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HELMUT SCHMIEDT


Literaturbericht



Siebzig Jahre nach Karl Mays Tod, viereinhalb Jahrzehnte nach Erscheinen der ersten Dissertation über den Autor und anderthalb Jahrzehnte nach der Gründung der Karl-May-Gesellschaft und dem Ausbruch der Flut von ›Trivialliteraturforschungen‹ in der universitären Literaturwissenschaft befindet sich die Karl-May-Forschung an einem Wendepunkt ihrer Geschichte. Die These sei gewagt: die Zeit der großen Aufbrüche, in der beinahe jedes neue Jahr eine Reihe mehr oder weniger spektakulärer Mitteilungen über Mays Vita und Analysen zu seinem Werk brachte, ist - von immer einzukalkulierenden Ausnahmen abgesehen - vorüber; wir geraten in eine Phase der Ausarbeitung vorgegebener Perspektiven, der detaillierten Ergänzung und Fortführung dessen, was sich in Umrissen bereits abgezeichnet hat. Mit Sensationen ist kaum noch zu rechnen.
   Die publizistische und wissenschaftliche Beschäftigung mit May hat sich bisher in drei Abschnitten vollzogen. Der erste beginnt um die Jahrhundertwende mit dem erbitterten Streit um May als öffentlich wirksame Persönlichkeit: Polemiken pro und contra wechseln einander ab, und das vielzitierte Karl-May-Problem verfängt sich in einem schier unentwirrbaren Knäuel aus Vorwürfen, Verdächtigungen und der Zurückweisung dieser Angriffe durch die jeweils andere Seite; der Höhepunkt der Streitigkeiten wird zweifellos zu Mays Lebzeiten erreicht, aber sie ebben auch danach nur langsam ab, und vermutlich lassen sich noch manche Merkwürdigkeiten in den Karl-May-Jahrbüchern der Jahre 1918-1933 als indirekte Reaktionen auf sie erklären. Dann verliert sich über Jahrzehnte hinweg, aufgrund der verschiedensten Umstände, das Interesse an May als einem öffentlich engagiert zu besprechenden Thema: Die Phase reicht bis in die späten sechziger Jahre. Zu diesem Zeitpunkt kommt es im Zusammenhang mit den eingangs erwähnten Ereignissen zu einer wiederum intensivierten, nun aber um seriöse Einsichten erfolgreich bemühten Konzentration auf den Autor. In wenigen Jahren entstehen so viele und so ergiebige Studien, daß die Arbeit gleich mehrerer Dezennien in den Schatten gestellt wird.


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   Es bedarf keiner näheren Erläuterung, daß diese Kategorisierung so grob und daher in Einzelfällen unzutreffend ist wie jedes derartige Unterfangen. Selbstverständlich gab es zu allen Zeiten ebensowohl ernsthafte Analysen - man denke an Droops Studie, die noch zu Mays Lebzeiten erschien, an die Dissertation Stoltes und den Essay ›Durch die Wüste und so weiter‹ von Volker Klotz aus dem zweiten Zeitraum - als auch naive Polemiken, aber die Sichtung der Sekundärliteratur läßt wohl doch eine Tendenzfeststellung zu. Heute nun präsentiert sich eine solche Fülle verschiedener, z. T. sogar gegensätzlicher, durchweg aber anregender Aspekte, daß ihre weitere Untersuchung engagierte Beobachter noch über Jahre hinaus beschäftigen kann, während es weniger leicht denkbar ist, daß gänzlich neue Seiten des Phänomens zu erschließen sind. Mays Werk ist mittlerweile in die verschiedensten geistes- und literaturgeschichtlichen Traditionen gestellt und in ihrem Lichte erhellt worden. Die Beziehungen zwischen der Lebenswirklichkeit des Autors und den Inhalten seiner Phantasie sind von einer ganzen Reihe von Kommentatoren besprochen worden, die jeweils unterschiedliche Akzente gesetzt haben. Es wurden in ideologiekritischen Abhandlungen die Thesen vertreten, das Weltbild Mays sei reaktionär und habe dem Nationalsozialismus zugearbeitet, sei rebellisch-anarchisch und utopisch-oppositionell, sei liberal-konservativ im Sinne saturierter Bürgerlichkeit; meine eigene Überzeugung geht dahin, daß die Besonderheiten des Werkes sich gerade aus einer skurril-virtuosen Mischung solch gegensätzlicher Neigungen ergeben. Es wurde ferner herausgestellt, daß Mays Romane auch in formal-ästhetischer Hinsicht erheblich mehr Qualitäten aufweisen, als lange Zeit angenommen wurde, daß sie in pädagogischer Hinsicht nützlich sind, daß sie unter demselben Aspekt schädlich sind, und schließlich haben zahlreiche Untersuchungen den Lebensweg des Autors mit einer Präzision verfolgt, die immer weniger dunkle Stellen übrigließ. Auf allen diesen Gebieten sind weitere Bemühungen nötig, auf den meisten sind sie im Gange; daß sich dabei aber so überraschende, weitgreifende Entwicklungen vollziehen werden wie in den siebziger Jahren, steht nicht zu vermuten. Man mag von einer Phase der Ernüchterung sprechen, aber zweifellos bedeutet diese Wendung nicht, daß etwa um die Zukunft der May-Forschung zu fürchten wäre. Zu gewissen Zeiten führt die Beschäftigung mit jedem literarischen Gegenstand in ein Stadium der Konsolidierung, da es eher um die Vertiefung vorgegebener Erkenntnisse und um ihre Überprüfung in weiteren Zusammenhängen geht als um die Erarbeitung grundlegend neuer Einsichten; vielfach wird sich diese Tätigkeit, indem sie sich auf bisher unbeachtete Einzelheiten ih-


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res Objekts einläßt, sogar besonders anregend gestalten, und in manchen Fällen wird sie ihre Ausgangsposition in Frage stellen, also doch Anlaß geben, elementare Probleme erneut zu überdenken.
   Zu dieser Phase der Konsolidierung gehört es, daß May zunehmend zum Gegenstand universitärer Lehrveranstaltungen wird; die Zeit, da Seminare über ihn zu den vielbestaunten Ausnahmen im Wissenschaftsbetrieb zählten, ist vorbei, und jüngst hat es sogar die, wenn ich recht sehe, erste Vorlesung gegeben, die ihm die deutsche Hochschulgeschichte widmete. Zur Konsolidierung der Forschung trägt ferner ihre Popularisierung bei: Karl May wird allmählich auch in jenen Publikationen als diskussionswürdiges Phänomen uneingeschränkt anerkannt, die sich nicht an einen von vornherein beschränkten Expertenkreis richten. Zwei kleine Aufsätze in populärwissenschaftlichen Zeitschriften und ein Buch mit ähnlicher Tendenz sind zu registrieren.
   In einem Heft der Reihe ›literatur konkret‹1 vergleicht Peter Dahl Karl May und Hans Fallada; Titel und Vorspann sprechen für sich; »Neurose und Dichtung [. . .] Gemeinsam war den Zwangsschreibern Karl May und Hans Fallada das Schreiben als Lebensbewältigung und Droge zugleich« (70). Rolf Breuer beschreibt in einer psychologisch und wirkungsästhetisch argumentierenden Abhandlung, die in ›Psychologie heute‹ erschienen ist2, den »Tagträumer der Nation« (39). Wolfgang Schmidbauer schließlich, der in seinem Buch über die ›Ohnmacht des Helden‹ und unseren ›alltäglichen Narzißmus‹3 den Versuch unternimmt, »die Veränderungen des menschlichen Selbstgefühls mit den (heute so stark durch die Technik bestimmten) Veränderungen unseres Alltagslebens zu verbinden«, in diesem Zusammenhang das Phänomen der »Konzentration von Gefühlen und Gedanken auf die eigene Person« beobachtet und zur Klärung des Problems die allbekannten »Helden im Reich der Phantasie« (7) analysiert, zieht Karl May und sein Roman-Ich als Paradigma des bürgerlichen Helden heran (91 - 124).
   Dahl hebt als Gemeinsamkeiten zwischen May und Fallada hervor, »daß sie beide um ihr nacktes Existieren schrieben, sich beide von einer kriminellen Karriere freischrieben« (70). Er skizziert ihre krisenreichen Lebenswege, die therapeutische Funktion der literarischen Arbeit und den Realitätscharakter, den erschriebene Gestalten unvermittelt annehmen, wenn »das Schreiben an die Stelle des Lebens tritt« (71); zudem weist er darauf hin, daß der Eskapismus beider Autoren, da er ja der individuellen Bewältigung der zeitgenössischen Verhältnisse gilt, übergeordnete politische und soziale Implikationen birgt. Diesen Beziehungen geht auch die auf May konzentrierte Untersu-


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chung Breuers nach, die sich in drei Abschnitte gliedern läßt. Im ersten notiert Breuer, unter Bezug auf den sechsbändigen Orientroman, wie dem Ich-Helden Kara Ben Nemsi durch eine ganze Fülle von »Szenen des Sich-Durchsetzens« Triumpherlebnisse beschert werden, wobei es zumeist um den »Kampf zweier Persönlichkeiten, zweier Charaktere«, um den »Zusammenprall eines stärkeren Ichs mit einem schwächeren« (40) geht, also um psychische Auseinandersetzungen häufiger als um physische; im zweiten erklärt er diese Konstellation als eine »sozial akzeptable Bewältigung der frühen Ich-Beschädigung durch Fiktionen« (43), als eine kompensatorische Antwort des Schriftstellers auf Demütigungen und Niederlagen im empirischen Leben; im dritten wird Mays »individuelle Neurose mit der kollektiven Neurose seines Volkes« (44) verglichen, und Breuer stellt heraus, daß es weitreichende Parallelen zwischen den persönlichen »Allmachtsphantasien« (43) und den politischen Bedürfnissen der damaligen und der späteren deutschen Leser gegeben hat: »uns Deutsche« kennzeichne ein »kollektives Minderwertigkeitsgefühl«, ein »gefährdetes Selbstgefühl« (45), und zu Mays Lebzeiten sei das in besonderem Maße der Fall gewesen. Auf ähnlichen Bahnen bewegt sich die ausführlichere Darstellung von Schmidbauer. Der Autor geht ebenfalls davon aus, daß May »in großem Elend und ständig von narzißtischen Kränkungen bedroht« (91f.) herangewachsen ist. Er betont in Anlehnung an ›Mein Leben und Streben‹ und an Wollschlägers Monographie die Störungen in den familiären Verhältnissen und ihre späteren Auswirkungen und verfolgt, wie der so erzeugte Narzißmus sich in literarischen Werken niederschlägt, die in erster Linie die vielfältigsten Erfolge ihres Helden formulieren; auch hier fehlt nicht der Hinweis, Mays Romane verwirklichten zugleich »kollektive Träume« (105). Schmidbauer hat leider Wollschlägers großen Narzißmus-Aufsatz aus dem Jb-KMG 1972/73 nicht verarbeitet, und so eignet seinen Ausführungen auch in dem begrenzten Rahmen, der ihnen von vornherein gesetzt war, eine geringere Präzision, als möglich gewesen wäre; anerkennenswert scheinen mir demgegenüber einige - freilich auch nicht durchgängig neue - Hinweise zu Detailproblemen zu sein, etwa zu dem Umstand, daß Mays Held manchmal auf so abgelegenen Feldern wie dem musikalischer Fertigkeiten seine größten Triumphe feiert (99ff.), und zum Verhältnis zwischen Winnetou und Old Shatterhand, das der Autor nicht im Sinne Arno Schmidts als homosexuell gedeutet, sondern als »Modellfall einer narzißtischen Beziehung, in der ein anderer Mensch als Selbst-Objekt dient« (103), verstanden wissen will.
   Keiner dieser Autoren wird wohl den Anspruch erheben, der May


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Forschung gänzlich neue Erkenntnisse zugeführt zu haben. Was zählt, ist die Verbreitung der Einsicht, daß das Bild des unproblematischen Unterhaltungsschriftstellers May trügt, wenn es eine Monopolstellung beansprucht, und wo die Popularisierung der Forschung, wie in den genannten Fällen, mit diskutablen Thesen vollzogen wird, sollte auch der Fachmann sie willkommen heißen, der zu Recht den Eindruck gewinnt, das alles schon gründlicher und überzeugender in dicken Büchern gelesen zu haben. Vielleicht wird man bei den drei Arbeiten aber noch einen ganz anderen Aspekt in den Vordergrund rücken, wenn man sich irgendwann einmal systematisch und ausführlich mit der Geschichte der Karl-May-Rezeption befaßt: Sie alle, obwohl sie unabhängig voneinander entstanden sind, fixieren ihren Gegenstand im Schnittpunkt individueller Not und kollektiver Bedürfnisse, persönlicher Angst und allgemeiner, politisch-gesellschaftlicher Unsicherheit gegenüber drohenden Katastrophen, und es hat vielleicht noch nie eine historische Epoche gegeben, in der dieser Zusammenhang so aktuell und, mit allem Pathos sei's gesagt, überlebenswichtig erschien wie heute. Nicht nur die Popularität Karl Mays, sondern auch die spezielle Intention bei der Popularisierung dessen, was man über ihn weiß, erscheint als ein Zeugnis zeittypischer Hoffnungen und Befürchtungen.
   Daß Einsichten über die Komplexität des Mayschen Werkes ein immer größeres Publikum erreichen, wird auch durch neuere Arbeiten auf dem Gebiet der Literaturdidaktik belegt; es ist dort kaum mehr die Rede vom Musterbeispiel des Kitschromans oder, wie in jüngerer Zeit, des überaus bedenklichen literarischen Eskapismus, der die Schüler von der Beschäftigung mit ihrer konkreten Realität ablenke. Lothar Bembenek möchte bei der Erörterung des Dritten Reiches im Unterricht die damalige May-Rezeption besprochen sehen und gibt zu diesem Zweck einige didaktische und methodische Anregungen.4 Sein zweifellos zutreffender Grundgedanke besteht darin, daß »rationale Aufklärung« (151) nur zu leisten ist, wenn die Schüler erst einmal zu einer widerspruchsvollen Beschäftigung mit dem Thema angeregt und so gezwungen werden, sich ein eigenes Urteil zu erarbeiten. Bembenek fügt deshalb seinen kurzen Überlegungen zur Unterrichtsplanung drei Texte bei, die auch über den konkreten Zweck der Arbeit hinaus von Interesse sind: einen Auszug aus Klaus Manns Polemik, mit der May zum geistigen Vater der nationalsozialistischen Verbrechen erklärt wird (vgl. Wolf-Dieter Bachs Kommentar in M-KMG 27, 14ff.), einen Brief des regimetreuen Lehrers Fronemann (vgl. Erich Heinemanns Beitrag im Jb-KMG 1982) an das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda, der May aller möglichen Verstöße gegen die va-


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terländische Gesinnung bezichtigt - »Karl May war Marxist« (153)! -, und einen Text des Exilschriftstellers Friedrich Sally Grosshut, der aus Mays Sujets die Sprache gewinnt, mit der er die damalige Gewaltpolitik zu beschreiben versucht. Zur Sache selbst, der Rolle des Mayschen Werkes im Nationalsozialismus, erbringt der Beitrag darüber hinaus nichts Neues; zu einer entsprechenden Unterrichtsreihe werden sich vor allem Lehrer bereitfinden, die gewohnt sind, an sich und ihre Schüler ungewöhnlich hohe Ansprüche zu stellen.
   Eine literaturdidaktische Abhandlung von Walter Seifert befaßt sich statt mit komplexen historischen Problemen mit den literarischen Gattungen, deren Spuren im ›Winnetou‹ zu erkennen sind.5 Seifert geht von der anhaltenden Popularität Mays aus, die im Unterricht nutzbar zu machen sei, sofern sie zu einer »reflektierend-untersuchende[n] Einstellung« gegenüber diesem Werk, seiner Form und auch anderen Formen der Literatur führe. Der Autor konzentriert sich auf die Ohlert-Geschichte, gewinnt die nötigen Strukturprinzipien »aus der Semiotik von Rätsel und Kriminalschema« und untersucht den Text »im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Detektivgeschichten und Western« (53). Solche Systematisierungen, auf nicht mehr als zehn Seiten untergebracht, und eine Sprache, die z. B. den Detektiv im Kriminalroman als »intratextuelles pragmatisches Element« (55) zitiert, mögen manche Leser abschrecken und den Verdacht erwecken, hier werde nur einmal mehr mit einem sterilen Fachjargon hantiert, der nichts verdeutlicht als seine eigene Gespreiztheit. Doch ein solches Urteil täte der kleinen Studie unrecht. Gewiß deutet sie vieles nur an, was man gern ausführlicher läse, bleibt auch in ihren Hinweisen für den Unterricht vage - was freilich dem Lehrer eine größere Eigeninitiative gestattet - und wirkt zeitweise ein wenig pointillistisch; aber andererseits liefert sie eine Reihe von Anregungen, mit deren Hilfe sich formale Elemente der Reiseerzählungen und damit ihre ästhetischen Qualitäten näher bestimmen lassen. Seifert verweist auf die verschiedenen Dimensionen der Zeit, die bei der Enträtselung von Geheimnissen miteinander verbunden werden, auf das Spiel mit dem Verborgenen, das teils die Feinde und die Freunde des Helden, teils aber auch die Leser des Buches einbezieht, auf die Verknüpfung des singulären Kriminalfalls mit politischen Auseinandersetzungen in den Handlungsräumen. Nur auf der Basis solcher Hinweise erscheint die vor einem Jahrzehnt fast noch undenkbare Vorstellung plausibel, der Schüler könne beim Studium des Mayschen Werkes nichts Geringeres als »ein Repertoire von Fähigkeiten und Kenntnissen erwerben, das beim Umgang mit der Hochliteratur genutzt und vertieft werden kann« (62).


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   Zur Popularisierung der May-Forschung im Bereich seiner Muttersprache tritt ergänzend ihre Vermittlung in die geographische Breite. Bereits der Literaturbericht des Jb-KMG 1982 hat auf einen in den USA erschienenen Aufsatz hingewiesen, in dem, neben anderen, Karl May als Autor diskussionswürdiger Wildwestromane präsentiert wurde. Speziell auf May konzentriert ist nun eine Studie von Colleen Cook, die in der renommierten amerikanischen Zeitschrift ›German Studies Review‹ veröffentlicht wurde.6 Der Untertitel - ›A Researcher's Guide to Karl May‹ - deutet an, um was es auch hier geht: um die Vorstellung eines dem amerikanischen Publikum bisher weitgehend unbekannten Schriftstellers, um einen ersten Überblick also, nicht aber um die Erarbeitung neuer, den Experten weiterführender Perspektiven. Bemerkenswert an der Arbeit ist, daß weniger als die Hälfte der Hinweise Mays Leben und Werk selbst gilt. Zweieinhalb Seiten (71 - 73) sind der Vita gewidmet, nachdem zunächst nur eine knappe Skizze die Eigenarten des Mayschen Wilden Westens vorgestellt hat: »May's western setting is a natural paradise, where good still triumphs over evil; where men can be men« (70); der überwiegende Teil der Arbeit befaßt sich dann mit dem, was man als Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte im weitesten Sinne auffassen kann: Die Historie des Karl-May-Verlags wird ebenso berührt wie die der diversen Editionen, die alten und neuen Karl-May-Jahrbücher tauchen auf, ferner die wichtigsten wissenschaftlichen Arbeiten bis zum Ende der siebziger Jahre. Recht ausführlich wird die Tätigkeit der KMG gewürdigt, und sie kann sich über ein uneingeschränktes Lob freuen: »In the decade since its founding, the Karl-May-Gesellschaft has made great strides in accomplishing its goals« (79). Hier ist ein instruktiver, in dem gesetzten Rahmen vorzüglicher Forschungsbericht entstanden, der jedem Interessierten als Einführung dienen kann. Allerdings erscheint mir etwas zweifelhaft, ob der Beitrag das Interesse für May bei jenen Lesern wecken wird, die mit ihm bisher nichts anzufangen wußten. Während der im letztjährigen Jb-KMG zitierte Sammons das amerikanische Publikum zu gewinnen suchte, indem er die europäischen Romane als Spiegel oder Zerrspiegel der amerikanischen Vergangenheit ansah und damit an die originäre historische Neugier appellierte, deutet Colleen Cook May als ein sehr deutsches Phänomen im Zusammenhang mit intensiven, aber entsprechend begrenzten Auseinandersetzungen, und der Blick richtet sich nur selten auf darüber hinausgreifende, allgemeine, also auch die amerikanischen Leser unmittelbar berührende Probleme: »May's fictional cowboys and Indians remain a part of a distinctly German culture« (70). Vielleicht ist die Darstellung


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der diversen Perspektiven, unter denen das Phänomen sich beobachten läßt, schon hinreichend geeignet, das Interesse zu wecken; vielleicht aber arbeitet gerade die beeindruckende Fülle und Vielfalt der Informationen, mit denen Colleen Cook aufwartet, den zugrundeliegenden Absichten entgegen, indem das ganze Thema gar zu engagiert mit Mayensia eingefriedet, abgegrenzt und isoliert wird. - Eine merkwürdige Beobachtung am Rande: Klaus Mann, dessen Anti-May-Polemik auch hier zitiert wird, erscheint als »the nephew of the German literary giant, Heinrich Mann« (86), nicht aber, wie es uns näherliegend erscheinen mag, als Sohn von Thomas Mann.
   Wir verlassen den Bereich jener Arbeiten, die die Erkenntnisse über May und sein Werk popularisieren, in die Gefilde der Didaktik überführen oder in andere Kontinente tragen, und wenden uns den beiden Studien zu, die mit Recht den Anspruch erheben, der Analyse und Diskussion neue Anstöße zu geben. Aber schon die erste dieser Studien7 führt wiederum zu einem nicht eben neuen Thema, dem gleichen, dem sich Bembenek gewidmet hat: den Verbindungen zwischen May und dem Nationalsozialismus; es bestätigt sich, was oben über die aktuelle Entwicklung der Forschung gesagt wurde. Der Autor Klaus Jeziorkowski hat schon vor Jahren in Zeitungsrezensionen - z. B. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. 10. 1974 - eine enge Verwandtschaft zwischen Mays Gedankengut und der Ideologie des Dritten Reiches konstatiert, und er bemüht sich nun, seine Thesen auf eine solidere Basis zu stellen.
   Daß wir alle zur Ordnung unseres Weltverständnisses in den Kategorien von oben und unten, von Höhe und Tiefe denken und uns damit ein Modell zur Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen, dem Wertvollen und dem Schlechten schaffen, ist der harmlos anmutende Ausgangspunkt der Überlegungen. In einer kulturgeschichtlich-ideologiekritischen Tour d'horizon erläutert Jeziorkowski dann, daß auch der deutsche Idealismus in solchen Bahnen gedacht habe, daß die Rezeption dieser Geisteshaltung im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend durch Dogmatisierungen und Verengungen im Vergleich zu den ursprünglichen Intentionen gekennzeichnet gewesen sei und daß der Trend um die Jahrhundertwende seinen Höhepunkt erreicht, »eine sich auftürmende Welle des Denkens in solchen Mustern des depravierten Idealismus« (172) hervorgerufen habe. Das deutsche Bürgertum der wilhelminischen Periode habe sich als eine elitäre, von den für minderwertig gehaltenen unteren Klassen scharf abgegrenzte Einheit auf dem Weg »zu den Höhen des Lichts, des Geistes und des ›Idellen‹« (174) definiert, und seine Kultur, die affirmative wie die avantgardisti-


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sche, habe diese Neigung gespiegelt und bestätigt. Folgenreich seien insbesondere deren politische Implikationen gewesen, die Jeziorkowski in bezug auf Mays »Privat-Mythos« (176) vom Sitara-Gestirn kommentiert: Mays Gnostizismus sei »überwiegend deutsch, germanisch, nordisch, arisch, nationalistisch bis chauvinistisch. [...] Deutsches hält die ideologische Speerspitze in Mays gnostizistischer Norm-Pyramide«; May habe selbst darauf verwiesen, »er berichte ›rein deutsche Begebenheiten im persischen Gewande‹« (178). Von da ist es nicht mehr weit zu der Feststellung, die gesamte politische Ausrichtung des Nationalsozialismus, der Kult des Herrenmenschentums und die Verachtung und Vernichtung des Fremden, Minderwertigen hätten sich auf derartige Ideologien gestützt: Hinter dem »Menschensortieren«, das jenes System der Hierarchisierung der Welt notwendig begleite, stehe »in letzter, alleräußerster Konsequenz immer die Rampe von Auschwitz« (193). Jeziorkowski resümiert: »die Gesellschaft des zweiten deutschen Kaiserreichs ist eine autoritäre Klassengesellschaft in reiner Ausprägung, und der Gnostizismus ist die Spiegelung dieser gesellschaftlichen Situation. Er ist ein religionsähnliches System einer Gesellschaft, deren Konstruktionseinheit das ist, was Adorno und andere die autoritäre Persönlichkeit nanntenund May ist ihr Mystagoge. Und mir scheint deshalb auch kein Zweifel daran möglich zu sein, daß der wilhelminische Gnostizismus zu den Elementen gehört, die dem Nazismus in Deutschland den Weg geebnet haben« (194f.).
   Was an dieser Untersuchung zunächst einmal besticht, ist die Selbstverständlichkeit und Eindringlichkeit, mit der Mays Spätwerk in geistes- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge gerückt wird. Immer deutlicher hat sich in den letzten Jahren gezeigt, daß es keineswegs so weit außerhalb aller Traditionen steht, wie seine auf den ersten Blick einzigartig und skurril anmutenden Züge vermuten lassen: Mag May sich auch selbst als literarischer Revolutionär verstanden haben, von entsprechendem Sendungsbewußtsein gewesen sein und sich gegen manche dominierenden geistigen Tendenzen seiner Zeit gewandt haben, so ist er doch auch nicht ohne sie ausgekommen, und seine Individualität ergibt sich aus dem Spannungsfeld zwischen der Bindung an Traditionen und zeitgenössische Strömungen und der dezidierten Opposition gegen sie, nicht aber aus einer originären, jeder historischen Prägung baren Eigenständigkeit. Jeziorkowski betont ausschließlich die eher konventionellen Züge des Spätwerks: Damit bleibt seine Untersuchung von vornherein fragmentarisch, durchleuchtet aber um so engagierter diesen einen diskussionswürdigen Aspekt des Problems, und wir können ja nicht von jedem Kommentator verlangen, daß er


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uns stets den ›ganzen‹ Karl May nahebringt. Das gilt zumal dann, wenn auch zu Einzelheiten bemerkenswerte Hinweise gegeben werden: Jeziorkowski notiert z. B., daß »Mays Kategorien von Ardistan und Dschinnistan [. . .] soziale Kategorien sind, ohne daß er sich dessen bewußt war« (192), denn anders sei nicht zu erklären, daß er sich selbst als aus dem Elend des tiefsten Ardistans stammend bezeichnete, obwohl, seiner Beschreibung nach, die Eltern durchaus eher dem Typus des Edel- als des Gewaltmenschen zuzurechnen seien.
   Aber die Erschließung der Details und des geistesgeschichtlichen Kontexts ist für Jeziorkowski nur Mittel zum Zweck, und die Beurteilung seiner Argumente steht und fällt mit der jener Konstruktion, zu der alle seine Überlegungen führen: der – partiellen - Erklärung des Nationalsozialismus aus dem Geist des Gnostizismus, als dessen populärer Vertreter May gilt. Jeziorkowski rührt damit zweifellos an ein Trauma der Forschung, und ich vermute, die May-Freunde werden daran noch lange zu tragen haben: Alle schlicht zugespitzten Sentenzen dürften sich als unzureichend erweisen, sowohl die, die May in der Tradition Klaus Manns ohne weiteres zum Wegbereiter der Nazis stempeln und damit zum geistigen Mittäter, als auch die, die nationalsozialistische Sympathien für ihn mit puren Mißverständnissen erklären und ihn damit aus allen einschlägigen Zusammenhängen befreien. Jeziorkowski will von Differenzierungen freilich nichts wissen: In seiner Sicht hat May schlimme Traditionen aufgegriffen, sie in übler Weise noch einmal verformt und dann weitergegeben, und seine moralische Mitschuld an den Verbrechen des Dritten Reiches steht außer Zweifel.
   Die vorgebrachte Argumentation verdient Widerspruch in dreierlei Hinsicht. Erstens: Jeziorkowski geht überaus einseitig mit den Fakten aus dem Leben Mays und seiner Umwelt um; er beschäftigt sich mit den entlegensten und nebensächlichsten Details, sofern sie ihm zustatten kommen, und übersieht oder mißachtet alle Zeugnisse, die seine Auffassung erschüttern könnten. So weiß er zwar, daß ein May-Verehrer einen ›Old-Shatterhand-Marsch‹ komponiert hat, und zieht daraus seine Schlüsse: »Auch das Komponieren eines Marschs fügt sich in die nationalistischen Strukturen ein« (180); daß May jedoch die Tendenz des berüchtigten ›China‹ -Buchs in seinem Beitrag dafür unterlaufen, also ein imperialistisch-rassistisches Propagandaunternehmen öffentlich sabotiert hat, verschweigt er. 1942 ließ Klara May ihren ersten Mann, einen Halbjuden, aus der gemeinsamen Grabstätte mit Karl May entfernen, um diesem eine »ehrenvolle Nazi-Feier« (190) anläßlich seines hundertsten Geburtstags zu ermöglichen - wahrhaftig eine


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deutsche Tragödie ersten Ranges, geeignet, mehr als  e i n e n  Ruf zu ruinieren, aber gewiß nichts, das May und seinem Werk anzulasten wäre: Jeziorkowski indes zitiert die Affäre, die sich drei Jahrzehnte nach Mays Tod abgespielt hat, als »Beweis« (195) für die Kontinuität zwischen wilhelminischem Gnostizismus und Nationalsozialismus; was dagegen als »Beweis« für ein zumindest gespaltenes Verhältnis der damaligen Machthaber zu May gelten muß - wenn denn überhaupt in solchen Zusammenhängen von Beweisen die Rede sein kann -, ist der Umstand, daß der Karl-May-Verlag einige Anstoß erregende Bände des Spätwerks als vergriffen bezeichnen mußte: davon erfahren Jeziorkowskis Leser nichts. Gravierend erscheint dem Autor ferner, daß May sich zeitweise auf den Spiritismus eingelassen und seinen Gegner Lebius als ehemaligen Sozialdemokraten bezeichnet hat; Mays pazifistische Neigungen werden demgegenüber zwar en passant registriert, im übrigen aber nicht weiter berücksichtigt, obwohl sie doch zweifellos einen Kernpunkt der gesamten nationalistischen und nationalsozialistischen Ideologie berühren. Alles in allem: es fällt schwer, Jeziorkowskis tendenziöses Verfahren bei der Auswahl der Fakten nicht als Manipulation zu bezeichnen.
   Zweitens (und damit gewinnt der Fall ein übergeordnetes Interesse): das Erklärungsmodell zur Erhellung der Vorgeschichte des Nationalsozialismus ist gar zu vage, so daß das aufklärerische Ziel, das Jeziorkowski verfolgt, nicht erreicht werden kann. Seine Überlegungen ordnen sich in das Bemühen ein, das Dritte Reich nicht als singuläres, isoliertes Phänomen, als Betriebsunfall der deutschen Geschichte anzusehen, sondern nach seinen historischen Grundlagen und Voraussetzungen zu suchen, und wer an einer weitgreifenden Erhellung der Zusammenhänge interessiert ist, wird solch prozessualem Verständnis der Geschichte uneingeschränkt Anerkennung zollen. Das Verfahren stellt sich jedoch selbst in Frage, wenn seine Analyseraster so grob sind wie in diesem Fall. Jeziorkowski hält kaum andere Differenzierungskategorien bereit als die, daß beinahe jedes hierarchisch ausgerichtete Denken in die pränazistische Tradition einzuordnen sei, und so führt er in der Nachbarschaft Mays nicht nur den dubiosen Maler Hugo Höppener alias Fidus an, sondern auch Lessing - »eine der wichtigsten Gestalten des idealistischen Gnostizismus« (181), an deren ›Nathan‹ und ›Erziehung des Menschengeschlechts‹ sich May mit seiner üblen Spätwerk-Mythologie orientiert habe -, Stefan George, Hofmannsthal, Rilke, Hesse und, natürlich, Wagner und Nietzsche; Jeziorkowski stellt heraus, was diese Autoren untereinander und mit der NS-Ideologie verbindet, geht aber über alle Unterschiede ohne Be-


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denken hinweg. Das Verständnis von Einzelheiten wird stets dem großen Ganzen geopfert: Daß Mays Edelmenschen-Idee »elitär wie Nietzsches Übermenschen-Konstruktion« (193) sei, wird ohne nähere Beobachtung unterstellt, ohne den Versuch, analytische Akzente zu setzen; daß Mays zitierter Hinweis auf die deutschen Begebenheiten im persischen Gewande auch dem Zweck dient, die Utopien des Spätwerks mit einem höheren Maß an Verbindlichkeit, an Realitätsnähe auszustatten, gerät nicht ins Blickfeld, obwohl der Gedanke gewiß nicht fern liegt. Jeziorkowski mag sich damit entschuldigen, der knappe verfügbare Raum erlaube eben nur die Darstellung dominierender Tendenzen und nicht die feine Abstufung und Nuancierung; aber warum hat er nicht wenigstens angedeutet, daß die Dinge in dieser oder jener Hinsicht erheblich komplizierter sind, als die schablonenhafte Zuordnung vermuten läßt? Was der präzisen Ausleuchtung der nationalsozialistischen Vorgeschichte dienen soll, mündet schließlich in Willkür und Beliebigkeit; Jeziorkowski präsentiert eine auf die kulturelle Sphäre konzentrierte Variante der Kollektivschuldthese, die kaum etwas erklärt, da - mit kleinen Einschränkungen - alles und jeder als schuldig erscheint. Daß gleich zweimal die »Rampe von Auschwitz« zitiert wird (193, 194), wirkt dann nur noch, ganz im Widerspruch zum ernsten Anliegen des Autors, wie eine unangebrachte feuilletonistische Pointe, mit der noch einmal ein greller Effekt erzielt wird.
   Drittens (dies ist unter literaturwissenschaftlichem Aspekt der gewichtigste Einwand): Jeziorkowski verkennt das komplizierte Verhältnis zwischen der Beschaffenheit eines Kunstwerks und seiner von besonderen historischen Umständen abhängigen Wirkung; eine bestimmte Rezeptionshaltung wird uneingeschränkt zu Lasten des Werks selbst verbucht. Gewiß bestehen unauflösliche Verbindungen zwischen dem, was ein Schriftsteller in seine Arbeiten hineinlegt, und dem, was andere später daraus entnehmen; hier ohne weiteres von einer selbstverständlichen Identität auszugehen, kann jedoch nicht die Aufgabe des Analytikers sein, der vielmehr gerade auch die Brüche und Sprünge zwischen dem Bewußtsein des Autors, den Intentionen des Werks und der Wirkungsgeschichte zu erhellen hat. Karl Marx ist gewiß nicht für den Archipel Gulag verantwortlich, wenn sich dessen Konstrukteure auch auf ihn berufen haben, und die Sympathiebekundungen der Nazis für May bezeugen zunächst einmal nur, daß sie ihn schätzten, nicht aber, daß sie dies mit gutem Grund taten. Wer die - im Falle der Nazis und Mays ja auch durchaus nicht ungeteilte - Neigung zu einem Werk mit dem Beweis gleichsetzt, daß sie völlig adäquat ist, versperrt sich den Weg zu den Einsichten, nach denen er sucht. Je-


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ziorkowski geht über das Problem mit beiläufigen Bemerkungen hinweg: May müsse für »seine nationalkonservativen Wirkungen geradestehen [. . .], die sich mit Recht auf sein Werk und Wirken beziehen« (180); sein »Edelmensch« habe schon »den [ersten] Weltkrieg in Gang gesetzt« (19Sf.). Wie sehr sich Jeziorkowski im Dickicht der schwierigen Beziehungen zwischen der Kunst und dem Künstler einerseits, der politischen Reaktion und den Rezipienten und eigenwilligen Erben andererseits verirrt, macht ausgerechnet seine schon erwähnte Deutung der »posthume[n] Dresdner Friedhofsaffäre« (195) klar; sie läßt zwar den jämmerlichen Opportunismus der Witwe eindrucksvoll erkennen, kann aber gerade nicht als Beweis dafür dienen, daß May selbst in ähnlicher Weise zu verurteilen ist, denn er hat sich ja den Halbjuden Richard Plöhn zeitweise zu seinem besten Freund erkoren. Nicht Kontinuität ist zu registrieren, sondern ein Bruch zwischen Mays eigener Haltung und der seiner Erben.
   Wer Jeziorkowskis Ausführungen kritisiert, gerät leicht in die Gefahr, nun seinerseits zum schrecklichen Vereinfacher zu werden, indem er der geballten Wucht der Attacken eine ebenso rüde Abwehr entgegensetzt und damit einen Exkulpierungsfeldzug betreibt, zu dem kein Anlaß besteht; ein derart geschöntes Bild zu entwerfen, war nicht meine Absicht. Indessen erfordert Jeziorkowskis Studie einen eindeutigen Kommentar: Was als großangelegter Versuch zur Erklärung umfangreicher historischer Entwicklungen konzipiert und vielleicht als Provokation gedacht war, Tabus und vermeintliche Selbstverständlichkeiten aufzubrechen, wirkt methodisch zunehmend fragwürdig und provoziert in seiner einlinigen Überschwenglichkeit am Ende sogar Vorbehalte gegen die zunächst einleuchtend erscheinenden Ausgangspunkte der Argumentation. Jeziorkowski hat bekannt, sich seinem Thema mit einer »sehr eigenen engagierten Einstellung« (549) genähert zu haben; würde er mit ihr auch die seiner These entgegenstehenden Fakten verarbeiten, statt das Engagement mit der Ausblendung alles Widersprechenden zu erkaufen, wäre er der ideale Kommentator zu dem unverändert brisanten Problem.
   Im Schiller-Nationalmuseum in Marbach hat zu Beginn des Jahres 1982 eine Karl-May-Ausstellung stattgefunden, die sich im wesentlichen auf Materialien von Heinz Neumann stützte: ›Karl May. Das inszenierte Abenteuer. Die Sammlung Heinz Neumann‹ . Zur Erläuterung erschien gleichzeitig eine auf May konzentrierte Ausgabe des ›Marbacher Magazins‹ , die außer einer Chronologie zu Mays Leben und Werk und zur Geschichte des Abenteuerromans im 19. Jahrhundert drei Beiträge enthielt: eine Abhandlung von Volker Klotz ›Über


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den Literarischen Umgang mit Abenteuern‹ , bei der es sich um einen Auszug aus Klotz' Buch ›Abenteuer-Romane‹ (vgl. Jb-KMG 1980, 206ff.) handelt; einen Bericht von Heinz Neumann über seine Arbeit: ›Meine Karl-May-Sammlung‹ ; und eine Studie von Hans-Otto Hügel: ›Das inszenierte Abenteuer‹. Dieser Beitrag8 ist es, der uns interessiert.
   Hügel geht aus von dem »Markenartikel Karl May und seine[r] Geschichte« (10): Er beschreibt die Popularität, die May im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erreichte, und die erfolgsträchtige spätere »Stilisierung zum Jugendschriftsteller« (11). Als besonders bemerkenswert erscheint ihm in diesem Zusammenhang die zeitweilige Gleichsetzung zwischen Autor und Ich-Helden, die Old-Shatterhand-Legende, die etwa 1896 ihren Höhepunkt erreichte; der Karl-May-Verlag habe sie später zwar nicht direkt wieder aufgegriffen, die entsprechend disponierten Leser aber durch mancherlei Suggestionen unterstützt, z. B. durch eine May-Biographie mit dem Titel ›Das Leben Old Shatterhands‹. Die Vorstellung Mays leitet über zu Beobachtungen am Werk selbst. Charakteristisch für die darin geschilderten Abenteuer sind, so Hügel, nicht ihre Anlässe, nicht die Details der Ereignisse selbst und erst recht nicht ihre abschließenden Ergebnisse: Vielmehr komme es May auf das Wie statt auf das Was an, darauf, daß der Held seine Taten in einer grandiosen Inszenierung vorführen, daß er, »im Jargon der heutigen Jugendsprache, ›eine Show abzuziehen‹ [vermag]« (19). Was er tut, soll von anderen mit Bewunderung beobachtet werden; geschieht das nicht, so sorgt er zumindest durch Vorankündigungen oder rückblickende Berichte dafür, »daß die Szenerie für ihn arrangiert ist« (18), und manchmal verbinden sich Vorausschau, demonstrative Aktion und der allgemeine Beifall dafür. Der Rang des Helden wird durch nichts besser als durch die Fähigkeit gesichert, sich glanzvoll zu präsentieren; Spannungen entstehen, wenn ihm ruhmsüchtige Rivalen in Gestalt von Sub-Helden oder Feinden erwachsen, und es gilt dann, sie mit Nachdruck in die Schranken zu weisen; ein bedauernswerter Indianerhäuptling in ›Silberlöwe I‹ muß sich deshalb gleich fünfmal auf 110 Seiten von Old Shatterhand gefangennehmen lassen. May entwirft seine Szenen immer wieder so, daß es zu »Show-Abenteuern« (25) kommt: Die Helden agieren oft wie »Zirkusartisten« und verfügen über ein entsprechendes Repertoire: Sie sind »Dompteure [. . .], Kunstreiter, Akrobaten [. . .], Fechter, Entfesselungskünstler, Kraftmenschen, Kunstschützen, Wurfkünstler, Zauberkünstler [...], Hypnotiseur« (19). »May zeigt in seinen Romanen weniger das Bild einer autoritären als das einer theatralischen Gesellschaft« (24).


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   Hügel will das alles nicht mit Mays persönlichen Neigungen erklären. Er verweist, am Beispiel Wilhelms II., darauf, daß »Show und Inszenierung Zeichen dieser Zeit [sind], nicht nur im Abenteuerroman« (26). May habe nun, indem er die Rolle des erdichteten Helden in die Realität hinein verlängerte, die Fiktion als Wahrheit ausgegeben und damit das Vergnügen an seinen vordergründig bloß unterhaltsamen Werken intellektuell legitimiert. Indem er die derart mit dem Anspruch der Seriosität auftretende Mischung zweier Kunstfiguren als Serienhelden in immer neuen Bänden auftreten ließ, habe er sie zugleich zum Star gemacht, und der Mythos eines Stars werde regelmäßig - auch heute noch - zum Gegenstand des kommerziell auswertbaren öffentlichen Gesprächs. Noch Mays vom Karl-May-Verlag »auf jugendliche Leser zugeschnittenes Image« (30) habe von einem ähnlichen Starkult profitiert.
   Hügel setzt also an beim eindrucksvollen Publikumserfolg Mays, sucht nach Gründen dafür in seinem Auftreten und im Werk selbst und schlägt dann den Bogen zurück zur Wirkungsgeschichte. Das Verfahren ist natürlich nicht neu, wohl aber die Perspektive, unter die es der Autor stellt: Indem er die theatralische Zurichtung der literarischen Welt und der Vita Mays gemeinsam ins Blickfeld rückt, erschließt er sowohl bisher unerkannte Details ästhetischer Art als auch ihre außerästhetischen Begleiterscheinungen. Im Bewußtsein seiner Eigenständigkeit erliegt Hügel allerdings der Neigung vieler Autoren, die sich innovative Entdeckungen zugutehalten: Er geht etwas grob mit konkurrierenden Thesen um; daß durch den »psychologisch aufgeputzte[n] Biographismus« (14) der bisherigen Forschung wie auch durch deren sonstige Bemühungen rein gar nichts an Erkenntnissen zu Mays Rollenspiel erbracht worden sei, wie er suggeriert, scheint mir unzutreffend zu sein. Ich bezweifle auch, daß die meisten Reiseromane einen ausschließlich »episodischen Aufbau« (21) haben, also dem Prinzip der additiven Reihung von Einzelheiten statt dem ihrer tektonischen Verschränkung folgen (man denke an das System der Vorausdeutungen und Erfüllungen, an die vielfältigen Verknüpfungen mehrerer Handlungsstränge, an das Verfahren der Wiederholung und Variation des Wiederholten, das übergreifende Verbindungen stiftet, usw.). Der ideologiekritische Schlenker auf den letzten Seiten - May habe die zeitgenössische Gesellschaft einerseits energisch kritisiert, andererseits idealisiert und damit verbreitete Bedürfnisse präzise erfüllt - berührt sich mit meinen eigenen Vorstellungen, kommt jedoch hier etwas unvermittelt und wirkt in seiner Kürze wenig überzeugend.
   Aber diese Einwände wiegen nicht schwer, denn sie treffen, anders


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als die im Fall Jeziorkowski, nicht den Kern der Argumente. Hügels Beobachtungen zur theatralischen bzw. zirzensischen Inszenierung des Abenteuers weisen der Werkanalyse und anderen Überlegungen zweifellos neue Wege, und, sit venia verbo, der Künstler May gewinnt dabei ebenso schärfere Konturen wie der Bestseller-Autor May als »Pionier moderner Publicity-Methoden« (Roxin). Hügel hat bekannte Umstände in neuem Licht gesehen und damit weiterführende Aspekte erschlossen: Auf solchem Wege müßte sich die May-Forschung ertragreich fortentwickeln lassen.
   In die Skizzierung ihrer gegenwärtigen Phase als der einer Konsolidierung und Popularisierung fügt sich der Blick auf die Entwicklungen im Bereich der May-Editionen. Zwar ist einerseits mit dem Jahreswechsel 1982/83 eine rechtlich neue Situation entstanden, was die Abdruckmöglichkeiten lange unzugänglicher Texte betrifft, und nach wie vor bedürfen manche Materialien der Erst- oder Neuveröffentlichung; andererseits wird aber auch schon der Trend erkennbar, in den letzten Jahren neu Publiziertes noch einmal, diesmal für ein Publikum über den engen Kreis der Spezialisten hinaus, zu drucken, und bei diesem Vorgang handelt es sich zweifellos um Konsolidierungs- und Popularisierungsbemühungen par excellence. Für sie steht der Band "Winnetou und der Schwarze Hirsch", der in einem großen, renommierten Verlag erschienen ist9: Er versammelt Wildwestgeschichten Mays in ihrer ursprünglichen Form, die nicht in der Bamberger Ausgabe enthalten sind, in den letzten Jahren aber schon - z. T. von der Karl-May-Gesellschaft - neu zugänglich gemacht worden sind. Mittlerweile sind Zweifel an der Seriosität des Unternehmens geäußert worden (vgl. M-KMG 52/1982, 42f.): Auch diese Texte seien erheblich intensiver verändert worden, als ihre Kennzeichnung vermuten läßt - »Der Originaltext wurde nur wenig verändert. [. . .] Vereinzelt erwiesen sich auch Bearbeitungen als erforderlich« (7), etwa mit Rücksicht auf logische Zusammenhänge von Fortsetzungsserien, denen nur Einzelteile entnommen wurden -, und so sei das Ganze ein völlig überflüssiges Ärgernis. Unter philologischen Gesichtspunkten hat der Kritiker recht, und es ist in der Tat erstaunlich, daß Karl-May-Herausgeber immer wieder, über das aus sachlichen Gründen manchmal notwendige Maß hinaus, zum Co-Autor werden; aber das ändert nichts daran, daß hier einem relativ großen Publikum Texte angeboten werden, die bisher unbekannte Seiten Mays mit mehr Treue zu den Originalfassungen vorstellen, als es viele Bände der Bamberger Ausgabe tun. Es ist zu hoffen, daß auch auf diesem Wege fortgefahren und dabei mit größerer philologischer Sorgfalt gehandelt wird.


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   In einem von Hainer Plaul edierten Buch mit Beispielen aus der Trivialprosa der beiden vorigen Jahrhunderte10 taucht ein Auszug aus ›Durch die Wüste‹ auf. Das wäre kaum erwähnenswert - denn der gesamte Roman in seiner ursprünglichen Form ist ja in den letzten Jahren wiederholt aufgelegt worden -, zöge nicht der Erscheinungsort die Aufmerksamkeit auf sich: Die Edition erschien im Rostocker Hinstorff-Verlag, und damit handelt es sich bei dem ›Wüste‹-Auszug - von einer kleinen Ausnahme abgesehen - um den ersten May-Text, der in der DDR jemals ›offiziell‹ gedruckt wurde! Plauls instruktives Nachwort, das umrißhaft fast so etwas wie eine Geschichte der Trivialliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts zeichnet, hebt mit Hinweisen zur Abhängigkeit der Werke »von wirtschaftlichen, sozialen, politischen, weltanschaulichen und insbesondere sozial-psychischen Faktoren« (483) jene Momente hervor, die vor allem das Interesse der in der DDR betriebenen Wissenschaft wecken müßten. Auch hier geht es also um den Wunsch, Kenntnisnahme zu ermöglichen, Einsichten zu verbreiten und ein neues Publikum zu erreichen; der kommerziell erfolgreichste deutschsprachige Schriftsteller in der DDR zugänglich - das ist wahrhaftig ein weiterer Durchbruch in der Karl-May-Rezeption und für die Forschung.

1Peter Dahl: Neurose und Dichtung. In: literatur konkret 6, 1981, 70-73
2Rolf Breuer: Karl May. Tagträumer der Nation. In: Psychologie heute, Mai 1982, 39-45
3Wolfgang Schmidbauer: Die Ohnmacht des Helden. Unser alltäglicher Narzißmus. Reinbek bei Hamburg 1981
4Lothar Bembenek: Der »Marxist« Karl May, Hitlers Lieblingsschriftsteller und Vorbild der Jugend? Die Karl-May-Rezeption im »Dritten Reich«. In: Sammlung 4. Jahrbuch für antifaschistische Literatur und Kunst. Frankfurt a. M.1981, 147-155
5Walter Seifert: Rätsel und Kriminalschema. Karl Mays "Winnetou" als Unterrichtsgegenstand (7./8. Jahrgangsstufe). In: Der Deutschunterricht 34/2, 1982, 53 - 62
6Colleen Cook: Germany's Wild West Author: A Researcher's Guide to Karl May. In: German Studies Review 5/1, 1982, 67-86
7Klaus Jeziorkowski: Empor ins Licht. Gnostizismus und Licht-Symbolik in Deutschland um 1900..In: The Turn of the Century. German Literature and Art, 1890- 1915. Hg. v. Gerald Chapple und Hans H Schulte. Bonn 1981, 171 - 196 und
8Hans-Otto Hügel: Das inszenierte Abenteuer. In: Marbacher Magazin 21, 1982, 10-32
9Karl May: Winnetou und der Schwarze Hirsch. Unbekannte Geschichten aus dem Wilden Westen. Hg. v. Walter Hansen und S. C. Augustin. Hamburg-München 1982
10Leidenschaft und Liebe. Trivialprosa des 18. und 19. Jahrhunderts. Hg. v. Hainer Plaul. Rostock 1981





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