben des Ersten Weltkrieges nämlich läßt sich der Leutnant und Kompanieführer von Mays Fabuliertalent einnehmen:


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»Ich sitze in Hemdsärmeln auf einer Ausfalltreppe an der Ecke des Puisieux-Weges und bin in einen Roman "Waldröschen oder eine Verfolgung rund um den Erdball" vertieft. Unten vor dem Unterstande kauert Schüddekopf . . . «(5)

   Es steht somit zu vermuten, daß solche Leseeindrücke auch literarische Beeinflussungen nach sich zogen. Die endlosen Aneinanderreihungen von Kampfhandlungen sowohl bei dem Autor des "Winnetou" als auch in Jüngers frühen Werken (vor allem der 20er Jahre) lassen auf weitere Gemeinsamkeiten schließen. Aber diese Übereinstimmungen sind nur oberflächlicher Art. Stellt sich doch bei näherer Betrachtung heraus, daß Texte wie "In Stahlgewittern", "Das Wäldchen 125", "Feuer und Blut" oder "Der Kampf als inneres Erlebnis" von ihrer ganzen Intention und Sicht des Krieges her mit den - im Prinzip auf Versöhnung angelegten - Schilderungen der Auseinandersetzungen eines Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi eigentlich nichts verbindet.

   Allenfalls ließen sich diese zahlreichen Kampfszenen autorenpsychologisch in Zusammenhang bringen, wobei man bei beiden Schriftstellern die zwanghafte Vorstellung einer ihnen auferlegten Prüfung analysieren könnte. Karl May bieten diese Kämpfe Ersatzerlebnisse vor dem Hintergrund eines tristen Lebens. Deshalb übertreibt er, überschreiten seine Heroisierungen nicht selten die Grenzen des Wahrscheinlichen erheblich. Die fiktiv erbrachten Leistungen seines Roman-Ichs sichern ihm die Anerkennung eines Bürgertums, dessen Normen er zuvor mehrfach verletzt und an dessen Sanktionen er viel gelitten hat. Es treibt ihn somit zu immer neuen Bestätigungen seines Könnens, zu immer neuen Beweisen seiner unübertrefflichen Tapferkeit, Intelligenz und Großmut.

   Und in diesem Zusammenhang sind die Motive der Helden von Belang. Ein Karl May alias Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi kämpft niemals unprovoziert, niemals in der Absicht zu vernichten oder aus Lust am Töten. Die geradezu sprichwörtlich praktizierte Eigenschaft der clementia, die er allen seinen Gegnern angedeihen läßt, die beinahe um ihrer selbst willen geübte, zuweilen schon dem Masochismus benachbarte Milde, auf die selbst gefährliche Feinde und rückfällige Verbrecher rechnen können, erklärt sich einerseits als wohl unbewußter Wunsch nach Rehabilitierungschancen, die ihm persönlich in der Vergangenheit versagt blieben, andererseits als Überkompensierung einer aus den Wurzeln eigener früherer Rechtsbrüche üppig sprießenden Tugendsehnsucht.

   Der Erzähler kämpft stets auf Seiten der guten Sache und ausschließlich gegen das Böse. Generös gewährt er Verzeihung und tötet


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allenfalls, wo es sich nicht mehr vermeiden läßt. Um den Preis seines moralischen Modells entfernen sich seine Schilderungen - Kampfkonstellationen wie die Umstände selbst - immer stärker von der Realität. May flieht in zunehmendem Maße in die Unwirklichkeit und stilisiert schließlich auch sein eigenes Leben in romanhafter Attitüde. Hinzu kommen christliche Motive: die deutliche Prägung durch eine auf Toleranz und Menschlichkeit angelegte Religiosität, in die bald auch nichtchristliche Glaubensrichtungen eingeschlossen werden und welche das Fundament seiner späten Pazifismus-Appelle darstellt.

   Resümierend läßt sich feststellen, daß - bei aller Vorliebe des Autors für spannende Konflikte, für Mutproben und kämpferische Bewährung - seine Romane von ihrer Tendenz her beinahe eher als Antikriegsbücher anzusprechen sind. Daß ausgerechnet Hitler, dessen fanatisches Freund-Feind-Denken zu Mays Friedensbereitschaft in diametralem Gegensatz stand, dessen Romane während des 2. Weltkriegs alle nochmals gelesen und seinen Generälen als vorbildliche Lektüre empfohlen hat, widerlegt dies durchaus nicht. Ist es doch vielmehr Indiz einer bedenklich selektiven Wahrnehmung bzw. eines eklektizistisch-präjudizierenden Weltverständnisses.

   Friedensliebe und Versöhnungsabsichten lassen sich dagegen aus Jüngers Kriegsdarstellungen gewiß nicht ableiten. Geht es ihm doch mitnichten um Gut und Böse oder die Wiederherstellung eines ehemaligen Rechtszustandes durch Kampf, ja, nicht einmal vornehmlich um Sieg oder Niederlage, sondern einzig um männliche Bewährung. Die moralische Seite des Problems interessiert ihn - wenn überhaupt - nur am Rande. Kampf trägt seine Eigenbegründung in sich als »inneres Erlebnis«:

»Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung, und so kämpft nicht einmal der umsonst, welcher für Irrtümer ficht.«

»Keiner hatte angegriffen. Jeder war der Angegriffene. Man spickte den Krieg mit Phrasen, um ihn schmackhaft zu machen. Dem wahren Krieger ( . . . ) war das bis ins Innerste zuwider.«

»Es ist auch fraglich, ob sich der Lebenswille eines Volkes klarer ausspricht durch eine Schicht von Kämpfern, die Recht und Unrecht zu unterscheiden streben, oder durch eine gesunde, kräftige Rasse, die den Kampf um des Kampfes willen liebt . . .«(6)

   Für Jünger, der den Krieg auch als Urwald beschrieb, der seine Teilnehmer »immer stärker in seinem dunklen Banne hält«(7), ist der Krieg weitgehend eine Chance, abenteuerlich-exotische Neigungen auszuleben:

»Wenn ich bedenke, in welcher Umgebung ich mich jetzt sonst vielleicht befände, zwi-


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schen Strebern in einen Beruf eingekeilt ( . . . ) ich hätte nach einem halben Jahre den Kram zusammengehauen, um an den Kongo oder nach Brasilien zu gehen oder sonst an einen Ort, an dem sie der Natur noch nicht beikamen.«(8)

   Und diese Leidenschaften befriedigt Jünger im Gegensatz zu May nicht in der Literatur, sondern weitgehend in der Realität. Insofern sind seine Aufzeichnungen Beschreibungen tatsächlicher Erlebnisse und Stimmungen, wobei das Bemühen um schonungslose Abbildung auffällt. Zwischen einem Reitertreffen à la Kara Ben Nemsi etwa in der Erzählung "Durch Wüste und Harem", bei dem allenfalls ein paar der wüstesten Verbrecher umkommen, und einer Schlachtschilderung Marke »Jünger« liegen Welten. Hier ist für Schonung, für Mitleid, für Belehrungs- und Vermittlungsgespräche kein Platz. Hier herrscht die als Fatum verstandene wie verherrlichte Vernichtung:

»Was half es, daß sie die nächsten [Toten] mit Sand und Kalk bestreuten oder eine Zeltbahn über sie warfen, um dem steten Anblick der schwarzen, gedunsenen Gesichter zu entgehen. Es waren zu viele, überall stieß der Spaten auf etwas Verschüttetes. Alle Geheimnisse des Grabes lagen offen in einer Scheußlichkeit, vor der die tollsten Träume verblichen. Haare fielen in Büschen von Schädeln wie fahles Laub von herbstlichen Bäumen. Manche zergingen in grünliches Fischfleisch, das nachts durch zerrissene Uniformen glänzte. Trat man auf sie, so hinterließ der Fuß phosphorische Spuren. Andere wurden zu kalkigen, langsam zerblätternden Mumien gedörrt. Anderen floß das Fleisch als rotbraune Gelatine von den Knochen. In schwülen Nächten erwachten geschwollene Kadaver zu gespenstischem Leben, wenn gespannte Gase zischend und sprudelnd den Wunden entwichen. Am furchtbarsten jedoch war das brodelnde Gewühl, das denen entströmte, die nur noch aus unzähligen Würmern bestanden. Was soll ich eure Nerven schonen?«(9)

   May in seinen gelegentlich geradezu idyllisch anmutenden Kampfszenen ignoriert die Realität um der Utopie seiner unfehlbaren Edelmenschen willen; Jünger ignoriert die moralischen Normen zugunsten einer atavistischen Landsknechts- und Urwaldvision, deren barbarische Schrecken mit Mays eher biederen Tugendfehden wenig gemein haben. Das Trennende überwiegt deutlich, und wenn Jünger sich während eines Spähtrupp-Unternehmens der Somme-Schlacht an den Autor des "Winnetou" gemahnt fühlt, so sind das in der Tat nichts weiter als von formalen Parallelen ausgelöste »Tertianererinnerungen«:

»Wir gingen die erste Strecke gebückt vor und krochen dann nebeneinander über das dicht bewucherte Vorfeld weiter. Tertianererinnerungen aus Karl May kamen mir ins Gedächtnis, als ich so auf dem Bauche durch betautes Gras und Distelgestrüpp rutschte ängstlich bemüht, jedes Rascheln zu vermeiden, da sich fünfzig Schritt vor uns der englische Graben als schwarzer Strich aus dem Halbdunkel hob.«(10)

   Im mittleren Werk Jüngers gibt es allerdings gegenüber May wieder unabweisbare Konvergenzen. Sie betreffen Inhaltliches wie Formales,


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Bewußtsein und Intention der Autoren wie auch bestimmte ästhetische Fehlleistungen. Es ist ein Verdienst des Schweizer Kritikers Hans Näf, bereits 1941 in einer Rezension des 1939 erschienenen Buchs "Auf den Marmorklippen" auf literarische Beziehungen zwischen Jünger und May verwiesen zu haben, wenngleich dies äußerst kursorisch und in polemischer Absicht geschah:

»Jünger ( . . . ) schreibt so, als hätte ihm der Weltgeist seine Absichten offenbart und ihn also befähigt, sie objektiv darzustellen. ( . . . ) Solchem Bann entzieht man sich vielleicht am besten, wenn man das Mittel betrachtet ( . . . ) Da fällt in unserer Erzählung vor allem eine Hypertrophie des Allegorischen auf, die man als symbolistischen Komfort zu bezeichnen versucht ist. Vieles erinnert unwiderstehlich an Karl May (man betrachte daraufhin etwa den Abschnitt 23), nur daß es bei Jünger noch mit ganz anderem Anspruch auftritt. Es wäre wohltuend, wenn der Dichter solcher Erkenntnisse selber in einem zynischen Sätzlein Raum gäbe: indessen das bleibt aus, es sei denn, das Zynische liege in der Handhabung der faustdicken Symbolik und im Nackfeixon großer Gebärden selbst.«(11)

   Angesichts dieser ungewöhnlichen Gleichsetzung ist es ebenso frappierend wie wiederum bezeichnend, daß als Beleg für z. T. richtige Beobachtungen ausgerechnet Kapitel 23 der "Marmorklippen" angeführt wird, Passagen also, welche die Vorbereitungen eines Feldzugs gegen den Oberförster schildern. Die Gemeinsamkeit wird offenbar lediglich in Äußerlichkeiten gesehen: der Parallelität von Kampfhandlungen und deren Begleiterscheinungen. Näf dürfte vermutlich die Mayschen Alterswerke nicht gekannt haben, sonst hätte er - sofern es ihm nicht nur um Polemik zu tun war - auf ganz andere, bedeutsamere Entsprechungen aufmerksam machen können. Aber immerhin führt dieser Hinweis auf eine wichtige Spur. Beschäftigen wir uns also mit den Hauptvorwürfen gegen Jünger, wobei sich zeigt, daß May dabei immer mit einbezogen ist.

   Denn die von Näf monierte Überzeugung, quasi aus höherer Warte zu schreiben, teilt Jünger mit seinem schriftstellerischen Vorgänger, der z. B. im "Mir von Dschinnistan" von einem tiefen, menschheitspsychologischen Zweck seiner Reiseerzählungen und einem hohen kulturpolitischen Ziele sprach.(12) Auch ist die Erzählpose beider die des Lehrhaft-Wissenden, des Predigerhaft-Unterweisenden, ja, des abgeklärten Weisen, der weitgehend über den Ereignissen und Leidenschaften steht. Dabei verdient die auf Zustimmung angelegte Ich-Perspektive besondere Beachtung. Ist es doch auffällig, daß beide Autoren sich fast durchgängig dieser Erzählhaltung bedienen, wobei auch die Begründungen durchaus korrespondieren. Jünger sieht sich - wie aus dem Vorwort zum "Abenteuerlichen Herzen" hervorgeht(13) - als Objekt anthropologischer Studien wie als Repräsentant der Zeit. Und auch Karl


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May will sich schreibend erforschen und räumt seinem (Roman-) Ich in der Autobiographie Stellvertreterfunktion für die Menschheit und ihr sittliches Bemühen ein:

Das Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem großen, alles umfassenden Plural in den Singular, in die einzelne Individualität transponiert.(14)

   »Große Gebärden«, die Näf diagnostizierte, sind dabei beiden Autoren nicht fremd. Man betrachte diesbezüglich eine beliebige Begegnung Kara Ben Nemsis mit einem orientalischen Potentaten, um sofort auf typische Stilisierungen zu stoßen: die Begrüßungszeremonien z. B., in denen immer wieder der (eigentlich) hohe Status des Helden verdeutlicht wird, ein Geklingel von Titulaturen oder Qualifikationen, von Ehre und Würde, das sich nur teilweise aus dem intendierten morgenländischen Lokalkolorit erklärt. Hier wird nicht zuletzt Standesgesinnung dokumentiert, wenn diese auch bezeichnenderweise durch (bürgerlichen bzw. abendländischen) Leistungsanspruch gerechtfertigt erscheinen soll. Hier pocht man auf Geltung und Renommee, wobei Defizite in der biographischen Realität wieder einmal als Antriebe im Fiktionalen wirken.

   Und in diesen Zusammenhang gehören auch typische Insignien von Macht und Ansehen, als da sind Silberbüchse, Henrystutzen, Bärentöter, der Rappe Rih oder der Diener Hadschi Halef Omar . . . Hier haben wir mit Ausnahme des Militarismus das komplette auf pomphafte Äußerlichkeiten angelegte Wertsystem der Jahrhundertwende, deren Stilprinzipien durch die Maler Makart oder Hans von Marees wohl am reinsten verkörpert werden.

   Auch Jüngers Erzählungen, von den "Marmorklippen" bis zu "Heliopolis", können das Verhaftetsein ihres Autors in diesem Zeitgeist nicht verbergen. Auch hier geht es immer wieder um Statusfragen, um die Abgrenzung des Hohen vom Niedrigen. Auch hier herrscht Verklärung von Macht-und Herrschaftszeichen wie dem »konsekrierten Schwert«, dem es in den "Marmorklippen" vorbehalten bleiben soll, die endgültige Gesundung des Gemeinwesens an der Marina herbeizuführen, oder des »guten Degens«, der im »Vaterhaus« hängt und den gegen Gesindel zu führen nicht schicklich ist. Und auch die sonstigen Ehrvorstellungen der Jüngerschen Helden in der Rautenklause entbehren zuweilen nicht einer gewissen Gespreiztheit.

   Was nun den beklagten »symbolistischen Komfort« oder die »Hypertrophie des Allegorischen« anbelangt, so befinden wir uns hier im schwerlich objektivierbaren Bereich von Geschmacksurteilen. Wichtiger erscheint es gerade in diesem Zusammenhang, auf die wohl be-


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deutsamsten Übereinstimmungen zwischen Jüngers fiktionalem und Mays spätem Werk aufmerksam zu machen. Substantielle Gemeinsamkeiten literarischen Schaffens betreffen nämlich:

1. die Tendenz zur Chiffrierung mehr oder weniger aktueller Ereignisse. (Beide Autoren verschlüsseln persönliche Begebenheiten in ästhetischer Formung: May die ihn zermürbenden Prozesse, private mit der Scheidung zusammenhängende Querelen, dazu Kindheits- und Jugendeindrücke. Jünger vor allem politische Vorgänge seit den 20er Jahren, an denen er persönlichen Anteil nahm.)

2. die modellhaft-allegorische Grundkonzeption ganzer Handlungen und Schauplätze. (Diese literarische Präsentation zeigt sich in Mays Spätwerk generell, bei Jünger in einzelnen Partien bereits ab dem überarbeiteten "Abenteuerlichen Herzen".)

   Am überzeugendsten sind dabei Korrespondenzen zwischen "Ardistan und Dschinnistan" und "Auf den Marmorklippen". Thematisch wäre hier zunächst einmal anzumerken, daß sich die ungeheure ideologische Kluft, die Jünger und May in bezug auf ihre Kampfschilderungen trennte, deutlich verringert hat. Denn in dem Maße wie Jünger sich seit der nationalsozialistischen Machtergreifung von der Verherrlichung des Krieges abwendet zugunsten oppositioneller Vexierbilder und Epigramme sowie des Trost- und Widerstandstextes "Auf den Marmorklippen"(15) finden versöhnlichere und friedfertigere Töne Eingang in seine Darstellungen.

   Auch erfolgt unverkennbar eine Annäherung an christliches Gedankengut, so daß Mays Appelle für mehr Menschlichkeit und Eintracht nicht mehr isoliert stehen. Winnetou Wandlung vom tatendurstigen Häuptling zur Inkarnation toleranter Humanität, die Bereitschaft des Mir von Ardistan, die Blutschuld der Ahnen auf sich zu nehmen, sind in der ethischen Tendenz durchaus vergleichbar mit der Absicht der Bewohner der Rautenklause - ehemals machtbesessene Mauretanier -, ein von Gewalt gereinigtes Leben zu führen. Pater Lampros, Sunmyra, Otho oder sein Bruder auf den Marmorklippen lassen sich unschwer als Maysche Edelmenschen begreifen. Die Läuterung der Brüder vollzieht sich z. B. gerade in dem Maße, wie sie geistige Tätigkeit und friedliches Kulturschaffen den früher hochgepriesenen Waffentaten vorziehen:

»Nach Alta Plana glaubten wir erkannt zu haben, daß es Waffen gibt, die stärker sind als jene, die schneiden und durchbohren ( . . . ) wir erkannten im Wort die Zauberklinge, vor deren Strahle die Tyrannen-Macht erblaßt. ( . . . )

Und wir erahnten: wenn wir in jenen Zellen lebten, die unzerstörbar sind, dann würden wir aus jeder Phase der Vernichtung wie durch offene Tore aus einem Festgemach in immer strahlendere gehn.«(16)


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   Hier verbinden sich christlich-humanitäre Überzeugungen mit der allgemeinen Trostfunktion dieses Widerstandstextes, dessen symbolische Bezüge zudem ins Traumreich verweisen. Gespeist aus visionärem Impetus, mischt diese Chronik der Marina Traum und Realität auf eigenartig vertrackte Weise, gemäß Jüngers Vorstellung der Identität beider als lediglich zwei verschiedene Dimensionen bzw. Sehweisen ein und derselben Sache.(17) Daß gerade auch May in seinen Werken Traum und Wirklichkeit, Phantasie und Tatsachen immer weniger unterscheidet, ist bekannt. Ein besonders kurioser Beleg solcher epischen Verquickung bietet sich in der folgenden Textstelle des "Mir":

Wenn meine Reiseerzählungen wirklich nur aus der »reinen Phantasie« geschöpft wären wie zuweilen behauptet wird, so käme ich jetzt ganz gewiß mit großen, wunderbaren Reiterkünsten, durch die ich den »Dicken« besiegte ( . . . ) Aber ich erzähle bekanntlich nur Wahrhaftiges und innerlich wirklich Geschehenes und Erwiesenes. Meine Erzählungen enthalten psychologische Untersuchungen und Feststellungen. Kein wirklicher Psycholog aber würde mir glauben schenken, wenn ich so töricht wäre, zu behaupten, daß es im fernen und doch so nahen Lande des Menschen-lnneren so leicht sei, ein Urpferd bezw. Urgeschöpf zu zähmen. Diese Urgefühle gleichen dem dicken Smihk in so auffallender Weise, daß ich unbedingt bei der Wahrheit bleiben und meine Ohnmacht eingestehen muß, ihn mir untertan zu machen.(18)

   Beider Staats-, Gesellschafts- oder Menschheitsmodelle entfalten sich also in typischen Traumlandschaften, in denen die Realität sich hinter allegorischer Maske verbirgt. Es geht in beiden Werken um die Bedrohung einer friedfertigen Gesellschaft durch despotisch-anarchistische Mächte. In Jüngers Text figuriert der geheimnisvolle Oberförster als zerstörerisches Prinzip, der die Kulturlandschaft der Marina in Urwald zurückverwandeln will. Ähnlichen Stellenwert im moralischen Koordinatensystem besitzt bei May zunächst der Mir von Ardistan, ein Gewaltmensch und schrankenloser Tyrann, bzw. der Panther, sein Rebellen-Nachfolger, als Verkörperung niederer Leidenschaften. Gegenspieler des Bösen sind jeweils die Ich-Erzähler und ihre Gefährten. Pater Lampros, der märtyrerhafte Adept des Nigromontan, der durch seine Anweisung die Auseinandersetzung mit dem Oberförster herbeiführt, und Marah Durimeh, die Menschheitsseele, die Kara Ben Nemsi die Prüfung anempfiehlt, entsprechen sich in ihrer epischen wie symbolischen Funktion.

   Beide Texte legen somit Entschlüsselungen der Personen geradezu nahe, ob es die mythischen Knaben Fortunio und Erio oder die Verschwörer Sunmyra und Braquemart, Halef und Schakara oder die Geschworenen im Tal der Toten sein mögen. Die massiven allegorischen Momente überraschen insbesondere bei Jünger, der schließlich durch seine faktenorientierte Schreibweise in den 20er Jahren zu den Haupt-


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vertretern eines neusachlichen bzw. heroischen Realismus gehörte. Spektakulärer und für den Vergleich beider Autoren bedeutsamer ist jedoch die Tatsache, daß die sinnbildhaften Bezüge über die Figuren hinaus auf die Romantopographie ausgedehnt werden - eine Darstellungsweise, die in der literarischen Moderne kaum Parallelen hat.

   In der »magischen Geographie«(19) der "Marmorklippen" entfaltet Jünger eine zeitlos-idealtypische Modellwelt, die zwei entgegengesetzte Bezirke aufweist: den Wald und die Vaterheimat. Der Wald ist das Reich des Oberförsters. Er bietet Unterschlupf für Gesetzlose, Heimstatt für ordnungsfeindliche, bedrohliche Mächte. Die Vaterheimat stellt einen metaphysischen Gegenpol dar, einen geistigen Ort, von wo aus die durch Chaos und Untergang hindurchgegangene Menschheit sich von neuem gebären muß. Das Geschehen spielt somit im ethischen Sinne zwischen Wald und Vaterheimat, zwischen Anarchie und den Normen einer geordneten Welt.

   Diesseits der metaphysischen Sphäre konkretisiert sich die Handlung in drei idealtypischen Regionen: der lieblichen Seelandschaft der Marina, zivilisierter Schauplatz ursprünglicher Ordnung und friedlicher Harmonie, der Campagna, einem Weideland mit einem rauhen, noch ungezähmten, wehrhaften Volk, und schließlich Alta Plana, einer Hochregion, deren Bewohner sich Freiheit und Menschenwürde stets bewahrt haben. Zwischen der Campagna und der Marina erheben sich die Marmorklippen mit der Rautenklause, Sitz und Beobachtungsort der Brüder im Vernichtungskampf der Zivilisation.

   Die Romanhandlung führt die Helden nun nach einem als unwürdig erkannten Angriff auf Alta Plana zur selbstgewählten friedlichen Klausur auf den Marmorklippen. Als es zum Entscheidungskampf gegen den Oberförster kommt, nehmen sie im Verein mit den Bewohnern der Campagna daran teil. Die Niederlage und die Zerstörung der Marina läßt sie zur Vaterheimat zurückkehren, zur positiven Tradition also, die ihnen hilft, ungebrochen und geistig gestärkt, die Katastrophe zu überdauern.

   Im Kontext der Zeit wie der Literatur des 20. Jahrhunderts überhaupt besitzt eine solche epische Präsentation ausgesprochenen Seltenheitswert, und man muß vielleicht wirklich bis Karl May zurückgehen, um Vergleichbares zu finden. Denn dessen "Mir von Dschinnistan" lebt ja ebenfalls von einer Erzählform, die geographische Gegebenheiten als sinnbildhaft erschließbare Gedankenkomplexe enthält. Auch hier ist bereits in der Romantopographie ein transzendentaler Dualismus angelegt. Ein Krieg droht nämlich auszubrechen zwischen dem Bergland Dschinnistan als Sitz der geistig hochstehenden Edel-


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menschen (vgl. Alta Plana - Marmorklippen/Vaterheimat) und dem von Gewaltmenschen bewohnten Tiefland Ardistan (vgl. Wald). Prüfungen warten bei beiden Autoren auf die Helden. Köppels-Bleek im Wald des Oberförsters als Sitz des Schreckens fordert zur männlich-stoischen Bewährung ebenso auf wie die Geisterschmiede im geheimnisvollen Walde von Kulub, in der die Seelen durch Schmerz und Qual zu Stahl und Geist geschmiedet werden.(20)

   Während bei Jünger der Kampf gegen Alta Plana zwar zur Läuterung der Brüder und zur Einsiedelei auf den Klippen führt, insgesamt aber die Vernichtung der Marina einleitet, mutet May seinen Lesern einen solchen Ausgang nicht zu. Der Sturm gegen Dschinnistan geht für die meisten glimpflich aus. Ihr Oberhaupt findet zu einer geistigen Umkehr, und zudem eröffnet die Bewässerung der Wüsten Ardistans eine hoffnungsvollere Zukunft. Die Menschheitsentwicklung, die mit dem Schiff Wilade (= Geburt) ihren symbolischen Ausgang nahm und über Stationen wie Ussul (ein ursprüngliches Naturvolk, vergleichbar mit den Bewohnern der Campagna), Chatar (= Gefahr), Tschoban (mündig gewordene Menschen), Ard (= zivilisierte Erde) bis zur Totenstadt und dem Fluß Ssul (= Friede) führt, hat ihren positiven Abschluß genommen.

*

   Ernst Jünger und Karl May - der Befund literarischer Gemeinsamkeiten scheint unabweisbar. Die wichtigsten Übereinstimmungen sind dabei gerade nicht im thematischen Bereich zu finden als gemeinsame Affinität zu zahllosen Kampfhandlungen, sondern sie betreffen - so paradox dies zunächst auch klingen mochte - die erzählerischen Mittel. "Auf den Marmorklippen" und "Ardistan und Dschinnistan" weisen weitgehende strukturelle Entsprechungen auf.

   Dabei sollen - bei aller Wertschätzung Mays durch psychologische und psychoanalytische Exegeten - fundamentale Bedeutungsunterschiede natürlich nicht verwischt werden. Jüngers Text, wenngleich selbst mit literarischen Schwächen behaftet, ist in ästhetischer Hinsicht dem seines Vorgängers deutlich überlegen. Hinzu kommt die unerhörte politische Brisanz als Widerstandsroman im Dritten Reich, die ihm einen anderen Rang verleiht. Aber solche Bedenken sollten keineswegs den Blick für wichtige Parallelen verstellen. Karl Mays Sitara- Modell besaß genügend Substanz, um stoffliche und formale Anregungen zu bieten.(21) Der dichterische Nährboden Ardistans und Dschinnistans ließ weitere poetische Auffaltungen jederzeit zu: ästhetische Erhebungen z. B. wie die "Marmorklippen".


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1 "Das abenteuerliche Herz" (1. Fassung). In: Ernst Jünger: Werke. Stuttgart o.J. (1964), Bd. 7, S. 35 (Im folgenden wird diese Ausgabe zitiert als "W").

2 W 9 S. 485

3 W 3 S. 587 (Der "Detektiv Nobody", den Jünger hier sicherlich meint, stammt allerdings nicht von Karl May, sondern von Robert Kraft, erschien jedoch auch bei Münchmeyer.)

4 W 7 S. 43f.: »Afrika war für mich der Inbegriff des Wilden und Ursprünglichen, der einzig mögliche Schauplatz für ein Leben in dem Format, in dem ich das meine zu führen gedachte ( . . . ) Mit grimmiger Freude las ich daß Schwarzwasserfieber und Schlafkrankheit den Ankommenden schon an der Küste erwarteten und hohe Opfer forderten. Es schien mir billig, daß der Tod seinen Gürtel zog um ein nur für Männer geschaffenes Land und schon an seinen Pforten jeden zurückschreckte, der nicht ganz entschlossen war. Abbildungen jedoch vom Bau zentralafrikanischer Bahnen oder eine gelegentliche Notiz in der Zeitung über ein gegen den Stich der Tsetsefliege erfundenes Serum pflegten meine Entrüstung zu erwecken; solche Siege des Fortschrittes über die Mächte der Natur verstimmten mich sehr.« Vgl. dazu auch die romanhafte Behandlung der Jugend-Episode in den "Afrikanischen Spielen" (W 9 S. 11ff.) und den authentischen Bericht eines Legionärskameraden in: Armin Mohler (Hrsg.): Die Schleife. Dokumente zum Weg von Ernst Jünger. Zürich 1955, S. 42ff.

5 W 1 S. 405

6 W 5 S. 53f., 58, 60

7 W 1 S. 314

8 W 1 S. 338

9 W5 S. 24f.

10 W1 S. 79

11 Hans Näf: Zu einem Buche von Ernst Jünger. In: Die Weltwoche. Zürich 24. 10. 1941

12 K. May: Der Mir von Dschinnistan (Reprint). Regensburg, o.J., S. 5

13 1. Fassung, in: W 7 S. 27

14 K. May: Mein Leben und Streben (Reprint). Hildesheim 1975, S. 12; vgl. auch S. 11

15 Zur Entwicklung Jüngers im Dritten Reich und zur kontrovers beurteilten Problematik seines Widerstandsromans "Auf den Marmorklippen" vgl. Günter Scholdt: Gescheitert an den Marmorklippen. In: Zeitschr. f. dt. Philologie, 98 (1979), S. 543ff.

16 W 9 S. 239-41

17 Vgl. dazu: Sizilianischer Brief an den Mann im Mond (W 7 S. 11ff.)

18 Der Mir, S. 31

19 Vgl. hierzu: Volker Katzmann: Ernst Jüngers Magischer Realismus. Hildesheim 1975

20 Der Mir, S. 5

21 Eine nachträgliche Bestätigung dafür, daß literarische Einflußnahme tatsächlich stattgefunden haben könnte, erbrachte eine Anfrage beim Autor selbst. Jünger antwortete brieflich am 12.1.1981, daß er in seiner Jugend Mays Gesamtwerk zur Verfügung gehabt und "Ardistan und Dschinnistan" zweimal gelesen habe. Einer ersten enttäuschenden Lektüre als Kind sei im Alter von 16 Jahren eine zweite gefolgt, an die er sich allerdings kaum noch entsinne: »Doch muß es im Text eine Passage gegeben haben, die mich in einen euphorischen Zustand versetzte, als ob ich ein Narkotikum genommen hätte; das hielt einen Vormittag an.«


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