//7//

HEINZ STOLTE

Das vierzehnte Jahrbuch



Als der für den hier vorgelegten Band, den vierzehnten unserer nunmehr stattlichen Reihe, verantwortlich zeichnende Herausgeber würde ich mich freuen, wenn die Mitglieder unserer Gesellschaft und Leser unserer Jahrbücher meine eigene Überzeugung teilen würden, daß es sich hier um eine der lesenswertesten unter unseren bisherigen Publikationen handelt. Jedenfalls will ich gestehen, es war mir nicht nur eine Pflichtaufgabe, die nun einmal zu erfüllen gewesen, sondern ein literarisches Vergnügen und ein belehrendes Erlebnis, die in diesem Bande zusammengekommenen Beiträge unserer Autoren zu lesen und zu redigieren. Daß die Vorträge, die während der Regensburger Tagung im vergangenen Jahr gehalten worden sind, den textlichen Kern für dieses Jahrbuch bilden würden, stand von Anfang an fest. Hinzu fanden sich wertvolle Beiträge, die sich zwanglos mit jenen zu einem sinnvollen, ineinandergreifenden Gesamt abrunden ließen.

   Während Walther Ilmers Beitrag "Das Märchen als Wahrheit – die Wahrheit als Märchen" in Fortsetzung seiner uns schon bekannten weiter ausgreifenden Hermeneutik wieder einmal in die innere Werkstatt des dichterischen Schaffens hineinleuchtet und den mannigfachen Verfremdungen nachspürt, durch die Erlebtes sich in Phantastisches wandelt, Erzgebirgswelt in Balkanabenteuer, wenden sich andere Autoren (doch mit ähnlicher Methode) dem  A l t e r s w e r k  Karl Mays zu. So deutet Hartmut Vollmer Mays späte Novelle "Bei den Aussätzigen" in einer ausführlichen Interpretation, wobei dieses 1907 publizierte Werk seine Thematik und Symbolik aus Karl May zeitlich viel näher liegenden biographischen Impulsen herleitet als seine früheren Reiseerzählungen. Auch Dieter Sudhoff wendet unser Interesse auf eine Novelle des Spätwerks, indem er in seiner "Werkanalyse" Mays "Schamah" untersucht, die des Erzählers wirkliche Erlebnisse in Jerusalem und Hebron auf höchst originelle Weise modifiziert und allegorisiert.

   Es ist ja eines der Hauptziele, die sich die Karl-May-Gesellschaft von Beginn an gestellt hat, die öffentliche Aufmerksamkeit (die May-Leser im allgemeinen fast ausschließlich den populären Reiseerzählungen widmen) gezielt auch auf die Alterswerke des Autors zu lenken: jene Arbeiten, in denen er, nach der Meinung aller urteilsfähigen Kenner,


//8//

die  i h m  mögliche literarische Vollendung bewußt erstrebt hat. Vollmer und Sudhoff zeigen dafür treffliche Beispiele auf. Ihnen schließt sich Christoph F. Lorenz mit seinem Aufsatz »Das ist der Baum El Dscharanil« thematisch aufs engste an, indem er eines der schwierigsten Motive aus den auf weite Strecken nahezu hermetisch gestalteten allegorisch-symbolistischen Texten der beiden letzten Bände des Romans "Im Reiche des silbernen Löwen" scharfsinnig und überzeugend auf seinen Sinngehalt hin interpretiert.

   Für die gesamte das Alterswerk Karl Mays behandelnde Forschung war es ein Glücksfall, daß kürzlich (1982) der Karl-May-Verlag das lange legendär gebliebene Werk "Frau Pollmer, eine psychologische Studie" veröffentlicht hatte. Das gab mir Gelegenheit, in dem hier als erstes abgedruckten Aufsatz dieses "Dokument aus dem Leben eines Gemarterten" nach Inhalt und Struktur zu analysieren: ein erschreckendes Dokument, ein ersichtlich von Panik, Haß und Verzweiflung diktiertes Bekenntnis aus dem intimsten Bereich, und auf seltsamste Art ein Zwitter zwischen Wahrheit und Dichtung. Unser hier veröffentlichter erster Versuch, diesen befremdlichsten aller May-Texte zu charakterisieren und zu bewerten, wird gewiß noch viele Fragen offen lassen. Zur Einsicht in das Ambiente des gesamten Alterswerks, in die äußeren wie inneren Verhältnisse, aus denen die allegorisch-symbolistische Schaffensweise Mays erwachsen ist, ergeben sich aber bereits jetzt aufschlußreiche Aspekte.

   Auch der Karl-May-Film Syberbergs, wie man sich erinnern wird, hatte ja den Versuch gemacht, in einem wahrhaft monumentalen Leinwand-Prospekt die Gestalt des gealterten Schriftstellers seinerseits allegorisch und symbolistisch als ein »deutsches« Phänomen dubioser Art zu deuten. Begrüßenswert ist daher der - wie mir scheint - bisher überzeugendste Versuch, sich mit diesem viel diskutierten, aber beim Publikum wenig erfolgreichen Werk analysierend auseinanderzusetzen: der Aufsatz "Träume eines Geistersehers - Zur Ästhetik eines Syberberg-Films" von Annette Deeken. Der facettenreiche, differenzierend urteilende Essay der Verfasserin beschreibt nicht nur scharfsinnig die »Kunstweltlichkeit« und den »Detaildogmatismus« Syberbergs, sie erfaßt auch entschieden die Ursachen für das Unbehagen, das dieser Film beim Publikum bewirken mußte, bis zum Ergebnis leerer Kinos und Kassen -, während doch sonst schon der Name Karl May allein in der Filmwelt als Garantie für Publikumserfolge bewährt ist. Ihr Fazit: »"Die Seele des Lesers wendet sich von jeder Bewegungslosigkeit ab", heißt es in "Mein Leben und Streben". Um wieviel mehr mag dies für einen Film gelten, der keinen Traum träumen läßt.«


//9//

   Wenn Syberberg, wie Annette Decken moniert, den »Geisterseher« und Träumer May in Assoziationen zum Phänomen des »Dritten Reiches« setzt, so schließt sich in der Reihenfolge unserer Jahrbuchbeiträge fast nahtlos die Untersuchung von Günter Scholdt an: "Hitler, Karl May und die Emigranten". Dem Verfasser ist die Karl-May-Forschung für diese datenreiche Zusammenfassung zu Dank verpflichtet. Da ja bekanntlich das Malheur eingetreten war, daß sich der »Führer« als ein May-Fan zu erkennen gegeben hatte, konnte naturgemäß auf Seiten der Emigration die Gegenbewegung nicht ausbleiben: nichts konnte doch blamabler und dekuvrierender sein, als für den literarischen Hanswurst aus Sachsen zu schwärmen. Scholdt belegt mit seinen umsichtig gesammelten Fakten und Zitaten das gesamte Problemfeld, das wir bis jetzt immer noch nicht so detailliert hatten überschauen können. Man lernt manches daraus: Was mich betrifft, so faszinierte mich besonders die von Verachtung sprühende Polemik gegen einen gewissen Karl Stoltze (sic!) und seine Jenaer Dissertation "Das Heldische in Karl May" (sic!), weil es doch immerhin tröstlich ist zu wissen, daß nicht erst heute unter Journalisten und anderen Literaten weithin der Gebrauch aufgekommen ist, über Bücher abfällig zu rezensieren, von denen man nicht einmal Autorennamen und Buchtitel kennt, geschweige daß man sie gar gelesen hätte. Daß Scholdt uns aber auch das tatsächlich beträchtliche Ausmaß der May-Einflüsse auf Hitler, insbesondere auf den späteren »Feldherrn« dargestellt hat, bereichert auf jeden Fall unsere Kenntnis der May-Rezeption überhaupt. Ich kann mir nicht versagen, zum Thema »Hitler als May-Fan« bescheiden die Bemerkung hinzuzufügen, daß jener Jüngling in Jena, wie immer er geheißen haben und welchen Titel er seiner Dissertation auch in Wirklichkeit gegeben haben mag, 1935 beim Abfassen seiner Untersuchung »zur literarischen Volkskunde« nicht die geringste Ahnung davon hatte, daß der Mann von Berchtesgaden in Bezug auf gerade dieses Thema zu den »Vollgebildeten« gehörte.

   Wenn neuere Forschung im Rahmen unserer Gesellschaft sich vorgenommen hat, dem Alterswerk, das heißt der allegorisch-symbolistischen Epik Karl Mays, mehr Aufmerksamkeit zu widmen und diese stärker zur Geltung zu bringen, so hat sich gelegentlich die Meinung befestigt, daß überhaupt erst die Werke des Autors nach der Jahrhundertwende literarische Bewertung finden sollten, das ganze zeitlich davor liegende Erzählwerk hingegen absolut bedeutungslos sei. Ein "Bruch im Bau" habe um 1900 erst den Kolportage-Schreiberling und infantilen Phantasten in einen achtenswerten Autor verwandelt. May selbst hat gelegentlich diesen Meinungen Vorschub geleistet, Arno


//10//

Schmidt hat sie in schärfster Form ausgesprochen. Indessen besagt alle Erfahrung, daß es dergleichen in ein und demselben Menschenleben und Schaffensprozeß gar nicht geben kann: dafür ist jeder Charakter allzu konstant. Seit jeher habe ich die These vertreten, daß zwischen den beiden fraglichen Perioden (wie auch Volker Klotz immer betont hat) kein solcher kontradiktorischer Gegensatz besteht, sondern die gleiche schöpferische Mentalität in beiden wirksam gewesen ist, und was sich veränderte, waren nicht die Motive, Ziele und Grundtendenzen, sondern nur die Ausdrucksmittel, deren sich der gereifte und alternde Autor in seinem letzten Jahrzehnt bediente. In seinem ideenreichen Essay "Vom Weg nach Dschinnistan - Initiationsmotive im Werk Karl Mays" hat Bernd Steinbrink dieses Thema aufgegriffen und die von ihm so genannten Initiationsmotive von allem Anfang an in Mays erzählerischem Werk als Kernproblematik aufgedeckt. Er versteht dabei unter »Initiationsmotiv« einen Erzählkomplex, der in den verschiedensten Variationen das Geraten in einen höheren, neuen Zustand menschlicher Existenz und die Sehnsucht, das Streben danach enthält. Initiationsmotive in zahlloser Wiederkehr sieht Steinbrink belegt von den ersten Versuchen Mays mit Dorfgeschichten an, über die Kolportageromane und Reiseerzählungen hin bis zur Schlußthese von Wien: »Empor ins Reich der Edelmenschen!« Seine Beweisführung ist schlüssig und macht auf überzeugende Weise die Einheit des Gesamtœuvres sichtbar.

   Wenn schon die hier kurz charakterisierten Beiträge unseres Jahrbuchs bezeugen, daß die Karl-May-Philologie zu einem beachtenswerten Zweig der neueren Literaturwissenschaft geworden ist, so hat Helmut Schmiedt in seinem Literaturbericht diesen Eindruck abgerundet, indem er sich dankenswerterweise wieder einmal der mühevollen und zeitraubenden Aufgabe unterzogen hat, die außerhalb der Karl-May-Gesellschaft erschienenen Publikationen in ausführlichen Rezensionen vorzustellen. Einen zusammenfassenden Bericht über die Arbeit unserer Gesellschaft selbst im vergangenen Jahr erstattet auch diesmal Erich Heinemann, der im Titel seines Protokolls über die 7. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Regensburg vom 30. September bis 2. Oktober 1983 gewisserrnaßen das Motto auch für den Gehalt dieses Jahrbuchbandes setzte: "Karl-May-Forschung - ein legitimer Sprößling der Wissenschaft".


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz