//185//

HERMANN WIEGMANN

Rüdiger von Bechelaren, Max Piccolomini und Winnetou

Beobachtungen zum Topos vom Untergang des Schuldlosen



In der Literatur wird sehr häufig der Untergang des Schuldlosen thematisiert, in der Figur des Abel, der Iphigenie, der Philemon und Baucis, Rüdigers, Max Piccolominis, Winnetous, in den Legenden des Mittelalters, in den Martyrerdramen des Barock repräsentiert sich sehr eindringlich diese Situation. »Doch was hat er getan, das kann der Himmel nicht gewollt haben«, so formulieren sich die Klagen um das vorzeitige Ende eines Menschen, der nach allgemeiner Einschätzung unverdientermaßen stirbt bzw. untergeht. Dieses Motiv hat als Topos(1) seinen Platz in einer Unterart der epideiktischen Rede, der sogenannten consolatio(2) oder Trostrede, die sich im besonderen Maße mit dem Hauptvorwurf der Zuhörer beschäftigt, und ist zu Unrecht noch nicht näher untersucht worden. Die Keniter zitierten den Topos in argumentativer Absicht, wenn sie zur Zeit der Richter und Könige ihre Herden in der Nähe der Stämme Israels weideten und es ablehnten, seßhaft zu werden und Ackerbau zu treiben. Sie beriefen sich auf die Verfluchung Kains, ihres Stammvaters, der ein Ackerbauer gewesen war und Abel, den Hirten, erschlagen hatte. Das Blut des Unschuldigen rächte sich so, daß die Ackererde ihnen nicht mehr fruchtbar werde, wie sie sagten. Gottes Gnade und Gerechtigkeit zeigt sich für den Juden des Alten Testamentes nicht erst im Scheol, der in merkwürdiger Unbestimmtheit bei den jüdischen Jenseitsvorstellungen bleibt, sondern ist unmittelbar ablesbar im Wohlergehen auf Erden. Man erkennt diese Vorstellung noch deutlich im Hiob-Buch und zu Beginn neuzeitlich abendländischer Geschichte bei den von der AT-Theologie beeinflußten Calvinisten, welche die Prädestination auf die Probe stellten sozusagen durch ihrer Hände Arbeit: ein Grund etwa für den wirtschaftlichen Aufstieg der holländischen Generalstaaten zu dieser Zeit.

   Die Rechtssatzung im Deuteronomium zeigt, daß Gleiches mit Gleichem vergolten werden soll, wobei zu beachten ist, daß die Maxime


//186//

»Auge um Auge, Zahn um Zahn« schon eine fortentwickelte ethische Perspektive zeigt, die Übermaß von Vergeltung verbietet, wie sie in frühorientalischen Kulturen noch sanktioniert war. Kain wäre nach israelitischem Sippenrecht getötet worden - auf Mord folgt als Sühne Tötung - die Keniter empfinden so den historischen Fluch als Folge der Vergeltung durch den gerechten Jahwe. Das griechische Wort für Sünde und Schuld, wie es in der Dichtung der Antike verwandt wird, ist hamartia. Die hamartia ist nicht notwendigerweise sittliche Verfehlung, sonst wäre der Untergang verdiente Folge, sie ist aber auch keine Verfehlung, die nicht zurechenbar wäre, sonst wäre ein blind waltendes fatum grundzulegen, wie fälschlicherweise noch häufig die hamartia interpretiert wird. Hamartia bedeutet ursprünglich Erkenntnisblindheit. Sie hängt bei Aristoteles von ethos und dianoia ab; während ethos durchaus mit Charakter zu übersetzen ist, wenn beachtet wird, daß dann nicht die individuelle, nicht wiederholbare Besonderheit des Menschen begriffen wird, meint dianoia die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. In der Erkenntnisblindheit des Ödipus - er ehelicht unwissentlich seine Mutter und tötet seinen Vater - liegt ein möglicher Schuldanteil in einer mythologisch legitimierten Welt. Iphigenie dagegen, die unschuldigerweise geopfert werden soll, ist Opfer einer hamartia, welche dem Numinosen zu folgen glaubt und die von Göttern geheiligte Ordnung durch neue tiefere Schuld verletzt. Euripides hat die hamartia-Problematik grundlegender mit der Zentralthematik Wesen-Schein angesetzt, was Anne Pippin Burnett(3) bei der Analyse der euripideischen »Helena« nachgewiesen hat.

   Etwas ausführlicher soll jetzt der Befund an drei Beispielen verdeutlicht werden, um die historische Entwicklung und Bedingtheit des Argumentationshintergrundes zu veranschaulichen.

   Der Topos ist der nämliche, die Argumentationsbasis hat ihre spezifischen ästhetischen und gesellschaftlich-historischen Bedingtheiten.

   Die 37. Aventiure im Nibelungenlied(4) gilt der Konfliktsituation Rüdigers, vorbereitet wird die Pflichtenkollision in der 20. und 27. Aventinre. Kriemhild provoziert in der 20. Aventiure einen verfänglich werdenden Eid Rüdigers, dessen Inhalt sie in der 37. Aventiure in schicksalhafter Bedeutungsschwere interpretieren wird. In der 27. Aventiure bindet sich Rüdiger verwandtschaftlich(5) an die Wormser und übernimmt den Geleitschutz der Burgunden. Lehenseid und persönliche eidliche Verpflichtungen binden ihn so an die Hunnen, Gastgeber- und Geleitpflichten sowie familiäre Beziehungen an die Wormser. Als sich Rüdiger »vil trûreclîchen« zum Kampf gegen die Burgunden entschließt, hat er alles Für und Wider abgewogen, ohne den Konflikt lö-


//187//

sen zu können. Etzel gegenüber versucht er, in einem Akt der  d i f f i d a t i o(6) das Lehensverhältnis aufzukündigen. Als Kriemhild ihn ihrerseits an seinen Eid als Brautwerber erinnert, antwortet er: » . . . daz ich die sêle vliese, des enhân ich niht gesworn.«(7) Dennoch entscheidet er sich für die Lehenstreue, nach Wapnewski ist es auch nicht zweifelhaft, »wohin Rüdiger gehört, wem er auxilium zu leisten hat«.(8) Splett(9) wendet dagegen ein, daß die Rechtslage keineswegs eindeutig ist. Es ist auch zu fragen, ob Rüdigers Entschluß nur aus einem Plus an rechtlichen Notwendigkeiten zu deuten ist. Hinzu kommt, daß die Rüdiger- Gestalt innerhalb der archaisch-germanischen Sagen- und Figurenwelt eine Sonderrolle spielt, vergleichbar nur noch der des Berners. In der jüngeren Forschungsliteratur wird Rüdiger sowohl als »christliche Hinzugestaltung«(10) interpretiert wie auch als »höfischer Ehrgeizling«(11), der den »immanenten Angriff des Dichters auf die zeitübliche Rittervorstellung vom göttlichen ordo« veranschaulicht.

   Beide Interpretationen sind im Ansatz schon mit der Hypothek belastet, von einem modernen Dichter- und Dichtungsbegriff aus ein einheitliches Gesamtbild des Nibelungenliedes entwerfen zu wollen. Ein »junger Vorgang«(12) hat den Markgrafen Rüdiger in den Sagenkomplex hineingenommen. Das Nibelungenlied auf eine mögliche Gesamtidee hin zu interpretieren in offensichtlich harmonisierender Absicht, geht am Befund vorbei.

   Auch die Deutung des Zwiespalts als eines solchen zwischen höfisch-ritterlichem Ethos der endredaktionellen Zeit und dem germanisch-heidnischen Heldenkodex hat ihre Problematik. So deutet Harms etwa den Entschluß Rüdigers als Kapitulation eines »Christen in einem dem christlichen Ethos fremden Handlungsraum«.(13) Weber dagegen urteilt, daß sich die Entscheidung Rüdigers eindeutig »nach der Richtschnur diesseitig-gesellschaftlichen Wertmaßstabes«(14) vollzieht, die Wahrung der Ehre in der Welt sei oberstes Gesetz, ähnlich hatte schon vor langer Zeit Lämmerhirt(15) geurteilt. Dazu ist zu sagen, daß dann einerseits der Zwiespalt, der Gesamtthematik des gewaltigen Epos hätte sein können, hier sozusagen episodisch in einer Nebenfigur ausgetragen würde, was - modern gesprochen - eingehend hinsichtlich der Perspektive eines impliziten Autors zu erläutern wäre und eben - zu modern gedacht ist. Andererseits ist das Gewicht der tradierten Sagenquellen zu berücksichtigen. Als älteste Quelle, die von einem Markgrafen Rüdiger berichtet, sind wohl die Quirinalia des Metellus Tigurinus anzusehen, die um 1160 zu datieren sind.(16) Geschichtliche Vorbilder werden etwa im Normannenkönig Roger II oder im Herulerkönig Rudolf vermutet, doch wird auch immer mehr


//188//

eine These beachtet, die unterstellt, daß sich eine lokale Tradition in Niederösterreich mit dem translokalen Vorbild des Cid, des spanischen Nationalhelden Rodrigo Diaz verbunden hat.(17) Ähnliche Überlegungen werden zu literarischen Vorbildern angestellt. Sehr viel Wahrscheinlichkeit hat für sich, wenn die Gestalt des Ogier li Danois des Renaus de Montauban als Modell genannt wird, auffallende Parallelen können eine Nachbildung des szenischen Instrumentariums bestätigen.(18) Dabei ist auch Neumanns Hinweis zu beachten, daß der Entschluß Rüdigers sich glücklich einer wünschenswerten epischen Dramaturgie fügt. So könne die »episch überfüllte Kampfbühne«(19) geleert werden. Das ist freilich nur vom Handlungsnexus her gedacht, die eigentlich tragische Situation, um die es hier geht, ist nicht von der epischen Pragmatik her aufzulösen.

   Es gibt nun einen Vorfall in der 37. Aventiure, der im Zusammenhang mit der tragischen Pflichtenkollision bei Rüdiger weiteren Aufschluß geben kann. Obwohl sich Rüdiger gegen die Burgunden wendet, wird im Gespräch mit den Burgundenführern gegenseitige Wertschätzung offenbar, wenn auch Giselher das verwandtschaftliche Verhältnis aufkündigt. Hagen verschafft Rüdiger durch die symbolische Geste der Schildbitte die Möglichkeit einer noblen Tat, welche allgemeine Anerkennung (der werlde huld) nach sich zieht. Rüdiger erhält seine Aristie, fällt durch Gernot und wird allgemein aufrichtig beklagt. Daß nun ausgerechnet Hagen, Inbegriff der Vasallität, der als Lehnsmann auch den Mord an Siegfried nicht gescheut hat, um seinen Herren zu dienen, jetzt eben diesen Herren der Freundestreue wegen die Pflicht aufsagt (» . . . daz nimmer iuch gerüeret in strîte hie mîn hant, ob ir si alle slüeget die von Burgonden lant. «)(20), zeigt - was Splett richtig sieht - »wie sehr sich das Handeln der Personen nach der jeweiligen Situation richtet«.(21)

   Nun können diese Beobachtungen insgesamt nicht dazu verführen, Rüdiger als individuellen Charakter im Sinne modernen Dichtungsverhältnisses zu interpretieren, ihn gar unbefangen zu psychologisieren. Die Modalität des Tragischen, die sich hier offenbart, erinnert an Hegels Deutung der sophokleischen Antigone. In der "Antigone" kollidieren zwei Rechtsrealitäten, die beide berechtigte ethische Geltung beanspruchen dürfen. Antigone erweist sich als Hüterin der Blutsbande, Kreon erscheint als Vertreter nicht-chthonischer rationaler Ordnung, die Einseitigkeit einer als Totalität auftretenden Rechtsposition wird durch ihren Gegensatz dialektisch versöhnt.

   In der Konfliktsituation Rüdigers offenbaren sich auch konkurrierende Rechtsrealitäten, freilich sind diese - wie schon gesagt - nicht


//189//

quasi-juristisch auszutragen, sondern wirklichkeitsbestimmende Seinsrealitäten. Heinrich Weinstock hat einst mit Recht Deutungen der Hegelschen Dialektik kritisiert, die den geschichtsphilophischen Seinsbegriff simplifizierten:

» . . . was bei ihm tragischer Bau der Welt war, wird nun in einem moralistischen oder psychologistischen Fall versimpelt. Die Hegelsche Schuld des Seins wird den Charakteren in die Schuhe geschoben.«(22)

   Rüdiger ist der in tragische Verpflichtung verstrickte Unschuldige. Auch eine mögliche Neutralität wäre Pflichtverletzung, der Kampf gegen Freund und Gast bedeutet wiederum neue schuldhafte Verstrickung. Da gibt es keinen gordischen Knoten, der zu zerhauen wäre. Es gibt für Rüdiger keinen christlich motivierten Kampfverzicht, wenn er »christliche Hinzugestaltung« wäre - wie Nagel sagt -, müßte doch gerade dann die 37. Aventiure anders ausgehen, Nagel argumentiert hier mit einem gedanklichen Salto mortale gegen sich selbst.

   Es bleibt die Schuld des Seins, die Modalität des Tragischen, die den Unschuldigen in einer schuldhaft verstrickten Wirklichkeit zur Erklärung fordert, der er nicht entgehen kann. Rüdiger ist kein Macbeth und kein Wallenstein, die ihre Schuld zu verantworten haben. Der Horizont mittelalterlicher Ehrvorstellung bestimmt seinen Untergang. Die Klage über Rüdiger kann auf den Topos vom Untergang des Schuldlosen zurückgreifen, indem sie ihm als exemplarische Figur der Pflichttreue und Ehre eine Aristie verschafft, die auffälligerweise die rhetorisch überzeugendste Aventiure für sich fordert. Keine andere Aventiure ist argumentativ durchstrukturierter und kaum eine andere emotionsengagierender und affektiv anfordernder. Im Untergang der Schuldlosen zeigt sich die »Schuld des Seins« um so eindringlicher. Nicht die christliche ordo-Vorstellung des Mittelalters dominiert hier die Tragik, sondern die sagenbedingte Grundlegung des Epos.

   Im barocken Martyrerdrama dagegen geht es um die christlich interpretierte constantia, die eigentliche Tragik fehlt, da der Untergang gar kein Untergang ist. Man sieht, von welch unterschiedlichen gesellschaftlich-historischen Bedingtheiten die Argumentationsgrundlage dieses Topos abhängig ist. Bei der Figur des Max Piccolomini ist der klassische Interpretationszusammenhang zu befragen.

   Max Piccolomini erfährt im fünften Aufzug der "Piccolomini" von seinem Vater und in den Gesprächen mit Wallenstein in "Wallensteins Tod" von diesem selbst vom ganzen Ausmaß seiner tragischen Konfliktsituation. Seinem Vater gegenüber vertritt er gegen allen Schein des Unrechts die Position Wallensteins und wirft Octavio Intrigen vor.


//190//

Erst die Gespräche mit dem Feldherrn klären die Tatsächlichkeit des unausweichlichen Konflikts, Empörung gegen den Kaiser kann er noch verzeihen, wenn auch nicht billigen, Verrat aber nicht. Max steht zwischen der gottgewollten Ordnungsmacht, die er hinter dem Kaiser sieht und dem er im Eid verbunden ist, auch seiner Beziehung zum Vater, und seiner verehrungsvollen Zuneigung zu Wallenstein, seinem geistigen Vater, dem Vater auch seiner Geliebten. Max muß einen Entschluß treffen hic et nunc, auch Rüdiger konnte den Entschluß nicht aufschieben. Der Konflikt, in dem sich Max befindet, kann sich klären im Vergleich mit der Konfliktsituation Wallensteins. Wallenstein als die Zentralfigur ist der politisch Agierende, seine Persönlichkeit nimmt bestimmenden Einfluß auf das gesamte Heer, das Schicksal seiner Familie, seiner hohen Offiziere hängt mit seinem zusammen. Wallenstein wird nun durch Intrigen, Kränkungen, die Gefahr möglicher Absetzung zum Versuch getrieben, seine Gedankenspiele zur Tat werden zu lassen, bestärkt in entscheidender Weise durch seinen Sternenglauben, der ihn von seiner cäsargleichen historischen Funktion überzeugt. Das Spiel mit der Versuchung verdichtet sich plötzlich zu einem verderblichen Gewebe von Schuldverstrickung, die er nicht ernsthaft so geplant hat:

Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht
Mein Ernst, beschloßne Sache war es nie.(23)

   Dennoch wird Wallenstein schuldig vor seinem endgültigen Entschluß, mit den Schweden zu paktieren. Er spielt schuldhaft mit seinen Möglichkeiten, verrechnet auch Thekla in sein politisches Kalkül und setzt dabei ihr Glück aufs Spiel. Im Zweckdenken selber liegt ja schon die Möglichkeit schuldhaften Irrens und Tuns. Wer zudem handelt, insbesondere geschichtsmächtig handelt, wird als Mächtiger selbst dort schuldig, wo beim Verfolgen eines guten Zwecks die Rechte Weniger verletzt werden, was Reinhold Schneider die Tragik der Mächtigen genannt hat.

   Im Hegelschen Sinn bedeutet zudem die zwangsläufige Einseitigkeit individuellen Handelns, das Prinzip der Besonderung die Entzweiung des Sittlichen. Max dagegen lebt in einer Welt, die sich noch »rein bewahrt« hat. Nach der Offenbarung des Konflikts erscheint die Liebe als das einzige reine Wahre in einer entweihten schuldhaften Welt. Max ist der unschuldig in einen Konflikt Hineingestoßene:

Doch wie gerieten wir, die nichts verschuldet,
In diesen Kreis des Unglücks und Verbrechens?(24)


//191//

   In diesem Zusammenhang sieht Benno v. Wiese richtig, daß es gar nicht selbstverständlich ist, daß Max sich von Wallenstein löst. Wallenstein war sein eigentlicher Vater, Modell der Lebensführung:

 . . . Auf dich nur braucht ich
Zu sehn und war des rechten Pfads gewiß.(25)

   Nun sind ihm die Prinzipien des rechten Lebens erschüttert, kann nicht auch das Vertrauen auf die gottgewollte Ordnungsmacht falsch sein?

 . . . es erheben
Zwei Stimmen streitend sich in meiner Brust,
In mir ist Nacht, ich weiß das Rechte nicht zu wählen.(26)

   Die tragische Konsequenz ist der Untergang, im Kampf gegen den erklärten Landesfeind entgeht er der möglichen Schuldverstrickung einer kriegerischen Auseinandersetzung mit den durch Octavio und Wallenstein repräsentierten Parteien, diese Chance hatte Rüdiger nicht. Wer will, kann mit einem gewissen Recht auch den "Wallenstein" als klassisches Drama insofern in seiner Vermittlung zur Antike begreifen, als hier zwar der hamartia-Begriff in seiner mythologischen Deutung umgewandelt ist, aber »Schuld« - in Anführungsstrichen! - bei Max in falscher Erkenntnis liegen kann, die bei ihm besonders deutlich in der Verkennung der Charaktere Wallensteins und Octavios bemerkbar wird, andererseits ist Vertrauen als Bestandteil des ethos nur sehr bedingt als Schuldhaftigkeit auszulegen, da es eben keine reine Vertrauensseligkeit sein muß. Freilich, kein Mensch kann einen anderen ganz begreifen, auch den geliebten nicht, so kann Mißverstehen schon falsches Verhalten initiieren, das schuldstiftend ist. Das ist aber letztlich nach Weinstocks Worten Schuld des Seins, und keine charakterliche Verfehlung.

   Bei Schiller veranlaßt die Vorstellung fremden Leidens, in diesem Falle des Leidens Unschuldiger, das Erhabene als Bewußtsein unseres intelligiblen Vermögens. Zum Pathetisch-Erhabenen werden zwei Hauptbedingungen gefordert:

»E r s t l i c h  eine lebhafte Vorstellung des  L e i d e n s ,  u m  d e n  m i t l e i d e n d e n  A f f e k t  i n  d e r  g e h ö r i g e n  S t ä r k e  z u  e r r e g e n.  Z w e i t e n s  eine Vorstellung des  W i d e r s t a n d e s  gegen das Leiden, um die innre Gemütsfreiheit ins Bewußtsein zu rufen. Nur durch das erste wird der Gegenstand  p a t h e t i s c h, nur durch das zweite wird das Pathetische zugleich erhaben.«(27)

Der Topos gerät hier zum nachdrücklichsten dramaturgischen Mo-


//192//

ment, das Pathetisch-Erhabene betreffend. Hatte Schiller, um das tragische Vergnügen vollkommen zu machen und den Zuschauer nicht zu nötigen, ein oszillierendes Gleichgewicht zwischen der moralisch-objektiven Wertschätzung und der gefühlsmäßigen Anteilnahme für die Figuren aufrechtzuerhalten sich bemüht, wie K. L. Berghahn(28) richtig beurteilt - man vergleiche die relativ bedenkliche Präsentation Octavios und die durchaus sympathische Darstellung Wallensteins - , so ist in der Figur des Max die dialektische Alternative gegeben, wie ich meine. In der Vielfalt der argumentativen Möglichkeiten und gefühlsmäßigen Bindungen innerhalb dieses Versuchs ästhetischer Objektivierung bringt der Untergang des Schuldlosen kontrapunktisch die Schuld der Hauptfiguren verschärft zur Sprache.

   Beim Tod Winnetou gewinnt der Topos mehrdeutige Funktion, da der individuelle Untergang hier nicht die Wucht unausweichlicher Notwendigkeit erhält, sondern wie zufällig erscheint und damit um so beklagenswerter. Andererseits aber ist hier zweifellos repräsentativ in der Figur Winnetou der Untergang der roten Rasse insgesamt symbolisiert. Dieser Untergang ist in Intschu-tschunas Sohn exemplarisch und konstitutiv angelegt und wird in den Romanen Karl Mays, die im Wilden Westen spielen und den Tod Winnetou schon voraussetzen, häufiger in ethischer Absicht zitiert.

   Das Exemplarische der Figur Winnetou erhellt sich auch von daher, daß er - vergleichbar Natty Bumppo, dem Pfadfinder James Fenimore Coopers(29) - dem Privaten enthoben ist. Nur ansatzweise erleben wir ihn in der Atmosphäre von Familien- und Stammesbindung beim Kennenlernen Old Shatterhands, nur ansatzweise und für den Leser recht überraschend wird später das versagte Glück privater Liebeserfüllung mit Ribanna, der Tochter Tah-scha-tungas, präludiert. Durchweg aber erleben wir Winnetou wie auch den Pfadfinder, der auf Mabel verzichten muß, in Situationen, in denen sie Recht, Glück und Leben anderer schützen und bereiten. Auffällig ist denn auch, daß Winnetou nie heftiger reagiert - und für einen Moment verblaßt das Bild des »edlen Wilden« - , als er Tom Finneteys Kopfhaut nimmt, d. h. in einer Situation privater Leidenschaft, die ex negativo die generelle Bedeutung seiner modellhaft-repräsentativen Funktion unterstreicht. Ihn trifft auch ein anonymer Schuß. Nicht Santer, der Mörder Intschu-tschunas, darf die Genugtuung haben, auch noch Winnetou getötet zu haben, kein noch so renommierter, weniger skrupelloser Gegner darf es zudem sein. Die Legende Winnetou erfordert die Konsequenz einer anonymen Kugel.

   Winnetou fällt im Kampf gegen die Ogellalah. Er hat nie zwischen


//193//

Rot und Weiß getrennt und gewertet, sondern Edle und Schurken unterschieden, obwohl er - wie in allen Romanen, in denen Winnetou auftritt - die unrechtliche Landnahme scharf kritisiert. So ist hier auch nicht die Notwendigkeit und Fatalität gegeben, wie sie Rüdiger und Max Piccolomini anfordert, sich zwischen Freund und Freund zu entscheiden. Der Topos vom Untergang des Schuldlosen wird zu Beginn der Neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts - in dieser Zeit entstand der "Winnetou"- mit stärkerer Zuwendung zu plausibler Realität zitiert, andererseits liegt es in der Intention des Gesamttextes, den Gegensatz Rot und Weiß zu korrigieren auf den Gegensatz Gut und Böse, der quer zu allen Rassen und Hautfarben verläuft.

   Individuell-konkretes Einzelschicksal und exemplarische Bedeutung dieses Schicksals sind in der argumentativen Intentionalität dieser Textpassage gleichermaßen präsent, der damit auch eine spezifische oszillierende Dialektik auch beim zweiten und dritten Lesen bewahrt bleibt. Walter Killy(30) hat gerade die Passage vom Tode Winnetou als Kitsch vorgestellt. Er verkennt, daß hier die wie mögliche Klischees wirkenden Versatzstücke menschlicher Erfahrung nicht kulminieren wie im Kitsch, sondern die rhetorische Affekterregung auf Ablösung angelegt ist, wie es Gert Ueding richtig gesehen hat. Winnetou ist tot, und sehr rasch trägt der Text den praktischen Anforderungen der Alltags- und Abenteuerwirklichkeit Rechnung. Mancher Leser mag gar von der Nüchternheit und Realistik der Folgeseiten überrascht, gar befremdet sein.

   Wenn Karl Mays Romane, wie Gert Ueding urteilt, literarischen Tagtraumcharakter haben, insofern Anteil am ästhetischen Vorschein besitzen, als sie über die krude, verengte, bedrückende Alltagswirklichkeit utopischen Vor- und Gegenentwurf bedeuten mit aller impliziten Kritik an der vorhandenen faktischen Wirklichkeit, dann sind die »einzelnen Elemente des Traums« auch mehrdeutig und bezeichnen nicht »einsinnig eine bestimmte Sache«.(31) Dann ist derTopos vom Untergang des Schuldlosen im Falle Winnetou nicht aus resignativer Absicht eingesetzt - nur der Kitsch beruhigt in versöhnender Absicht -, sondern ist in seiner ästhetisch kritischen Funktion gegen verhängtes Schicksal formuliert. Der Hancock-Berg im Wilden Westen signalisiert die Utopie des Topos, Radebeul dagegen ist kein Traum, sondern nur Alltag.

   Die Moderne interessiert der Topos insbesondere hinsichtlich der milieu- und anlagebedingten Nicht-Verantwortlichkeit. Ibsen formuliert zu Beginn des modernen Dramas etwa in der Figur des Oswald in den "Gespenstern" diese Argumentationsrichtung, die Vergangenheit


//194//

dominiert die Gegenwart, ist im Falle Oswalds verantwortlich für seinen Untergang. Bei Franz Biberkopf ist es das Milieu etwa, das schicksalhaft bestimmend wird. Noch in Hemingways "Haben oder Nicht- Haben" ist diese Variante deutlich dominierend. »Man hat keine verfluchte Chance nicht«, läßt Hemingway den Helden am Schluß sprechen.

   Damit ist wieder die geschichtliche Schuld des Seins angesprochen, deren Rätsel Bloch als Ur-Vorher, als anfängliches »Inkognito des Daß«(32) am Beispiel der Baader, Böhme, Schelling formuliert hat. Die Welt sei ein Detektionsphänomen, deren dunkler unheilvoller Ursprung erst aufzuklären sei. Schuldlosigkeit ist Utopie, sie wird in ästhetischer Versöhnung definiert.



1 Definition und Verständnis des Toposbegriffs sind umstritten, man vergleiche M. L. Baeumer (Hrsg.): Toposforschung, 1973. Für unseren Zusammenhang genügt es, sie allgemein als sedes argumentorum, als Fundgruben für den argumentativen Aufbau einer Rede - wie sie Quintilian bezeichnet hat - zu verstehen.

2 Die consolatio kann dabei auf die loci a persona zurückgreifen, hinsichtlich der Fortuna etwa. Zu den einzelnen Fundstellen der Argumentationsgründe vgl. Quintilian: Institutionis Oratoriae Libri XII, 5,10. In diesem Falle ist gemeint, daß sich für die Trostrede Argumente von der fortuna, vom Schicksal, Glück her erschließen lassen.

3 A. P. Burnett: Euripides' Helena. Eine Ideenkomödie. In: Wege der Forschung, Bd. 89. Darmstadt 1966

4 Das Nibelungenlied wird nach der von Helmut de Boor herausgegebenen Bartsch- Ausgabe zitiert: H. de Boor (Hrsg.): Das Nibelungenlied. In: Deutsche Klassiker des Mittelalters, begr. v. F. Pfeiffer, 19. Aufl. 1967

5 Zur Effektivität und zum Grad der verwandtschaftlichen Beziehungen vgl. Peter Wapnewski: Rüdigers Schild. Zur 37. Aventiure des Nibelungenliedes. In: Euphorion 54 (1960), S. 380-410

6 Diffidatio meint hier die Auflösung des Lehnsverhältnisses. Vgl. dazu Heinrich Mitteis: Rechtsprobleme im Nibelungenlied. Juristische Blätter 74,1952 Wien; vgl. ferner H. Mitteis: Lehnsrecht und Staatsgewalt, 1933, F. L. Ganshof: Was ist das Lehnswesen? 1961

7 a.a.O. S. 337, Strophe 2150

8 Wapnewski a.a.O. S. 391

9 Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren. Studien zum zweiten Teil des Nibelungenliedes, Diss. Bonn. 1967, S. 391, 401f.

10 Bert Nagel: Das Nibelungenlied. Stoff-Form-Ethos, 1965, S. 206; vgl. ders.: Heidnisches und Christliches im Nibelungenlied, Ruperto-Carola 10 (1958), Bd. 24, S. 61-81

11 Gottfried Weber: Das Nibelungenlied. Problem und Idee, 1963, S. 98

12 Friedrich Neumann: Das Nibelungenlied in seiner Zeit, 1967, S. 91

13 Wolfgang Harms: Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300. In: Medium Aevum, Phil. Studien, hrsg. v. Fr. Ohly, K. Ruh, W. Schröder, Bd. 1 (1963), S. 40

14 Weber a.a.O. S. 91f.

15 H. Lämmerhirt: Rüdiger von Bechelaren. ZDA 41 (1897), S. 5

16 Vgl. dazu P. Ch. Jacobsen: Die Quirinalien des Metellus von Tegernsee, 1965

17 Vgl. Splett a.a.O. S. 25 - 43

18 Vgl. Friedrich Panzer: Studien zum Nibelungenliede, 1945, S. 42 - 72; ders.: Das Nibelungenlied. Entstehung und Gestalt, 1955, S. 421 - 24


//195//

19 Neumann a.a.O. S. 97

20 a.a.O. S. 345, Strophe 2201

21 Splett a a.O. S. 98

22 Heinrich Weinstock: Sophokles, 1931

23 Zitiert nach G. Fricke/H. G. Göpfert (Hrsg.): Friedrich Schiller, Sämtliche Werke 2. Band (1965), 5. Aufl. München 1974, S. 414

24 a.a.O. S. 483

25 a.a.O. S. 432

26 a.a.O. S. 489

27 a.a.O. Bd. 5, S. 512

28 Klaus L. Berghahn: "Das Pathetischerhabene". Schillers Dramentheorie. In: R. Grimm (Hrsg.): Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1973, S. 240

29 James Fenimore Cooper: Der Pfadfinder (The Pathfinder, 1840). Frankfurt a. M.

30 W. Killy: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen. Göttingen 1961

31 Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt a. M. 1973, S. 160

32 Ernst Bloch: Literarische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1965, S. 260


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz