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HELMUT SCHMIEDT

Helmers Home und zurück

Das Spiel mit Räumen in Karl Mays Erzählung "Der Geist des Llano estakado"*



Das Auffinden einer skalpierten Leiche war an
sich natürlich keineswegs geeignet, die Brüder
heiter zu stimmen.(1)

Als 1971 das zweite Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft erschien, schrieb Urs Widmer, der Rezensent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", dazu unter anderem folgendes: »( . . . ) das ganze Werk Mays (ist) eine einzige Flucht. Es wird ja nur gereist, es gibt, soweit ich mich überhaupt erinnere, kein Buch, in dem  g e b l i e b e n  wird. Immer ist der Held vor seinen Ängsten und hinter seinen Sehnsüchten her.«(2) Mit diesen Worten hat Widmer eine Einsicht zusammengefaßt, die inzwischen zum Gemeingut der Forschung geworden ist: ein erstes, auffallendes Kennzeichen aller May-Romane ist die ständige Bewegung durch weiteste Räume, durch ganze Länder und Kontinente; und in dieser Reiselust des Helden haben wir eine Reaktion auf die Einengungen und Bedrängnisse psychischer und sozialer Art zu entdecken, denen der Schriftsteller Karl May zeit seines Lebens ausgesetzt war. Geblieben wird in der Tat nicht: das unentwegte Erreichen neuer Orte, sei's auf vorher geplanten Wegen, sei's bewirkt durch unkalkulierbare Abenteuer, signalisiert einen unbändigen Freiheitsdrang, der ein Verharren nur zum Zwecke der Vorbereitung weiterer Reisebewegungen akzeptiert. Nicht von ungefähr tragen die ersten fünf Bände der Gesammelten Werke Mays schon in ihrem Titel das Zeichen eines permanenten Raumwechsels, statt daß sie von Personen, Sachmotiven oder Zeiten redeten; nicht zufällig nannte Volker Klotz seinen frühen Karl-May-Aufsatz "Durch die Wüste und so weiter" und identifizierte darin als »Aventiureprinzip der Mayschen Abenteuerromane« die »Ereignisfolge und Bewegung im Raum«.(3)

   Nun ist freilich der stetige Wechsel des Handlungsraumes alles andere als ein spezielles Charakteristikum nur der Mayschen Romane,

* Vortrag, gehalten auf der Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Berlin am 2. Oktober 1981.


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auch wenn sie in dieser Hinsicht besondere Eigenheiten zu bieten haben. Er ist wohl vielmehr, wenn man das einmal grob pointieren will, ein Kennzeichen der erzählenden Großformen schlechthin, ein Merkmal, das in der Regel den Roman von anderen literarischen Gattungen, wie dem Drama, deutlich zu trennen vermag. Während das traditionelle Schauspiel ein auf einen Ort konzentriertes Geschehen auf das an einem anderen folgen läßt, entwickelt der Roman seine Handlung zumeist aus den greifbaren Verbindungen, die zwischen den Orten bestehen.(4) Hans Mayer hat in diesem Zusammenhang die These aufgestellt, daß die deutsche Kleinstaaterei mit ihren zahllosen Grenzpfählen für das oft beklagte Defizit der deutschen Romanliteratur vergangener Jahrhunderte verantwortlich sei: wo der Raum zur freien Bewegung fehlt, da fehlt auch die Grundlage zu einer umfassenden Romantradition, falls diese sich nicht auf die Flucht in exotische, abgelegene Fernen konzentriert, wie das seinerzeit etwa in den beliebten Robinsonaden geschah.(5) Aber man darf das Bewegungsprinzip nicht zu einseitig verstehen: der Roman verzeichnet nicht nur die Möglichkeiten des Raumwechsels, er setzt sich auch auseinander mit den erzwungenen oder freiwilligen Hemmungen solcher Bewegung, und er reagiert in den Details seiner Faktur auf diese Beschränkung. Die Ilias und die Odyssee - der allzu verriegelte und der allzu offene Raum - sind schon fast ein Modell für die diversen Entwürfe der Epik, und es dürfte kein unangemessener Vorschlag sein, bei der analytischen Annäherung an Werke der Gattung noch stärker als bisher auf deren Umgang mit Räumen zu achten. In Goethes "Wilhelm Meister" entspricht der stetig fortschreitenden, freilich auch von unvorhersehbaren Unterbrechungen begleiteten Reise des Protagonisten seine innere Entwicklung, sein Fortschritt an Wissen und Humanität; umgekehrt verweist die Unfähigkeit der Helden des "Werther" und der "Wahlverwandtschaften", sich vom Zentrum ihrer Erlebnisse längerfristig zu entfernen, auf die Unvermeidbarkeit der Katastrophe, die ihnen zuteil wird. Es gibt den schwer nachvollziehbaren, weil nahezu irrlichternden Raumwechsel, wie er sich z. B. in Wezels "Belphegor" vollzieht; es gibt den von der Außenwelt abgeschlossenen, hermetischen Raum verschiedener Größe und Beschaffenheit, der uns in so unterschiedlichen Romanen wie Albert Camus' "Die Pest" und Thomas Manns "Zauberberg" begegnet, desgleichen in zahlreichen Kriminalromanen etwa von Agatha Christie, wo eine vom Festland abgeschnittene Insel oder ein im Schnee steckengebliebener Zug zum alleinigen Schauplatz der Ereignisse wird; eine makabre Steigerungsform des Motivs ist das in diesem Genre so beliebte geschlossene Zimmer: darin liegt ein Toter, und


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Türen und Fenster sind von innen verriegelt. Wir kennen den relativ begrenzten, intern aber ungeheuer differenzierten Raum, wie ihn Victor Hugo in "Notre-Dame" und Gaston Leroux im "Phantom der Oper" vorführen; wir kennen den nach außen isolierten Raum, der aber in mannigfacher Weise mit der Umwelt kommuniziert. Gerade hier dürften, bezogen auf unser Thema, interessante Fälle zu entdecken sein: ich nenne das Beispiel des Blechtrommlers Oskar Matzerath, dessen in eine Heil- und Pflegeanstalt eingezwängte Existenz erst die Perspektive zur Schilderung seiner früheren Abenteuer liefert; Boccaccios "Decameron", in dem die Isolation zum Anlaß für ausufernde Lebensfreude, und de Sades "Sodom", da eine andere Einschließung zum Ausgangspunkt für Perversionen, Folter und Tod wird, wobei jeweils die Außenwelt durch Erzählungen der von ihr Abgeschnittenen integriert wird; und ich nenne Karl Mays "Old Surehand II", wo in einer engen Wirtsstube mittels der Schilderungen einiger Gäste Abenteuer von jener Art präsent sind, wie sie manchen Anwesenden bald realiter begegnen werden, wo also die Struktur der draußen angesiedelten Zentralhandlung innen durch die Berichte zu ganz anderen Ereignissen angedeutet und z. T. schon vorweggenommen wird.(6) Mays "Ardistan und Dschinnistan" endlich skizziert in einem ambitionierten Entwurf den Weg durch den Raum als einen durch die historische Zeit: die Reise Kara Ben Nemsis ist hier eine, die vergangene und künftige Epochen der Weltgeschichte berührt.

   In Mays früheren Abenteuerromanen und zumal den für die Jugend bestimmten Erzählungen vom Typ des "Schatz im Silbersee" scheinen die Dinge auf den ersten Blick recht einfach zu liegen. Durch einige geographisch mehr oder weniger exakt fixierbare Gegenden der Exotik bewegt sich eine Reihe abenteuerlustiger Menschen von höchst unterschiedlicher moralischer Gesinnung; ihr herausragender Repräsentant, das Muster an Leistungskraft und Ehrbarkeit, setzt sich später an den Schreibtisch und berichtet darüber, teils aus der Ich-Perspektive, teils - wie in der hier zu besprechenden Erzählung vom "Geist des Llano estakado" - als außenstehender auktorialer Erzähler. Aber es scheint eben nur so, als sei das Spiel mit dem Raum hier eine ganz nebensächliche Angelegenheit, die lediglich den schon angedeuteten Freiheitsdrang signalisiert und die Analyse nicht weiter lohnt; wenn das grundlegende Prinzip der Raumgestaltung von den eben erwähnten Fällen weit entfernt ist, so werden wir den Blick um so intensiver auf die Details richten. Wie konstruiert der Erzähler Karl May seine Räume, welche Qualität besitzen sie und welche Funktion für das Gesamt des Romans? Gibt es bei ihm so etwas wie - ich zitiere


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einen Buchtitel von Gaston Bachelard - eine "Poetik des Raumes"?

   Die Erzählung vom "Geist des Llano" führt uns zunächst auf die Niederlassung des deutschen Emigranten Helmers: sie liegt am Rand des gefürchteten Llano estakado, einer amerikanischen Wüstenlandschaft, die deshalb so gefährlich ist, weil oftmals Banditen die Pfähle, die als Wegmarkierung dienen, herausziehen, an falscher Stelle wieder einsetzen und den Reisenden damit in die Irre und ins Verderben locken. Zu Beginn der geschilderten Ereignisse treffen auf Helmers Home einige Gäste ein: der Hobble-Frank, ein etwas skurriler, aber überaus ehrenwerter Westmann, der Neger Bob und Bloody-Fox, ein junger Mann, der einst das Opfer eines gräßlichen Verbrechens war, an dessen Einzelheiten er sich nicht erinnern kann. Nach einiger Zeit erscheint ein weiterer Gast, der, anders als die vorher gekommenen, sogleich für unliebsames Aufsehen sorgt: er nennt sich Tobias Preisegott Burton und gibt sich als Mormonenprediger aus. Der Farmer Helmers mißtraut ihm wegen seines unangenehmen Gesichts und der offensichtlich falschen Aussage, er, Burton, reise zu Fuß durch die Lande; der Neger Bob glaubt in Burton einen Mann zu erkennen, der vor einiger Zeit unter dem Namen Weller den Bärenjäger Baumann bestohlen hat, während Bloody-Fox sich vergeblich darauf zu besinnen versucht, unter welchen Umständen, die jedenfalls sehr unerfreulicher Natur waren, er den Fremden schon einmal gesehen hat. Klarer liegen die Verhältnisse, als einige Zeit später ein wiederum angenehmer Gast eintrifft, ein Westmann namens Juggle-Fred, und dann - es ist jetzt schon Abend geworden - noch ein Fremder, den Bloody-Fox per Indizienbeweis eines Mordes überführt und den er in einem Duell unter Fackellicht erschießt. Während dieses Zweikampfes gelingt es dem angeblichen Mormonenprediger, sich heimlich zu entfernen. Falls er tatsächlich etwas auf dem Kerbholz hat, wird sich, so steht zu hoffen, der berühmte "Geist des Llano" seiner annehmen, eine rätselhafte Erscheinung, die schon viele Llano-Banditen durch einen Schuß in die Stirn getötet und manche ihrer Opfer gerettet hat.

   Betrachten wir die Raumverhältnisse im Zusammenhang mit dieser Szene genauer, so fällt zunächst auf, welch präzise Hinweise sie uns auf beteiligte Personen liefern. Frank und Bob haben z. B. Bloody-Fox getroffen, als sie noch ein Stück von Helmers Home entfernt und sich über den einzuschlagenden Weg nicht ganz im klaren waren, und Fox wies ihnen die kürzeste Route zum Ziel und nahm sie gleich dorthin mit. Wenn wir daran denken, daß dieser Mann sich später als der mysteriöse "Geist" entpuppt, dann entspricht bereits sein erstes Auftreten genau seiner Lebensführung und seiner Tätigkeit: Frank und Bob be-


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gegnen ihm in der Grauzone zwischen Wildnis und Zivilisation, und dies ist der Rätselhaftigkeit seiner Existenz sehr angemessen; er zeigt seinen Gefährten den rechten Weg, wie er es mit zahlreichen anderen Personen als menschenfreundlicher Geist in ungleich gefährlicherer Situation zu tun pflegt - das die Erzählung beherrschende Motiv der Manipulation des Raumes und ihrer Korrektur klingt hier behutsam schon an. Auch andere Figuren werden durch ihre Annäherung an Helmers Home treffend charakterisiert. Als der brave Frank einmal zu Helmers tritt, kommt er um die Ecke des Hauses auf ihn zu(7); als dann Burton eintrifft, ist die Rede von einem sich langsam nähernden Mann ( . . . ), dessen Ankunft erst jetzt, als er um die Ecke des Hauses trat, bemerkt wurde. ( . . . ) Er trat mit eigentümlich schleichenden Schritten näher.(8) Der Parallelismus und die Unterschiede sind deutlich: bei Frank finden wir eine offene, geradlinige Bewegung, bei Burton jenes "eigentümliche Schleichen", das zu seinem übrigen Erscheinungsbild paßt und das auch schon auf sein späteres Verschwinden von der Szene vorausweist; die ehrliche Direktheit des Westmanns kontrastiert der gekünstelt zögernden Bewegung des Heuchlers, der, wie sich später zeigt, nichts anderes als der Anführer der Llano-Banditen ist. Zu ihm paßt es auch, daß er Helmers einreden will, er habe kein Pferd: wer davon lebt, die Reisebewegungen anderer in die Irre zu führen, der wird sich nicht zu seiner eigenen Fortbewegungsart aufrichtig bekennen wollen.

   Eine ganz eigenwillige Qualität besitzt der Raum der Eingangskapitel, wenn man detaillierter auf den Zweikampf, seine Voraussetzungen und seine Folgen sieht. Als der zweite der unsympathischen Ankömmlinge auftaucht, der sofort Kontakt zu Burton sucht, liegt über der nun schon verdunkelten Szene unausgesprochen die Frage, woher er denn wohl komme. Sie ist doppeldeutig: zum einen zielt sie konkret auf den Ort, an dem er jetzt gerade gewesen ist (der Mann gibt, wie Burton, vor, nicht geritten zu sein), zum anderen zielt sie auf seine weitere Vergangenheit, ein Aspekt, der spätestens aktuell wird, als Fox ihn des Mordes beschuldigt. Bei Burton wie bei dem Fremden entspricht mithin der Ungewißheit des Raumes, aus dem sie kommen, das Rätsel ihrer Vergangenheit: die Männer haben ersichtlich etwas zu verbergen. In beiden Fällen nimmt sich Bloody-Fox dieser dubiosen Vergangenheit an, und wieder treten Zeit und Raum in eine enge Beziehung. Daß der anonyme Gast ein Verbrecher gewesen ist, kann Fox konkret belegen, und der präzise Blick auf das alte Geschehen begrenzt konsequent die weitere Bewegungsmöglichkeit des Banditen: hier und jetzt muß er sich Fox zum Zweikampf stellen, und die Kugel trifft ihn mitten in die


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Stirn; der Erhellung der schlimmen Vergangenheit korreliert also die Begrenzung des Raumes, über die der Mörder schließlich nicht mehr hinausgelangt. Was Burton dem Bloody-Fox einst angetan hat, bleibt dagegen vorerst unklar, und so hat er auch die Chance, dem Rächer zu entgehen und das befreiende weite Hinterland von Helmers Home zu gewinnen. In beiden Fällen treten die Verbrecher aus der Weite des Raumes und der Vergangenheit in das Hier und Jetzt des Helden, und mit der Aufklärung, die der Vergangenheit jeweils beschieden ist, wird die weitere Bewegung durch den Raum verknüpft: wo das Vergangene im Detail erschlossen wird, verengt sich der Raum für den Betroffenen bis zur tödlichen Bedrohung; wo diese konkrete Detektion ausbleibt, öffnet sich der Raum zur Flucht, und mit der errungenen Bewegungsfreiheit bleibt das Rätsel der Vergangenheit Burtons vorerst offen. Der Kulminationspunkt der Ereignisse ist das Duell, und dieses vollzieht sich, wie angedeutet, unter künstlicher Beleuchtung. Hier wird die alte Vorstellung von der klärenden, helfenden Funktion des Lichts und der Bedrohung und Rätselhaftigkeit des Dunkels mobilisiert: auf der erhellten Szenerie ereilt den anonymen Mörder das verdiente Schicksal, während der abseits sitzende, von Bob zuvor sorgfältig bewachte Burton die Dunkelheit dieser Stelle zur Flucht nutzt: Dort war es jetzt finster.(9) Der Begriff der dunklen Vergangenheit und des dunklen Raumes verknüpft zusätzlich Zeiten und Örtlichkeiten.

   Um die Qualität des Raumes noch genauer zu erfassen, will ich seine durchaus unterschiedlichen Beziehungen zur Zeit im Hinblick auf die Vor- und die Nachgeschichte des Zweikampfes herausstellen. Bei der Ankunft und Befragung Burtons und seines Kumpanen liegt der Schwerpunkt auf einer Analogie: die Weite des Raumes und die Vergangenheit entsprechen einander, aber sie gehen keine sachliche Verbindung miteinander ein, und es ist gleichgültig, ob Dunkel oder Helligkeit herrscht. Anders im zweiten Fall, wo die Analogie zwar erhalten bleibt, aber ergänzt wird: wenn Burton in den offenen Raum wie in die Zukunft flüchtet, dann ist dieser Weg nur möglich ob der Größe und Unüberschaubarkeit des umgebenden Raumes und der Dunkelheit, in der er liegt. So ließe sich zum Anfang der Szene ein "so wie" und für das Ende ein "weil" setzen: so wie Burton und sein Spießgeselle aus dem Dunkel der Vergangenheit auftauchen, so tun sie's auch aus dem weiten Raum; dann gelingt Burton die Flucht in die Zukunft nicht zuletzt deshalb,  w e i l  der Raum weit und dunkel ist, sie gelingt mit  H i l f e  des Raumes. Damit hat sich die Qualität der Raum-Zeit-Beziehung einschneidend verändert: handelt es sich zunächst um eine Analogie, eine eher illustrierende Beziehung, um - wenn man so will - eine


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Allegorie, so kommt es schließlich zusätzlich zu einer ganz konkret kausalen Verknüpfung. Tobias Preisegott Burton übersteht diesen Entwicklungsprozeß ohne Schaden, wie es sich für das Oberhaupt der Banditen in diesem frühen Stadium der Erzählung gehört; der untergeordnete Verbrecher bleibt auf der Strecke, und der einzige, der die Szenerie vollkommen beherrscht - denn nicht er hat ja Burton festhalten wollen - ist Bloody-Fox, der omnipotente "Geist".

   Die Beobachtungen, die wir angestellt haben, scheinen nun in einem Widerspruch zu dem zu stehen, was ich eingangs sagte: ich habe ausgeführt, daß die Bewegung durch große, weite Räume ein Charakteristikum der Romane Mays sei, in dem sich ein ausgreifender Freiheitsdrang artikuliere, und wenn das zutrifft, dann wird es sich in erster Linie bei den positiv bewerteten Figuren zeigen müssen; im Falle von Helmers Home aber sieht es so aus, als sei der weite, offene Raum geradezu die Domäne der Bösen, aus dem sie kommen und in den wenigstens einer von ihnen erfolgreich flüchtet, während nur das begrenzte Terrain der Helmerschen Niederlassung von den guten Menschen beherrscht wird. In der Tat gilt dieser Widerspruch, aber er läßt sich sofort verstehen, wenn wir an die chronologische Position der Ereignisse denken: sie finden statt ganz am Anfang der Erzählung, und deren weiterer Verlauf dient eben nichts anderem als der Korrektur solch unbefriedigender Verhältnisse. Die Llano-Banditen beherrschen zunächst - mit einigen auf den geheimnisvollen Geist zurückzuführenden Einschränkungen - die Szenerie, und der Zerstörung dieser ihrer Macht dient die Arbeit der Helden. Anders ausgedrückt: das Thema der Erzählung ist der manipulierte Großraum Llano, in dem die Manipulation der Wegmarkierungen deshalb so gefährlich ist, weil er so verwirrend und undurchschaubar offen ist; um so mehr muß sich die Bewegungslust der Helden bestätigt fühlen, wenn sie am Ende die Banditen ausrotten und sich damit die Verfügbarkeit dieses Raumes zurückerobern.

   Das geschieht in präzisem Kontrast zu den Mitteln, die die Schurken angewandt haben: die werden schließlich von verschiedenen Seiten attackiert und zwischen riesigen Kaktusfeldern in die Enge getrieben, wobei einer nach dem anderen den Verfolgern zum Opfer fällt; der letzte, jener angebliche Mormonenprediger, in dem Fox nun den Mörder seiner Eltern erkennt, erreicht zwar noch die wundersame Oase inmitten der Wüste, von der aus der philanthropische Geist seine Unternehmungen gestartet hat, aber hier bricht er sich beim Sturz vom Pferd den Hals. Die Raummanipulation durch die Verbrecher ist also von der erfolgreicheren Raummanipulation der Helden übertrumpft


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worden; war in der Szene auf Helmers Home der enge Raum nur notgedrungen die Domäne der Helden, so ist er dies am Schluß, weil die Helden es so eingerichtet haben, da sie ja den Großraum Llano inzwischen beherrschen. Der Ring, den die verschiedenen Teilgruppen des Heroenensembles um die Verbrecher ziehen, wird zunehmend enger, und auf den letzten Seiten des Werkes wechselt der Standort des Erzählers immer schneller von einer zur anderen, um die ausweglose Situation der Verbrecher zu skizzieren. Diese enger werdende Bewegung fällt um so deutlicher auf, als die Heldengruppe uns zunächst an ganz unterschiedlichen, weit voneinander entfernt liegenden Rändern des Llano vorgeführt werden. Indem sie allmählich zusammenrücken und die Handlung sich entschlossen auf die schon zuvor segensreiche Oase des Bloody-Fox zubewegt, geht den Banditen buchstäblich die Luft zum Atmen aus.

   Ich habe bisher überwiegend vom Raum hinsichtlich seiner Rolle für die Handlungskonstruktion gesprochen, von ihm als etwas, durch das sich die Figuren auf mehr oder weniger markante Weise hindurchbewegen, von seiner funktionell-strukturierenden Rolle. Aber natürlich spielt dabei immer auch die landschaftliche Beschaffenheit mit, die ihrerseits sehr unmittelbare Konsequenzen für die Handlungsführung besitzt. Eben wies ich darauf hin, wie sich die Weite des Raumes zum Wohl der guten Menschen und zum Verderben der bösen in sehr spezieller Weise verengt; eine ganz analoge Entwicklung vollzieht sich in der Abfolge der landschaftlichen Qualitäten. Die Handlung setzt, wie angedeutet, in verschiedenen Randgebieten des Llano ein, führt dann durch ihn und seine Schrecken - inklusive Sandsturm und Luftspiegelungen - hindurch und mündet schließlich in der wunderbaren Oase. Sie wird zum Zentrum der Lösung aller Kümmernisse: in ihrer Nähe wird die Verbrecherbande vernichtet, hier findet Bloody-Fox Aufklärung über seine dunkle Vergangenheit, hier kann sich die fast ins Verderben geführte Auswandererkarawane stärken, und hier findet sogar ganz unerwartet der Neger Bob seine vor Jahren aus den Augen verlorene Mutter wieder. Mit einem Wort: wo sich inmitten des schrecklichsten Terrains das wunderbarste findet, da fällt auch die Entscheidung in allen Konflikten; ein wenig haben übrigens schon die Kaktusfelder der Umgebung diese Funktion der Oase antizipiert, denn während sie den Banditen zum Verderben wurden, trugen sie gleichzeitig zur Rettung der Auswanderer bei, indem Old Shatterhand die riesigen Flächen anzünden ließ und damit erquickenden Regen für die darbenden Emigranten herbeizauberte. Im bei und in der Oase angesiedelten Finale fallen die beiden Grundeigenheiten des Raumes - seine Rolle als


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strukturierendes Element der Handlungsführung und seine landschaftliche Qualität - endgültig zusammen: die Oase ist in der Bewegungsabfolge der Ereignisse ebensosehr ein definitiver Endpunkt, wie sie es kraft ihrer Beschaffenheit als locus amoenus ist. Die verschiedenen Aspekte des Raumes, die wir bei der Beobachtung der Eingangsszene angedeutet fanden, werden konsequent verbunden, und so kann der Erzähler denn auch hier schließen und vor seinen letzten Bemerkungen notieren, es sei nur weniges hinzuzufügen.(10)

   Die Beobachtungen zur großen Bedeutung des Spiels mit Räumen, die bisher anhand einer einzelnen Szene und der Grundkonstruktion der Erzählung erarbeitet wurden, lassen sich an zahlreichen verstreuten Einzelheiten weiter belegen; Makrostruktur und Mikrostruktur ergänzen einander. Wenn der Westmann Tim Snuffle - unter Benutzung seiner Lieblingswendung - Juristen verächtlich als Leute bezeichnet, welche die Aufgabe haben, sich von außen her um die Paragraphen herum zu schlängeln(11), dann verweist selbst diese für den Kontext ganz nebensächliche Bemerkung auf die allgegenwärtige Dominanz der Projektion von Räumen. Wenn Bloody-Fox mit den Worten »Ich bin wie der Vogel in der Luft oder wie das Tier im Walde« zu Beginn der Erzählung die Frage nach seinem Wohnort beantwortet und der Fragende darauf »armer Teufel«(12) sagt, dann birgt dieses winzige Dialogstück gewichtige Implikationen: natürlich muß jedem Unbefangenen der junge Mann, der solche Mitteilungen macht, leid tun, aber sofern wir daran denken, daß Fox in Wahrheit der gefürchtete Llano-Geist ist, hat die Antwort noch einen völlig anderen Klang, den sie freilich nicht merken lassen will: der Überblicksperspektive des Vogels in der Luft und der Beweglichkeit des Waldtieres bedarf es, wenn man die Verbrecherbande erfolgreich bekämpfen will. Das Fährtenlesen, also die Rekonstruktion von Vorgängen mittels im Raum zurückgebliebener Spuren, stiftet hierarchische Beziehungen innerhalb der Heldengruppe, wenn einer der Snuffle-Brüder zu Old Shatterhand sagt: »Ihr und Winnetou würdet selbst dann die Fährte entdecken, wenn die Kerls durch die Luft geritten wären!«(13) In der Tat haben die Snuffles selbst Spuren am Boden vor kurzem eindrucksvoll entziffert, während Old Shatterhand wenig später verwirrende Ereignisse, bei denen sich scheinbar Reiter über den Horizont bewegen - was andere Personen für ein Phänomen der Geisterstunde halten -, als Luftspiegelungen erklärt. Diese entmythologisierende Deutung des Naturschauspiels nimmt die Enthüllung der Identität des Llano-Geistes vorweg, in dem viele ja auch ein höheres, auf jeden Fall unbegreifliches Wesen vermutet haben. Im übrigen ist die Verbindung zwischen der säkularisierten


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Geisterstunde und der Entlarvung des Geistes zusätzlich kausaler Art, denn als Geist reitet Bloody-Fox in der Mitternachtserscheinung eines der Pferde, mit denen er sich später auch unverkleidet zeigt.

   Eine artistische Tour de force hinsichtlich der Ausnutzung des Raumes gelingt dem Erzähler May in der großen Szene der Brüder Snuffle.(14) Die beiden Westmänner treffen am Rande des Llano eine Gruppe von Greenhorns, die ihrerseits die Leiche eines unbekannten Weißen entdeckt haben. Die Snuffles untersuchen die vorhandenen Spuren und stellen fest, daß hier ein Kampf zwischen zwei Indianern und einer Bande weißer Räuber stattgefunden haben muß, dem einer der Verbrecher zum Opfer gefallen ist. Man nimmt gemeinsam die Verfolgung auf und stößt zunächst auf die Banditen, die die Greenhorns von den Snuffles fortlocken, während sie selbst durch die Snuffles an der weiteren Verfolgung der Indianer gehindert werden. Die Snuffles entdecken dann einen der beiden Indianer, und nach einem kurzen Zwischenspiel schließt er sich ihnen an.

   Zu Beginn dieses Kapitels untersuchen die Snuffles erfolgreich die Spuren in der Nähe des Toten, während die Greenhorns mit ihren Überlegungen nicht weiterkommen. Jim Snuffle bringt das Problem auf den entscheidenden Punkt: »Alle berühmten Jäger haben ihre Erfolge neben ihrer Kühnheit, List und Ausdauer auch dem Umstande zu verdanken, daß jede Fußstopfe, die sie sehen, für sie ein deutlich geschriebener Brief ist, welchen der Betreffende ihnen mit oder ohne Absicht zurückgelassen hat. Wer aber kein Verständnis für solche Briefe hat, der wird sehr bald eine Kugel oder einen guten Messerstich erhalten und an irgend einer Stelle verfaulen, an welcher es nicht gut möglich ist, ihm ein Denkmal zu errichten.«(15) Der Raum erscheint mithin als Zeuge des vergangenen, aber in seinen Nachwirkungen immer noch aktuellen Geschehens und trennt die erfahrenen Westmänner deutlich von den versagenden Greenhorns. Dabei fällt seine Erkundung hier so gründlich aus, daß sie der zügigen Fortentwicklung der übergeordneten Handlung durchaus zuwiderläuft: der Raum gewinnt eine eigene, sozusagen sperrige Dimension, die ein allzu glattes Aufgehen der literarischen Konzeption verhindert. Als die Snuffles später mit den Banditen zusammentreffen und angeblich in deren Interesse die Spuren der verfolgten Indianer suchen, bewegen sie sich geschickt auf einer Kreislinie, wobei ihre Reittiere ihnen Deckung gegenüber den Verbrechern geben: hier wird die Schutzfunktion des Raumes ausgespielt. Die Banditen schicken indessen die arglosen Greenhorns in eine andere Richtung, in der sie den Tod finden sollen: der Raum als Falle wird sichtbar. Die Gesten, mit denen der Anführer der Banditen die Green-


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horns unterwiesen hat, sind wiederum von den Snuffles beobachtet worden, die daraus rekonstruieren, um was es geht: die Beschreibung des Raumes per Handbewegung offenbart die Inhalte sprachlicher Mitteilungen und verrät kriminelle Absichten, sie deutet in die Zukunft. Als schließlich der Indianer den Brüdern begegnet, schickt er sie erst einmal mit dem Hinweis fort, er brauche ihre Hilfe nicht, und folgt ihnen dann heimlich, um sie zu beobachten, denn er will auf diese Weise prüfen, ob sie es ehrlich mit ihm meinen: hier haben wir den Raum als Testfall. Und wir haben einen Autor vor uns, der auf etwa dreißig Seiten eine ganze Fülle von Möglichkeiten der Verwertung des Raumes durchexerziert.

   Daß das Spiel mit Räumen quasi ex negativo sehr konkrete Beziehungen zwischen Szenen herstellen kann, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, wollen wir nun anhand eines Vergleichs die Ereignisse auf Helmers Home mit jenen im sogenannten "Singenden Tal"(16) beobachten. Im Singenden Tal, dem letzten jener Randgebiete des Llano, in denen ein neuer Handlungsstrang einsetzt, begegnet eine kleine Gruppe von Westmännern dem Bärenjäger Baumann, seinem Sohn sowie Winnetou; bei den recht arglosen Westmännern befinden sich die Brüder Cortejo, zwei Llano-Banditen, die sich als reisende Hirten ausgeben. Baumann und Winnetou durchschauen sie jedoch, und ihre Vermutungen werden wenig später durch einen Komantschen bestätigt, der mit ein paar Begleitern in das Lager kommt: er vermag die Cortejos eindeutig als Verbrecher zu identifizieren. Während Winnetou mit dem Anführer der Komanchen noch berät, wie man weiter verfahren solle, flüchten die Cortejos; die Helden kümmert das jedoch wenig, denn die beiden werden sich zweifellos zu ihrer Bande begeben, und auf die hat man es ja ohnehin abgesehen. Während dieser Ereignisse ist es, wie in der Geisterstunde der Wüste, zu einer Reihe denkwürdiger Naturwunder gekommen: ein kleiner, leuchtender Himmelskörper stürzt in das Tal, die Bewegungen des Windes sorgen für seltsame Klangspiele, und die zirkulierende Elektrizität zaubert Flammen auf die Kaktuspflanzen.

   Beim Vergleich dieser Szene mit der auf Helmers Home ergeben sich trotz der ganz andersartigen Ausgangssituation viele Übereinstimmungen. Eine zentrale Person in beiden Szenen ist der als Stealing-Fox bekannte Verbrecher, der, wie sich später zeigt, mit dem famosen Tobias Preisogott Burton identisch ist. Wir erfahren von insgesamt drei seiner früheren Untaten: dem Mord an der Familie des Bloody-Fox, dem Diebstahl an Baumann und dem Attentat auf den Westmann Ben New-Moon; jeweils zwei dieser Verbrechen kommen zur


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Sprache: der Anschlag auf die Familie von Fox und die Baumann-Angelegenheit im ersten Fall, diese und das Verbrechen an Ben New-Moon im zweiten. Auf Helmers Home ist der Schurke in der Maske Burtons persönlich anwesend, im Singenden Tal ist er es immerhin mittelbar durch die Gegenwart der zu seiner Bande gehörenden Brüder Cortejo. Beide Szenen spielen zum großen Teil in der Nacht, beide Male wird das Terrain auf eigentümliche Weise erhellt: durch die elektrifizierten Kaktuspflanzen und durch die Fackeln, die bei Helmers die höchst schauerliche Funktion erhalten, den Ort des Zweikampfes zu illuminieren. Jeweils werden die Verbrecher sorgfältig beobachtet: Burton durch den Neger Bob, die Cortejos von Winnetou; dennoch gelingt diesen wie jenem die Flucht. In beiden Fällen nehmen die Verbrecher heimlich Kontakt auf: die Cortejos entfernen sich unter einem Vorwand kurzzeitig einmal vom Lagerplatz, um ungestört miteinander reden zu können; Burton spricht unbemerkt mit dem zweiten verbrecherischen Gast. Und noch eine Parallele gibt es: so wie sich auf Helmers Home zunächst ein vages Mißtrauen gegen Burton einstellt, bevor Bob eindeutig in ihm einen Dieb erkennt, so richtet sich auch gegen die Cortejos zunächst nur ein allgemeiner Verdacht, ehe der Komanche sie als Llano-Banditen konkret identifiziert.

   Wenn man das alles zusammennimmt: hat Karl May also nur die Eingangsszene mit anderem Personal wiederholt? Der noch genauere Blick zeigt, daß dem nicht so ist: es gibt vielmehr neben den Übereinstimmungen auch jeweils Unterschiede, die die veränderte Situation im Kräftemessen zwischen Verbrechern und Helden reflektieren. Einen ersten Hinweis dazu liefern die Erwähnungen der alten Verbrechen Burtons: auf Helmers Home kann nur Bob einen präzisen Hinweis geben, während Bloody-Fox sich vorerst allein im Bereich düsterer Ahnungen bewegt; im Singenden Tal können die beiden aufgezählten Verbrechen dann schon ganz detailliert beschrieben und zu Lasten des Stealing-Fox gebucht werden. Daß Bob den falschen Prediger und Winnetou die Cortejos beobachtet, sorgt für eine Parallele; aber Winnetou Beobachtungen sind wesentlich erfolgreicher, denn ihm gelingt es sogar, das heimliche Gespräch der Banditen zu belauschen, wohingegen Burton mit seinem Kumpanen ganz unbeobachtet reden kann. Auch die Flucht ist nicht in beiden Fällen das gleiche: Winnteou kommt sie gar nicht ungelegen, denn die Fährte der Cortejos soll ihm den Weg zu der Verbrecherbande weisen; Bob hat es indessen ernsthaft, aber vergeblich darauf angelegt, Burton nicht aus den Augen zu verlieren. Schließlich ist sogar die Identifizierung der Verbrecher von unterschiedlicher Qualität: Bob erkennt in Burton einen Mann, der


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ein bestimmtes Verbrechen begangen  h a t, der Indianer dagegen hat die Cortejos zuvor beobachtet, als sie über ein Verbrechen sprachen, das sie erst noch begehen  w o l l e n; im einen Fall also gilt die Enthüllung vergangenem, im anderen für die Zukunft geplantem Geschehen, das man noch verhindern kann.

   All diese kleinen Differenzen summieren sich zu einem grundsätzlichen Unterschied: die Position der Verbrecher im Singenden Tal ist erheblich schwächer als die Burtons in der Eingangsszene. Bei Helmers ging es zum großen Teil um vage Vermutungen, Ahnungen und nicht erfolgreich ausgeführte Absichten; in der späteren Szene spiegelt sich der Fortschritt, den der Kampf gegen die Verbrecher inzwischen gemacht hat, denn die Enthüllungen über sie fallen konkreter aus, Aufklärung wird auch schon vermittelt über ihre weiteren Pläne, und die Flucht der Banditen kann hier ohne weiteres von den Helden ausgenutzt werden. Im Zusammenspiel von Gemeinsamkeiten und Kontrasten zwischen den Szenen zeigt sich, wie schlecht es mittlerweile um die Verbrecher bestellt ist.

   Welche Funktion kommt dabei den unterschiedlichen räumlichen Gegebenheiten zu? Die erste Szene spielt auf der Niederlassung eines Farmers, die zweite in der offenen Wildnis; wenn wir die veränderten Machtverhältnisse in Rechnung stellen, dann bestätigt sich im Detail, was wir früher über das Thema gesagt haben: der Kampf gegen die Verbrecher ist der Kampf um die Rückgewinnung des freien Reisens, der freien Natur. In der Eingangsszene flüchtet Burton dank der Helmers Home umgebenden offenen Landschaft; im Singenden Tal wird die Wildnis schon erheblich stärker von den Helden beherrscht, und als den Schurken hier die Flucht gelingt, werden ihnen die Spuren, die sie hinterlassen müssen, zum Verräter. Die Tendenzwende spiegelt sich noch in kleinen Sequenzen: Burton kann unbelauscht mit seinem Spießgesellen reden, weil es nicht schicklich erscheint, diesen neuen Gast aufdringlich zu beobachten, und wohl auch deshalb, weil die Räumlichkeiten kaum entsprechende Voraussetzungen bieten; Winnetou dagegen findet solche in der Wildnis, als er die Cortejos aus einem Gebüsch belauscht. Hier ist einerseits die Verfügbarkeit des Raumes eine andere geworden; zum zweiten stehen der Raum als Landschaft und die abenteuerliche Aktion auch noch in einem funktionellen Zusammenhang, und wenn die Gegebenheiten der freien Natur von den Helden derart ausgenutzt werden, daß sie erfolgreiche Operationen erst ermöglichen, dann bestätigt sich abermals die These vom offenen Raum als einer Signatur des Freiheitsdranges.

Aber der veränderte Raum hat für die beiden Szenen noch eine all-


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gemeinere Bedeutung, die ebenso schlicht wie umfassend ist. Wenn kaum jemand beim ersten Lesen darauf stößt, wie intensiv die Beziehungen zwischen Helmers Home und dem Singenden Tal sind, dann wird das in der Regel nicht daran liegen, daß er die aufgezählten Differenzen zu sehr beachtet. Der Grund liegt in der so unterschiedlichen Art der Lokalitäten: der Hof eines Farmhauses und ein von mysteriösen Naturphänomenen erfülltes Tal lassen Gedanken an enge Verbindungen zunächst gar nicht aufkommen. In der Tat sind die abweichenden räumlichen Verhältnisse mit dafür verantwortlich, daß die letztlich weitgehend analogen Ereignisse an der Oberfläche einen ganz unterschiedlichen Verlauf nehmen und daß der Leser sich nicht langweilt, wenn er die Parallelen entdeckt hat. Wir finden in der Literatur des öfteren, im Drama vielleicht noch häufiger als in der Epik, derartige Parallelszenen, aber meistens verhält es sich dabei so, daß der äußere räumliche Rahmen derselbe bleibt, während die Ereignisse in signifikanter Weise ein kleines Stück voneinander abweichen. Das tun sie, und zwar nicht zufällig, auch hier, aber entscheidend tritt die Veränderung des räumlichen Hintergrundes hinzu, der als Dekoration wie auch in kausaler Verbindung die Differenzen prägt. Um es zusammenzufassen: die Szenerie sorgt nicht ausschließlich, aber doch wesentlich für die Variation der Ereignisse auf der Grundlage identischer Konstellationen, und damit wird der Raum abermals so etwas wie ein handlungstragender Faktor.

   An dieser Stelle ist das Ende des Überblicks erreicht. Das heißt freilich nicht, daß das Thema im weiteren oder auch nur im engeren Sinne erschöpfend behandelt wäre. So ließe sich etwa fragen, wie denn überhaupt der Raum dem Leser vermittelt wird: leistet dies der Erzähler direkt durch seine Beschreibungen, werden wir eher indirekt informiert durch Hinweise der beteiligten Personen, oder werden vielleicht Requisiten zum Indiz für ihre Umgebung? Und wenn, wie zu vermuten steht, alle diese Möglichkeiten ausgenutzt werden: was hat es dann zu bedeuten, wenn in einem Fall diese, im anderen jene den Vorzug erhält? Wir könnten prüfen, ob die Information über den Raum geschlossen, in einem Stück gegeben wird oder ob sie sich zusammensetzt aus verstreut auftauchenden einzelnen Bemerkungen. Vermittelt der Raum suggestiv Stimmungen, oder bleibt er in dieser Hinsicht neutral? Wann gehen von ihm Bedrohungen aus, wann wirkt er erlösend? All dies ließe sich eingehend und systematisch erkunden; wir haben es nur gestreift. Mir will auch scheinen, als könne man Mays Erzählung durchaus ertragreich mit anderen Romanen und ihrer Raumstruktur vergleichen: kommuniziert nicht die Szene auf Helmers Home mit ver-


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schiedenen Teilen des Werkes in ähnlicher Form, wie es einige der abgesperrten Kleinräume in den zu Beginn von mir erwähnten Romanen mit ihrer Umgebung tun; was unterscheidet die Eroberung des Raumes bei May von der in manchen Bildungsromanen, wo es auch wesentlich um gezielte Reisebewegungen geht? Ferner wäre es naheliegend, die Untersuchung des Raumes konsequent an die anderer Elemente des Werkes zu binden: wie verhalten sich Raum und Zeit zueinander? Und ist es nicht viel mehr als ein Wortspiel, wenn wir feststellen, daß dem Motiv des falschen, des manipulierten Weges das ähnlich oft auftauchende der Verkleidung und Verstellung, der falschen, manipulierten Identität entspricht? Ich habe sogar den Verdacht, daß einige der logischen Fehler, die May in diesem Werk wie in vielen anderen unterlaufen sind, mit der Bewegung des Raumes zu tun haben: wenn z. B. Old Shatterhand am Ende der Erzählung sowohl BloodyFox als auch Burton wiedererkennt und wie alte Bekannte begrüßt(17), obwohl er sie beide vorher nie gesehen hat, dann ist dies nicht nur auf eine Konzentrationsschwäche des Autors zurückzuführen, sondern gleichfalls eine konsequente, wenn auch recht absurde Bestätigung der Situation: der Fauxpas geschieht, als die Banditen in die Zange genommen werden, und da nun der Raum von den Helden zurückerobert worden ist und die Masken fallen, kommt es nicht mehr darauf an, daß Shatterhands Fähigkeiten über alle vernünftigen Grenzen hinausgetrieben werden.

   Trotz dieser offenen Fragen sagt das, was wir beobachtet haben, wohl schon einiges aus über Karl Mays einfallsreiches Spiel mit Räumen; und dieses zu analysieren, erscheint mir wichtig, denn wir entdecken dabei, daß May nicht nur ein geschickter Übersetzer persönlichen und sozial repräsentativen Leidens in die Sprache exotischer Abenteuer ist, ein begabter Verwerter literarischer Traditionen oder ein im naiven Sinne spannender Unterhaltungsschriftsteller. Er zeigt auch die Fähigkeit, einen elementaren Baustein des Erzählens in ebenso vielfältiger wie unaufdringlicher Gestalt einfallsreich zu verwenden. Der Raum, als unabdingbare Voraussetzung allen Romangeschehens, ist nicht Staffage, nebensächlicher Hintergrund oder sonstwie generell belanglos; vielmehr ereignet sich die Handlung sowohl  v o r  als auch  i n  als auch  m i t  den Räumen, die May entwirft: der Raum hat eine Fülle teils aufeinander folgender, teils einander überschneidender Funktionen. Er prägt die gesamte Entwicklung der Erzählung und strukturiert damit die Ereigniskette von der Exposition bis zum Finale; er verknüpft weit auseinanderliegende Szenen, sorgt dabei für Übereinstimmungen und Nuancen und bindet so die Teile des Werkes zu


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einem Ganzen zusammen; er illustriert die Handlung, er wird zu ihrem Gegenstand, er treibt sie voran, gelegentlich konterkariert er sie; er ist als Form ein Medium des Inhalts und als Kernthema der Erzählung Inhalt als Medium der Form; er ist immer aktuell, dies aber auf unterschiedliche Weise. Wenn Old Shatterhand, Winnetou und ihre Freunde die Oase im öden Llano entdecken, dann ist nicht nur ein Stück der Freiheit zurückgewonnen worden, auf die es ihnen so sehr ankommt; dann hat sich auch der Schriftsteller Karl May ein Stück jenes Künstlertums erschrieben, das er zeit seines Lebens zu finden hoffte. Wer aber der Meinung ist, wir hätten May nunmehr auf ein zu hohes Roß gesetzt, wird auch seine Meinung mit Zitaten zum Spiel mit Räumen stützen können. Die Bewegung durch den Raum als Anlaß zu einem Sprachspiel des nicht mal höheren Blödsinns taucht auf in der vorhin ausführlich besprochenen Szene der Brüder Snuffle: der verwundete Indianer, teilt Jim Snuffle da den hoffentlich gebührend erstaunten Greenhorns mit, könne die Fortsetzung des Rittes nicht lange ausgehalten haben, zumal er - so wörtlich - »zu zweien auf einem Pferd sitzen mußte«.(18) Vor solchen Heldentaten kann die Literaturwissenschaft nur kapitulieren.



1 Karl May: Der Geist des Llano estakado. In: K. M.: Die Helden des Westens I. Der Sohn des Bärenjägers Stuttgart-Berlin-Leipzig 1890, 302. Seit 1914 erscheint der Band innerhalb der Reihe "Karl May's Gesammelte Werke" unter dem Titel "Unter Geiern" als Bd. 35 (Radebeul und Bamberg) in einer vom Herausgeber sehr stark bearbeiteten Fassung. Die May-Ausgabe des Pawlak-Verlags bringt ihn als Bd. 11 unter dem alten Obertitel "Die Helden des Westens". Herrschingo. J. (1977). Im folgenden wird bei Zitaten aus der Erzählung zunächst die Seitenzahl der alten Original-Edition, dann - in Klammern - die der Pawlak-Ausgabe genannt. Das vorliegende Zitat findet sich dort auf S. 293.

2 Urs Widmer: Sterben können nur die Büffel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21.3.1972

3 Volker Klotz: Durch die Wüste und so weiter. In: Gerhard Schmidt-Henkel (Hg.): Trivialliteratur. Aufsätze. Berlin 1964, 35

4 Eine Reihe wichtiger Aufsätze zur Erforschung des Raumes in der erzählenden Dichtung ist zusammengestellt bei: Alexander Ritter (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt 1975.

5 Vgl. Hans Mayer: Von Lessing bis Thomas Mann. Wandlungen der bürgerlichen Literatur in Deutschland. Pfullingen 1959 38ff.

6 Vgl. Harald Fricke: Karl May und die literarische Romantik. In: Jb-KMG 1981, 27ff.

7 Geist des Llano 256 (249)

8 Ebd. 262 (254)

9 Ebd. 293 (284)

10 Ebd. 447 (430). Daß in den letzten Äußerungen der Westmänner dann plötzlich doch wieder von »Sachsen« wie auch vom Yellowstone-»Nationalpark« die Rede ist, kann nicht verwundern: die vorliegende Erzählung ist zu Ende, aber der Blick muß offenbleiben für weitere Räume und damit weitere Abenteuer der Mayschen Romanwelt, die ein statisches Verharren ihrer Figuren nicht ertragen könnte.


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11 Ebd. 302 (292)

12 Ebd. 251 (244)

13 Ebd. 365 (353)

14 Vgl. ebd.294ff. (286ff.)

15 Ebd. 309 (299)

16 Vgl. ebd. 397ff. (383ff.)

17 Vgl. ebd. 437 und 439 (420 und 422)

18 Ebd. 310 (300). Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Walther Ilmer.


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