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MARTIN LOWSKY

»Aus dem Phantasie-Brunnen«

Die Flucht nach Amerika in Theodor Fontanes "Quitt" und Karl Mays "Scout"*



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Die Erzählung "Der Scout" ist, obwohl in der ursprünglichen Fassung fast gänzlich unbekannt geblieben, eine beachtenswerte Marke in der Entwicklung von Karl Mays Amerikazyklus und der Biographie seiner Hauptfigur. In diesem Werk, veröffentlicht im Jahrgang 1888/89 des "Deutschen Hausschatz", zeichnete May, der bis dahin schon mehrere Abenteuer seines Ich-Helden publiziert hatte, zum ersten Mal dessen Werdegang vom Auswanderer und Neuling im Wilden Westen an. Der junge Mann fühlte sich, so wird erzählt, von den korrupten Verhältnissen in der Heimat, wo gewandte Heuchler, denen ihr Amt nichts als die schnell auszunutzende Milchkuh war, die besten Erfolge haben(1), so beengt, daß er den Schritt in die Vereinigten Staaten wagte. In New York findet er, noch sehr an einem bürgerlichen Beruf interessiert, eine Anstellung als Detektiv und wird mit der Aufklärung eines Entführungsfalles betraut, die ihn - und hier beginnt die eigentliche Geschichte - auf die Reise nach New Orleans und weiter in den Westen führt. Auf dieser Reise entwickelt er sich schrittweise vom Greenhorn, das stolz über seine in der Zivilisation erworbenen Kenntnisse, aber den Anstrengungen eines Rittes kaum gewachsen ist, zum respektablen Präriejäger, dessen Umsicht und Tatkraft bereits geschätzt werden. Sein Lehrmeister ist der greise Scout Old Death, dem er in New Orleans zufällig begegnet und der sich in den nachfolgenden Abenteuern mit einem Kidnapper, Ku-Klux-Klan-Leuten und Indianerscharen als väterlicher Freund bewährt. Schließlich, im mexikanischen Hochland, findet der Scout den Tod, nachdem der Held den Apachen-Häuptling Winnetou kennengelernt und dessen Zuneigung erworben hat. Nun, da der Held seine Lehrzeit beendet und überdies seinen Auftrag als

* Vortrag, gehalten auf der Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Berlin am 3. Oktober 1981.


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Detektiv erledigt hat, sieht er weiteren Wild-West-Abenteuern entgegen.

   Karl May hatte die Erzählung in dieser Form nicht mehr für eine Buchausgabe vorgesehen, denn wenige Jahre später fand er mit dem ersten Band von "Winnetou" (1893) eine neue Version für den Entwicklungsgang seines Helden, die das Motiv des Freundesbundes mit Winnetou ganz in den Vordergrund stellte und darin so gut gelang, daß es Mays berühmtestes Werk werden sollte. Die Erzählung vom "Scout", die übrigens für mehrere Einzelmotive der neuen Version das Vorbild geliefert hatte, bearbeitete May nun so, daß er sie als Fortsetzung der neuen Erzählung, also für den "Winnetou"-Roman verwenden konnte. So wurden die ersten vier der insgesamt sieben Kapitel des zweiten Bandes von "Winnetou" eine Neufassung des "Scout".(2) Die vorgenommenen Änderungen, obwohl quantitativ eher geringfügig, haben die Grundstruktur der Erzählung zerstört, denn natürlicherweise betreffen sie gerade die Ich-Gestalt, die, schon im ersten Band in den Westen eingeführt, keine Lehrzeit mehr durchzumachen hat, und ihre Beziehungen zu Winnetou, der bereits ihr Blutsbruder geworden ist.(3) Außerdem hat diese nachträgliche Anpassung an einen neu konzipierten Roman Inkonsequenzen und Unausgewogenheiten in der Fabel bewirkt. Der Leser des zweiten "Winnetou"-Bandes, den es irritiert, daß Old Shatterhand öfter als nötig sich als Greenhorn verstellt und den Kontakt mit seinem Blutsbruder meidet, ahnt dennoch kaum mehr etwas von dem Entwicklungsprozeß des echten Greenhorns der Urfassung, der in solchen Szenen seine Spuren hinterlassen hat. "Der Scout" in der sehr verbreiteten Neufassung des "Winnetou"-Romans ist eine Verflachung gegenüber dem Original, das leider von der Forschung fast völlig übersehen worden ist und erst 1977 durch einen Nachdruck der Karl-May-Gesellschaft wieder zugänglich gemacht wurde.

   Theodor Fontanes Erzählung "Quitt", etwa zu derselben Zeit wie Mays "Scout" entstanden und 1890 in der "Gartenlaube" als Fortsetzungsroman und kurz darauf als Buch erschienen, behandelt ebenfalls die Auswanderung nach Amerika. Der 27jährige Lehnert Menz, ein Schlesier, ist in der Heimat (»Eine jämmerliche Welt hier; immer muß man scherwenzeln«(4)) den Schikanen des Försters, der seine Amtsgewalt als preußischer Beamter ausspielt, jahrelang wehrlos ausgesetzt, bis er ihn eines Nachts im Wald erschießt und nach Amerika flüchtet. Nach sechs Jahren der unsteten Wanderschaft als Eisenbahnarbeiter und Goldsucher findet er dort - zu Beginn des zweiten der beiden Erzählblöcke, der uns vorrangig interessiert - Aufnahme in der Menno-


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niten-Siedlung Nogat-Ehre im Indianer-Territorium. Er erwirbt sich durch seinen Fleiß und sein freundliches Wesen die Achtung der Mitbewohner, vor allem des Oberhauptes Obadja Hornbostel, seiner Kinder Tobias und Ruth und des Franzosen Camille L'Hermite, der als Revolutionär ebenfalls aus der Heimat fliehen mußte. Lehnert wird sogar die Ehe mit Ruth, die er liebt und die er vor dem Tod durch Schlangenbiß bewahren kann, in Aussicht gestellt, doch macht ein tödlicher Unfall Lehnerts in den Bergen, den er als Quittierung seiner Schuld begreift, alle Pläne zunichte.

   Die Gemeinsamkeiten dieser beiden Erzählungen Mays und Fontanes, die zunächst in dem Grundthema von der Flucht eines Jünglings aus der Alten in die Neue Welt liegen, erfassen weitere Details. So enthalten beide Erzählungen die Vaterfigur, die dem jungen Auswanderer Schutz gewährt (Old Death, Hornbostel), den Indianer, der Kranke heilt (Winnetou, Gunpowder-Face), das Nationalitätengemisch im Personal und die Hinweise auf das Sektenwesen (Fontane nennt neben den Mennoniten die Mormonen, die auch May erwähnt(5)). Gemeinsam sind auch die Stellungnahmen über das Staatswesen Amerika, die in beiden Werken trotz der Wahl Amerikas als Fluchtziel zwiespältig sind. So läßt Fontane seinen Hornbostel sich beklagen über die »Despotie der Massen und das ewige Schwanken in dem, was gilt«(6); und May schildert gleichsam als Illustration hierzu die unkontrollierten Emotionen einer Bürgerversammlung in Texas, die bei der Gerichtssitzung über eine Ku-Klux-Klan-Bande zwischen Lynchen und Laufenlassen schwankt(7) und dabei durch solcherart Rechtsprechung, wie May in einer Nebenbemerkung klarstellt(8), den Terrorismus noch fördert. Doch grundsätzlich wird die amerikanische Republik geschätzt: Hornbostel preist sie im Zusammenhang mit der »Gleichheit der Menschen«, wobei er hinzufügt, daß »alle Deutsche, die, wie wir, das Glück haben, Amerikaner zu sein, . . . Grund (haben), sich dieses republikanischen Zuges zu freuen«, und May formuliert in demselben Sinne, wenn er lobend erwähnt, daß die in Texas ansässigen Deutschen republikanische Luft eingeathmet haben.(9)

   Mit diesen Überlegungen haben wir allerdings kaum etwas aufgedeckt, was gerade für unsere beiden Erzählungen charakteristisch wäre. Vielmehr ordnen sich "Quitt" und "Der Scout" mit diesen Gemeinsamkeiten lediglich in die Tradition der Amerika-Romane des 19. Jahrhunderts ein, wobei sie in ihrem Schwanken zwischen Lob und Kritik gegenüber den Vereinigten Staaten typische Vertreter der zweiten Jahrhunderthälfte sind, die die Einflüsse einer "Europamüdigkeit" und einer "Amerikamüdigkeit" gleichermaßen aufnehmen und verar-


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beiten.(10) Die Verwandtschaft zwischen den beiden Erzählungen ist jedoch noch enger.

   Zunächst fällt auf, daß die Zugehörigkeit zu der genannten literarischen Tradition in den Erzählungen selbst thematisiert wird. Beide Autoren, die den Schauplatz nur aus Büchern kennen, äußern sich über ihre literarischen Quellen, und zwar in abschätziger Weise. Cooper ist ein ganz tüchtiger Romanschreiber gewesen, . . . aber im Westen war er nicht, belehrt Old Death, und Lehnert Menz findet, auf Bret Hartes Erzählungen angesprochen, daß darin »die kalifornische Natur vorzüglich getroffen, aber die kalifornische Menschheit doch allzusehr verherrlicht« sei.(11) Man kann in solchen Passagen über den literarischen Vorgänger die Spuren eines modernen Romanverständnisses sehen, wonach die poetologische Reflexion in den Roman Eingang finden soll. Doch sei vor allem festgehalten, daß sich in solchen den Leser bewußt irreführenden Erklärungen eine Unsicherheit der beiden Autoren zeigt angesichts einer zahlreichen Konkurrenz von Schriftstellerkollegen - wie Lenau und Gerstäcker - , die tatsächlich Amerika aufgesucht hatten. Diese Unsicherheit wird durch eine biographisch begründete innere Spannung verstärkt, denn bekanntlich hatten beide, May und Fontane, in früheren Jahren eine Auswanderung nach Amerika erwogen.(12) Einerseits entsprach also die Wahl dieses Sujets ihren eigenen Bestrebungen, andererseits wurden sie jetzt, da ihnen ihre Ortsunkenntnis zum Handikap wurde, zwangsläufig unangenehm an die Aufgabe ihrer Pläne von einst erinnert. Für Fontane war dieses noch weitaus belastender als für May, denn anders als dieser war Fontane, der ältere der beiden, zu diesem Zeitpunkt bereits ein bekannter Schriftsteller, der sich vor allem mit seinen Balladen und den "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" als Schilderer Preußens und seiner Vergangenheit einen Namen gemacht hatte. Diese Charakterisierung Fontanes als "Schriftsteller Preußens", die in der augenblicklichen Preußen-Renaissance ständig aufgegriffen wird, ist trotz ihrer Einseitigkeit insofern tief begründet, als  e i n  Fundament von Fontanes Schaffen tatsächlich seine Anhänglichkeit an Preußen war, die er immer wieder bezeugte, und zwar auch und erst recht darin, daß er das Preußen seiner Zeit heftig kritisieren konnte.(13) So wurde für Fontane schon die Erinnerung unangenehm, daß er überhaupt jemals eine Auswanderung aus Preußen ins Auge gefaßt und mit Freunden diskutiert hatte. Mit dieser Treulosigkeit von einst ist er niemals innerlich fertig geworden; das Thema der Amerikafahrer und -fahrten ist in vielen seiner Werke bis hin zum "Stechlin" gegenwärtig, und zwar oft in der Form, daß eine der Personen die Auswanderung


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plant und kurz darauf, wie zur Selbstberuhigung des Autors, den Plan aufgibt.(14)

   Für Fontanes innere Belastung, als er während eines Schlesien-Aufenthaltes die Erzählung "Quitt" und damit die tatsächliche Auswanderung einer Hauptfigur entwarf, haben wir ein persönliches Zeugnis in dem Brief vom 3. Juni 1885 an seine Frau, in dem er sie um die Besorgung schriftlichen Materials über Amerika bittet und dabei erklärt: »Natürlich kann ich mir auch alles erfinden und die ganze Geschichte aus dem Phantasie-Brunnen heraufholen, aber besser ist besser. Ich habe nicht die Frechheit, drauf los zu schreiben, ohne Sorge darum, ob es stimmt oder nicht.«(15) Hier wird Fontanes Zwangslage sichtbar, in der er sich drein schickt, mehr als sonst auf freies Erfinden zurückzugreifen. In diesem Sinne verstehen wir die eilfertige, ja aggressive Versicherung, daß er nicht alles aus dem Phantasie-Brunnen heraufholen werde - nicht alles, aber eben doch, wie sich ergänzen läßt, sehr viel.(16) Das magische Wort vom »Phantasie-Brunnen« weist dabei in seiner konkreten Bildhaftigkeit über das Phantasievolle hinaus in die Sprache der Märchen und Mythen.

   Dieser Hinweis Fontanes auf die Mythen, dieses indirekte Bekenntnis zu ihnen als eine der Schaffensquellen für "Quitt" (das wir dem Balladendichter gern abnehmen) lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ein zentrales Motiv, das vor allem zu einer mythischen Erzählweise paßt, nämlich das Motiv des Sühnetodes. Hier läßt sich sofort Karl May einbeziehen, denn den Sühnetod erleidet am Ende nicht nur Fontanes Hauptfigur, sondern auch Mays Titelgestalt. Old Death hat früher das Vermögen seines Bruders verpraßt und ersehnt reumütig eine Begegnung mit ihm; kurz vor dem Wiedersehen jedoch wird er infolge einer Verwechslung erschossen. Am Vorabend erzählt er seinem Schüler von dieser Vergangenheit in Form einer Beichte - ein Motiv, das Fontane weiter und mehrdeutiger entfaltet. Lehnert bricht bei einem Kirchenfest der Mennoniten zusammen, beichtet seine Vergangenheit und wird ein Mitglied der Sekte. Innere Ruhe aber finden beide erst im Tod, der ihnen das letzte Glück, die Vereinigung mit der ersehnten Person (der Geliebten bei Fontane, dem Bruder bei May) verwehrt. Auffallend an diesem Handlungsablauf ist, daß sich, hier wie dort, der Tod nicht aus einer tragischen Verstrickung, sondern durch einen Zufall, einem Naturereignis gleich, ergibt. Der Tod findet, wenn man ihn rein vom Handlungsgefüge der Erzählung her sieht, ohne Zusammenhang mit den übrigen Aktionen statt; äußerlich wird er nur durch die Prophezeiungen und Ahnungen, die beide Dichter intensiv einsetzen, mit dem Vorangegangenen verknüpft. Das Todesmotiv erhält


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durch diese Isolierung ein besonderes Gewicht, es wird nachdrücklich auf seinen Symbolwert festgelegt. Heinz Stolte hat in seiner frühen Arbeit über May, auf die wir uns bei diesen Überlegungen berufen, die, wie er es nennt, »naive Tragik« beschrieben und auf dieser Grundlage Mays Werk in die Nähe der Mythen gedrückt.(17) Der Sühnetod ist dabei nur eines der Merkmale für die mythenhafte Darstellungsweise des "Scout", wie allein ein zweiter Blick auf die titelgebende Vaterfigur lehrt: Dieser Old Death, der schon mit seinem Namen und seinem skelettartigen Aussehen auf den Tod hinweist, trägt seinen Sattel immer bei sich, in den er, wie sich später zeigt, die Papiere für den schmerzlich gesuchten Bruder eingenäht hat. Dieses naiv-kunstvolle Bild von der in doppelter Hinsicht, physisch wie psychisch, schweren Bürde gehört zu den besten Partien in Mays Werk.(18)

   Eine Sichtweise, die das Werk vorrangig als wirklichkeitsnahe Erzählung verstehen will und von dort her eine psychologische Entwicklung der Personen vermißt, wäre also für den "Scout" zu einseitig. Sie ist es auch für manche Abschnitte des Amerika-Teils von "Quitt", wo ebenfalls der Sühnetod nur ein Indiz für das Vorhandensein einer märchenhaften Bildersprache ist, die sogar so weit geht, daß der Todeskampf Lehnerts und der seines Opfers in allen Einzelheiten gleich ablaufen. Fontane schafft durch diesen Rückgriff auf das Märchenhafte im Amerika-Teil einen deutlichen Kontrast zum realitätsbezogenen und kriminalistischen Heimatteil, was sich auch schon äußerlich in der strikten Aufspaltung in die beiden Erzählblöcke andeutet. Es ist daher fraglich, ob man, wie Peter Demetz es tut, den abrupten Bruch in Lehnerts Entwicklung zwischen den beiden Blöcken als »technische(n) Mangel« ansehen soll.(19) Und diese Kritik überrascht um so mehr, als gerade Demetz in seiner auch für uns richtungweisenden Untersuchung des Amerika-Teils von "Quitt" auf die ahistorischen Züge hinweist und mehrere Phänomene herausstellt, die das märchen- und mythenhafte Element, das Schöpfen aus dem "Phantasiebrunnen" belegen können; so das Hervortreten der »grelleren und schärferen Bilder« in den Personendarstellungen, die typisierte Figurenkonstellation, die das Personal des ersten Teils in »wiederholte(n) Spiegelungen« aufgreift, und das alttestamentliche Patriarchentum Hornbostels.(20) Diesem Ausweichen ins Ahistorische, in die mythische Überhöhung liegt ein bewußtes Gestaltungsprinzip zugrunde, dessen letzte Ursache freilich Fontanes Bindung an Preußen ist.

   Unsere Betrachtung der beiden Erzählungen hat uns bisher zur Darlegung von Gemeinsamkeiten geführt, wobei wir über einzelne Motive und Anschauungen hinaus bis zu Konstruktionsprinzipien vor


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gestoßen sind. Doch die weitere Untersuchung weist uns in andere Wege.


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Wenn wir Fontanes Neigung zum Ahistorischen im Amerika-Teil von "Quitt" festgestellt und im Zusammenhang mit seiner Bindung an Preußen gesehen haben, so müssen wir jetzt nachtragen, daß beide Tendenzen Fontanes in einem Motiv unmittelbar zusammenkommen, nämlich der Kolonie Nogat-Ehre. Diese Siedlung, die wie eine mythische Insel inmitten eines realen Amerika wirkt, trägt auch deutliche preußische Züge. Nogat-Ehre ist nicht nur von einem Preußen gegründet, enthält nicht nur im Ortsnamen die preußische Geographie, sondern beruft sich auch in seiner Betonung von »Ordnung und Arbeit« ausdrücklich auf die preußische Vergangenheit. Hornbostel erklärt Lehnert: » . . . Ordnung und Arbeit, worauf es ankommt, die sind in dem Lande drüben, drin wir beide geboren wurden, recht eigentlich zu Haus, und um dieser Tugenden und vor allem auch um der Nüchternheit willen sind mir die Preußen die liebsten und sind mir die nutzbarsten Mitarbeiter am Werk. Das verdanken sie von alter Zeit her ihren Fürsten und Königen, . . . ihren Schulen und ihrer guten Zucht und Sitte.«(21) Durch diese Verherrlichung einer bekannten preußischen Tradition, als deren Urväter man gern den Soldatenkönig und Friedrich II. sieht, erklärt sich Nogat-Ehre als ein örtlich und zeitlich verschobenes Preußen des 18. Jahrhunderts, als »eine Art preußisches Amerika« (Peter Demetz(22)); und dies um so mehr, als Hornbostel den Emigranten Lehnert Menz genau so bereitwillig aufnimmt, wie das Preußen des Großen Kurfürsten die französischen Hugenotten, unter denen Fontanes Vorfahren waren, aufgenommen hat. Berücksichtigen wir noch, daß Hornbostel anschließend die Pervertierung des Autoritätsgedankens brandmarkt - »ein toter Gehorsam ist unfruchtbar«, sagt er und daß er mit seiner »Absage dem Krieg« auch den Militarismus angreift(23), und erinnern wir uns außerdem an sein Lob der republikanischen Gleichheit, so entsteht durch diese Schritte in Richtung Demokratie sogar der Eindruck eines sublimierten Preußens.

   Mehr als diese theoretischen Erörterungen Hornbostels sind es jedoch die erzählerischen Mittel, die Nogat-Ehre und Preußen zusammenrücken lassen. So die erwähnten Spiegelungen im Personal, die die preußischen Figuren des ersten Teils in den Amerika-Teil transponieren, und vor allem das Motiv der Landpartie, das Fontane ebenso wie


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in seinen Berliner Gesellschaftsromanen auch in "Quitt" einsetzt. Eines Tages organisiert nämlich die Belegschaft von Nogat-Ehre einen Ausflug ins Grüne mit Kuchenbergen und Kaffeekannen(24), tut also gerade das, was für die Treibels, die Innstettens, die Carayons aus ihrer groß- oder kleinstädtischen Wohngegend heraus angemessen ist, hier aber im Umfeld der auf Landwirtschaft beruhenden Westernsiedlung abwegig erscheinen muß und eben dadurch augenfällig die Kongruenz mit Preußen herstellt.

   So gesehen wird der Eintritt Lehnerts in Nogat-Ehre nach den Jahren der Wanderschaft zu einer Rückkehr. Wir erkennen nun einen grundlegenden Unterschied zwischen Fontanes "Quitt" und Mays "Scout": wohl haben beide Werke im Scheitern der Helden in der Heimat ihren Ausgangspunkt, wohl fliehen beidesmal die Helden in die Neue Welt, doch gehen dort ihre Wege auseinander. Und dies geschieht so, daß die einzelnen Stationen zwar dieselben sind, doch in umgekehrter Reihenfolge auftreten. Während bei May der Held zunächst als Angestellter in der Großstadt den Lebensweisen der Heimat verbunden bleibt, sich dann in einer geradlinigen Entwicklung hiervon löst und schließlich von der zivilisationsfernen Welt des Westens aufgenommen wird, taucht Lehnert Menz zuerst in das Wild-West-Leben ein, um danach in einer rückläufigen Entwicklung das zivilisierte und zivilisierende Nogat-Ehre zu erreichen. Die Laufbahnen sind genau entgegengesetzt orientiert. Lehnert kehrt damit in die preußische Welt zurück, in der er sich in Schuld verstrickt hat, und wenn ihn auch dort nach gastlicher Aufnahme zunächst ein angenehmes Heimatgefühl empfängt, so erfährt er doch auch ein Betroffensein, das ihn psychisch niederdrückt - so niederdrückt, daß er die politischen Vorzüge Nogat-Ehres nicht mehr recht wahrnehmen kann. Folgt man dieser Spur, so stellt man fest, daß diese Bedrückung keineswegs nur von Lehnerts persönlichen Reminiszenzen herrührt. Vielmehr hat dieses Nogat-Ehre schon in seiner Form des Zusammenlebens einen höchst repressiven Charakter, der die politischen Freiheiten, auf die es sich beruft, immer wieder vergessen läßt.

   Ein typisches Beispiel dieser Repression liefert das 26. Kapitel, wo Ruth und Tobias Lehnerts Buchlektüre nach privaten Anstreichungen durchsuchen, um die geheimsten Gedanken ihres Freundes zu erfahren (ein Vorgehen, das Fontane später mit der neugierigen und dominierenden Berliner Zimmerwirtin Mathilde Möhring der gleichnamigen Erzählung erneut aufgreift(25)). Diese Szene, in ihrer äußeren Form als sentimentales Idyll eines sich liebenden Geschwisterpaares angelegt (wobei auch der schöne, aber eingesperrte Vogel nicht fehlt!),


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zeichnet deutlich die Unfreiheit in dieser Siedlung, die den Einzelnen so fest einbindet, daß ihm nicht einmal mehr eine persönliche Sphäre bleibt. Entsprechend werden von zweien der Bewohner, die offenbar diesen dauernden Druck nicht aushalten können, Fluchtreisen unternommen, die allerdings mit der Rückkehr enden.(26) Die Flucht Lehnerts aus Preußen wiederholt sich in dieser Parallelhandlung von der Flucht aus und der Rückkehr nach Nogat-Ehre, das so wiederum auf seine Verwandtschaft mit Preußen festgelegt wird. »Es ist mir alles so klein und eng hier, ein Polizeistaat«(27), hatte Lehnert einst in der Heimat geklagt; und wenn auch Nogat-Ehre gewiß nicht polizeistaatlich geführt wird - gegen eben solche Tendenzen hat sich ja Hornbostel dezidiert geäußert - , so herrscht dennoch dort die räumliche und psychische Enge.

   Das bündigste Bild dieser Enge liefert die folgende Gedankenkette Lehnerts, die im dialektischen Gegenentwurf sichtbar macht, wie die zunächst gegebene Toleranz und Aufnahmebereitschaft Hornbostels, von der Lehnert ausgeht, schließlich in Unterdrückung umschlägt, in jene Unterdrückung, die sich in Hornbostels Aufruf zu Ordnung und Arbeit, Zucht und Sitte bereits angekündigt hat. Nach anderthalb Wochen Aufenthalt Lehnerts in Hornbostels Reich heißt es:

»Lehnert, wenn er das überdachte (das Zusammenleben in Nogat-Ehre), sah sich dadurch mehr als einmal an einen nach Art eines großen Vogelbauers eingerichteten Schaukasten in San Franzisko erinnert, drin nicht nur ein Hund, ein Hase, eine Maus und eine Katze samt Kanarienvogel und Uhu, sondern auch ein Storch und eine Schlange friedlich zusammengewohnt hatten."A happy family" stand als Aufschrift darüber, und wenn Lehnert so beim Breakfast und Supper den langen Tisch musterte, kam ihm der Schaukasten immer wieder in den Sinn, und er sprach dann wohl leise vor sich hin: "A happy family". Sann er dann aber weiter nach, wodurch dieses Wunder bewirkt werde, so fand er keine andere Erklärung als den "Hausgeist", als Obadja, der das Friedensevangelium nicht bloß predigte, sondern in seiner Erscheinung und seinem Tun auch verkörperte.

Die Folge davon war ein Gefühl immer wachsender Verehrung und Dankbarkeit auf seiten Lehnerts. Aber so wahr und aufrichtig dies Gefühl war, so kam er demohnerachtet zu keiner rechten Freudigkeit.«(28)

   Diese brillante Horrorvision von den qualvoll zusammengepferchten und dadurch zur Friedlichkeit dressierten Tieren ist eine der deprimierendsten Stellen im Werk, und dieser Eindruck wird dadurch noch verstärkt, daß Lehnert der grausame Druck gar nicht bewußt wird, der im Käfig wie in Nogat-Ehre das Kunststück dieses äußerlich friedlichen Zusammenlebens fertigbringt. Stattdessen stellt sich bei ihm - und man beachte, wie psychologisch genau Fontane hier zeichnet - Bewunderung, Dankbarkeit und gleichzeitig eine allgemeine Traurigkeit ein, also genau jene Kombination von Gefühlen, die gerade dann


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entsteht, wenn das Opfer die Unterdrückung internalisiert hat, wenn ihm eine innere Zensur die Gegenwehr verbietet. Das einzige, was sich Lehnert hieran anschließend gestattet - und dies ist bezeichnend genug - ist eine vage Erinnerung an sein freieres Goldgräberdasein. Der Erzähler geht etwas weiter, wenn er später auf der Landpartie eine in Freiheit lebende Schlange giftig zubeißen läßt und dadurch die Unnatürlichkeit des Käfigs nochmals betont. Darüber hinaus ist die Etikettierung des Käfigs als "happy family" eine gezielte Ironie, und dies um so mehr, als das Trugbild einer äußerlich glücklichen Ehe und Familie eines der häufigsten Motive in Fontanes Werk ist.

   Lehnerts Tod am Schluß kann nun nicht mehr verwundern: mit ihm schlägt die psychische Unterdrückung in physische Zerstörung um. So gesehen ist dieser Tod, dessen Symbolwert wir betont, aber bisher nur als ein Sühnen erfaßt haben, nichts anderes als die symbolisch überhöhte Konsequenz dieser Art des Zusammenlebens in Nogat-Ehre. Und wenn Lehnert sogar bewegungsunfähig sein Ende erwartet, so wird damit die erlebte Enge zum Schluß für ihn auf die Spitze getrieben. Lehnerts Tod ist, um es nochmals zu sagen, folgerichtig. Demgegenüber hat der vor einiger Zeit verstorbene Fontane-Forscher Hans-Heinrich Reuter in einer vielbeachteten Interpretation dieser Erzählung von einem »konstruiert anmutenden Ausgang der Handlung«(29), von einem automatenhaften Ende(30) gesprochen. Er geht dabei von der Position aus, daß Nogat-Ehre doch ein »demokratische(s) Gemeinwesen« und »Gegenbild der Realität des Hohenzollernreiches«(31) sei. Gewiß ist, da hat Reuter recht, Nogat-Ehre in seinen demokratischen Elementen ein Gegenentwurf zu dem aktuellen Preußen des 19. Jahrhunderts. Doch eine, wie Reuter meint, »humanistische Utopie«(32) ist dieser Ort der psychischen Repression nicht. Ja, man hat Mühe, in Fontanes Gesamtwerk Beispiele zu finden, wo der seelische Druck so stark ist wie hier. Reuter dagegen kommt zu der zusammenfassenden Hauptthese, daß "Quitt" der »erste Exilroman der modernen deutschen Literatur«(33) sei, und begründet dies vor allem damit, daß Lehnerts privatem Schicksal in dem Parallelfall L'Hermite, der als Hauptbeteiligter in den Kämpfen der Pariser Commune die Heimat verlassen mußte, ein Gegenstück an die Seite gestellt ist, das das Generalthema der Schuldverstrickung ins Politische erhebt. Gewiß ist die Figur L'Hermites in diesem Sinne angelegt, und der weltanschauliche Standort dieses Kommunarden ist sehr bemerkenswert für Fontane und für dieses Werk, da L'Hermite das Staatswesen Amerika von links her kritisiert. (»Halbheitszustände« sind für ihn die Republiken.(34)) Doch Reuters These träfe erst dann zu, wenn L'Hermite im Exil Ent-


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faltungsmöglichkeiten und Wohlwollen für seine politischen Vorstellungen zumindest ansatzweise fände. Doch dies ist nicht der Fall. Die Mitbewohner und der Erzähler bringen dieser Figur lediglich ihre menschliche Sympathie entgegen, und es wäre verfehlt, hierin ein indirektes Bekenntnis des Erzählers zu einer irgendwie sozialistisch angelegten Gesellschaft zu sehen. Dagegen spricht auch die Existenz des Antipoden Kaulbars, der in Nogat-Ehre das aktuelle militaristische Preußen aggressiv preist und dem auch zuweilen der Erzähler zustimmt.(35) Vor allem aber ist zu bedenken, daß der politisch ambitionierte L'Hermite nicht nur in der Heimat zur gescheiterten Existenz wird, sondern auch im Exil, wo er unter psychotischen Halluzinationen leidet. L'Hermite befindet sich in einer ausweglosen Situation. Dies wird vollends klar dadurch, daß L'Hermite einen Gesinnungsfreund in dem Indianerhäuptling Gunpowder-Face sieht. Dieser Häuptling wird, von seinen Heilkünsten abgesehen, als lächerliche Figur präsentiert: einmal in der Beschreibung seines Äußeren durch den Erzähler(36) und sodann durch Hornbostels Vorgehen, der nur seinen weißen Mitbewohnern Religionsfreiheit gewährt, aber die in der Umgebung lebenden Indianer eifrig missioniert und tauft, auch wenn sie, was ebenfalls belächelt wird, heimlich ihrem alten Glauben treu bleiben. Also wirkt Hornbostels Missionsstation, in die übrigens die Indianer nur als Diener eintreten dürfen(37), tatkräftig mit bei der Verdrängung der Indianer durch die Weißen; und durch diese ungerechte Behandlung einer bezeichnenderweise frei lebenden Bevölkerungsgruppe wird Nogat-Ehres politischer Anspruch nochmals deutlich in Frage gestellt. So belegt insgesamt die Koppelung des Kommunarden mit dem als nicht gleichberechtigt anerkannten Indianerhäuptling (der im Laufe der Erzählung auch noch stirbt), daß L'Hermites Grundposition für Fontane ebenso inakzeptabel ist wie die des zurückgebliebenen Indianers.(38)

   Ziehen wir an dieser Stelle Bilanz, so müssen wir sagen, daß "Quitt" eine pessimistische Grundhaltung über die Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen zur Schau trägt, die noch über das hinausgeht, was der Realist Fontane in seinem übrigen Werk äußert. Denn in seinen bekannten Gesellschaftsromanen, die das Eingebundensein des Menschen in die gegenwärtige Umwelt als gegeben hinnehmen und daraus den Konfliktstoff entwickeln, wird jegliches menschliche Scheitern auch zu einer Kritik an der Gesellschaft. In "Quitt" dagegen wird dem Gescheiterten nun sogar die Flucht aus der heimatlichen Enge gestattet, wird er in die Weite der Neuen Welt eingeführt, wird ihm dort die freie Ortswahl gelassen, werden ihm Verfolger und Schnüffler vom Hals gehalten, wird ihm schließlich ein Lebensraum angeboten, der im


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Ansatz bemerkenswerte politische Vorzüge aufweist - doch der Arme leidet wie zuvor, seine Hoffnung auf ein besseres Leben wird zuschanden. Damit wird Lehnerts Schuldverstrickung von ihrem gesellschaftskritischen Kontext abgetrennt. Und der Einwand, daß Lehnert in Amerika an einer Beschädigung leide, die ihm vor seiner Flucht zugefügt wurde, daß also doch die daheim herrschende Gesellschaftsordnung an seinem Untergang schuld sei, kann nicht gelten. Denn die Unterdrückung in Nogat-Ehre existiert ja unabhängig von Lehnerts Vergangenheit und läßt nicht nur ihn allein leiden.

   Man mag in dieser Darstellung Fontanes einen anthropologischen Pessimismus sehen, wonach das menschliche Dasein stets mit Unfreiheit und Zwang verbunden ist, oder man mag hierin die weniger radikale Lehre sehen, daß das Problem der Schuldverstrickung mit der Sprengung des gesellschaftlichen Rahmens keinesfalls gelöst wird. Hoffnungslosigkeit, Ausweglosigkeit bleibt in jedem Fall zurück.


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Wie verhält es sich nun mit Karl Mays "Scout"? Wir haben die unterschiedlichen Strukturen bereits erwähnt. Mays Held löst sich im Laufe der Erzählung von der Zivilisation, wobei die Reihenfolge der Zwischenstationen, so wie sie aus dem Gang der Handlung erwächst, diese zielgerichtete Entwicklung deutlich akzentuiert: von der Metropole New York geht es über die Großstadt New Orleans und die texanischen Kleinstädte wie La Grange zu einer in die Wildnis vorgeschobenen Hazienda und schließlich zu den Camps der Westmänner und Indianer in der Mapimi. Und man beachte, daß die geographischen Namen, so wie sie nacheinander fallen, vom sehr Bekannten zum Unbekannten führen und somit allein schon im sprachlichen Inventar der Weg hinaus aus dem vertrauten Lebensraum markiert wird. Die Siedlungen, diese Zentren der Zivilisation, können den Helden nicht lange halten; kaum in einer von ihnen angekommen, sucht er buchstäblich das Weite und steht damit in genauem Gegensatz zu Lehnert Menz, der sich willig in eine Kolonie der Zivilisation einschließen läßt. Bei May wird mit dem Voranschreiten der Erzählung jegliche Einschließung abgewehrt, alles strebt zur Offenheit, zur totalen Freiheit. Offen ist, wenn wir das Wort in seinem vieldeutigen Sinne nehmen, in Mays Wildem Westen nicht nur die Landschaft, die sich vor dem Reisenden unabsehbar ausdehnt, nicht nur die Reiseroute, die je nach Bedarf geändert wird, sondern sogar das Beförderungsmittel. Lediglich anfangs


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reist der Held mit dem Schiff, dessen bedrohende Enge ihn fast in Lebensgefahr bringt. Später geht es nur zu Pferd weiter; und wie sehr mit diesem Wechsel ein Gefühl von Freiheit verbunden ist, zeigt sich in einer Passage aus dem Kapitel Über die Grenze. Dieser Titel(39) bezieht sich zunächst auf die mexikanische Grenze, meint jedoch eigentlich, da der Held in diesem Kapitel erstmals die Prärie betritt, den Übergang von der Zivilisation in die Wildnis. Die Stelle lautet:

Nun hatten wir in sechs Tagen fast zweihundert englische Meilen zurückgelegt, eine Leistung, welche außer Old Death Niemand unsern Füchsen zugetraut hätte. Die alten Pferde aber schienen hier im Westen neu aufzuleben. Das Futter des freien Feldes, die stets frische Luft die schnelle Bewegung bekam ihnen ausgezeichnet; sie wurden von Tag zu Tag muthiger, lebendiger und jünger, worüber der Scout sich außerordentlich freute, denn dadurch wurde ja erwiesen, daß er einen ausgezeichneten "Pferdeverstand" besaß . . . .(40)

Der Boden, welchen wir unter uns hatten, war außerordentlich geeignet zu einem schnellen Ritte. Wir befanden uns auf einer ebenen, kurzgrasigen Prairie, über welche unsere Pferde rnit großer Leichtigkeit dahinflogen. Die Luft war sehr rein, so daß der Honzont in großer Klarheit und Deutlichkeit vor uns lag.

   Das Verlangen nach Freiheit und Offenheit wird hier in ein dynamisches Bild von der erwachenden Bewegungslust der Pferde umgesetzt, die, wenn man der Ortsbeschreibung folgt, mit den Lebensbedingungen des nun erreichten Freiraumes genau harmonisiert. Und da die Pferde, wie es heißt, von Tag zu Tag lebendiger werden, wird sogar der Eindruck geschaffen, als ließe sich ab jetzt diesem Verlangen endlos stattgeben. In dieser Schilderung, die durch den Hinweis auf Old Deaths Freude an diesen Tieren den Menschen nachdrücklich mit einbezieht(41), äußert sich mehr als nur die Bewegtheit, die bei Reiseschriftstellern im allgemeinen zu finden ist; hier wird nicht mehr eine Reise beschrieben, sondern die Berauschung an schrankenloser Ungebundenheit. Zum Vergleich sei auf Mays Zeitgenossen Jules Verne verwiesen, bei dem die Reisen noch weiter führen als bei May, wobei jedoch, wie Roland Barthes aufgezeigt hat(42), der Aufenthalt und das Sich-Einrichten im Beförderungsmittel, dem Unterseeboot oder der Raumkapsel, ein durchgängiges Motiv ist; so daß Jules Verne trotz aller Ortsveränderungen bis zuletzt die Einschließung kultiviert.

   Die Offenheit bei May geht schließlich so weit, daß die Wahl der Gefährten offen bleibt. Zunächst werden zwar dem Helden verschiedene Begleiter fest beigegeben, und auf die Führung Old Deaths ist er sogar angewiesen. Doch im Laufe seiner Lehrzeit kann er ihn immer mehr entbehren, so daß auch hier der Tod nur folgerichtig ist. Old Deaths Tod, den wir bisher nur aus der Vergangenheit Old Deaths heraus betrachtet haben, bedeutet die letzte Emanzipation der Ich-Gestalt, die fortan keine Unterordnung mehr kennt. Dazu paßt auch, daß dieser


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Tod von vornherein längst nicht so niederdrückend ist wie der Lehnerts bei Fontane, denn Old Death ist ein Greis und macht außerdem durch die dem Bruder hinterlassenen Schatzpläne sein Unrecht wieder gut. Nach dem Abtreten Old Deaths ist aber für den Helden nicht nur die Unterordnung beseitigt, sondern es bleibt jegliches Verhältnis des Helden zu seinen Mitmenschen zwanglos. Von Winnetou, dem neuen Freund, verabschiedet er sich bald wieder, und die angedeutete beginnende Kameradschaft mit Harton ist nur für das nächste Reiseziel gedacht. Diese Absenz von persönlicher Bindung, diese Weigerung, nicht nur sich unterzuordnen, sondern sich überhaupt auf eine Lebensgemeinschaft festzulegen, ist gewiß eine problematische Form von Freiheit, die stark von einem pubertären Narzißmus geprägt ist. (May hat sich bekanntlich in seinem Spätwerk hierüber sehr selbstkritisch geäußert.) Doch kann sie als Zwischenstadium in der Entwicklung einen fruchtbaren radikalen Akt der persönlichen Entfaltung ermöglichen und daher verlockend und notwendig sein, und zwar besonders natürlich für denjenigen, der wie May in dem Elend und der Drangsal einer erzgebirgischen Weberfamilie aufgewachsen ist. Interessanterweise wird speziell diese Form der Freiheit von dem Denker gerühmt, der (beinahe wie Mays Held, möchte man sagen) an keinem Ort lange zu bleiben vermochte und jede Festlegung und Einschließung fast krankhaft mied, nämlich Jean-Jacques Rousseau: im Naturzustand der Menschheit, jenen vergangenen guten Zeiten, lebte der Einzelne - so sagt Jean-Jacques - ohne langzeitige Bindungen und war dadurch viel mehr zu impulsivem Mitleid und zu Hilfsbereitschaft fähig als der moderne Mensch, der vor jedem Handeln erst seine Vernunft befragt.(43) Diesem paradox anmutenden Gedanken von dem guten Sozialverhalten des bindungslosen Menschen schließt sich Karl May in seinen Reiseerzählungen an; zumindest ist die fast grenzenlose Hilfsbereitschaft Old Shatterhands, der andererseits großen Wert auf seine Unabhängigkeit legt, eine Illustration dieser gewiß fragwürdigen These Rousseaus.

   Das Streben nach Offenheit ist schließlich nicht nur im Erzählten gegenwärtig, sondern prägt auch die erzählerische Komposition. So hat sich am Ende des Werkes die eigentliche Verwicklung der Handlung gelöst - der Entführte ist befreit, der Schuldige kommt zu Fall -, aber der Erzähler zieht keinen Schlußstrich, sondern führt den Leser in einen Schwebezustand zwischen Ruhe und Erwartung. Es war mir, so heißt es auf der letzten Seite, wo sich die Akteure von den Strapazen erholen, doch die Lust gekommen und von Tag zu Tag gewachsen, mit Harton in die Sonora zu gehen.(44) Diese vorsichtige und dadurch erre-


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gende Andeutung, verbunden mit der darin geäußerten Vorfreude, hat zur Folge, daß das eben beendete Geschehen nicht wie ein abgeschlossener Komplex wirkt, sondern wie eine Etappe innerhalb eines übergreifenden Ganzen, das seinerseits nicht präzisiert wird und damit der Phantasie des Lesers für alle Möglichkeiten offen bleibt. Gewiß haben fast alle Erzählungen Mays, begünstigt darin durch die Ich-Form, eine Art offenen Schluß (»Es wird weiter geritten«, hat Arno Schmidt süffisant notiert(45)), doch in keiner wird er so systematisch entfaltet wie hier. Diesen Charakter hat May auch dadurch zu erhalten gewußt, daß er zum "Scout" keine direkte Fortsetzung geschrieben hat, auch nicht nach dessen Eingliederung in den "Winnetou"-Roman, obwohl sich gerade dort ein Weiterspinnen nach der Ankündigung des Sonora-Abenteuers angeboten hätte.

   Der Name Rousseau wurde genannt, und es fällt nach den ersten Parallelen, die wir gezogen haben, nicht schwer, May in jener Tradition zu sehen, die von Rousseau zwar nicht begründet, aber erst von ihm zu einer Kulturtheorie vertieft worden ist, jene Tradition, die in der kulturellen Entwicklung ein Unheil für die Menschheit und die größeren Möglichkeiten für das Glück in vorzivilisatorischen Lebensformen sieht. Diese Lehre findet sich bei Karl May wieder, dessen freiheitliche Wildnis ein positives Gegenbild zur Zivilisation ist, die sein Ich-Held in zwei Varianten kennenlernt, der miserablen in der Heimat und der etwas besseren des amerikanischen Ostens, und beidesmal wieder verläßt. Insbesondere sehen wir in ihr ein Gegenbild zu Theodor Fontanes Nogat-Ehre, und zwar nicht allein weil, was allerdings grundlegend ist, sie die Repression und die Enge nicht kennt, sondern auch in weiteren Einzelheiten: Mays Freiraum gründet Autorität nur auf Sachkompetenz - Old Death tritt als Wild-West-Kenner, Hornbostel dagegen als Patriarch auf - , er kennt keine entfremdete Arbeit - Nogat-Ehre dagegen pflegt Geschäftsverbindungen(46) - , er ist weltanschaulich nicht festgelegt - Nogat-Ehre dagegen versteht sich als Missionsstation -, er errichtet keine Rassenschranken - die Indianer werden bei May nicht bezwungen, sondern geachtet. Bei diesem letzten Punkt sei noch ein bezeichnendes Detail angemerkt: der Neger Sam, der im "Scout" zeitweilig den Helden und seine Freunde begleitet, widerlegt mit dem Vordringen in den Westen alle rassischen Vorurteile und wird als gleichberechtigter Reisender anerkannt.(47) Man könnte nun gegenüber dieser Liste von Vorzügen einwenden, daß, anders als in dem von Rousseau konstruierten Lebensraum, in Mays Wildem Westen mit Waffen blutig gekämpft wird, daß also dort aggressives Verhalten geübt wird. Und tatsächlich scheint sich May diesem Ein-


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wand zu stellen. Zum einen kontrastiert er den meist ohne Hinterlist geführten Kampf der Indianer, der dazuhin oft von Weißen angezettelt wird, durch eine viel widerwärtigere Art des Bekriegens, die es nur in der Zivilisation gibt, nämlich das, wie er es nennt, infernalische Terrorwesen der Ku-Klux-Klan-Leute.(48) Und zum anderen läßt er den Gekidnappten, einen Wahnsinnigen, gerade unter Westmännern wieder gesund werden, und zwar durch einen Schlag mit dem Gewehr, das in diesem Fall also nicht todbringend ist.(49) Überspitzt wird hier im knappen Bild nochmals ausgedrückt, was schon in der erwachenden Bewegungsfreude sichtbar wurde, daß nämlich die Wildnis bei denen, die sie aufsuchen, die Schäden der Zivilisation repariert und sie zu sich selbst finden läßt.

   Entsprechend ergibt sich, daß mit dem Eindringen in die Wildnis manche Nöte und Probleme vorangegangener Kapitel in den Hintergrund rücken. Old Death, der in La Grange beim Tanz verletzt wird und sich einem Quacksalber ausliefern muß, meistert souverän kurz danach, als es über die Grenze geht, gefährliche Ritte und Begegnungen, der mexikanische Bürgerzwist um Maximilian und Juarez, der am Anfang ausführlich beschrieben wird, ist am Ende vergessen, und der in New York begonnene Entführungsfall, ein Hauptstrang der Fabel, bleibt in einem wichtigen Punkt, nämlich der Aufklärung des Tatmotivs, unvollständig. Welche Pläne Gibson (der Entführer) eigentlich mit William Ohlert (dem Entführten) verfolgt hatte, war nicht mehr zu erfahren(50), heißt es am Schluß lapidar, ohne daß diese rasche Erledigung des Themas den Leser befremdet. Der Leser geht eben so weit in der glückverheißenden Umgebung des Wilden Westens auf, daß ihm die früher in der Zivilisation entstandenen Probleme gleichgültig sind, ja ihre Behandlung ihn jetzt stören würde.

   Nun ist es allerdings nicht so, daß im Schlußteil sämtliche Erinnerungen an die Zivilisation getilgt sind. Old Deaths Jugendsünden etwa werden zur Sprache gebracht, und der befreite Sohn wird vom Vater zurückgeholt. Solche Passagen haben eine wichtige Funktion: sie verhindern, daß sich der Freiraum gegenüber der Realität verselbständigt, so wie May auch durch die historischen Hintergründe und präzisen geographischen Angaben dafür sorgte, daß seine Erzählungen in Zeit und Raum zu fixieren sind. Der Freiraum erscheint dadurch, trotz seiner märchen- und mythenhaften Züge, dem Leser zugänglich, das erwähnte Aufgehen des Lesers im Wilden Westen wird so erst ermöglicht. Hinzu kommt, daß May seine Personen so anlegt, daß sich der Leser mit ihnen identifizieren kann. Dies gilt besonders für den Ich-Helden, der durch seine Herkunft und seine anfänglichen Schwie-


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rigkeiten - und darin besonders bei dem an sich faszinierenden Reiten - naturgemäß dem Leser nahesteht. Doch eine Identifizierung ist auch möglich mit Old Death, der seinem Schüler verrät, er habe früher einmal genau wie dieser studiert, und sich somit zum ehemaligen Greenhorn erklärt.(51) So kann sich der Leser sofort nicht nur in die Rolle des Schülers, sondern fast auch in die des Meisters hineindenken. Die Einführung des Lesers in die Gegenwelt zur Zivilisation ist perfekt.


4

Man wird sich nun zum Schluß, nachdem wir die extremen und einander diametral entgegengesetzten Entwicklungstendenzen in den beiden Auswanderergeschichten festgestellt haben und dabei Karl Mays radikalem Freiheitskonzept auf die Spur gekommen sind, fragen, ob dieses Konzept uneingeschränkt zu loben ist - demgegenüber Fontane, so wäre dann hinzuzufügen, in Konvention und Enge verhaften bleibt. So einfach ist die Sachlage freilich nicht, denn zu bedenken ist, mit welcher Leichtfertigkeit gewissermaßen May sich im "Scout" über die Wirklichkeit hinwegsetzt, die ein Aufgreifen des rousseauschen Mythos nicht mehr gestattet. Denn der Untergang der Indianer stand zur Handlungszeit des "Scout" (um 1866) und erst recht zu seiner Entstehungszeit bereits fest. Fontane gibt da, so außergewöhnlich uns auch sein preußisches Amerika und der damit verbundene Pessimismus erschienen sind, ein realistischeres Bild über das Dasein im Westen beim Vordringen der Weißen. Dann ist aber doch die Kühnheit zu bewundern, mit der May nun, da reale Vorbilder nicht mehr vorhanden sind, trotzdem der zeitgenössischen Gesellschaft seine Welt des Wilden Westens entgegenstellt, jene utopische Antiwelt, die den Ansprüchen der Humanität gerecht wird und dabei als literarische Fiktion in sich stimmig ist.

   Hermann Hesse hat einmal erklärt(52), er könne Karl May nicht zu den großen Dichtern zählen; der Flug seiner Seele sei zu eng. Vielleicht wäre eher zu sagen: Karl May kann man nicht zu den Realisten zählen, dazu ist der Flug seiner Seele zu weit.



Textgrundlage für die Fontane-Zitate ist die Ausgabe des Hanser-Verlags Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München 1970 ff. Sie enthält "Quitt" im 1. Band der Abteilung I; den ausführlichen Anmerkungsteil der Herausgeber haben wir mit großem Gewinn herangezogen. Bei Zitaten aus "Quitt" geben wir zusätzlich die Seitenzahlen der textgleichen Taschenbuchausgabe (Ullstein 4521) in Klammern an. - Ansonsten wird auf die Hanser-Ausgabe durch


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das Kürzel HA mit beigefügter römischer (für die Abteilung) und arabischer (für den Band) Ziffer verwiesen.

"Der Scout" wird zitiert nach Karl May: Der Scout/Deadly Dust. Regensburg o. J. (1977). Es handelt sich um einen Faksimile-Nachdruck der Veröffentlichung im 15. Jahrgang (1888/89) des "Deutschen Hausschatz" mit einer Einführungvon Claus Roxin. - Römische Zahlen bei Textstellen Mays beziehen sich auf die Bände der Freiburger Ausgabe von Karl Mays "Gesammelten Reiseerzählungen" (1892 ff.).

1 Scout 7b

2 Genauer: es sind dies die Seiten 11 bis 392 der Freiburger Ausgabe (VIII) des 2. Bandes von "Winnetou", der 630 Seiten umfaßt.

3 Zu dieser und den folgenden Überlegungen siehe die genannte Einführung von Claus Roxin, die darüber hinaus durch ihre grundlegenden Hinweise auf den »vergleichsweise realistischen Charakter« (2) des "Scout" von Bedeutung ist. Wichtige Vorarbeiten enthält die Untersuchung von Anton Haider: Der Scout auf dem Weg zu Winnetou. Ergebnisse einer Vergleichslesung. (Sonderveröffentlichung der Karl-May-Gesellschaft, o. J. (1976)).

4 Quitt 261 (55)

5 Quitt 274 (68), 327 (121), 360 (154), Scout 7b

6 Quitt 338 (132)

7 Scout 51a-53b

8 Vgl. das Gespräch mit dem Sheriff, der als Richter Lynch auftritt (Scout 50b).

9 Quitt 388 (182), Scout 18b

10 Insoweit bestätigt sich hier, was Fritz Martini allgemein über die Amerika-Literatur des 19. Jahrhunderts sagt: »Seit den späteren fünfziger Jahren werden hingegen solche Kontraste (zwischen Amerikasentimentalismus und Amerikakarikatur) abgebaut; das Bild Amerikas und der Amerikaner stellt sich als ausgeglichener und beruhigter dar.« Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzählwerk von Keller, Raabe und Fontane. In: Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt. Nordamerika. USA. Hrsg. von Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch. Stuttgart 1975, 178 - 204 (179).

Zur literarhistorischen Einordnung der Amerika-Erzählungen Mays vgl. auch Hartmut Vollmer: Karl May - Nikolaus Lenau. In: M-KMG 44/1980, 16 - 22

11 Scout 62b, Quitt 386 (180)

12 In beiden Fällen liegen briefliche Zeugnisse vor: Brief Fontanes vom 14.5.1849 an seinen Freund Bernhard von Lepel (HA IV/1, 69ff.) und Brief Mays vom 20.4.1869 an seine Eltern. Der Brief Mays ist wiedergegeben bei Klaus Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann« oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870, 1. Teil. In: Jb-KMG 1972/73 215 - 247 (221f.). Zu Fontanes Auswanderungsplänen siehe Hans-Heinrich Reuter: Fontane. München 1968. Bd.1,226ff., Helmuth Nürnberger: Theodor Fontane in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1968, 61 sowie Pierre Bange: Zwischen Mythos und Kritik. Eine Skizze über Fontanes Entwicklung bis zu den Romanen. In: Fontane aus heutiger Sicht. Analysen und Interpretationen seines Werks. Hrsg. von Hugo Aust. München 1980, 17-55 (29 und 51, Anm.22).

13 Zu der Problematik um Fontanes Bindung an Preußen siehe v. a. Pierre Bange a.a.O.

14 Vgl. Reuter a.a.O. Bd. 1, 237f.

15 HA IV/3, 390

16 Vgl. das von Reuter (a.a.O. Bd. 1, 386) mitgeteilte Briefzitat Fontanes: »Das Büchermachen aus Büchern ist nicht meine Sache.«

17 Heinz Stolte: Der Volksschriftsteller Karl May. Beitrag zur literarischen Volkskunde. Radebeul 1936 (Nachdruck Bamberg 1979),128 - 134 (speziell über Old Death 130f.)

18 Siehe auch die Bemerkungen über Old Death bei Roxin a.a.O. 3

19 Peter Demetz: Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen. Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1973, 89. - Die Existenz der märchenhaften


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Elemente im zweiten Teil von "Quitt" ist zunächst überraschend, wenn man Fontanes kritische Äußerungen aus dem Jahr 1875 über Kellers "Romeo und Julia auf dem Dorfe" einbezieht, in denen es heißt: »Eine auf den ersten fünfzig Seiten realistische Geschichte darf aber auf den letzten fünfzig nicht romantisch sein. Dadurch kommt ein Bruch in das Ganze, der stört und verwirrt.« (HA III/1, 496). Aufgrund dieser Äußerung sieht daher Peter Demetz, für den "Quitt" ein »unglückseliger Zwitter« ist - weil das Werk schließlich in einen politischen Roman ausarte -, bei diesem Verdikt den Literaturtheoretiker Fontane auf seiner Seite (Demetz a.a.O.92f.). Für eine Beurteilung des Märchenhaften in "Quitt" jedoch ist zu beachten, daß Fontane bei Keller ausdrücklich das »a l l m ä h l i c h e  Hineingeraten aus mit realistischem Pinsel gemalter Wirklichkeit in romantische Sentimentalität« (HAIII/1,495; Sperrung M. L.) kritisiert, während in "Quitt" das Auftauchen des Märchenhaften in Zusammenhang mit einer strengen Zweiteilung der Erzählung steht. In unserer Problematik um die Märchenhaftigkeit des zweiten Teils von "Quitt" stehen also der Schriftsteller und der Theoretiker Fontane durchaus im Einvernehmen.

20 Demetz a.a.O. 92ff.

21 Quitt 338 (132)

22 Demetz a.a.O. 95

23 Quitt 339 (133), 377 (171)

24 Quitt 423ff.(217ff.)

25 HA I/4, 596

26 Quitt 367f.(161f.)

27 Quitt 261 (55)

28 Quitt 347 (141)

29 Hans-Heinrich Reuter: Kriminalgeschichte, Humanistische Utopie und Lehrstück. Theodor Fontane, "Quitt". In: Sinn und Form 23 (1971), Heft 6,1371 - 1376 (1373)

30 »Automatenhaft geht die Handlung zu Ende.« Hans-Heinrich Reuter: Grundpositionen der »historischen« Autobiographie Theodor Fontanes. In: Theodor Fontanes Werk in unserer Zeit. Symposion zur 30-Jahr-Feier des Fontane-Archivs der Brandenburgischen Landes- und Hochschulbibliothek in Potsdam. Potsdam 1966, 13-36 (34)

31 Reuter a.a.O. (wie Anm. 29) 1372

32 Ebd. 1372

33 Ebd. 1373, ebenso in Reuter, wie Anm.30, 27

34 Quitt 388 (182)

35 So steht das Urteil des Erzählers, wonach Hornbostel »nach Art vieler Frommen einen stark ausgebildeten Sinn für die Güter dieser Welt hatte« (358 (152)), im Einklang mit einer Äußerung Kaulbars' über Hornbostel: » . . . und weiß auch ganz gut, daß die Spargelköppe besser schmecken als die Stangen, und in Denver hat er was in der Bank liegen, und in Galveston hat er was liegen, und in Amsterdam hat er auch was liegen.« (380 (174))

Interessanterweise hat Fontane selbst in einem Brief vom 15.11.1889 an die Redaktion der "Gartenlaube" eine gewisse Gleichrangigkeit von L'Hermite und Kaulbars angedeutet: » . . . ans Herz gewachsen sind mir in all diesen Kapiteln der 2. Hälfte nur zwei Gegenüberstellungen: der Gegensatz zwischen L'Hermite und Lehnert, die Beide ihren Mord auf der Seele haben, und der Gegensatz zwischen Martin Kaulbars und Lehnert, als spezifischer Schlesier und 3 mal geaichter Märker.« (HA IV/3, 737)

Vgl. hierzu auch die nuancierten Bemerkungen Fritz Martinis (a.a.O. 199 - 201) über die Gestalt des Kaulbars.

36 Siehe etwa Quitt 374 (168), wo Gunpowder-Face bei einer Feier »mit einem mexikanischen Götzengesicht sichtbar« wird.

37 » . . . so daß von der ganzen Obadjaschen Hausgenossenschaft, selbstverständlich mit Ausnahme der eigentlichen Familie, nur die dienenden Cherokee- und Arapahoindianer, Männer und Frauen, zur "Gemeinde" gehörten, in die sie, nach zuvor empfangenem Unterrichte, meist mit zwanzig oder vierundzwanzig Jahren einzutreten pflegten.« (Quitt 347 (141))


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38 Walter Müller-Seidel hat bereits Reuters These vom »ersten Exilroman« widersprochen. Seine Kritik an Reuter gründet sich darauf, daß Fontane das Schuld-Sühne-Problem unbefriedigend gelöst habe, und berührt nicht Reuters Lob der Lebensbedingungen in Hornbostels Siedlung. Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. 2Stuttgart 1980, 233f.

39 Scout 55b. Diese Kapitelüberschrift findet sich z. T. in wörtlicher Übereinstimmung in Mays Spätwerken "Im Reiche des silbernen Löwen" (XXVIII, 67) und "Ardistan und Dschinnistan" (XXXII, 597) wieder. S. Anm. 41

40 Scout 56a

41 Die Pferde sind ebenso wie Old Death früher bereits im Wilden Westen gewesen (54b), so daß für sie das Eindringen in den Freiraum Rückbesinnung an einstiges Glück bedeutet. In diesem Detail wird man auf der Grundlage von Hans Wollschlägers Beschreibung der Mayschen Altersutopien als Wiederherstellung früheren Glücks eine interessante Parallele zwischen "Scout" und Alterswerk sehen. Der "Scout" nimmt auch - als weitere Parallele - mit seiner Betonung einer Grenze vor dem Freiraum das im Spätwerk bedeutsame Motiv der Grenze und ihrer Überschreitung vorweg. Zu beiden Themenkreisen im Alterswerk siehe Hans Wollschläger: Der »Besitzer von vielen Beuteln«. Lese-Notizen zu Karl Mays "Am Jenseits" (Materialien zu einer Charakteranalyse II). In: Jb- KMG 1974, 153 - 171 (siehe v. a. 168), und ders.: Das »eigentliche Werk«. Vorläufige Bemerkungen zu "Ardistan und Dschinnistan" (Materialien zu einer Charakteranalyse 111). In: Jb-KMG 1977, 58-80

42 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M. 1976, 39 - 42

43 Vgl. die 2. Hälfte des 1. Teils von Rousseaus "Discours sur l'inegalite": Jean-Jacques Rousseau: Schriflen. Hrsg. v. Henning Ritter. München-Wien 1978, Bd. 1, 215-229

44 Scout 122b

45 »Damit beendet MAY jubelnd gern seine Bände, mit diesem "Es wird weiter geritten"!« Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk und Wirkung Karl Mays. Karlsruhe 1963, 112

46 Vgl. die Hinweise auf Hornbostels Getreideversand (Quitt 365 (159)) und seine Kapitalanlagen (s. Anm. 35)

47 Vgl. Old Deaths Urteil über den scharfsinnigen Spurenleser Sam (Scout 61b)

48 Der Klan wurde nachgerade zu einem infernalischen Abgrunde (Scout 30a)

49 Es war, als sei mit dem Kolbenhiebe die unglückselige Monomanie, ein wahnsinniger Dichter zu sein, erschlagen worden. (Scout 122a)

50 Scout 122a

51 » . . . Ich habe nämlich auch - - studirt und denke heut'noch mit großem Vergnügen d'ran, was für ein eingebildeter Dummkopf ich damals gewesen bin. . . . « (Scout 1 l b)

52 »Daß er ein großer Dichter sei, möchte ich nicht sagen; dazu ist seine Sprache allzu schablonisiert und der Flug seiner Seele zu eng.« Hermann Hesse: Eine Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Frankfurt a. M. 1975, 356


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