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RAINER JEGLIN

»Die Welt der Ritterbücher war meine Lieblingswelt« ·

Anmerkungen zu "Rinaldo Rinaldini" und seinem Einfluß auf Karl May



Die Neuausgabe des Räuberromans "Rinaldo Rinaldini der Räuberhauptmann"(1) von Christian August Vulpius (1762 - 1827) als erschwingliches Taschenbuch bietet einem breiteren Kreis von Karl- May-Interessenten die Gelegenheit, sich mit einem Text und einer Gattung der Unterhaltungsliteratur bekannt zu machen, deren »Blütezeit in den frühen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts lag« und die »die erste belletristische Tradition« war, »unter deren nachhaltigen Einfluß May geriet«.(2) Wie dieses Werk auf May und seine literarische Produktion gewirkt hat beziehungsweise gewirkt haben könnte, möchte ich daher im folgenden knapp skizzieren.


I .  V u l p i u s'  " r o m a n t i s c h e  G e s c h i c h t e "

Der 1799 zuerst erschienene Roman, der alsbald weitere Auflagen, Nach- und Raubdrucke, recht oberflächliche Imitationen und auch zahlreiche Übersetzungen erfuhr, ist zwar nicht der erste Beitrag in der Reihe des damals überaus beliebten Räuber-Genres (Zschokke, Cramer und Spieß verwendeten das Sujet schon vor Vulpius), wohl aber hat "Rinaldo Rinaldini" in der weiteren Folge die gesamte Literaturgattung qualitativ am meisten geprägt. Dieser Roman weist - bis hin zu Fernsehverfilmungen und heutigen Neuauflagen - die längste und bedeutendste Wirkungsgeschichte auf und das nicht nur, weil sein Autor mit dem großen Goethe verwandt war.

   Vulpius hat mit seinem Roman eine literarische Mode gefördert, in der das tatsächliche oder auch nur erfundene Lebensschicksal von Räubern und Sozialrebellen romanhaft aufbereitet wurde. Schauplätze dieser Romane waren vorzugsweise die südeuropäischen Länder Italien und Spanien, die noch bis weit ins 19., teilweise sogar 20. Jahrhundert hinein über eine besonders reiche Tradition des Sozialbanditentums verfügten.(3) Soziale Banditen, die meist aus den mobilen


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Randgruppen (Tagelöhner, deklassierte Handwerker usw.) einer ansonsten fest gefügten vormodernen Agrargesellschaft stammten, galten für die unteren sozialen Gruppen, vor allem für die verarmten und feudalabhängigen Bauern und Landarbeiter, nicht als einfache Verbrecher, vielmehr wurden ihre Raub- und Beutezüge gegen die Reichen als Racheakte für erlittene Ausbeutung und Unterdrückung verklärt. Räuber wie Robin Hood spielen »die Rolle des heroischen Beschützers, der Unrecht wiedergutmacht, der Gerechtigkeit und soziale Gleichberechtigung bringt«.(4)

   Die Räuberromane führen im Sujet und Figurenentwurf in verschriftlichter Form die bereits zu Lebzeiten tatsächlicher Banditen von den unteren Klassen zu Legenden erhobenen Räuberbiographien fort. Karl Riha, der Herausgeber der Neuauflage des "Rinaldo Rinaldini", weist in seinem informativen Nachwort darauf hin, daß auch Vulpius auf reale Biographien von italienischen Banditen zurückgreift. Der »Räuber-Capitano Angelo Duca (1734-1784) - ein sizilianischer Bauer, der um 1780 als "bandito" in die Berge gegangen war, weil ihm einer Lappalie wegen aus adliger Willkür heraus der Verlust von Gut und Leben drohte«(5) - diente Vulpius als lebenswirkliche Vorlage zu seinem literarischen Räuberhauptmann. Wie bei den mündlichen Legendarisierungen in der Heimat realer Banditen entsteht auch bei Vulpius ein pseudoauthentisches Gemisch: gelehrt erscheinende Fußnoten unter dem Romantext und Hinweie auf italienische Quellen sollen den allzu offenkundig romanesken Charakter des Romans vor dem Leser verschleiern.

   Die Lektüre des Romans zeigt uns, daß Vulpius den thematisch-inhaltlichen Kern dieser Literaturgattung, nämlich die heroische Räuberbiographie, veränderte (und entschärfte). Eine »romantische Geschichte« lautet der Romanuntertitel, und das gewählte Adjektiv »romantisch« sollte wohl beim (deutschen) Leser Konnotationen herbeirufen, die den Räuber auch und vor allem als Kavalier und Salonlöwen ausweisen:

In des Waldes finstern Gründen
Und in Höhlen tief versteckt
Ruht der Räuber allerkühnster,
Bis ihn seine Rosa weckt.

 . . . 

Rinaldini! Lieber Räuber!
Raubst den Weibern Herz und Ruh.
Ach, wie schrecklich in dem Kampfe,
Wie verliebt im Schloß bist du!(6)


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   Die ursprünglich rebellische Attitüde der meisten Räuberhelden hat Vulpius durch die Beigabe zärtlich-höflicher Eigenschaften Rinaldos gemildert. Eine geheime Umsturzbewegung in Sizilien, die den Banditen für sich gewinnen möchte, zeigt Rinaldo sogar bei der Inselobrigkeit (ein gänzlich unbanditisches Verhalten) mit der Begründung an: »Der gebannte, geächtete und verachtete Räuberhauptmann ist kein Rebell . . . «(7) Rinaldo spielt seine Räuberrolle überaus zögerlich und ungern; immer wieder müssen ihn seine Kumpanen zu Aktionen anspornen, immer wieder erweist er sich als allzu passiver Held. Die amourösen "Abenteuer" dagegen stellen den größten Anteil der Romanhandlung. Hinter der für den Leser verwirrenden Vielzahl stereotyper Liebesdialoge und -spiele sowie wunderbar-unverhoffter Wiederbegegnungen mit ehemaligen Geliebten tritt die eigentliche Räuberlaufbahn des Romanhelden zurück: der frühere Hirtenjunge und Bauernsohn hat sich nach einer mißglückten Karriere beim Militär in den Apenninen eine Bande zusammengestellt, die vor allem Klöster und reiche Leute ausplündert. Im ständigen Abwehrkampf gegen Polizisten und Soldaten, im andauernden Taumel neuer Liebschaften, die die Handlungsfähigkeit des Räubers erheblich einschränken, weicht Rinaldo stets aus; so wird er von den Apenninen nach Sizilien und Sardinien immer weiter getrieben, wobei er, obgleich auch auf der Flucht vor der eigenen kriminellen Vergangenheit und der ungeliebten Räuberrolle, durch meist unverhoffte Begegnungen mit alten Kameraden bereits aufgeriebener Banden zu ständig neuem Banditentum angeleitet wird. Die Liebe zur schönen Olimpia verstrickt Rinaldo zudem in Umsturzpläne einer korsischen Befreiungsorganisation, die den berühmten Räuberhauptmann in ihrem Kampf gegen das französische Joch für sich gewinnen möchte. Oberhaupt dieser Bewegung ist der geheimnisvolle Alte von Fronteja, der Prinz Nicanor, und, wie sich später herausstellt, Rinaldos tatsächlicher Vater; der Alte ist mit okkulten Mächten im Bund und bleibt dem zaudernden Rinaldo stets auf den Fersen. Von Dianora, Rinaldos ganz großer Liebe, hat der Held einen Sohn. Nachdem der korsische Geheimbund aufgeflogen ist, kehrt Rinaldo zu Dianora zurück, die ihn verstoßen hatte, als sie von seiner unbürgerlichen Existenz erfahren hatte. Das nun scheinbar endlich erfüllte Familienglück für den unglücklichen Rinaldo wird abermals und ein letztes Mal durch das Militär vereitelt: in Dianoras Schloß findet Rinaldo ein melodramatisches Ende.

   Dieser grobe Abriß der Romanhandlung zeigt, daß Vulpius die Gattung des Räuberromans mit Motiven und Elementen anderer Gattungen der Unterhaltungsliteratur anreicherte: aus dem sentimen-


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talen Salonroman stammt das Liebesgeflüster, Gruselszenen (z. B. Leichenfunde, geheime Gänge in Ruinen usw.) kommen aus der Erbschaft der "gothic novel", und Rinaldos Verstrickungen mit geheimen Befreiungsorganisationen sind ein Ausfluß der am Ende des 18. Jahrhunderts populären Geheimbundmystik in der Literatur.


I I .  M a y s  o f f i z i e l l e  S t e l l u n g n a h m e  z u  " R i n a l d o  R i n a l d i n i "

May hat es in seiner Autobiographie sorgfältig vermieden, literarische Einflüsse anderer (und früherer) Autoren auf sein Werk zuzugeben. Hinweise auf berühmte Vorgänger im Bereich des Abenteuerromans (z. B. Gerstäcker, Sealsfield, Möllhausen usw.), die nachweislich in die Konzeption und Ausführung der Reiseerzählungen eingegangen sind, sucht man vergebens. Wird hier also ein offenkundiger Einfluß von May verschwiegen, so wird dieser mit Blick auf die anderen Genera der Spannungsliteratur des 19. Jahrhunderts (Gespenster-, Kriminal- und besonders Räuberroman) schroff verleugnet. Die im Alter von May eingenommene, literarmissionarische Pose, ein unerbittlicher Gegner der Schund- und Giftliteratur(8) zu sein, führt in der apologetisch geratenen Autobiographie zu dem Versuch Mays, seine Einzigartigkeit in der damaligen Literatur-Szene herauszustreichen. May spielt zwar den künstlerisch-literarischen Wert seiner Erzählungen angesichts offenkundiger formaler wie stilistischer Schwächen herunter, um vor kritischen Lesern seines Selbstlobes passieren zu können, gleichwohl zeigt er sich im Grunde von keiner Bescheidenheit angekränkelt: seine Märchendichtungen seien allein in der Lage, die Menschen ins Reich der Edelmenschen zu führen. Auf dem Hintergrund der ethischen und literarischen Selbststilisierung Mays zum »Hakawati«, zum singulären Märchendichter, der auch in dieser Beziehung als Outsider, . . . sogar als Outlaw oder Outcast(9) anzusehen sei, wird Mays allzu zwanghaft-kritische Abgrenzung von der Räuberliteratur verständlich: der Webersohn und ehemalige Zuchthäusler, der bekennt, daß er als außergewöhnlich veranlagter Knabe mit seiner angeborenen Naivität Opfer(10) des literarischen Gifts und Schunds der Hohensteiner Leihbibliothek war, hatte zu zeigen, daß er kein einfacher Schund- und Giftliterat wie Vulpius und die anderen geworden, sondern daß ihm - per aspera ad astra! - der (literarische) Aufstieg aus dem ardistanischen Pfuhl von Armut, Schundlektüre und Delinquenz zu dschinnistanischen Märchen-Höhen gelungen sei. Mays Ausführungen über seine jugendlichen Leseerlebnisse verfolgen, wenn man genauer hinsieht, zwei Absichten:


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1. Als ein Bestandteil seiner in Straftaten mündenden, defizitären jugendlichen Sozialisation unterwirft May auch "Rinaldo Rinaldini" einer obrigkeitshörig erscheinenden Kritik. Die Gattung der Räuberromane erscheint ihm nun als verderbliches Lesefutter, das die (jugendlichen) Leser zur Asozialität, Kriminalität und Unbotmäßigkeit verführt: Alles Positive geht verloren, und schließlich bleibt nur die traurige Negation zurück. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen verändern sich; die Lüge wird zur Wahrheit, die Wahrheit zur Lüge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung zwischen gut und bös wird immer unzuverlässiger! Das führt schließlich zur Bewunderung der verbotenen Tat, die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht etwa schon ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern es geht noch tiefer, immer tiefer, bis zum äußersten Verbrechertum.(11) Als allgemein gehaltenes Urteil über die angeblich allgemein jugendschädliche Wirkung der Räuberromane können wir nach der Lektüre des prototypischen "Rinaldo Rinaldini" nicht ganz zustimmen: allzu wehleidig und reumütig erweist sich hier der Räuber in seinem Tun, viel zu sehr beklagt er sein unbürgerliches, gesetzloses Außenseiterschicksal und zu heftig sehnt er sich nach bürgerlichem Familienglück; das tragische Ende führt dem Leser noch einmal die im Roman geäußerte, bittere Wahrheit dieses Lebensschicksals vor Augen: »Hauptmann! Du siehst, daß du nicht für die Menschen außer unsern Zirkeln taugst; die polizierte Welt ist kein Aufenthalt mehr für dich«(12) Ein attraktives Angebot an alle (jugendlichen) Leser für künftige Lebensgestaltung unterbreitet Vulpius wohl kaum.

2. Wenn man hingegen die einfache Rechtfertigungsabsicht Mays beiseite läßt und seine verallgemeinernden Wirkungsbeschreibungen der Räuberromane auf Mays individuelles, tatsächliches jugendliches Lektüreverhalten zurückführt, so liefern diese Ausführungen einen weiteren Beleg für Mays narzißtische Charakterstruktur und pseudologische Veranlagung, die in den Räuberromanen ein literarisches Betätigungsfeld fanden. Die biographische Forschung diagnostizierte angesichts der clownesken Straftaten wie auch angesichts des Versuchs des Schriftstellers, ganz in der Rolle seines literarischen Ich-Ideals aufzugehen und es in die Lebenswelt zu überführen (sog. Old-Shatterhand-Legende), bei May den Fall einer »pseudologia phantastica«, »einer Gemütsverfassung, die sich von der des Durchschnittsbürgers durch die verminderte Fähigkeit unterscheidet, Imagination und Realität klar auseinanderzuhalten«(13) Wenn man, solchermaßen psychisch disponiert, Spannungsliteratur rezipiert, tritt wohl das ein, was ich einen »Don-Quichote-Effekt« nennen möchte: Cervantes' Romanheld hat zu viel und zu intensiv mittelalterliche Rittergeschichten gelesen, so daß er, obgleich die Zeit der Ritter längst vorbei ist sich auf ritterliche aventiure begibt und sich unangemessen gegenüber seiner Lebenswelt verhält; daher stellt er für seine nüchtern-kritischen Mitmenschen einen mehr oder minder liebenswürdigen Fall von Wahnsinn und Infantilität dar. May gesteht eine solche defizitäre, pseudologische Leseweise in bezug auf die Räuberromane in dem inzwischen berühmt gewordenen Beispiel seines jugendlichen Ausreißer-Versuchs ein, mit dem er in Spanien von edlen Räubern Hilfe holen wollte, um die materielle Not der Weberfamilie abzuwenden. Der Fehler lag daran, daß ich infolge des verschlungenen Leseschundes den Roman für das Leben hielt und darum das Leben nun einfach als Roman behandelte. Die überreiche Phantasie, mit der mich die Natur begabte, machte die Möglichkeit dieser Verwechslung zur Wirklichkeit.(14)


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I I I .  D r e i  m ö g l i c h e  L e s e w e i s e n  v o n  " R i n a l d o  R i n a l d i n i "

Bevor ich versuche zu erörtern, weshalb sich Mays pseudologische Veranlagung gerade an einem Roman wie "Rinaldo Rinaldini" entzünden konnte, möchte ich drei mögliche Leseweisen von Spannungsliteratur umreißen, mit deren Hilfe Mays Umgang mit der Räuberliteratur genauer eingeordnet werden kann.

1 .  L e s e n  a l s  S p i e l. Wie alle Spannungsliteratur stellt Vulpius' Räuberroman vor allem und zunächst ein literarisches Spielfeld bereit, das den Leser zum Mitspielen einlädt. Vulpius betont in seinem Vorwort, daß "Rinaldo Rinaldini" ausschließlich zur Unterhaltung und zum Lesevergnügen geschrieben sei. Als »Spieler« verzichtet er bewußt darauf, sich mit seinem Roman problematisierend in das soziale Bezugs- und Problemfeld des Lesers einzumischen. Diese "Anspruchslosigkeit" gegenüber der außerliterarischen Wirklichkeit des Lesers dispensiert bei der Lektüre vom jeweiligen Lebensernst und ermöglicht es überhaupt, den Roman als Spiel, als Beigabe zur Realität zu genießen. Spiele sind ja »leidenschaftlich betriebene, aber nutzlose, sehr ernstgenommene, aber nicht dem Ernst des Lebens zugeschlagene Unternehmungen«, »deren Zwecke, ihr Vollzug, kein von ihm ablösbares Ergebnis ist, so daß sie sich dem Mittel-Zweck-Nexus der menschlichen Lebensökonomie nicht unmittelbar einfügen lassen«(15) Gegenüber der Wirklichkeit grenzen sich alle Spiele z. B. durch Festlegungen der Spielfelder oder der Spieldauer scharf ab. Nur so können für eine gewisse Zeit die ernsthaften Gesetze der Wirklichkeit außer Kraft gesetzt werden. Die Spannungsliteratur als ein besonderes Spielangebot weist ebenfalls eine Reihe von Abgrenzungen gegenüber dem Lebensernst auf. Feste literarische Konventionen der jeweiligen Gattungen - oftmals als billige Schematik geschmäht - garantieren die Isolierung des literarischen Geschehens von der Lebenswelt. Die Standardisierungen der Spielräume (z. B. die Exotik im Reise- und Abenteuerroman, das Kloster, die Burgruine im Gruselroman oder das englische Landhaus im klassischen Krimi), der Vorgänge und Figuren verhindern, daß der Leser bei jedem Roman, sozusagen einer Spielpartie, die Spielregeln neu erlernen müßte, um aus der Lektüre Vergnügen zu ziehen. Infolgedessen muten uns ja die Gattungsreihen dieser Literatursorte im Vergleich zur ernsthaft-problematisierenden Hochbelletristik (z. B. Bildungs- und Erziehungsroman) so gleichförmig an: jedes Werk variiert nur das gegebene Muster, stellt es nicht in Frage und unterbreitet somit dem Leser eine Spielpartie. Das konventionalisierte Schema der Räuberromane prägt auch "Rinaldo Rinaldini": der beständige Wechsel zwischen retardierenden Liebesszenen und wilden Scharmützeln mit der Polizei, mithin das immerwährende Räuber- und Gendarmspiel bei festgelegten Rollen, der Wechsel von Flucht, Befreiung und Gefangennahme - dies alles unterstreicht den Spielcharakter des Textes. Eine angemessene und »erwachsene« Leseweise eines solchen Romans beinhaltet daher die Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf das (Spiel-)Geschehen als Spiel einzulassen; gefordert ist eine schematische, mitspielende, »sich selbst genügende Rezeptionsweise«, die den literarischen Spiel- vom realen Handlungsbereich zu unterscheiden weiß und die eine gewisse Stabilität der Ich-Identität beim Leser voraussetzt, weil er die Schematik nicht mit Wirklichkeitsbewältigung verwechselt.


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2 .  L e s e n  a l s  W u n s c h e r f ü l l u n g s p h a n t a s i e. Neben anderen hat Rudolf Schenda darauf hingewiesen, daß die Räuberromane in Deutschland ihre besonders gute Konjunktur während und unmittelbar nach der französischen Revolution gehabt hätten, woraus er schließt, »daß es sich bei dieser Literaturgattung um einen Revolutionsersatz für Leute handelt, die, aus welchen Gründen auch immer, zu keiner eigenen Revolution gelangen konnten«.(16) Auch wenn man einem solchen politischen und sozialpsychologischen (Kurz-)Schluß vorsichtig-skeptisch gegenüberstehen mag, deutet doch Schenda zu recht mit seinem Hinweis auf den ursprünglichen historischen Rezeptionskontext der Räuberromantik eine andere, über dem sich selbst genügenden Mitspielen gelagerte Dimension der Rezeption an: Spannungsliteratur kann nämlich als Entlastung vom Alltag dazu beitragen, in der Lebenswelt des Lesers entstandene Erfahrungsdefizite und Bedürfnisversagungen zu beseitigen. Schenda hat wohl vor allem eine Identifikation des in politischer Repression lebenden deutschen Lesebürgers mit seinem Helden Rinaldo im Auge, wenn er meint, diese Literatur wirke als Revolutionsersatz. Daß ein Leser zu einem bestimmten Buch greift, wird meist dadurch untergründig veranlaßt sein, daß im gewählten Spiel lebensweltlich ungelöste Konflikte und Probleme aufgegriffen und spielerisch-fiktiv gelöst werden. "Rinaldo Rinaldini" wurde nicht nur als politisch-soziale Ersatzlösung gelesen; die anhaltende Wirkung des Romans zeigt, daß auch individuelle und psychische Konflikte von ganzen Lesergenerationen hier durchgespielt wurden. Ein kompensierendes und genußverschaffendes Lesen wird in der Spannungsliteratur vorzugsweise dann bereitgestellt, wenn über die politisch-soziale Pseudobotschaft des literarischen Helden hinaus in die literarischen Konfliktkonstellationen, in die komplexe Struktur von Handlungen und dargestellten Charakteren psychische Dispositionen, Spannungen und Konflikte (z. B. Narzißmus, Schuldkomplexe usw.) abgebildet erscheinen und nun in der Literatur, frei von lebensweltlich bedingten Verdrängungen und unbefriedigenden Kompromissen, durchgespielt werden können. Daher ist der mögliche Rezeptionsspielraum von "Rinaldo Rinaldini" breiter als die von Schenda nahegelegte politische Ersatzbefriedigung. Der im Roman dargestellte Antagonismus beispielsweise zwischen strafenden (Über-)Instanzen (Staat, göttliche Gerechtigkeit, blindes Schicksal usw.) und dem heroischen Helden, der zugleich Opfer ist, kann verschiedene Leser-Konflikte durchspielen: jemand, der selbst noch voller jugendlicher Rebellion gegen die »erwachsene« Gesellschaft steckt, mag sich daran ergötzen, wie Rinaldo, der ihm als Projektionsfläche narzißtischer Idealbildung dient, mit der Polizei umspringt und über weite Teile der Handlung dabei die Oberhand behält; ein anderer, der sich längst den gesellschaftlichen Verhältnissen überangepaßt hat, könnte es genießen, vorgeführt zu bekommen, wie pubertäre Obsessionen gegen Normen und Institutionen, die er in sich selbst beim Erwachsenwerden bekämpft hat, notwendig zur grausigen Bestrafung und zum Untergang führen. Kennzeichen dieser wie auch der nur mitspielenden Leseweise (siehe 1) ist es, daß Literatur und Wirklichkeit nicht verwechselt werden. Der Leser ist nach der Lektüre erfreut und entlastet, er hat jedoch sich und sein Leben nicht dadurch verändert, daß er aus einem Text die Elemente seiner psychischen Konflikte ausgewählt und fiktiv durchgespielt hat.

3 .  L e s e n  a l s  A n l e i t u n g  z u r  I c h - E n t w i c k l u n g. Gern wird, wenn über


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den Vorgang der literarischen Wunscherfüllung (siehe 2) gesprochen wird von einer »Identifikation« des Lesers mit seinem literarischen Helden geredet. Gewiß sind die Grenzen zwischen der Analogiebildung von realer Lebensgeschichte und literarischer Figurengestaltung einerseits und einer regelrechten »Identifikation« des Lesers mit dem Papierhelden andererseits fließend, gleichwohl erscheint eine solche Leseweise selten, wenn man sich den Begriff »Identifikation« durch die zuständigen Wissenschaften, die Psychoanalyse die Sozialpsychologie oder die Entwicklungspsychologie, erklären läßt: Freud beschreibt als »Identifikation« »die Angleichung eines Ichs an ein fremdes, in deren Folge dies erste Ich sich in bestimmten Hinsichten so benimmt wie das andere, es nachahmt, gewissermaßen in sich aufnimmt«.(17) Dies ist beispielsweise der Fall, wenn das kindliche Ich sich an das Vater- oder Mutterbild angleicht, es zum Vorbild nimmt. Die Entwicklung eines Menschen zur Identität (Ich-Entwicklung) ist daher als eine Abfolge von Identifikationen mit verschiedenen Vorbildern zu beschreiben, mit deren Hilfe sich das Ich verändert und entwickelt, indem es sich von den Vorbildern verschiedene Elemente einverleibt. Wenn es also heißt, ein Leser identifiziere sich mit einem Literatur- Helden, so müßte dies bedeuten, »daß in der Lektüre die Identitätsstruktur des Lesers derart verändert wird, daß sie sich schließlich derjenigen des Helden (oder anderer Personen) angleicht«. Es kommt demzufolge »zu einer Imitation und Assimilation von Verhaltensweisen, Einstellungen und Auffassungen durch den Leser, die seine Ich-Identität verändern müßten, und zwar nachhaltig«.(18) Das kurzfristige Django-Spielen von Jugendlichen in ihren peer groups ist damit nicht gemeint, wohl aber ein Verhalten, das über eine lange Zeit Charaktereigenschaften von Vorbildern beibehält (insofern sind Angleichungen heutiger Jugendlicher an verschiedene Rock-Stars in Aussehen, Kleidung und Auftreten ein Zeichen für stattfindende Identitätserweiterungen und -veränderungen). Mir scheint, daß May aus der Lektüre von Räuberromanen zusätzliche Elemente für seine weitere Ich-Entwicklung "erlesen" hat; dafür sprechen Mays Straftaten: es ist ein Unterschied, ob man nach der Lektüre kurzfristig im Sandkasten oder in Steinbrüchen im Verein mit anderen Jugendlichen Räuber und Gendarm spielt oder ob man über Jahre hinweg mit der Attitüde eines Rinaldo sich an der Welt für erlittenes Unrecht rächen will.(19) Auf jeden Fall liegt die belegte pseudologische Leseweise Mays weit eher schon im Bereich der dritten, hier umrissenen Möglichkeit der Literaturrezeption.


I V .  M a y s  p s y c h i s c h e  D i s p o s i t i o n

Über das reine literarische Spiel hinaus unterbreiteten die Räuberromane dem jungen May zunächst Angebote und Möglichkeiten, seine Lebensgeschichte und seine psychischen Konflikte zwischen den hochfliegenden Ansprüchen des (narzißtischen) Ichs (z. B. Dichter oder Arzt werden statt eines Weberproleten) und den kränkenden Versagungen durch die Außenwelt bei der Lektüre wiederzuerkennen und in Gedanken glanzvoll zu überspielen. Die schwere narzißtische Affektion und Neurose Mays, die sich später in Rinaldo-ähnlichen krimi-


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nellen Handlungen offen zeigte, bildet daher auch den Motivationshintergrund für Mays zeitweise vehemente Lektüre von Räuberromanen. Diese psychische Disposition und das ihr zugrundeliegende, in Straftaten mündende »Sozialisationsdefizit« hat Claus Roxin zusammengefaßt:

»May hat in der Kindheit Liebesversagungen erfahren, die seine eigene Liebesfähigkeit geschädigt und ihm zeitlebens die emotionale Ausgewogenheit und gefestigte Persönlichkeitsstruktur versagt haben, die in der Regel nur bei intensiver mütterlicher Zuwendung in den ersten Lebensjahren zustande kommt. Die dadurch bedingte Kontaktschwäche, der Rückzug der emotionalen Besetzung vom Objekt, vom anderen Menschen, auf das eigene Ich, hat den jungen May (und nicht nur den jungen) zu einer ausgeprägt narzißtischen Persönlichkeit werden lassen; und der bekannte Mechanismus von Frustration und Aggression hat die psychische Disposition geschaffen, die eine Kompensation von Demütigungen und Minderwertigkeitsgefühlen durch kriminelle Handlungen überhaupt erst möglich macht.«(20)

   Die Bestandteile von Mays (Leser-)Disposition waren bereits zum Zeitpunkt der Lektüre von "Rinaldo Rinaldini" demzufolge:

1. Als Grundlage des narzißtischen Syndroms und entscheidendes Sozialisationsdefizit ist die (mütterliche)  L i e b e s v e r s a g u n g  anzusprechen. Es ist daher im Hinblick auf den Rinaldo-Roman zu fragen, in welcher Hinsicht die Fabel diesen zentralen psychischen Konflikt abbildet, so daß May sich schließlich mit dem Lebensschicksal der zentralen Romanfigur nachhaltig identifizieren konnte.

2 .  D e r  R ü c k z u g  a u f  d a s  e i g e n e  I c h und die daraus sich ergebende Kontaktschwäche wurden durch die (einsame) Roman-Lektüre entscheidend verstärkt und begünstigt. In bezug auf die Romanhandlung wäre darüber hinaus auch hier zu fragen, ob die fiktive Räuberbiographie solche Charakterzüge und Verhaltensweisen darstellt.

3. Schließlich entstand beim jungen May ein großer Bedarf an  K o m p e n s a t i o n sangeboten für Versagungen, Demütigungen und Minderwertigkeitsgefühlen, der durch die Roman-Lektüre befriedigt werden mußte.

   Ich möchte im folgenden (V - VII), entlang dieser drei Punkte, versuchen aufzuzeigen, inwiefern gerade der Rinaldo-Roman auf May wirken mußte.


V .  L i e b e s v e r s a g u n g

Rinaldos heftige Suche nach der Liebe einer Frau macht ihn auf Sizilien mit der Gräfin Dianora bekannt, von der er auch einen Sohn be-


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kommt. Die Beziehung zu Dianora ist ein Bestandteil der tragisch endenden Hintergrundgeschichte des Romans, und nicht zufällig erfährt der Leser erst anläßlich dieses ersten Aufenthalts in Dianoras Schloß etwas Zusammenhängendes über die Lebensgeschichte Rinaldos: »Als dem Jüngsten seiner sechs Geschwister fiel ihm, als er kaum 10 Jahre alt war, das Los, die Ziegen seiner Eltern, in nicht geringer Dürftigkeit, zu hüten.« Die vorgezeichnete Lebensbahn, als Ziegenhirte und armer Bauer zu leben, befriedigte den Jungen nicht; er suchte die Gesellschaft des welterfahrenen und gebildeten Eremiten Onorio. Nachdem dieser auf geheimnisvolle Weise verschwunden war und er Rinaldo als seinen Erben eingesetzt hatte, machte Rinaldo Onorios Habseligkeiten zu Geld »und ging damit unter die Soldaten«. Weiter heißt es dann:

»Hier schien ihm das Glück zu lächeln. Ein General bemerkte ihn, zog ihn hervor, beförderte ihn bald zum Korporal, und endlich wurde er gar als Fähnrich mit nach Sardinien in Besatzung nach Cagliari geschickt. Hier bekam er Händel, fehlte gegen die Subordination (!) und wurde kassiert. Das brachte ihn auf. Er rächte sich auf italienische Art durch den Dolch an seinem Chef und entfloh. Unstet und unsicher, seines Verbrechens öffentlich angeklagt, durchirrte er Italien und fand nirgends eine bleibende Stätte. So kam er unter die Räuber, die er selbst bald beherrschte, zu ordentlichen Korps organisierte und als ihr Hauptmann mit unter ihnen lebte, wie wir ihn gefunden haben.«(21)

   Die immer währende Sehnsucht Rinaldos, Italien, das Land seiner Verbrechen, zu fliehen, um »in stiller Verborgenheit glücklich und ruhig zu leben«, wird nun, zusammen mit Dianora, zu einem neuen Lebensplan konkretisiert; das Räuberdasein ohne Heimat, ohne Eltern und ohne Familie soll durch eine gemeinsame Flucht auf die kanarischen Inseln aufgegeben werden. Wie so oft im Roman, scheitert auch dieses schöne Vorhaben, und die kriminelle Vergangenheit holt Rinaldo wieder ein.

   Sein verunglücktes Leben, die Räuberkarriere wider Willen, erklärt sich der Held gegen Ende des Romans nicht aus seinem Mißgeschick beim Militär, sondern aus seiner niedrigen sozialen Herkunft: »Wär' ich edler geboren, wer weiß, welche glänzende Rolle ich gespielt hätte.«(22) Im siebzehnten, dem vorletzten Romankapitel wird diese niedere Herkunft auf überraschende Weise aufgehoben. Rinaldo ist Gast auf dem Schloß des Barons Moniermi, der den Räuber versteckt hält. Die Schwester des Barons, Isotta, hält sich ebenfalls auf diesem Schloß versteckt. Ein Muttermal auf Rinaldos Hand führt zu der glücklichen Entdeckung, daß Isotta die edel geborene, tatsächliche Mutter Rinaldos ist. Isotta war unglücklich verliebt in den Prinzen Nicanor; aus dieser Ehe stammt das Findelkind. Es wurde also Rinaldo übel mitge-


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spielt, als er in die Pflege von armen Bauersleuten kam. Der auch wieder zufällig aufgetauchte Onorio gibt die Aufklärung:

»Die Bäurin, die du für deine Mutter hieltst, die dich erzog, war nicht deine Mutter. Das hat sie mir selbst einst gesagt. Übers Gebirg warst du ihr zur Erziehung zugetragen worden. Deine Pflegeeltern waren arme Leute, sie waren gezwungen, die Kostbarkeiten, die du um dich hattest, zu Gelde zu machen. Sie fürchteten Nachfrage und flohen nach Ostiala, als du zwei Jahre alt warst. So konnte deine Mutter nichts von dir erfahren, und du bliebst der Sohn eines armen Mannes, der aus Not an deinem Eigentume sich vergriffen hatte und dies nicht zu gestehen wagte.«(23)

   Im Räuberdasein, einem kläglich-kriminellen Substitut für die »glänzende Rolle«, die eine adlige Geburt ihm gewährt hätte, rächt sich Rinaldo unbewußt an dem Vorgehen der armen Pflegeeltern. Mays Wunsch, dem Weberelend zu entgehen, mehr zu sein als ein Weber und vor allem eine bessere Familiensituation zu haben, wird im Roman, trotz des unglücklichen Endes, glanzvoll eingelöst. Die armen (Pflege-)Eltern, die sich an dem Kind vergangen haben, werden mit Isotta und Prinz Nicanor getauscht. Die wahre Mutter und der wahre Vater schenken nun Rinaldo die wahre Liebe, die alles Räuber-Unglück verzeihen und vergessen läßt. Die Mutter hat ihren verlorenen Sohn wieder. Diese Hintergrundgeschichte greift das Drama Mays einer verfehlten familialen Sozialisation auf; auch in Mays eigenen Werken wird sie immer wieder (z. B. Old Surehand) zum Tragen kommen.


V I .  R ü c k z u g  u n d  E i n s a m k e i t

Ursache für Rinaldos Abgleiten in die Kriminalität ist aber nicht allein die vermeintlich niedere soziale Herkunft, sondern ebenso ein Wunschtraum und ein dementsprechendes Verhalten des literarischen Helden, was uns auch aus Mays Biographie bekannt ist. Wie May will Rinaldo nämlich dem sozialen Milieu entfliehen:

»Er war sehr wißbegierig und fühlte Trieb in sich, einst mehr als seine Brüder im Weinberge oder Ackerfelde zu leisten. Das brachte ihn dazu, den Umgang eines Eremiten zu suchen . . . Der Klausner, . . . , war ein Mann von Einsicht und Menschenkenntnis, der sein Einsiedlergewand nicht beständig getragen hatte. Er war der Welt erst entflohen, als er sie, wie er sagte, verachten gelernt hatte.«(24)

   Einen einfühlsamen Lehrer mit Menschenkenntnis dürfte sich auch der junge May in seiner schulischen und außerschulischen Sozialisation gewünscht haben. Der Umgang mit dem weltverachtenden Eremiten führt zur sozialen Isolation Rinaldos, zu einem Rückzug auf das


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Ich, der - verstärkt durch die einsame Lektüre von Ritterbüchern - die Ausbildung einer romantisch-heroischen Binnenidealität förderte:

Onorio »war sein Lehrer im Lesen und Schreiben; er erzählte ihm viel und gab ihm Bücher zu lesen, die der junge Rinaldo in seiner Einsamkeit verschlang. Diese waren eine Übersetzung der Lebensbeschreibungen des Plutarch, ein Livius, ein Curtius, Ritterbücher und Geschichtsschreiber Italiens. Alles, was Rinaldo in Büchern las, waren Taten (!), die seiner empfänglichen Einbildungskraft einen romantischen Heldenschwung gaben, der den sichtbarsten Einfluß auf seine Vorstellungen, Entschlüsse und Handlungen hatte«(25)

   Rinaldo (und mit ihm der Erzähler) interpretiert seine unbürgerliche Existenz als den Versuch, wenigstens auf unterer, krimineller Stufe diesen angelesenen "romantischen Heldenschwung", »sein Ideal« zu »realisieren«. Eine (nur zufällige?) Parallele zur Autobiographie Mays zeigt sich an dieser Stelle: Vulpius weist seinen Romanhelden als Opfer der Jugendlektüre aus, etwas, was ihm sein späterer Leser (und Kritiker) zurückgeben wird: der junge May als unschuldiges Opfer seines Romans. Die Neigung, sich aus der kränkenden Welt zurückzuziehen, dürfte May nicht nur in der von Vulpius referierten Lebensgeschichte Rinaldos bestätigend wiedergefunden haben, sondern auch unbewußt auf der Oberfläche der Romanhandlung. Was in der May- Forschung als »Kontaktschwäche« und als Rückzug auf das eigene Ich erkannt wurde, korrespondiert mit der im Roman dargestellten Lebens- und Wohnweise des edlen Räubers. Wie der Klausner Onorio (Eremiten in der Spannungsliteratur der damaligen Zeiten können geradezu als Figuren-Symbole für narzißtische Weltverachtung und Ich- Isolierung aufgefaßt werden) haust auch Rinaldo - halb gezwungen, halb freiwillig - vorzugsweise in unzugänglichen Höhlen und Ruinen:

»Auf der Spitze eines von den Bergen, unter denen man hier hauste, standen, von hohen Fichten beinahe ganz bedeckt, die Ruinen einer kleinen Raubfeste, in der ehemals ein . . . Wegelagerer . . . nistete . . . Weil jetzt der Platz einmal leer war, bevölkerte ihn die Furcht und die Liebe zum Sonderbaren mit Geistern, von deren Walten und Wesen die benachbarten Dorfbewohner gar viel zu erzählen wußten. Jedermann sprach von diesen Ruinen, aber keiner wagte es, sie zu besuchen.«(26)

   Diese, im Roman stets wiederkehrenden, stereotyp beschriebenen "verborgensten Schlupfwinkel der Berge" sind topographische und "symbolische" Darstellungen der inneren und sozialen Isolation Rinaldos. Sie haben sich May offenbar tief eingeprägt, denn noch in seinen Reiseerzählungen finden wir solche Berghöhlen-Nester.(27)

   Rinaldos Leben als out cast macht es ihm zudem unmöglich, feste Bindungen mit Frauen einzugehen. Selbst die Kameradschaft mit Spießgesellen wird durch die beständige Fluchtbewegung in der Hand-


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lung verhindert. Die letztlich durch die Verbrecherkarriere uneingelösten Sehnsüchte, dem romantischen Selbstbild zu genügen, sorgen zusätzlich dafür, daß Rinaldo auch seinerseits gar nicht sonderlich sich interessiert zeigt, sich mit den untergebenen Banditen ganz gemein zu machen.


V I I .  D e r  R ä u b e r  a l s  H e l d

Vulpius hat seinen Helden, und das wird May besonders zur identifikatorischen Lektüre angezogen haben, mit einem ambivalenten Charakter ausgestattet: einerseits ergeht sich Rinaldo angesichts seiner unglücklich kriminellen Existenz in Selbstmitleid, andererseits ermöglicht diese schreckliche, aber auch heroische Räuberrolle eine Aufwertung der narzißtisch strukturierten (literarischen) Persönlichkeit; Rinaldo kann - auch gegenüber Frauen - seine Allmachtsphantasien befriedigen, denn sein Ruf als Räuberhauptmann verleiht ihm dämonische Züge:

»"Du bist es", - stammelte sie, - "furchtbarer Mann, Du, der mich gerettet hat? O! sei ebenso großmütig, als du tapfer bist, sei ebenso gütig, als du furchtbar bist, handle edel gegen mich . . . Mißbrauche deine Gewalt nicht . . . !«"(28)

   Wo immer sich Rinaldo zu erkennen gibt, wirkt allein der Name magisch. Wie später bei Old Shatterhand erstarren seine Gegner vor Schreck und Bewunderung.

   Die gesamte Romanfabel durchzieht eine latente Aufwertung des Banditentums durch die schließlich gescheiterte Verbindung Rinaldos mit korsischen Freiheitskämpfern, die sein unerkannter Vater im Geheimen forciert. Vulpius läßt damit, trotz der Kriminalität Rinaldos, ständig durchblicken, daß edle Räuber auch dazu befähigt sind, als heroische und eindeutig bewunderungswürdige Freiheitskämpfer tätig zu werden.

"Nach Korsika. Zerbrich mit mir die Ketten meines Vaterlandes! Tausende fliegen uns zu, vereinigen sich mit uns, und dein jetzt so verrufener Name glänzt dann gefeiert und hoch in den Jahrbüchern der Korsischen Geschichte.«(29)


V I I .  S c h l u ß b e m e r k u n g

Karl May hat in keinem seiner vielen Werke, auch in denen der frühen Schaffensperiode (1875-1886) nicht, das Sujet des Räuberromans


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aufgegriffen und ausgefabelt. In der Kolportage-Fron bei Münchmeyer hätte es sich angesichts des Schreibzwangs und aus Gründen der Arbeitsökonomie angeboten, das durch die Jugendlektüre bekannte Schema des Räuberromans zu imitieren und zu erproben. Unter der Oberfläche, auf der Ebene des topischen Gebrauchs vieler Motive aus dem Reservoir der Räuberliteratur, hat "Rinaldo Rinaldini" May auch literarisch erheblich beeinflußt:

1. Die Jugendlektüre hat May nicht nur in den »Abgrund« der Kriminalität gerissen, sondern sie hat ihm auch den Weg in die Literatur gewiesen, mit deren Hilfe er später seine psychischen Konflikte kreativ verarbeiten konnte. Sein literarisches Ich-Ideal ist das Ergebnis eines langfristigen Lernprozesses: a) Nachdem May unter Angleichung an die Eigenschaften Rinaldos zeitweise das Leben nun einfach als Roman behandelte und straffällig wurde, hat er den Literaturhelden wieder in die Literatur zurückgeführt; b) aufgrund der im Zuchthaus aufgezwungenen Verhaltensänderung und gesellschaftskonformen Sozialisation hat May den narzißtischen Figurenentwurf eines Vulpius nicht einfach kopiert, vielmehr sind tunlichst alle kriminellen Elemente von May beseitigt worden; der Räuberhauptmann (als Vorlage) wird zum Heilsstifter. Der nachhaltigen und rigiden »Resozialisierung durch progressiven Strafvollzug« ist es wohl zu danken, daß May in literarischer Hinsicht nicht »rückfällig« wurde und regelrechte Räuberromane schrieb.

2. Helmut Schmiedt(30) urteilt: die »Handlungsschemata« der Räuberromane, »ihre gesamte Gedankenwelt blieben May verfügbar« für die eigene literarische Produktion. Eine »Fülle von Motiven« hat May wiederverwandt. Schmiedt nennt u. a.: das Motiv des verlorenen Sohnes, Rinaldos Neigung, »seine wahre Identität zu verbergen, bevor er seinen Namen zur allgemeinen Überraschung preisgibt«, die Verknüpfung des individuellen Schicksals mit politischen Bewegungen (s. z. B. Kara Ben Nemsis Kampf für die Dschesidi und gegen die türkische Obrigkeit u. v. m.). Die »Bevorzugung des Dialogs«, ein stilistisches Verfahren der Spannungsliteratur, ist bei Vulpius vorgeprägt, wobei im "Rinaldo" »ein Teil der Dialoge gar im Dramensatz notiert« ist.

   Eine genauere vergleichende Analyse könnte noch viele Anhaltspunkte für überdeutliche (literarische) Parallelen und Einflüsse zu Tage fördern. Ich möchte hier abschließend auf ein Motiv hinweisen, das May noch im Alterswerk wiederverwandte. Es ist m. E. ein weiteres Indiz dafür, wie mächtig dieser Räuberroman auf den "geläuterten Märchendichter" und dessen literarische Phantasie wirkte: die Dschemma der Toten in "Ardistan und Dschinnistan", eine um einen Tisch gruppierte Mumienschau, die Gericht über Lebende hält, ist in der Totengerippe-Galerie des Alten von Fronteja(31) vorgebildet.


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1 Christian August Vulpius: Rinaldo Rinaldini der Räuberhauptmann. Romantische Geschichte. Neu hrsg. und mit einem Nachwort versehen v. Karl Riha. Frankfurt a. M. 1980; das Titel-Zitat findet sich S. 510.

2 Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Königstein/Ts. 1979 S. 56

3 s. hierzu näher Eric J. Hobsbawm: Die Banditen. Frankfurt a. M. 1972

4 Hobsbawm S. 49

5 Vulpius S. 544

6 Vulpius S. 329f.

7 Vulpius S. 270

8 Oberlehrer Franz Langer (i. e. Karl May): Die Schund- und Giftliteratur und Karl May, ihr unerbittlicher Gegner. In: Karl Serden (Hrsg.): Schriften zu Karl May (Materialien zur Karl-May-Forschung, 2). Ubstadt 1975, S. 199ff.

9 Karl May: Mein Leben und Streben. Neu hrsg. v. Hainer Plaul. Hildesheim-New York 1975, S. 229

10 May: Leben und Streben, S. 76

11 May: Leben und Streben, S. 77

12 Vulpius S. 206

13 Claus Roxin: Karl May, das Strafrecht und die Literatur. In: Jb-KMG 1978, S. 24

14 May: Leben und Streben, S. 92

15 Jörg Hienger: Spannungsliteratur und Spiel. Bemerkungen zu einer Gruppe populärer Erzählformen. In: J. Hienger (Hrsg.): Unterhaltungsliteratur. Zu ihrer Theorie und Verteidigung. Göttingen 1976, S. 43

16 Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770 - 1910. Frankfurt a. M. 1970, S. 398

17 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1969,S. 501

18 Eckhard Lobsien: Theorie literarischer Illusionsbildung. Stuttgart 1975, S. 36

19 s. May: Leben und Streben S. 118

20 Roxin, Jb-KMG 1978, S. 21

21 Vulpius S. 305f.

22 Vulpius S. 510

23 Vulpius S. 513f.

24 Vulpius S. 305

25 Vulpius S. 305

26 Vulpius S. 453

27 Zu nennen sind hier der Ruh' i Kulyan im "Wilden Kurdistan; und die Wohnung Abd el Fadls in "Ardistan".

28 Vulpius S. 163

29 Vulpius S. 214

30 Schmiedt, S. 56ff.

31 Vulpius S. 437f.


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