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GÜNTER SCHOLDT

Vom armen alten May ·

Bemerkungen zu "Winnetou IV" und der psychischen Verfassung seines Autors



»Ich bin nicht Stiller«
Max Frisch

I.

"Winnetou IV" ist Mays letzter Roman und in der Tat ein Werk des Abschieds. Denn ungeachtet der im Text bekundeten Absicht, dem Ganzen durch "Winnetous Testament" noch einmal eins draufzusatteln, haben wir diesmal ein wirkliches Ende vor uns, das nicht zuletzt in der Apotheose des Indianerhäuptlings gipfelt und darin des Autors späte Philosophie noch einmal episch verklärt.

   In welch umfassendem Sinne "Winnetou IV" als Schlußstein eines großen Romanzyklus, wenn nicht seines ganzen Œvres aufzufassen ist, zeigt die Fülle der im Werk angebotenen definitiven Lösungen, wie überzeugend man diese auch immer aus intellektueller, ästhetischer oder ideologiekritischer Warte beurteilen mag. Bietet der Text schließlich - zumindest dem Anspruch seines Autors gemäß - nicht weniger als

- eine nun komplettierte weltumspannende Mythologie,

- eine gleichermaßen kosmopolitisch geweitete Friedens- und Versöhnungsutopie,

- eine kontinentale Entwicklungsperspektive der germanisch-indianischen Rasse,

- eine als zeitgemäß empfundene Sozialethik,

- eine vermeintlich überzeitliche Kunstauffassung

- und nicht zuletzt eine psychologische oder psychotherapeutische Fallstudie, die bis zum letalen Abschluß getrieben wird und deren autobiographische Fundierung in ihrer Transparenz und Schonungslosigkeit die Grenze zur Selbstanalyse erreicht.

   In allem offenbart sich überdeutlich als typisches Symptom eines Alterswerks der Wille nach endgültiger Formulierung religiöser und ethischer Prinzipien, nach letzter Harmonisierung eines von früher übernommenen, nun als fragmentarisch oder widersprüchlich empfundenen Weltbildes.


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II.

Zwölf Jahre hatte May in seinen Büchern den indianischen Schauplatz gemieden; Asien, genauer gesagt der Vordere Orient, war Geburtsstätte und blieb auch weiterhin Domäne seiner religiös-ethischen Inspiration. Doch Mays didaktisch-homiletische Ansprüche sprengten vom Ansatz her solche geographischen Beschränkungen. Alle vier von May als Machtzentren eingestuften Völker- oder Religionsgruppen, Islam, Europa, die mongolische Rasse oder die germanisch-indianische Amerikas, mußten einbezogen werden, und so erfolgte schließlich die missionarische Arrondierung des ehemals Wilden Westens mit einiger Zwangsläufigkeit. Daß May hierbei den mythologischen Brückenschlag mittels der noch heute gültigen glazialen Einwanderungstheorie (119-21)(1) vollzieht, ist ebenso geschickt wie bezeichnend für seine spezifische Erzähltechnik in ihrer fast beispiellosen Verquickung von Erdkunde und Religion. Das schon früh geschaffene Muster der "Geographischen Predigt" erweist sich einmal mehr als allgegenwärtig und prägend.

   Nicht weniger typisch sind unübersehbare und zweifellos beabsichtigte Analogien im Personal der späten Romane. Die Gleichsetzung von Marah Durimeh und Tatellah Satah (177) ist dabei nur die auffälligste, zu der ja noch Fus Mutter als chinesische Entsprechung hinzutritt. Doch auch Aschta und Yin, Herzle, Schakara oder Nscho-tschi, um exemplarisch nur einige der Hauptfiguren zu nennen, weisen funktionale Korrespondenzen auf: Frucht eines im Spätwerk üppig sprießenden Synkretismus, in dem von Konfuzius bis Mohammed, von Christus bis Winnetou, dem indianischen Pendant(2), die globale Einheitsreligion ersehnt und verkündet wird. Allerdings liegt dem ganzen letztlich unangefochten die interpretatio Christiana zugrunde, was der geistliche »Fischfang« Old Shatterhands am Ende des Textes nochmals unterstreicht. Die handlungstragenden Mythen entstammen dabei jedoch auffälligerweise weitgehend der alttestamentarischen Sphäre. So ersteht eine Vorstellung wie die vom Denkmalsturz aus dem religiösen Umfeld von Babylonischem Turm, Tanz ums goldene Kalb oder Erstem Gebot, und für Winnetous Testament dürften die fünf Bücher Mose als Vorlage gedient haben, obwohl der geistige Gehalt eher neutestamentarisch ist.(3)

   Harmonisierungstendenzen zeigen sich wiederum in Mays - allerdings jeden Mißton vermeidenden - Gegenentwurf zur Erbsünde-Vorstellung, als dessen Konkretisierung man Enters' Erlösung des Vaters betrachten könnte(4), oder der nachträglichen Rechtfertigung der weißen Invasion (34/125: Zuchtrute Gottes zur Bestrafung indianischen Fehlverhaltens), wobei diese merkwürdige Theodizee gleichzeitig zur hoffnungserweckenden Prognose eines Neubeginns dienen soll.


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Denn in Mays zyklischem Weltbild, das von einem ehemals paradiesischen Zustand auf Erden zur Zeit der asiatisch-amerikanischen Landverbindung ausgeht, ist nun der Punkt erreicht, an dem die rote Rasse einer spürbar besseren Zukunft entgegensieht. Der Flug des Jungen Adlers, die Rückgabe der Medizinen und die Öffnung des Bergs der Königsgräber stellen untrügliche Symbole einer Rückkehr des Heils dar. Lange waren die Indianer - ähnlich wie nach May die islamischen oder chinesischen Völkerschaften - einem folgenschweren Dornröschenschlaf verfallen, aus dem sie erst Europas zivilisatorische Skrupellosigkeit erweckte. Nun allerdings beginnen nicht nur die indianischen Selbstheilungskräfte wirksam zu werden (Winnetou-Clan als Voraussetzung zu nationaler Einheit, Jungindianer - wohl eine Analogiebildung zu den Jungtürken - als zivilisatorische Avantgarde), sondern auf dem ethischen Fundament des Christentums scheint auch eine Neubegründung des Verhältnisses zu den weißen Eindringlingen möglich. Old Shatterhand, der von Tatellah-Satah eindrucksvoll beglaubigte Repräsentant der verständigungsbereiten, anständigen Weißen(5), figuriert dabei nachdrücklich als Mittler zwischen den Rassen, und es liegt somit in der Konsequenz der Sache, daß seine Mission als Friedensbringer erst wirklich erfüllt ist, als er sich mit Tangua versöhnt hat. So psychologisch unbeholfen also dieser abrupte Sinneswandel auch beschrieben sein mag, nach einer offenbar lebenslangen, durch keine Großmut zu besänftigenden Feindschaft, so perfektionistisch diese Bekehrung im Rahmen von Old Shatterhands effekthascherischer Schlußinszenierung(6), so unverzichtbar ist sie für Mays Utopie einer neuen Zeit.

   Und noch eine alte Rechnung stand aus, die in diesem Werk des Abschieds beglichen werden mußte: Nscho-tschi. Karl May spürte sehr genau, daß die insgesamt eher lieblos-kurze Behandlung, die er dieser Romanfigur hatte angedeihen lassen(7), im Rahmen seiner gewandelten Anschauungen von den Völker- und Geschlechterbeziehungen einer epischen Revision bedurfte. Das gleiche galt übrigens für Kakho-Oto, deren Liebe zu Old Shatterhand angesichts der offenbar unüberbrückbaren zivilisatorischen Überlegenheit des Helden und seiner aventiurehaften Bestimmung allenfalls eine Situation heroischer Komik hervorrief, niemals aber ernsthaft beachtet wurde. Wie sehr den alternden Autor dies beschäftigt haben dürfte, geht aus dem Umfang nachträglicher Korrekturen in "Winnetou IV" hervor. Die Art hingegen, in der May eine gleichermaßen indianisches wie generell weibliches Selbstbewußtsein berührende Vernachlässigung wiedergutzumachen suchte, demonstriert beispielhaft den Charakter seiner späten Verklärungsliteratur. Es kommt nämlich zu einer - auch episch ausgebeuteten - nachträglichen "Ersatz-Heirat", indem May seine tatsächliche Ehe sozusagen als Verbindung mit Nscho-tschi ausgibt. Dies geschieht in folgenden Etappen:


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Festlegung I: Herzle ähnelt Nscho-tschi, was z. B. der Junge Adler bei der ersten Begegnung intuitiv erfaßt (52). Sie selbst empfindet von Anfang an Sympathien für Schöner Tag und betet an ihrem Grab, das sie bewußt gesucht hat (103). (Eine Nachfolger- bzw. Stellvertreterschaft der Figur wird vorbereitet.)

Festlegung II: Kakho-Oto, die Old Shatterhand nichts nachtrug, ihn im Gegenteil weiter umschwärmt und unterstützt (147f.), erinnert äußerlich gleichfalls an Nscho-tschi (141), und auch zu ihr faßt Herzle spontan eine innere Neigung (147). Beide sind bald - und dies ist kompositionell ausdrücklich erwünscht - ein Herz und eine Seele.

Festlegung III: Tatellah-Satah, der Old Shatterhand den Tod der Apatschin lange nachtrug (20/185), überwindet seinen Groll und akzeptiert Herzle als Stellvertreterin. Den Platz, den Herzle in der Wohnung des Hohepriesters einnimmt, verbunden mit der Ehrung durch Kuß (178) und Kalumet (187), ist von eindeutiger Symbolik, die durch seine Worte noch eine zusätzliche wunschgemäße Auslegung erfährt: »Es drängt mich zu denken, er [Old Shatterhand] sei wirklich Winnetou. Und ebenso sei unsere weiße Schwester keine andere als Nscho-tschi, der Liebling unseres Volkes.« (187)

Festlegung IV: Herzles rituelle Antwort kulminiert in dem (auch spiritistisch zu deutenden) Ausspruch, die Tote sei ja nicht wirklich gestorben (187). Sie vervollständigt damit die Identifikation der weiblichen Protagonisten, wobei dahingestellt sein mag, ob eine solche - in allerdings extensivster Textauslegung - als Transmigration bzw. Reinkarnation oder lediglich als funktionale Entsprechung realisiert wird. Intschu-intas Aufforderung an Herzle, »dich flehe ich an, sei uns Nscho-tschi« (191), ist jedenfalls Mays Programm, womit dieser, unter Einschluß Kakho-Otos, nachträglich Vergangenes auf subtile Weise zu bereinigen sucht. Hinzuzufügen wäre übrigens noch, daß bereits Mays erste Frau Emma von ihrem Gatten (z. B. in einem Brief vom 12.8.97)(8) als Nscho-tschi vorgestellt wurde, ein Faktum, das die Intensität des Wunsches verdeutlicht.

   Unter allen Korrekturen früherer Tendenzen ist die weitgehende Abkehr von einer Prärie- und Abenteuergesinnung wohl die spektakulärste. Denn daß die wenigen actionträchtigen Szenen, in denen belauscht, geboxt oder gar geschossen wird, verglichen mit den früheren Handlungen von nur mäßiger Spannung sind, dürfte niemandem bei der Lektüre entgehen. Scheint es doch eher so, daß die gefährlicheren Kämpfe gegen rote Geschmacksverirrung oder Vereinsmeiereien des Komitees geführt werden müssen. Bereits Ekkehard Koch(9) wies auf markante Unterschiede gegenüber den früheren Erzählungen hin und machte zurecht darauf aufmerksam, daß wir es zumindest nicht mehr


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mit einem Abenteuerbuch im landläufigen Sinne zu tun haben, sondern eher mit einer allegorisch verschlüsselten Autobiographie. Ich möchte es noch drastischer formulieren: Trotz mancher Ungereimtheit, was die Verhaltensweise der Indianer wie Old Shatterhands betrifft(10), erlebt die Wildwest-Romantik in diesem Werk ein Begräbnis erster Klasse, und es erscheint nicht zuletzt deshalb um so unwahrscheinlicher, daß vor dem Hintergrund dieser am Schluß völlig pazifizierten und christianisierten Idealgesellschaft noch eine tragfähige Fortsetzung alten Stils möglich gewesen wäre, wie es May offenbar vorschwebte.(11)

   Als Ursachen lassen sich wiederum die im Alterswerk verstärkte Hinwendung zur Religion, zum Ethos der Gewaltlosigkeit wie zum Frauen- und Mutterideal ausmachen. Hinzu kommt der neue gesellschaftliche Status(12) und eine durch die tatsächlichen Reisen angeregte, zunehmend umfangreichere Berücksichtigung zeitgenössischer Entwicklungen. Auch nimmt Mays Friedensgesinnung in allen späten Romanen einen breiten Raum ein; "Winnetou IV" führt hier lediglich die Tradition des "Pax"-Romans zu Ende. Wo es nur mehr  » s o g e n a n n t e  Helden des Krieges und der Schlachtfelder« (70) gibt, »jeder Kampf zwischen den Menschenkindern nichts weiter als eine Torheit ist, über die man lachen könnte, wenn ihre Folgen nicht so traurig wären« (239), »Krieger- und Indianerspielen« - man höre und staune! - als Beweis dafür gewertet wird, daß man »kindisch geblieben ist« (34), bleibt dem Abenteuerroman nur noch ein kärglicher Lebensraum, zumal der Einbruch wenn auch verformter oder stilisierter zeitgenössischer Realität den Wilden Westen allenfalls als Anachronismus erleben läßt: Die »Zeiten des Marterpfahls«, »der Mordtaten, der Faust- und der Zweikämpfe sind vorüber« (234f. ), »wer da glaubt, in der alten Weise verfahren zu können, der ist verloren«, Bärentöter und Henrystutzen »haben sich überlebt« (156). Deshalb kann ein Duell im Gegensatz etwa zu "Winnetou I" auch nur noch als Farce aufgefaßt bzw. dargestellt werden (233), und der Aufmarsch der Sioux oder Utahs gerät in einem eindrucksvollen Vergleich zu einem Kriegszug »verschmachtete(r) Seelen, die nach dem Jenseits ziehen, um dort in ihren leeren, ewigen Jagdgründen vollends zu verhungern« (156).

   Mays Verdikte über die nun als atavistisch eingeschätzte »Indianerspielerei« allein zerstören allerdings die Atmosphäre der dark and bloody grounds noch nicht vollständig. Schließlich gehört das Bewußtsein des Unzeitgemäßen als Protest gegen eine ungeliebte Gegenwart von jeher zum Wesen der Romantik. Und wie relativ mühelos sich im übrigen Marterpfahl und Bergpredigt vereinbaren lassen, hatte der Autor ja in seiner "klassischen Periode" ausgiebig unter Beweis gestellt. Erst der seltsame Unernst, der, gewollt oder ungewollt, die amerikanische Szenerie beherrscht, versetzt der Abenteuergattung den Todesstoß.


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   Da gewahrt man einen turtelnden Old Shatterhand in Touristenpose, der sich von einem Wildwest-Trip statt Strapazen eher Erholung verspricht (21), da zieht Herzle mit ihren Kochkünsten auf Eroberung der Indianerherzen aus oder wirkt als wandelndes Demonstrationsobjekt bereits vollzogener, bei den Indinanern im übrigen geradezu selbstverständlicher Emanzipation (184/231). Da gerät die Häuptlingsversammlung, der Tatellah-Satah Winnetous Testament eröffnet, unter der Hand zu einem anheimelnden Lesezirkel einer reeducation-Kampagne (231f.), während ein exemplarischer Repräsentant des Westmännertums wie Old Surehand dadurch abgetan(13) wird, daß man ihm kurzerhand unterstellt, er habe sich kommerziell korrumpieren lassen (174/191).

   Mays Missions- und Reformgesinnung gebiert allenthalben eine fast völlige Revision des früheren Amerika-Ethos, die zuweilen trivialisierende und ridiculisierende Elemente in sich birgt. Die Grenze zur (unfreiwilligen?) Selbstparodie ist zweifellos erreicht, wenn Old Shatterhand auf einen Lauschangriff verzichtet mit der Begründung:

Was ich wissen wollte, konnte ich auf direktere und leichtere Weise erfahren, als durch das unbequeme Anschleichen und immerwährende Horchen und Lauschen nach allen Seiten, welches anstrengender ist, als man glaubt. (103)

Und auch Herzles Gardinenpredigt gehört in diesen Zusammenhang:

»Als Junggeselle Westmann sein, ist keine Kunst. Aber sich noch als Westmann geberden, wenn man schon längst verheiratet ist, und seine Frau bei sich hat, das wird einem jeden vernünftigen Mann so fern wie möglich liegen! Wenn wir Frauen einmal jemand belauschen, so wird gleich ein großes Halloh darüber gemacht. Aber wenn die Herren Männer im Walde herumkriechen, um Indianer zu behorchen, da behauptet man, es sei erstens notwendig und zweitens gehöre es zur Kühnheit und zum Heldentum.« (158)

   Mays neue Gesellschaft kennt zwar durchaus persönlichkeitsbedingte Rangunterschiede, aber keine prinzipielle Ungleichheit. Rassenunterschiede zählen nichts mehr, obwohl dem Autor in bezug auf Mischlinge einige erschreckend unaufgeklärte Formulierungen unterlaufen (133/244). Frauen wird die Gleichberechtigung nur noch von Ewiggestrigen und letztlich Erfolglosen bestritten, Indianerinnen demonstrieren selbstbewußt für den Frieden (147), Squaws nehmen an Häuptlingsberatungen teil, das Auftreten Aschtas d. Ä. verheißt dem Komitee »eine Amazonenschlacht«, wenngleich keine »Suffragettenreden« zu erwarten sind (140). Der gemeinsame Flug von Aschta jr. und dem Jungen Adler (264) versinnbildlicht die emanzipatorische Perspektive.

   Aber auch in anderen sozialen Bereichen harmonisiert May frühere


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Differenzen, wo immer sie auftraten. So wird der Gegensatz zwischen ökonomisch-technologischen und ästhetisch-ökologischen Interessen, dargelegt am Beispiel des Denkmalbaus, durch den Verweis auf ein künftiges Winnetou-City völlig entschärft, um nicht zu sagen hinwegeskamotiert. Es fällt ihm dies um so leichter, als er den Stellenwert der Gewerkschaftsbewegung (entwurzelte Indianer-Randgruppen, angeführt von einem bösartigen »Nigger«) oder des Parlamentarismus (Komitee) ohnehin nicht besonders hoch ansetzt. Ob nun allerdings ausgerechnet die Umwandlung der Arbeiten an der Winnetou-Statue in städtebauliche Aktivitäten dieses Ausmaßes den bislang am Schleierfall gedeckten Elektrizitätsbedarf verringert, bleibt naturgemäß ebenso unerörtert wie die Konsequenz seiner ins Ästhetische verlegten Technik-Utopie.

   Die Aufbruchssymbole wie Flugzeug, Projektionsapparate oder Vertikalarchitektur sind immerhin für die USA weitgehend prägend geworden, und die dadurch hervorgerufene ästhetische Faszination teilte May offenbar mit der modernen Yankee-Gesellschaft: Lindbergh, Hollywood im Yellowstone Park und die Wolkenkratzer (=  s k y  scraper) als äußerste Verwirklichung des Mayschen »Empor«.

   In diesem Licht betrachtet, entbehrt Old Shatterhands vehemente Ablehnung des Winnetou-Standbilds nicht einer gewissen Pikanterie. Der Denkmalssturz sanktioniert zwar auf der Handlungsebene letztendlich Mays Ästhetik, doch läßt die entsprechende Kontroverse, in welcher der Autor verkürzt als Vertreter einer antimateriellen, auf Imponiergesten verzichtenden Geistigkeit erscheinen könnte, so manche Fragen offen. Denn stoßen dabei nicht lediglich verschiedene Spielarten einer im Grunde gar nicht so unterschiedlichen Repräsentierkunst der Jahrhundertwende zusammen? Hier eine auffallend heterogene Mischung von (oratorisch) prunkhaftem Symbolismus, Jugendstil und Neuromantik, gepaart mit Futurismus-Gesinnung à la Marinetti, dort Wilhelminischer Pomp in architektonischer Reinkultur.(14) Die im Roman abgelehnte »gründerzeitliche Renommage«(15) wird übrigens ja nur scheinbar gänzlich verworfen. Statt der Kolossal-Statue Winnetous werden den nun arbeitslos gewordenen Künstlern als Ersatz immerhin Monumentalbauten in Aussicht gestellt, zu deren Errichtung die wiederentdeckten Schätze der Königsgräber herhalten sollen.

   Dem entsprechen die im Laufe der Handlung skizzenhaft durchscheinenden kunsttheoretischen Vorstellungen des Autors, so z. B. die für die Epoche typische Aufbauschung ästhetischer Wirkungen. Bei Kolma Putschi bedarf es nur des Anblicks der »wahren Kunst«, um sie schlagartig zu überzeugen und von handfesten eigenen Interessen abzubringen: »Ich wußte bisher nicht, daß es Bilder gibt, die mächtiger und eindringlicher predigen, als Worte predigen können!«, gesteht sie, was


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Old Shatterhand flugs kommentiert: »Ja, sie hatte bisher nicht geahnt, welch eine Sprache die wahre Kunst besitzt. Ich aber wußte es.« (221)

   Bezeichnenderweise und dem Zeitgeist gemäß orientiert sich Mays Dichterbild an der Figur des Priesters, Sehers oder Führers. In George-Pose läßt sich Old Shatterhand von Young Surehand und Young Apanatschka bestätigen, daß »Sie uns einst von unserem falschen, niedrigen Kunstwege so streng hinüber nach dem höheren, ja allerhöchsten wiesen« (13), während ihr Abweichen von den Lehren des Meisters sehr ungnädig aufgenommen wird. Es versteht sich daher beinahe von selbst, daß sie dies mit respektablen Irrwegen und dem Verlust eines »guten Teils ihres künstlerischen Selbstbewußtseins« (261) zu büßen haben.

   Seine Leser will May »erfreuen und segnen«. Geld spielt für den »nach höheren, wertvolleren Gütern« Strebenden - eigenem Bekunden zufolge - keine Rolle (24). Die totale Identifikation des Lesers ist Karl Mays Wirkungsideal. Den gewünschten Effekt strebt er durch dessen seelische Erhebung an, wie sie bei der Wasserfall-Projektion (267) oder Verlesung des Winnetouschen Testaments beispielhaft hervortritt: Das wuchtete. Das hob empor! Und das riß hin! (231). Folgerichtig kann May mit dem Naturalismus wenig anfangen, denn »wahre Kunst« bestehe nicht darin, »das Irdische abzukonterfeien, sondern das Himmlische im Irdischen nachzuweisen« (229). Daß der Autor sich darüber hinaus nun plötzlich von jeglicher Darstellung des Grausamen distanziert(16), hat wohl auch biographisch-taktische Ursachen als Reaktion auf publizistische Attacken, wobei er allerdings nicht nur einige seiner frühen literarischen Arbeiten, sondern ungewollt auch Passagen des "Silbernen Löwen" diskreditiert.

   Bliebe als letzte Dimension des Werkes die psychologisch-autobiographische. Und auch in dieser Beziehung enthält der Roman Definitives. Old Shatterhand, Inkarnation aller Wunsch- und Kompensationsvorstellungen des Autors, verschmilzt(17) mit dem soeben vergöttlichten Winnetou und bringt damit die Entwicklung des ursprünglichen Westmanns faktisch zum Abschluß. Zugleich findet sich eine weitere Identifikation Karl Mays im Personal des Romans, doch diesmal nicht als Ich-Ideal, sondern auf unterster Stufe irdischer Fehlbarkeit. Ihr Schicksal wie ihr Ende sind gleichermaßen bedeutsam wie psychologisch aufschlußreich als Manifestationen einer Denkperspektive, die partiell von bemerkenswert klarer Einsicht Mays in seine prekäre Lage zeugt. Das Verhältnis dieses Ich-Ideals zu seinem "Unter-Ich", wie ich es einmal behelfsmäßig nennen möchte, dürfte somit (tiefen)psychologisch besonders ergiebig sein, und ihm soll der restliche Teil der Arbeit vorbehalten sein.


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III.

Wer ist aber nun diese zweite Maysche Ich-Figur, Pappermann etwa? »Kaum eine Gestalt läßt sich so leicht entschlüsseln wie er«, meint Koch, der in ihr ein getarntes Selbstporträt des Autors vermutet.(18) Es sollte allerdings zu denken geben, daß Arno Schmidt mit ähnlicher Sicherheit in dieser Person Mays Freund Max Dittrich identifiziert zu haben glaubte(19), eine These, der sich immerhin Sudhoff(20), beschränkt auf die Nugget-tsil-Episode, anschloß. Es ist hier nicht der Raum, sich mit allen Argumenten und Einzeldeutungen ausführlich auseinanderzusetzen, ich möchte daher lediglich exemplarisch einige Bedenken anmelden.

   Ein erster grundsätzlicher Vorbehalt gegen Kochs Gleichsetzungsthese betrifft das Verhältnis einzelner Romanfiguren zueinander. Old Shatterhands Ton Pappermann gegenüber ist zu ironisch-herablassend. Sein bewußtes Abstandnehmen - denn erstens galt es, Distanze zu halten (48) - läßt die quasi hündische Ergebenheit (47f.) des »blauen Max« schlicht komisch erscheinen, wie übrigens sein unter stets neuen Lamentos verkündetes Namensproblem, in dem man Mays unglückliche Identifikationsbeziehung gespiegelt sehen will(21), eher skurril als tragisch wirkt. Das gilt übrigens auch für Pappermanns eigentlich nie revidierte Einstellung zum Komplex »Aufstieg/Höhe/Fliegen«, Mays im Alter noch verstärkte Grundsehnsucht:

»Bin mein Lebtage keine Gemse gewesen (...) und werde auch nun nicht erst eine werden. Ein ebener Weg, ein gutes Pferd und ein festgeschnallter Sattel, das ist es, was ich haben will. Steigt, so hoch ihr wollt; ich mache nicht mit!« (78)

»Mir wäre dieses Wagnis [des Adlerflugs] gewiß nicht gelungen. Wen das Schicksal dazu verurteilt hat, Pappermann zu heißen, der muß auf fester Erde bleiben, sonst geht er sicher kaput!« (203)

Daß diese Haltung vom Autor eher spöttisch kommentiert und gönnerhaft ausgekostet, denn bedauert wird, scheint mir bezeichnend zu sein.

   Nun hat zwar Stolte zurecht betont, daß May gerade in seinen komischen Figuren immer wieder autobiographisch-traumatisches Material versteckte(22), doch ich bezweifle, daß in "Winnetou IV" eine mehr als punktuelle, zumindest halbbewußte Identifikation Mays mit einer in ihrem Charakter so auf den gemütvollen Trottel hin angelegte Figur je stattfand. Ustad als gesicherte, Münedschi oder Waller als zumindest weitgehend plausible Identifikationen sind doch Gestalten von anderem Tiefgang, und auch Hadschi Halef Omar, zu dem man eine Parallele zog(23), besitzt ein erheblich größeres Gewicht. Pappermann wurde zwar Halefs Rolle verliehen, aber keineswegs sein Format; er genießt


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nicht im entferntesten vergleichbare Sympathien des Autors. Wo Halef zu einem gelegentlich fast gleichwertigen Dialogpartner aufsteigt, gehört Pappermann ersichtlich zu den gewollt humoristischen Dienerfiguren zweiter Klasse, deren Funktion sich im wesentlichen in der epischen Mittlerstellung zum Leser erschöpft. Zwar rückt auch Halef in den späten Orientbänden etwas in den Hintergrund, doch bleibt seine Bedeutung so unangetastet wie die Papagenos in der "Zauberflöte". Die erzählerische Behandlung Pappermanns aber, der ja, da eigens für "Winnetou IV" erfunden, noch über keine dem Leser geläufige Konturen verfügt, wirkt in der zweiten Romanhälfte ausgesprochen despektierlich, so als ob der Autor ihn schlicht »vergessen« habe.(24)

   Alsdann erscheinen mir so manche Widersprüche allzu nonchalant als läßliche Schreibsünden eines trancehaft Produzierenden aufgefaßt zu werden. Ich bin mir natürlich bewußt, daß es selbst bei Allegorien mit höchstem artifiziellen Anspruch u. U. Textstellen geben kann, deren Deutung nicht völlig widerspruchsfrei gelingt. Doch hier handelt es sich um so grundsätzliche Festlegungen wie z. B. Old Shatterhands Aussage, er sei mit Pappermann einige Male, allerdings  f ü r  n u r  k u r z e  Z e i t  zusammengetroffen und habe ihm dabei einen doch  n u r  g e l e g e n t l i c h e n  Dienst erwiesen (43).(25) Auch läßt sich die genüßlich dem Leser präsentierte Unbeholfenheit Pappermanns, was das Schreiben betrifft (64), zur Biographie Mays ja wohl in keiner Phase weder real noch symbolisch in Zusammenhang bringen.

   Schließlich wirken die in Frage kommenden Passagen durchweg interpretatorisch allzu intensiv abgeweidet. Aus einer im Handlungsfluß relativ nebensächlichen, flüchtig skizzierten Szene, deren Stellenwert vom Autor in keiner Weise hervorgehoben und somit der Aufmerksamkeit des Leser anempfohlen wird, entsteht unter der Hand eine komplette Allegorie, aus einer reinen Action-Szene die verklausulierte Schilderung einer Lebensepoche. Ich kann beim besten Willen in dem Enters-Gespräch, der Trinidad-, Aschta- oder Teufelsohr-Episode, deren unvoreingenommene Lektüre ich nochmals ausdrücklich empfehle, kein auf Pappermann übertragenes romanhaft chiffriertes Porträt des Menschen oder auch nur früheren Menschen May erkennen. Es soll dabei gar nicht die innere Stimmigkeit dieser Auslegung bezweifelt werden, die allerdings auf Kosten vermehrter Faktenselektion und nicht ohne aufwendige Hilfskonstruktionen zustandekommt, lediglich die Tatsache, daß sie vom Autor (in irgendeiner Weise) beabsichtigt ist bzw. daß diese Absicht nachweisbar wäre.

   Denn jede neue Entschlüsselung basiert auf einer früher vorgenommenen; das ganze Gebäude trägt sich somit allenfalls selbst. Alle angeführten Passagen lassen sich mühelos im Rahmen der Handlung erklären; es findet sich nicht der kleinste Hinweis auf sperriges Material, zu dessen Erklärung eine Überschreitung der interpretatorischen Imma-


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nenz [Immanenz] in der von den Verfassern gewünschten Richtung geboten wäre. Vielmehr verhält es sich eher umgekehrt. Jede autobiographische "Entdeckung" bedarf besonderer interpretatorischer Aufbereitung, provoziert Widersprüche oder enthält Ambivalenzen, die sich nicht selten zu gegenteiligen Schlüssen verwenden ließen. Das beginnt mit Max Pappermanns Vornamen und Sprachfehler, der sofort mit May in Zusammenhang gebracht wird - »Was "verdrängt" dieser Laut? Vielleicht gar kein "x", sondern ein "y"?«(26) -, obwohl schließlich auch Sudhoff (72) einräumt, daß Pappermann zumindest am Nugget-tsil, wenn nicht in Trinidad [!] funktional für Max Dittrich stehe. Da abstrahiert man gänzlich vom - hinreichend begründenden - Kontext und deutet Old Shatterhands »ausweichend«-taktische Antwort auf die Enters-Frage, ob er bereits in Trinidad gewesen sei, als: »Schämt May sich seiner Herkunft?«(27) Da genügt der »einfache Schlüssel«(28) einer Parallelisierung zur Pferdeszene im "Silberlöwen", über dessen Singularität als allegorischer Text man überhaupt einmal sprechen müßte(29), um den Schriftsteller May autobiographisch dingfest zu machen. Im Verfolg dieser These werden die drei Indianerhengste mit den Amerika-Romanen "Winnetou", "Old Surehand" und "Satan und Ischariot" erklärt und die mexikanische Herkunft der Maultiere als Hinweis auf "Waldröschen".(30) Doch selbst wenn man über die Nichtberücksichtigung von "Weihnacht" und immerhin fünf Jugenderzählungen oder anderen, in der Textstelle vorkommenden Ziffern(31) noch hinwegsehen kann, bleibt weiter die Frage, warum die Quantität der Maultiere nicht ebenso konsequent gedeutet wird. Die Zahl der Münchmeyer- oder auch nur "Waldröschen"-Bände kommt jedenfalls nicht in Betracht. Und sollte Sudhoffs neuester Hinweis(32) auf eine genremäßige Differenzierung des Frühwerks in Humoresken, Dorfgeschichten und Kolportageromane als eine Dreizahl erbringende Auslegung letzter Hand zu werten sein, so erscheint diese wenig systematische Einteilung nicht nur lockenhaft (es fehlen z. B. die "Geographischen Predigten") und willkürlich, sondern es gerät dadurch wiederum die Mexiko-Hypothese ins Wanken.

   Es fragt sich generell, ob es tatsächlich vertretbar ist, diese Textstelle, eine der wenigen dazu, in der sich - vermutlich zur Freude vieler Leser - Mays altes »Westmännertum« noch einmal so richtig auslebt, unbedingt zur Allegorie hochzustilisieren. Ihr Stimmungsgehalt legt es gewiß nicht nahe, zumal gerade diese Abenteuer-Episode ihren Topos-Charakter nicht verbergen kann. Handelt es sich doch bei der Pferdewette offensichtlich um eine Standardsituation heldischer Bewährung: Der verkannte Old Shatterhand täuscht erst das blutige Greenhorn vor, um dann um so triumphaler seine Fähigkeiten zu demonstrieren. Man vergleiche daraufhin z. B. das Schießduell mit dem Prayer-man in "Weihnacht" (247ff.), wo sich bis in die Einzelheiten reichende Entsprechungen der Handlungsstruktur feststellen lassen. (Daß die Kom-


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plicen [Komplicen] der jeweiligen Old-Shatterhand-Antagonisten übrigens in beiden Fällen Corner heißen, sei allenfalls zur Problematisierung unfundierter biographischer Vermutungen angemerkt.(33))

   Ebenso zweifelhaft oder zumindest ungesichert wirken Überlegungen, die Pappermanns Wohnort betreffen. Da er zuerst im tatsächlich existierenden Trinidad/Colorado auftritt, weist dies - nach Sudhoff(34) auf den Geburtsort Ernstthal, respektive dessen Kirche St. Trinitatis, hin. Um den Symbolwert dieser Stelle zu belegen, genügt ihm eine Begriffsverwechslung des Autors, denn in Colorado gebe es keine  G r a f s c h a f t ,  sondern nur eine  S t a d t  Las Animas. Nun muß man sich einmal diese Textstelle unter Stilgesichtspunkten vornehmen, um sofort zu erkennen, daß dieser geographische Exkurs mit einiger Wahrscheinlichkeit auf eine lexikalische oder Fachbuch-Quelle schließen läßt. Ob May fehlerhaft übertrug oder ob gar seine geographische Vorlage getrübt war, läßt sich dabei von mir nicht entscheiden, zumindest scheinen so weitreichende Schlüsse aus einem Bagatellirrtum nicht unbedingt zwingend.

   Auf der Basis einer solchen Evidenz wird aber fast durchweg entschlüsselt. Ein Hotel wird da zur Lebensaufgabe(35), die Teufelskanzel zur »Projektion der Mayschen Persönlichkeit«(36), ein Bär zum »Symbol für alte Sünden oder alte Romane«(37), und was Kai Riedemann auch sonst noch in die Devils-Pulpit-Szene hineinlegt(38), überschreitet schlechterdings die Grenzen der Nachprüfbarkeit. Es sind dies beliebig vertauschbare Beispiele, an deren vollständiger Kommentierung mich lediglich der thematische Zusammenhang wie der Rahmen dieser Studie hindern, wobei auch das Gesamtgeflecht aller Beziehungen die Kochsche Theorie nicht unbedingt glaubwürdiger macht. Entscheidend ist doch letztlich, daß für Pappermanns Stellvertreterschaft keine einzige aus dem Rahmen fallende unzweideutige biographische Parallele gefunden werden konnte. Wie notdürftig vielmehr die Gleichsetzungsthese zuweilen zusammengehalten werden muß, zeigt ein Blick auf die Kanubisee-Handlung.

   Ohne die theoretische Möglichkeit von Mehrfachspiegelungen biographischer Realität zu leugnen, die ja seit Freud als Kriterium moderner Autorschaft angesehen werden, fragt es sich doch, ob die hier von den Verfassern avisierte totale Ich-Fingierung Plausibilität besitzt. Koch sah Mays »Bewußtseinsspaltung« in den drei Gestalten Pappermann, Aschta und Muddy ausgedrückt (142), zusätzlich "enttarnte" er den Jungen Adler als »Aviatiker May« (143). Sudhoff fügte darüber hinaus noch Wakon als Ich-Spiegelung hinzu (43), und da Old Shatterhand ohnehin den Schriftsteller May repräsentiert, Herzle aber offenbar als sein seelischer Katalysator fungiert(39), fänden - nach Koch und Sudhoff - in ganzen Szenenfolgen fast ausschließlich Begegnungen Mayscher Spaltprodukte statt. Daß Aschta gleichzeitig noch, zeitver-


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setzt [zeitversetzt] oder funktionsbezogen, einmal Emma Pollmer, einmal Marie Thekla Vogel, Muddy wiederum Mays Rivalen Albani darstellt(40) während Pappermann zuweilen auch Dittrich sein kann und auch noch die Enters als Partialspiegelungen Mays ins Spiel geraten(41), verkompliziert die Chiffrierung verständlicherweise beträchtlich, und die Hilfskonstruktion eines »inneren« und »äußeren Menschen« wird benötigt.


IV.

Spätestens hier sind einige methodische Anmerkungen angebracht, zumal manche der monierten Analyseschwächen lediglich die Folge definitorischer Unschärfe zu sein scheinen. Es sei ja gar nicht bestritten, daß irgendwelche autobiographischen Reflexe in fast jeder Figur oder Situation Mays, in Orten oder Handlungssträngen enthalten sind. Das ist bei einem Autor, dessen exotische Romanwelt ja zunächst ohne jede konkrete Anschauung entstanden ist, auch gar nicht anders zu erwarten, zumal bis zu seinem Lebensende Traumatisches aus Jugend-, Gefängnis- oder Prozeßzeit zu verarbeiten war. Auf "Winnetou IV" bezogen, stellen Wakons unedierte Alterswerke, die Flugbegeisterung des Jungen Adlers oder die zur Kunst anregende Großmutter Young Surehands bzw. Young Apanatschkas selbstverständlich biographisches Material dar, aber darin liegt noch lange keine erwähnenswerte Selbstdarstellung des Autors, es sei denn, man gebraucht diesen Begriff so verwaschen, daß letztlich jeder Schriftsteller, der Ereignisse der eigenen Vita dem Werke einverleibt und sich im Schreibprozeß mehr oder weniger bewußt in seine Figuren hineinversetzt - und wer täte das eigentlich nicht? - autobiographischer Chiffrierung überführt werden könnte.

   Doch die Frage stellt sich hier anders. Es geht nicht bloß um mehr oder minder bewußte Relikte vergangenen Erlebens, um mit starken Emotionen verbundene, im Werk verarbeitete Erinnerungen an Personen und Situationen oder Kompensierungen vergangener Demütigungen. Es geht auch nicht um durchweg identische, ich-bezogene Verhaltensschemata als Ausdruck innerer Beteiligung des Autors bzw. seiner stets gleichgebliebenen psychischen Grundbedürfnisse. Es geht um die These, daß hier eine weitgehend kontinuierliche Verschlüsselung der menschlichen und beruflichen Entwicklung Mays vorliege. Wenn man es vermeiden will, das literarische Werk als einziges Pantheon Mayscher Ich-Spaltungen auszugeben, was kaum haltbar sein dürfte, erfordert dies größere interpretatorische Selbstbeschränkung. Insbesondere wäre unzweideutig festzulegen, ob eine Allegorie, ein verschlüsseltes Selbstporträt oder lediglich biographisches Material nachgewiesen werden soll - eine grundsätzliche Entscheidung, die methodische


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Konsequenzen hat und der man auch nicht durch den Hinweis auf Mays tranceartige Produktionsweise enthoben ist.

   Demgemäß wären an ein zweifelsfreies dichterisch chiffriertes Selbstporträt gewisse Mindestanforderungen zu richten, wobei der in diesem Sinne unproblematische Sonderfall der Ich-Idealisierung Old Shatterhands/Kara Ben Nemsis unberücksichtigt bleiben soll:

1. Ein gefühlsmäßiger Konnex zwischen Figur und Autor, der eine Identifikation wahrscheinlich macht. Dabei kann die jeweilige Rolle im epischen Kontext, gemessen am Normensystem des Autors, durchaus abweichendes, im Extremfall gegensätzliches Verhalten bedingen. Entscheidend bleibt ein mehr als akzidentielles Interesse an der Entwicklung dieser Person, das herablassend-spöttische Gleichgültigkeit ausschließt.

2. Signifikante Übereinstimmung von Romansituation und markanten (traumatischen) Ereignissen der tatsächlichen Vita, auf die erkennbar verwiesen wird.

3. Auffälligkeiten oder Ungereimtheiten im Text, die mit solchen biographischen Verarbeitungen zusammenhängen, im Idealfall ein binnenliterarisch nicht zu erklärender Bruch in der Fiktionswelt.

4. Längere relative Widerspruchsfreiheit der Parallelisierung. Es kommt dabei nicht auf durchgängige Detailverschlüsselung an - Karl May arbeitete grundsätzlich anders als z. B. Thomas Mann im Schneekapitel seines "Zauberbergs" -, aber die Identifikationsstruktur darf nicht völlig unterlaufen werden. Daß darin Kompensierungen und Verdrängungen enthalten sind, versteht sich von selbst.

5. Direkte Hinweise (Ähnlichkeiten von Namen, Formulierungen, Schlagworten etc.).


V.

Dies vorausgeschickt, sind die nachstehenden Hypothesen zumindest im Lichte der eben aufgeführten Kriterien zu überprüfen. Dabei möge zunächst ein kryptischer Hinweis Arno Schmidts nicht unerwähnt bleiben. Er fand es in "Sitara" nämlich »sehr interessant«, daß »OS sich diesmal den Namen "Burton" zulegt: den gleichen, den der Ärz-Feind Santer in W II, 558 u. ö. führt«, und verband diese Feststellung mit der neckischen Aufforderung an den Leser: »die Lösung sei diesmal dem eigenen Nachdenken überlassen«.(42)

   - Nun denn. Beginnen wir mit einer anagrammatischen Spielerei, die - allein genommen bedeutungslos - im Rahmen der Gesamtinter-


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pretation [Gesamtinterpretation] aber sicherlich nicht weniger Beweiskraft besitzt als das Pappermannsche »Maksch«. Daß der Name Enters der Santer-Söhne durch einfache Vertauschung des ersten mit dem letzten Buchstaben zustande kommt, liegt zunächst einmal auf der Hand, wobei die unterschiedlichen Anfangsvokale »e« und »a« phonetisch bedingt sind (engl. a = æ). Warum aber nun die scheinbare Verwechslung der Konsonanten »t« und »d«, denn May schreibt in "Winnetou IV" ja auffallenderweise »Sander«. Dies belegt durchaus keine altersbedingte Schlampigkeit(43), und wenn Schmidt in diesem Zusammenhang auf mögliche Freudsche Fehlhandlungen aufmerksam macht(44), so verkannte er lediglich die Motive. Denn wie wenig Mühe bereitet es, aus

H A R I  M A N  F.              A/E N D/T E R S

K A R L  M A Y  F.[riedrich]     A  N  D  E R S  zu machen,

und damit wären wir dem Mayschen Inkognito schon auf der Spur. Derartige Buchstabenvertauschungen oder -veränderungen bzw. die Mischung beider Methoden sind übrigens typisch für Mays Verfahrensweise der Namensverschlüsselung. Man denke z. B. an sein früheres Pseudonym »D. Jam«(45) oder die Auflösung des Namensrätsels im 4. Band des "Silberlöwen" (109f.): aus »Rafadsch Azrim« wird »Dschafar Mirza«. Zwingend wäre diese Beweisführung im Fall von "Winnetou IV" allerdings erst, wenn es gelänge, auch den Namen Sebulon L. Enters zu entschlüsseln(46), denn die Brüder gehören, was die autobiographische Substanz betrifft, zusammen als Verkörperung zweier extremer Möglichkeiten menschlicher Konfliktbewältigung.

   Die Parallelisierung von Realität und Fiktion läßt sich an mehreren traumatischen Schlüsselsituationen festmachen, die für Mays Existenz von gar nicht zu unterschätzender Bedeutung waren. Sie betreffen

1. seinen Versuch, die Münchmeyer-Neuauflagen zu verhindern und damit seine Vergangenheit zu verheimlichen,

2. die wichtige Rolle des Geldes in seinem Leben samt dessen Einflüssen auf die schriftstellerische Arbeit,

3. seine psychische Verfassung zur Zeit der kriminellen bzw. Rehabilitationsphase,

4. das Verhältnis zu seinen Eltern, insbesondere zum Vater, eine Problematik, die sich ihm gegen Ende des Lebens offenbar verändert und verschärft neu gestellt hatte,

5. seine Altersperspektive.

   Der Roman hält, wie im folgenden gezeigt werden soll, unter literarischer Tarnung schonungslose Abrechnung mit einem gegen Lebens-


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ende [Lebensende] als falsch erkannten oder geahnten Weg. Hariman Enters wie sein Bruder suchen verzweifelt, Geschriebenes aus der Welt zu schaffen, und das mißlingt, muß mit Notwendigkeit mißlingen? wie Old Shatterhand alias der weise gewordene May (nun) einsichtsvoll konstatiert:

»Was ich geschrieben habe, kann nicht wieder verschwinden. Es sind viele Tausend deutsche Exemplare des "Winnetou" hier in den Vereinigten Staaten verbreitet, und nach den hiesigen Gesetzen bin ich als Verfasser ungeschützt.« (41 )

Hier hätte man statt "Winnetou" eigentlich nur "Waldröschen" oder "Deutsche Helden" einzusetzen, und das Geständnis wäre perfekt. Daß dabei zwar der übliche Kompensationsmechanismus in Gang kommt, wodurch Mays Ich-Ideal makellos rein bleibt und lediglich die Brüder Enters als Inkarnationen des Anima- oder Gewaltmenschen offen gebrandmarkt werden, stützt nachgerade die Argumentation:

»Ich schreibe meine Bücher, damit sie gelesen werden, nicht aber, damit sie verschwinden.« (24)

»Ihr wollt sie nicht drucken, sondern verschwinden lassen, und zwar aus Rücksicht auf Euren eigentlichen Namen und auf Euren toten Vater.« (41)

   Wie tief das saß, dieser Münchmeyer-Stachel, der die Prozeß-Lawine ins Rollen brachte, sieht man auch daran, daß es sich bei der erwähnten Romanepisode um ein absolut taubes Motiv handelt, denn ein entsprechendes Auslands-Copyright scheint es in den damaligen USA überhaupt nicht gegeben zu haben; zumindest betont dies May ja selbst ausdrücklich. Und insofern ist die Vorstellung, daß ein Yankee angesichts eines nicht existenten Publikationsrechts überhaupt auf die Idee kommen soll, er könne sich durch eine in Deutschland besorgte Drucklizenz in die Verfügungsgewalt der Bücher setzen, schon einigermaßen abenteuerlich, selbst wenn für die Reise noch die weitere Begründung der Goldsuche nachgeschoben wird. Aber die unzureichende Motivierung in Ebene I geht noch weiter; schließlich haben wir hier tatsächlich keine organische Romanhandlung, sondern sperriges, episch schwer verdauliches Seelenmaterial vor uns(47): Selbst als Old Shatterhand Sebulon Enters unmißverständlich darauf hinweist, daß jedermann in den USA das Recht habe, »zu übersetzen oder nachzudrucken, so viel ihm nur beliebt« (41), beharrt dieser auf seiner gänzlich absurd gewordenen Forderung. Er scheint darauf völlig fixiert, und seine eindringlichen Beschwörungen klingen verräterisch nach denen des Autors gegenüber Adalbert Fischer:

»Ich mache es genau so kurz, wie Ihr es wollt. Die Folgen(48) aber kommen dann nicht über uns, sondern über Euch und Euer Gewissen! Ja, wir heißen Sander [= anders], und unser Vater war der, den Ihr kennt. Verkauft Ihr uns den Winnetou?« (42) [= Laßt Ihr das "Waldröschen" erscheinen?]


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   Die einzige Chance für die Enters, sich zu retten und gleichzeitig die väterliche Schuld abzutragen, sieht der Autor geradezu beschwörend im Verzicht auf jede weitere Vertuschung sowie den Anschluß an Old Shatterhand, d. h. Mays Ideal. »Ehrlichkeit« ist bezeichnenderweise das Schlagwort, das als Ausweg für Mays irdische, nicht überhöhte Person zwar gesehen wird, deren Realisierung jedoch starke psychische Hemmnisse im Wege standen, Aufrichtigkeit und Einsicht als Heilmittel gegen den väterlichen Einfluß.(49) Auf eine Kurzformel gebracht, bedeutete dies: weg vom Doppelleben, hin zum tatsächlichen und schonungslosen Eingeständnis früheren Fehlverhaltens. Nur so bestand für May die Möglichkeit, sich aus unlösbar gewordenen Verstrickungen ohnehin angezweifelter biographischer Legenden zu befreien, nur so bestand für die Enters Aussicht, nach bestandener »Prüfung«, Nugget-tsil und das Dunkle Wasser zu sehen (44). Insofern ist Hariman schon weiter als Sebulon, der jenem vorwirft, er sei dem »Mörder« ihres Vaters »mit ganz besonderer Liebe zugetan« (38):

»Vater war selbst daran schuld, daß er in dieser Weise zugrunde ging! Und erholt uns nach, uns alle, uns alle! Nur wir beide sind noch übrig. Und wenn wir nicht ehrlich sind, geht es mit uns in doppelter Eile zu Ende! Ich hoffe und hoffe noch immer auf Rettung! Die aber ist nur dann möglich, wenn das Geschehene Verzeihung findet. Und auch hier ist  d e r  D e u t s c h e  der einzige, der sie gewähren kann.«(50)

   Zu den drastischsten und interpretatorisch ergiebigsten Szenen des ganzen Buches gehört die vermeintliche Schatzgräberei am Nugget-tsil. Ihre Bedeutung liegt einmal in der kompositorischen Funktion als Wendepunkt der Entersschen Entwicklung, zum anderen in der umfassenden autobiographischen Substanz dieser Passagen, die sowohl das Vater-Mutter-Sohn-Verhältnis als auch Mays psychische Verfassung der 60er und 70er Jahre sowie seine Beziehung zum Geld als Teil des dichterischen Selbstverständnisses betrifft. Daß Sudhoff die eminente autobiographische Aussagekraft dieser Textstelle nicht erkannt hat, obwohl er doch immerhin Sebulon während der Grabung »momentlang Mays Züge« zugestand(51) und der Autor selbst zudem auf ihre Wichtigkeit eigens aufmerksam machte(52), läßt sich wohl nur mit seiner grundsätzlichen Fixierung auf die Pappermann-These erklären.(53) Dabei läge eine akribische Punkt-für-Punkt-Analyse hier wesentlich näher als beispielsweise am Kanubi-See. Das soll jedoch im folgenden zugunsten der Notiz weniger markanter Übereinstimmungen unterbleiben, weil mir im Falle Mays grundsätzlich methodische Zurückhaltung angebracht erscheint. Wo im Produktionsfluß soviel Spontaneität und Sprunghaftigkeit herrscht und andererseits die Überarbeitung eines Textes fast völlig unterbleibt, birgt ein lückenloses Interpretationsanliegen nicht selten die Gefahr einer Harmonisierung von Polyvalentem in sich.


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   Auffallend ist jedenfalls die spektakuläre Verarbeitung des Gold-Motivs, dessen häufige Verwendung in Mays Werk ja schon verschiedentlich festgestellt und aus seiner Lebensgeschichte erklärt worden ist.(54) Während Old Shatterhand immerhin einräumen muß, sich bei der ersten Testamentsuche aus Gedankenlosigkeit bzw. zur Erfüllung »wohltätige(r) edle(r) Zwecke« (105) mit "deadly dust" zufriedengegeben zu haben, ein für das Ich-Ideal gerade noch zulässiges verklausuliertes Eingeständnis materieller Erwägungen(55), gestattet sich der Autor bei den Enters größere Offenheit. In Erwartung bedeutender Reichtümer gerät Sebulon geradezu in einen dem Wahnsinn benachbarten Rauschzustand: »Es war ein häßlicher, ein überaus häßlicher Anblick, den er bot. Er glich einem Dämon, einem bösen Geiste, dessen Anblick für sterbliche Augen unerträglich ist.« (110)

   Nun hat man das zweimalige Graben nach Winnetous Vermächtnis völlig einsichtig als unterschiedliche Ansätze literarischer Produktion gedeutet(56), was der Goldsucherei zusätzlich ihren konkreten biographischen Stellenwert verleiht. Harimans Äußerung seinem Bruder gegenüber, »du grubst [= schriebst] in seinem [= Old Shatterhands] Namen.« (111), enthält also geradezu Klartext; und Riedemanns Frage, ob »es Zufall ist, daß ausgerechnet (...) Sebulon Enters die Papiere ausgräbt«(57), kann verneint werden. Dargestellt wären somit verschiedene Autorintentionen, zum einen das in hemmungsloser Vielschreiberei manifeste kommerzielle Interesse, zum anderen das nach verzeihlichen Umwegen zum Sendungsbewußtsein gereifte literaturpädagogische Anliegen des Spätwerks. In der Spiegelung Sebulons und Old Shatterhands versteckt der Autor also ein gehöriges Maß an selbstkritischer Vergangenheitsbewältigung, die sich nicht nur - wie Sudhoff (64) meint - auf die Kolportage-Produktion beschränkt und über deren Mut, allerdings auch Inkonsequenz noch gesprochen werden muß.

   Neben der symbolisch eingestandenen Verbindung von Literatur und Kommerz ist der Konnex zwischen Vaterproblem und vergeblicher Goldsuche das eigentlich Bemerkenswerte. Zum Beleg dieses Umstands seien die wichtigsten einschlägigen Passagen ausschnittsweise zitiert:

»Vater, Vater, Du bist hier! Du hilfst mir! Ich weiß es; ich fühle es!« (110)

»Und doch ist der Vater da, der Vater! Ich fühle es an der Aufregung, an der Leidenschaft, die mich zersprengen möchte.« (112)

»Wie habe ich gesagt? Er sei da, unser Vater, unser Vater? Verrückter Kerl, der ich bin! Von dem alten Lump ist längst keine Faser, kein Atom, kein Stäubchen mehr übrig! Nur die Schande hat er uns gelassen, die Schande! Und den Trieb zum Bösen hat er uns vererbt, den Drang zum Mord, zur Selbstvernichtung! Das ist alles, was wir ihm zu verdanken haben, alles, alles! Und das will Vater gewesen sein, und hat sich Vater genannt! Pfui!« (114)


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»Er hat mich betrogen, der Alte! Betrogen, betrogen, betrogen! Es war kein Geld; es waren nur Blätter, nur Blätter! (...) Er hat, als er lebte, alle Welt betrogen. Nun er tot ist, kann er nur uns noch betrügen. (...) Wahrlich, ich habe große Lust, ihm das zurückzugeben (...), ihn mit diesem Old Shatterhand zu betrügen!.« (117)

Da stöhnte Sebulon leise: »Die Ahnen, die Ahnen, die Väter!« (121)

   Der Heftigkeit der Empfindung, die solche Tiraden auslöst, entspricht die Quantität derartiger Passagen, wobei hinzukommt, daß die Lösung dieser Problematik ein durchgängiges Textanliegen bleibt und buchstäblich erst mit dem Abschluß des ganzen Werkes zusammenfällt. Wenn man an der Identifikations-These festhält - und ich sehe gerade hier keinen Anlaß, davon abzuweichen - könnte man zu dem Ergebnis kommen, daß May sich von seinem Vater in irgendeiner Weise finanziell geschädigt fühlte:

»Es rechnet in mir, es rechnet! Unaufhörlich! Bei Tag und bei Nacht! Wenn wir den Schatz, der mit dem Vater in das Wasser ging, doch heben könnten?« (38),

heißt es schon zu Beginn des Romans, und es folgt zwei Sätze weiter mit der Erwähnung von »viele(n), viele(n) Beutel(n) voller Nuggets« vielleicht ein verräterischer Hinweis auf ein feststellbares (zumindest aber in der Vorstellung des Autors existentes oder von ihm genanntes) biographisches Ereignis: die mutmaßliche Vergeudung der mütterlichen Erbschaft durch Heinrich August May.(58) Bereits Wollschläger hat am Beispiel der späten Reiseerzählung "Am Jenseits" auf eine in ihrer Konfliktsituation analoge Konstellation aufmerksam gemacht und wie folgt kommentiert:

»die Beutel sind die Muttererbschaft. die der Vater an sich riß und vertat. (...) so ergibt sich, daß May, der bis ins 50. Jahr Besitzlose, tief unbewußt offenbar sich selbst als den berechtigten Erben des Muttervermögens gefühlt hat, von dem ihm - vielleicht wie von einem verlorenen märchenhaften Reichtum - erzählt worden war, und daß er, tief unbewußt, den Vorwurf, schuld an der Armut seines Lebens zu sein, mit zu den anderen Schulden des gehaßten Vaters fügte.«(59)

   Über den hier unterstellten »Haß« wäre bei der Übertragung des Schemas auf "Winnetou IV" noch differenzierend zu sprechen, zumal dessen Sublimierung ja am Ende gelingt (249/253). Im übrigen aber bestätigt die Nugget-tsil-Episode möglicherweise den "Am Jenseits" erstellten Befund eines im Werk zum Ausdruck kommenden Vater-Sohn-Konflikts, der sogar über die Haftbarmachung für finanzielle Einbußen hinausgeht. Die - möglicherweise nicht vollbewußte - Opposition ist allerdings keineswegs durchgängig. Es finden sich auch in "Mein Leben und Streben" immer wieder objektivierende oder verständnisvolle Äußerungen. Auch die proklamierte Ahnenverehrung,


//121//

z. B. im "Pax"-Roman, oder einschlägige Passagen des "Silberlöwen" wären in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen.(60) Daß May also seinem Vater trotz allem bis zuletzt ein gewisses Wohlwollen bewahrte oder dies zumindest bekundete, darf keineswegs vernachlässigt werden, ist aber möglicherweise ein auflösbarer Widerspruch.(61)

   Wie realisierte sich aber nun eigentlich dieser väterliche Einfluß in der Wirklichkeit? Wenn wir auch den »Trieb zum Bösen (...), den Drang zum Mord, zur Selbstvernichtung« (114) eher als handlungsbedingte Aussagen einschätzen müssen bzw. als die im folgenden noch explizierte subjektive Zustandsschilderung seiner inneren Verfassung während der 60er und 70er Jahre, so lassen sich den o. a. Zitaten immerhin auch einige realbiographisch zutreffende Stichworte entnehmen: Geldgier, Unruhe, selbstzerstörerische Leidenschaft, Schande und Betrug. Heinrich May war offensichtlich ein nervöser, mit seinem Schicksal zutiefst unzufriedener, von der Hoffnung auf gesellschaftlichen Aufstieg geradezu gepeinigter Mensch. Von ihm wesentlich hat der Sohn das unstillbare Verlangen nach Höherem, nach Karriere, nach öffentlicher Bestätigung, aber auch das Rastlos-Hektische oder Dilettantisch-Stoffhuberische seiner Produktivität. Die aus Mangel an selbstbewußter Ruhe und Sachverstand geborene unsystematische Überforderung und Isolation des Knaben oder die gespenstisch anmutenden Erziehungsmethoden allein erklären bereits, sofern sich May hier richtig erinnerte, einen Großteil der später zutage getretenen psychischen Defekte.(62) Hier wurde, angesichts der tatsächlichen Unmöglichkeit, all dies streberhaft zu verwirklichen, der Hochstapler-Typus beinahe mit Notwendigkeit vorprogrammiert.

   Folgerichtig sind es daher im Roman - offenbar in Anlehnung an die Wirklichkeit - Herzles an die Mutter erinnernde Augen, die den dämonischen Einfluß des Vaters bändigen (113/226) und damit die geistige Neuorientierung einleiten:

»Das sind die blauen Augen unserer Mutter. Die so lieben, guten, blauen Augen, die so unzählbar oft weinten, bis sie vor Herzeleid brachen und sich schlossen. Habt ihr diese Aehnlichkeit auch bemerkt? Und das ist das Wohlwollen und die Güte unserer Mutter, genau, genau! Wie das lächelt! Wie das bittet! Wie das verzeiht! --- Sollen diese Augen sich in Tränen ergießen, meinetwegen? Soll so viel Güte vernichtet werden? In Haß, in Rache verwandelt? Kann ich das? Darf ich das? Eines Schurken wegen? Eines Schurken, Schurken, Schurken?!« (117)

   Die hier gezeichnete Konstellation der duldenden Mutter, die ihre Kinder vor den Umtrieben oder Anwandlungen des Vaters in Schutz nimmt, findet sich durchgängig auch in "Mein Leben und Streben"(63), doch solche Familienstrukturen dürften (in damaliger Zeit) allzu verbreitet gewesen sein, um mehr als eine zwar zutreffende, im Sinne der Beweisführung aber unspezifische Aussage darzustellen. Autobiogra-


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phisch [Autobiographisch] bedeutsamer erscheinen daher die Parallelen zu der in "Mein Leben und Streben" geschilderten Bewußtseinsspaltung während Mays deliktgeprägter Phase. Der Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen väterlichem Einfluß und Tugendideal, ist im Roman in zweifacher Hinsicht ausdifferenziert. Erstens steht Sebulon, der seine verbrecherischen Rachepläne aggressiv nach außen wendet, seinem Über-Ich Old Shatterhand gegenüber, zweitens seinem Bruder Hariman, der sie in selbstmörderischen Schuldgefühlen verinnerlicht hat. Beide Verhaltensweisen lassen sich aber auch beinahe idealtypisch in Mays Charakter nachweisen, je nachdem, ob man eine kriminelle oder eine Anpassungsphase seines Lebens herausgreift. Und daß auch noch die Kompensationsgestalt Old Shatterhands hinzutritt, macht die Seelenanalyse nahezu komplett. Im unterschiedlichen Handeln und Denken der Brüder kommen daher auch unterschiedliche Zeitstufen Mayscher Entwicklung zum Ausdruck. Der offenen Auflehnung Sebolons gegen Gesetz, Ordnung oder göttliche Norm folgt ein gemäßigterer Gemütszustand, verkörpert durch Hariman, der, sühnebereit und prinzipiell ideal gesinnt - liebt er doch Old Shatterhand -, nur auf die Gelegenheit wartet, den Vater (in sich) zu erlösen. Seine Zeit ist demnach gekommen, als er die nutzlosen "unehrlichen" Versuche einer Vergangenheitsvertuschung aufgibt und stattdessen die selbstzerstörerischen Triebe in der Nachfolge Old Shatterhands bewußt in opferbereitem Edelmenschentum aufgehen läßt. Sebulon braucht dazu noch etwas länger. Die Zurechtweisung durch seinen Bruder vor der Ausgrabung des Testaments illustriert es:

»Wer ist die Memme? Du oder ich? Ich habe den Mut, zu kämpfen; Du aber hast ihn nicht! Ich will frei sein, frei von diesem Teufel, der uns besessen hat und auch heute noch besitzt! Er ist ohne Gnade und ohne Erbarmen. Er gebietet uns, ihm zu gehorchen oder zugrunde zu gehen. Er fordert von uns das Verbrechen oder den Sühnetod für den Vater. Dir fehlt der Mut, gegen ihn zu kämpfen; darum wählst du das Verbrechen;« (109)

   Man sieht sich bei der Lektüre solcher die Enters betreffenden Szenen immer wieder zu Vergleichslesungen in "Mein Leben und Streben" genötigt. Da lassen sich die Rachegefühle des durch die Justiz Stigmatisierten ebenso ausmachen wie verdeckte Selbstmordabsichten oder die Befürchtung bzw. der Vorwurf eines geistigen Defekts.(64) Und die selbstgewisse Distanz Old Shatterhands, der Herzles überstürzte Diagnose »Das ist Wahnsinn, der offenbare Wahnsinn!« (109) mit interessierter Gelassenheit korrigiert, findet ihre vollständige Erklärung erst in autobiographischen Formulierungen wie:

Jeder Andere hätte das als Wahnsinn bezeichnet, ich aber nicht. Ich blieb kaltblütig und beobachtete mich.(65)


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Dabei ist es unerheblich, ob es sich bei den Schilderungen Mayscher Seelenzustände in jedem Fall um authentische oder subjektiv verfälschte Eindrücke handelt. Frappierend bleiben zumindest Qualität und Quantität der Bezüge zwischen Autobiographie und getarntem Selbstporträt, worauf bereits der Romanbeginn mit dem Gespräch des Ehepaars May über Harimans Charakter vorbereitet:

»Gefährlich?« fragte sie.

»Allerdings.«

»Wieso? Ich halte diesen Enters, obwohl er ein Sander zu sein scheint, doch für einen  g u t e n  M e n s c h e n . «

»Ich auch. Aber kann nicht selbst die  p e r s o n i f i z i e r t e  G ü t e  einmal obstinat werden? Liegt in der  N i e d e r g e s c h l a g e n h e i t  und, ich möchte fast sagen, in dem  k r a n k h a f t e n  T i e f s i n n  dieses Mannes, nicht etwas  E x p l o d i e r b a r e s ,  vor dem man sich zu hüten hat? Und kennen wir seinen Bruder? (...) Ich bin überzeugt, daß wir ihn in  N i a g a r a  kennen lernen werden; und dann wird es sich ja finden, wie wir uns zu beiden zu stellen haben, um sie nicht zu zwingen, in die  F u ß s t a p f e n  i h r e s  V a t e r s  zu treten. Der Doktor sprach gestern von einem Dämon in ihnen. Dieser Dämon hat uns hier aufgefunden, hat uns entdeckt. Es ist der Sandersche Zwang zum Morde. Du siehst, unsere Reise beginnt sehr interessant, ja hochinteressant zu werden.« (27f.)

   Es können im Rahmen dieses Aufsatzes nur einige interpretatorische Schlaglichter auf die jeweiligen Textstellen geworfen werden, doch sei immerhin auf die dort genannten (von mir unterstrichenen) Eigenschaften als Komponenten Mayscher Selbsteinschätzung aufmerksam gemacht, wobei die verbrämte Lombroso-Theorie als unfreiwilliger Lapsus - vielleicht Freudschen Formats(66) - eigene Beachtung verdient. Weitere ausdeutbare Stichworte wären »Niagara«, »Reise«, das bei May ja häufig mit dem Entwicklungsgedanken verbunden ist, oder »hochinteressant« als Signal für den Stellenwert der Passage. Doch soll statt ihrer eingehenden Analyse als letztes noch die im Roman gefundene Lösung der Enters- oder Karl-May-Problematik zur Sprache kommen, die im konsequenten Verfolg der Identifikations-These die aufregendsten Selbstaussagen des Textes enthält.

   Greifen wir die oben begonnene Deutung wieder auf, wonach die Überwindung der inneren Spannung (als Erbteil des Vaters) erst durch die Annäherung an das von Old Shatterhand verkörperte Ideal möglich wird. Auf der anderen Seite bedürfen die zu Therapierenden einer gewissen emotionalen Zuwendung. Herzles Mitleid und Old Shatterhands Vertrauen (249) werden somit zu unerläßlichen Voraussetzungen psychischer und sozialer Wiedergesundung. Auf Mays Leben bezogen sind die Entsprechungen mit Händen zu greifen, wobei frühere Resozialisierungsbedürfnisse des entlassenen Strafgefangenen mit aktuellen Befürchtungen, was die Reaktion auf sein Vorleben oder die gerichtlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit den Lebius-Prozes-


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sen [Lebius-Prozessen] betrifft, einhergehen. Auch Herzles Rolle, ob als Mutter oder beim späten May als Ehefrau gedacht, leuchtet ohne weiteres ein. Zu denken gibt immerhin, daß der Autor den Heilungsprozeß der Brüder erst mit ihrem Tode abschließt. Erst im Selbstopfer der Enters findet die Erlösung des Vaters, d. h. die vollständige Bändigung des Sanderschen alias Mayschen Dämons statt. War May sich letztlich dessen bewußt, daß er, solange er lebte, sein Inneres nicht mehr ins Reine bringen und durch zusätzlichen äußeren Druck niemals mehr wirkliche Ruhe finden werde? Wünschte er mit einem Teil seines Herzens gar diesen Abschluß?(67) Konsequent ist ihr Tod schließlich auch insofern, als die völlige Verwirklichung des Ideals das Absterben des Menschlich-Allzumenschlichen voraussetzt. Hariman ahnt dies instinktiv:

»Als ich den Namen schrieb, war es mir, als unterschriebe ich mein Todesurteil. Und doch war es mir so leicht und so wohl dabei!« (128)

Darüber hinaus korrespondiert der Untergang der Anima- oder Gewaltmenschen mit Winnetous (geistiger) Wiederauferstehung. Die beiden Grabszenen des Romans sind somit kompositorisch aufeinander bezogen.

   Autobiographisch »hochinteressant« wird es aber erst, wenn wir die symbolische Deutung Old Shatterhands als »Schriftsteller May«(68) in unsere Betrachtung miteinbeziehen. Dann läge hier nämlich möglicherweise eine lebensgeschichtlich verwertbare verschlüsselte Aussage der Art vor, daß May als Person sich gegenüber Angriffen schützend vor sein dichterisches Werk zu stellen bzw. sein Ansehen als Autor zu wahren habe. Doch dies nicht genug, habe er es unter Einsatz seines Lebens zu tun. Sollte May vielleicht sogar gegen Ende seines Lebens gespürt haben, daß er selbst als belastete Person, als Achillesferse seiner Programmatik, der gewünschten Wirkung seines Werkes im Wege stand?(69) Man nähert sich bei solchen Auslegungen zweifellos dem Bereich der Spekulation, und ich möchte die letzte Deutung ausdrücklich als solche hervorheben. Dennoch wird in ihr - und darauf sei ihr heuristischer Wert begrenzt - vielleicht etwas ahnbar von der Tragik seines späten Schaffens, und die verschiedenen Verweise auf eine günstigere posthume Rezeption gewinnen an Kontur.


VI.

Die Charakterisierung der Enters als von Goldrausch und (Selbst-) Mordgedanken geplagte, gewaltsam zu Tode gebrachte Söhne eines Erzverbrechers schöpft die erzählerischen Möglichkeiten einer autobiographisch fundierten Gegenfigur zum Ideal- und Edelmenschen


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Old Shatterhand völlig aus. Eine so selbstkritische Identifikation Karl Mays wie der zunehmende Abbau der Abenteuerromantik wirft die Frage auf, ob der Autor gegen Ende seines Lebens tatsächlich in der Lage war, seinen inneren Konflikt in voller Bewußtheit wahrzunehmen und wenigstens ansatzweise einer angemessenen Lösung zuzuführen. Eine Antwort darauf erfordert eine zumindest kursorische Rekapitulation der auffallendsten psychischen Krisenerscheinungen wie ihrer Symptome im literarischen Werk. Mays einzigartige Produktion wie Produktivität verrät dem tiefenpsychologisch Orientierten auf Schritt und Tritt ernsthafte seelische Erschütterungen. Der Schreibprozeß geriet ihm in immer stärkerem Maße zu einer grandiosen (scheinbaren) Selbsttherapie, in der er sich selbst eine Ersatzrealität für sein verpfuschtes Leben vorgaukelte. Von den klassischen Abwehr- oder Sicherungsmechanismen wie Verdrängen, Sublimieren oder (Über-) Kompensieren trieb er vor allem letzteres zur epischen Hochblüte bzw. hypertrophen Wucherung. An Mays Werk läßt sich nahezu schulbuchmäßig von den jeweiligen Übersteigerungen auf realbiographische Defizite schließen, wobei Art und Ausmaß der Kompensationen als Indikator für Form und Umfang der Krise betrachtet werden können. Das Phänomen ist mittlerweile wohl beinahe ein Gemeinplatz der Karl-May-Biographik und in vielfältigen Ansätzen bereits beschrieben.(70) Mir geht es daher nur um eine exemplarische Zusammenfassung der wichtigsten Züge solcher Manifestationen, wie sie die folgende, zwangsläufig lückenhafte Tabelle auf den Seiten 126 und 127 zu leisten versucht:


   Gehen wir von den Kompensationssymptomen des Werkes aus, ergibt sich, auf eine kurze Formel gebracht, folgender Befund: May wünscht sich inständig, ein  a n d e r e r  zu sein, ein  m ä c h t i g e r  (nahezu omnipotenter), der überall  a n e r k a n n t  wird. Gegen Ende der 90er Jahre kommt das drastisch artikulierte Bedürfnis nach  L i e b e  hinzu, erkennbar auch an der Bedeutungssteigerung des Weiblich-Mütterlichen im Romanpersonal, um als tragendes Handlungsmotiv die vorgenannten scheinbar zu verdrängen. Doch sei bereits hier der unten näher belegten Vermutung Ausdruck verliehen, daß Mays Liebesmystik offenbar in engem Zusammenhang mit seiner Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung steht, ja, vielleicht sogar als ihr Derivat anzusehen ist. (Zu ergänzen wäre, daß die eindringlich ersehnte Akzeptanz den familiären Bereich mit einschließt und der verzweifelt artikulierte Wunsch nach harmonischer Ehe und elterlichem Verzeihen im Alter immer mehr ins Zentrum rückt.)


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EINDRÜCKE ÜBERKOMPENSATIONEN
Ohnmacht Omnipotenz
a) körperliche Schwächen
- krankes und schwaches Kind
»Frauenhand«
unverwüstliche Gesundheit und Stärke
»Old Shatterhand«
- Blindheit,
dadurch kommunikativ vor allem aufs Tasten und Hören beschränkt
a) außergewöhnliche Sehkraft (Fernrohr)
b) heilt andere als (Augen-)Arzt
c) belauscht(71) und beschleicht ständig
b) bedroht und geprügelt
(vom Vater; vielleicht auch im Gefängnis)
größter Kämpfer, der niemanden fürchten muß und alle besiegt (Reiter, Schütze, Faust- und Ringkämpfer etc.)
c) Ängste und Anfechtungen
(Elternhaus, Gefängnis, Resozialisierung, später wohl Furcht vor Aufdeckung der Vergangenheit)
a) übermenschlicher Mut, der Schmerzen und Strapazen trotzt / »Männermut vor Fürstenthronen« / unerschütterliche Sicherheit hinsichtlich der Ziele
b) Gegner sind feige und unfähig
d) gejagt, gefangen, eingesperrt a) ständige erfolgreiche Flucht und Befreiung
b) Verspottung der unfähigen Polizei (Beamten etc.)
c) selbst Jäger und Verfolger von Verbrechern, die er fängt (oder in Talkesseln einsperrt)
e) entlarvt a) verbirgt sich erfolgreich hinter Tarnnamen und -kleidung
b) Vorliebe für Geheimnisse und Geheimorganisationen,
c) denen er andererseits auf die Spur kommt (Held als Detektiv, der Verbrecher und geheime Banden entlarvt oder überführt)
f) Gerichten ausgeliefert
Verlorene Prozesse /
Harte Bestrafung
a) Held als großer Rechtsgelehrter, der durch bessere Gesetzeskenntnis oder sophistische Tricks seine Prozesse gewinnt
b) Richter haben über ihn keine wirkliche, sondern nur angemaßte Macht. Er verspottet sie und ihre Gerichtsverfahren (ungerecht, korrupt)
c) Held selbst als Richter(72) (z. T. über Vorgänger);
d) in dieser Funktion läßt er meist Gnade vor Recht ergehen;
e) göttliche Gerechtigkeit (stets auf seiten des Helden)
g) als Lehrer entlassen a) belehrt ständig alle (Freund wie Feind)
b) schriftstellernder Westmann May als Volkserzieher
Räumliche und geistige Enge Mann von Welt
a) Provinzort Ernstthal und Umgebung Prärie, Wüste, die ganze Welt als Handlungsraum,
b) kleinbürgerliche Beschränktheit beeinflußt Geschicke von Stämmen und Potentaten
c) Gefängniszelle ständige Dynamik der Handlung
(Reiten und Reisen)


//127//

Ökonomische und Bildungsdefizite wirtschaftlich gesichertes Universalgenie
a) wirtschaftliche Misere zu Hause a) Held ist zwar nicht reich, hat aber sein gutes Auskommen (als Schriftsteller, reiche Gönner oder die theoretische Möglichkeit, zu Gold zu gelangen),
b) hat denkbar beste Ausrüstung, Pferde, Waffen
c) will keinen unverdienten Reichtum ohne Anstrengung (»deadly dust«)
b) unzulängliche Ausbildung
- vom Vater eingedrillte unsystematische (Sprach-) Studien/sinnloses Pauken und Abschreiben
- Wunsch nach Gymnasium und Universität scheitert an finanziellen Möglichkeiten
- (religiöser) Drill im Lehrerseminar
- Tätigkeit im musikalischen Bereich
- Autodidakt (Gefängnisbibliothek; Geistliche als Diskussionspartner)
a) (»Wildwest«-)These: Praxis = wichtiger als theoretische Bildung
b) dennoch: gediegene Ausbildung (durch wissenschaftliche Kapazitäten); Held bildungsmäßig auf der Höhe der Zeit:
- polyglott, Kenntnisse in Geometrie, Biologie, Astronomie, Archäologie, Geographie, Medizin, Religion, Psychologie und Kompositionslehre
- genialer Erfinder (Regenmacher), Getränkehersteller etc.
Mangel an sozialer Anerkennung Allseits geliebter Ehrenmann
a) kleinbürglerlich-proletarische Herkunft a) andere Sozialordnung im »Wilden Westen« (Leistungshierarchie, »West«-Tugenden wirken integrierend, dazu Religion)
b) »Empor« (Aufstiegssehnsucht auch topographisch fixiert: vom Flachland zum Gipfel)
c) Held als Verkannter, als Inkognito-Person (Pseudonymität und Verkleidung als Preisgabe der ungeliebten Identität), als geheimnisumwitterter anderer (wirkliche Abkunft höher, z. B. Kindsvertauschung)
b) als mehrfacher Sträfling sozial deklassiert a) überall beliebt und geschätzt, verkehrt mit den Großen der Zeit (Häuptlingen, Scheichs, Lords etc.)
b) große Bedeutung der Ehrrituale im Zusammenhang mit dem Helden
c) Schwindler, dem man nicht glaubt
(z. T. unter Polizeiaufsicht)
a) man schenkt ihm blindes Vertrauen (da er immer ehrlich ist)
b) wo nicht, folgen schwere Strafen (Nachteile)
d) wehruntauglich bzw. -unwürdig a) Held als großer Stratege kommandiert Truppen und gewinnt Schlachten
b) verspottet Militärs als unfähig
e) sein religiöses und sittliches Verhalten im Seminar bemängelt Muster an missionarischem und praktischem Christentum; kennt alle einschlägigen (auch außerchristlichen) religiösen Schriften
f) Verstöße gegen das Gesetz (Kriminalität) a) moralisch untadelig
b) unschuldig verdächtigt


//128//

VII.

Natürlich wird diese Annahme den orthodoxen oder Neofreudianern als aberwitzige Verdrehung der Kausalkette erscheinen. Unterstellen sie doch als übermächtige Ursache des gesamten psychischen Leidens eine (bislang im Realbiographischen allerdings unbewiesene) Liebesversagung der Mutter. Ich will gerne mit diesem Vorwurf leben und mich an dieser Stelle auch nicht prinzipiell zur Methodik und Problematik psychoanalytischer Literaturinterpretationen äußern, obwohl manche ihrer Ergebnisse zu weitreichender Skepsis Anlaß geben, sondern lediglich da Bedenken anmelden, wo das aus "Winnetou IV" gewonnene Psychogramm andere Schlußfolgerungen erheischt.

   Ein genereller Einwand möge hier immerhin Platz finden: Es gibt seit Wollschlägers »Sogenannter Spaltung des menschlichen Innern« einen Trend, biographisch faßbare, z. T. aktuelle Bezüge psychoanalytischen Deduktionen unterzuordnen, welche die früheste Kindheit betreffen. So wird z. B. die Verlagerung vom Vater- zum Mutter-Ideal im Spätwerk aus dem vorgegebenen ödipalen oder (reduzierten) Narzißmus-Modell abgeleitet, ohne zu überprüfen, welche Rolle z. B. der jeweilige Stand der Beziehungen zu Emma Pollmer, Klara Plöhn oder anderen Frauen in Mays Leben spielte. Oder es begründet ein unterstelltes Fehlverhalten der Mutter den Narzißmus-Verdacht als Quelle Mayschen Leidens, während näherliegende Ursachen einer traumatischen Deformation zwar konstatiert, aber nur inadäquat gewürdigt werden. So kommt es denn, daß einem berechtigten oder nur angenommenen Vater- oder (Groß-)Mutterkomplex weitestgehende Aufmerksamkeit geschenkt wird(73), während das zentrale (und eben anders zu erklärende) lebenslang dominierende Symptom einer psychischen Beschädigung außer acht gerät: der unstillbare Drang nämlich, die eigene Identität zu verleugnen und diese Ich-Ablehnung lustvoll auszukosten. Was Stolte in dieser Frage über Mays »Suche nach der verlorenen Seele«(74) geschrieben hat, ist uneingeschränkt zu bejahen, wie auch seine »über Freud hinaus«-gehende Annahme, »daß keineswegs nur die frühkindlichen Erlebnisse bleibende Formierungen oder Deformierungen einer Psyche verursachen.«(75)

   Dabei sei unbestritten, daß sich in Mays Kindheit ein Hauptschlüssel zum Verständnis seiner krisengeschüttelten Psyche findet. Doch läßt sich seine charakterliche Entwicklung auch ohne psychoanalytische Hilfskonstruktionen bereits weitgehend plausibel aus einer verpfuschten Sozialisation in Verbindung mit einem allzu üppig wuchernden Gefühls- und Phantasieleben erklären(76): Da gab es eine durch Blindheit und körperliche Schwäche verlängerte und intensivierte Märchenwelt des Kleinkindes, und dagegen stand schroff eine bedrückende Wirklichkeit, die durch die familiären und sozialen Verhältnisse in Ernstthal


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bestimmt wurde. Da gab es die gütige Großmutter und als extremen Kontrast den nichts weniger als gemütvollen Vater mit seinen - milde gesagt - verfehlten Erziehungsmaßnahmen, deren vielleicht folgenreichste die weitgehende Isolierung von der Gruppe der Gleichaltrigen war. Und da gab es nicht zuletzt die vom Vater verursachte treibhausartige Atmosphäre nervöser Unrast und hypertropher Aufsteigersehnsucht. Wo immer man nach seiner Schuld, besser seinem Anteil an der Charakterentwicklung des Sohnes fahndet, wird man diesen Umstand in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken müssen, mehr noch als die unerbittliche Strenge im Hause May, deren Einschätzung zudem im Rahmen des Zeitüblichen zu erfolgen hätte. Die abgrundtiefe Verbitterung eines sich sozial deklassiert Fühlenden dürfte May fast mit der Muttermilch eingesogen haben, und das später vergeistigte »Empor« fand hier ersten handgreiflichen Ausdruck. Die bis in die letzten Arbeiten hinein verfolgbare Sucht, mehr zu scheinen als zu sein, etwas Anderes, Besseres, Höheres, dieses Renommier-, Avancier- und Imponiergehabe brachte der Autor offenbar als lebenslanges Erbteil aus dem Elternhaus mit, ergänzt durch die Phantastik einer Roman- oder Märchenwelt und die ansatzweise gekostete Ahnung weniger bedrückender Bereiche. Das ist der Kern eines allerdings nicht ödipal definierten Vater-Problems(77), und gerade daraufhin wären die Enters- wie andere Generationskonflikte nochmals zu untersuchen.

   Was nach einer solchen Jugend, zumal bei so ausgeprägten pseudologischen wie poetischen Anlagen folgte, war mehr oder weniger abzusehen: eine Flucht in immer neue Rollen, Hochstapeleien und Betrügereien und schließlich das Gefängnis als Brutstätte eines neuen Traumas. (Psychologisch) bemerkenswert ist hier eigentlich nur die Tatsache, daß May sich durch seine schriftstellerische Kreativität und Produktivität eigenhändig sozial rehabilitierte, indem er ein Ersatzmedium für seine Ich-Fluchten fand.


VIII.

An dieser Stelle wäre einiges über den Einfluß von Frauen in Mays Leben und Werk zu sagen. Ich kann aus dem bisher vorliegenden bzw. angeführten Material partout nicht erkennen, warum Mays frühe Kindheit, abgesehen von der einschüchternden Herrschaft des Vaters, durch familiären Liebesentzug gekennzeichnet gewesen sein soll, der das Milieuübliche überstieg. Daß das Elternhaus ein traumastiftender Ort war, der durch Mays Blindheit noch in seiner Wirkung potenziert wurde, sei unangefochten. Auch will ich die von Wollschläger und anderen(78) erörterte Möglichkeit  t h e o r e t i s c h  nicht ausschließen. Doch solange keine weiteren realbiographischen Fakten auftauchen,


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sehe ich wenig Anlaß, das von May selbst gezeichnete Mutterbild, sofern man die hagiographischen Elemente ausklammert, grundsätzlich zu bezweifeln. Hinzu kommt, daß der Knabe selbst bei einmal unterstellter mütterlicher Überlastung immerhin den Vorzug einer zweiten Bezugsperson hatte, die sich ja offenbar nachdrücklich und einprägsam um ihn kümmerte. Es erscheint daher sicherlich nicht weniger plausibel, daß Hainer Plaul(79) zu genau dem gegenteiligen Schluß einer entwicklungshemmenden Verzärtelung des Kindes gelangt.

   Mays qualvolles Diktum zur Zeit seines Lebensberichts, er sei immer allein gewesen, mag für die Schulzeit und die bewegten Nachfolgejahre seine Berechtigung haben, als Aussage über die frühen Jahre in seinem Elternhaus verdient es allenfalls eingeschränkte Glaubwürdigkeit und stützt eher die oben vertretene These, daß es ihm weniger um mütterliche Zuwendung, denn um Geltung oder geistige Gefolgschaft zu tun war.

So blieb mir nur die Mutter. Sie saß des Abends mit ihrem Strickstrumpf still am Tische, an dem ich schrieb. Ich legte ihr so gern die Gedanken vor, mit denen ich meine Feder beschäftigte. Sie hörte mir ruhig zu. Sie nickte einverstanden. Sie lächelte ermutigend. Sie sagte ein liebes, tröstendes Wort. Sie war wie eine Heilige. Aber auch sie verstand mich nicht. Sie fühlte nur; sie ahnte. Und sie wünschte von ganzem Herzen, daß Alles so werden möchte, wie ich es mir ersehnte. Und als sie sah, wie fest und unerschütterlich ich an meine Zukunft glaubte, da glaubte auch sie und war so froh, wie eine Mutter sein kann, deren Kind noch so glücklich ist, sich auf Gott, auf die Menschheit und auf sich selbst verlassen zu dürfen. Ich aber fühlte mich einsam, einsam wie immer.(80)

Das Urproblem des Dichters und nichts anderes ist hier gespiegelt, dessen höhere Ziele von einer in seinen Augen platten Umwelt nicht erkannt und gewürdigt werden. Das mag er ihr eine Zeitlang tatsächlich nachgetragen haben, wie er es Emma Pollmer nachtrug, die nicht mit ihm »emporsteigen« wollte, und dafür mag er ihr im Alter Abbitte geleistet haben, als er erkannte, daß sie wohl nicht über ihren Schatten springen konnte. Und nicht zuletzt darin liegt die Erklärung, warum der Märchen-Großmutter in seiner persönlichen und literarischen Hierarchie der erste Platz gebührte.

   Was nun das scheinbare Indiz einer überlebensgroßen Stilisierung beider Bezugspersonen als Quasi-Heilige betrifft(81), so läßt sich auch dafür eine näherliegende Deutung finden, die den Vorteil hat, gerade den Wandel in den späten Reiseromanen mit einzuschließen. Natürlich ist der Aussagewert eines solch kanonisierten, psychisch zensierten Mutterbildes nur begrenzt, und Wollschläger hat recht, wenn er von einer »maßlosen Hyperbel«(82) spricht. Auch belegt der berüchtigte Dialog aus "Mein Leben und Streben" (166f.), falls er Authentisches wiedergibt, sicherlich keine nie versagende Märtyrerhaltung. Aber ich sehe auf der


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anderen Seite auch wenig Grund, das Zitat aus seinem konkreten Kontext zu lösen und ins frühkindliche Alter zu verlegen.(83) Hier scheint der Sachverhalt doch viel eher auf eine nicht ganz unverständliche mütterliche Nervenkrise hinzudeuten angesichts der kriminellen Rückfälle ihres mit so vielen Hoffnungen ausgestatteten Sohnes. Ja, Christiane Wilhelmine May dürfte zu dieser Zeit resigniert, an ihrem Sohn gezweifelt, ihm nicht mehr (alles) geglaubt haben. Vielleicht tat sie ihm dabei sogar (einmal) Unrecht. Aber anders gefragt: War er es nicht gewesen, der das Vertrauen dieser stillen Dulderin, die für sein Fortkommen gekämpft und gedarbt hatte, in der Zeit seiner Delikte Stück für Stück aufbrauchte? Konnte er diese Erkenntnis, auch wenn er sich ihr anfangs verschlossen haben mochte, auf die Dauer verdrängen?(84) Und wenn ihm das (als endlich arriviertem Autor) schließlich bewußt war oder auch nur zuweilen aus dem Unterbewußtsein aufstieß, mußte dies nicht beinahe notwendigerweise die einzige Form von Abbitte oder Dankbarkeit hervorrufen, die ihm in der gegebenen Situation noch zu Gebote stand: die literarische Divinisierung? Nicht »die Schuld der Mutter« mußte somit primär »entkräftet werden«, wie Wollschläger meint(85), sondern die des Sohnes, der die Erwartungen der Eltern so schmählich enttäuscht hatte und als verlorener gelten mußte, wie Old Wabble oder die Enters. Die literarische Verklärung ist späte Wiedergutmachung, ist poetische Bitte um Verzeihung:

Nicht mich bedaure ich, sondern meine armen, braven Eltern und Geschwister, welch erstere mir noch im Grabe leid tun, daß ihr Sohn, auf den sie so große, vielleicht nicht ganz unberechtigte Hoffnungen setzten, durch die unendliche Grausamkeit der Tatsachen und Verhältnisse gezwungen ist, derartige Geständnisse zu machen.(86)

   Wenn sich somit im Alterswerk bzw. bereits in den Romanen seit 1896, wie Roxin überzeugend nachgewiesen hat(87), bedeutende strukturelle Verschiebungen ausmachen lassen, tut man gut daran, solche Schuldkomplexe in die Betrachtung zu integrieren. Sie stellten sich folgerichtig auf der Peripetie seines Ruhms immer stärker ein - ein Zeitabschnitt, den die Eltern ja nicht mehr hatten miterleben dürfen - und gesellten sich zu einem erwachenden Bedürfnis nach Literarisierung des Erzählstoffs, welche May sich offenbar nur als verstärkte Sakralisierung oder christliche Moralisierung vorstellen konnte. Auch dürfte ihn zuweilen eine Ahnung befallen haben, welchen Absturz es nun bald mit ihm nehmen könnte und dann ja auch tatsächlich nahm, so daß ein Rekurs auf Mütterlich-Christlich-Verzeihendes in zunehmendem Maße erwünscht war.

   Nicht zu unterschlagen ist natürlich auch der Einfluß der Ehefrauen wie diverser parteinehmender Leserinnen. Der Autor selbst gibt in "Winnetou IV" einen unmißverständlichen Fingerzeig auf die Bedeu-


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tung [Bedeutung] weiblicher Anhängerschaft für den gedemütigten alten Mann: So spottet Kiktahan Schonka über Old Shatterhand:

»Er ist (...) auf unsere Squaws getroffen, die ja so wahnsinnig sind, für ihn und Winnetou zu schwärmen, und da hat es dem alten Manne wohlgetan, von den Weibern sich preisen und anbeten zu lassen.« (94)(88)

   Im Mittelpunkt aller Symptomatik steht jedoch Emma. Sie war es vermutlich, die das Bewußtsein des nun arrivierten Autors, ein allseitig beliebter und geachteter Dichter zu sein, es geschafft zu haben, durch ihre Immunität gegen Höhenflüge und Phantastereien am nachhaltigsten erschütterte(89) und somit sein - wenn auch taktisch verwendetes - Geständnis erklären könnte:

So sind in hunderten und aberhunderten von kalten, liebeleeren, qualvollen Nächten alle die Bücher entstanden, in denen ich von nichts als nur von Liebe rede.(90)

Klara hingegen erschien ihm als absoluter Kontrast. Sah sie doch offenbar ihre Aufgabe und Chance darin, ihn in seiner literarisch-missionarischen Prätention noch zu bestärken. Schon ihre erste Erwähnung in "Mein Leben und Streben" kommt in der Thematisierung dieses für May fundamentalen Gegensatzes auf den Punkt:

Meine damalige Frau [= Emma] hat nie in einem meiner Bücher gelesen. Der Zweck und Inhalt meiner Schriften war ihr ebenso unbekannt und gleichgültig wie meine Ziele und Ideale überhaupt. Frau Plöhn aber war begeisterte Leserin von mir und besaß ein sehr ernstes und tiefes Verständnis für all mein Hoffen, Wünschen und Wollen.(91)

   Folgt man "Winnetou IV", so liegt im Herzle-Porträt geradezu das Idealbild Mayscher Frauenvorstellung vor. Da findet sich die Gattin als kongeniale Partnerin, die ihren ganz persönlichen Teil zur religiös-zivilisatorischen Missionsaufgabe beiträgt (187, 229). Sie ist ein Muster an Verständnis (34), Rücksicht (78) und Güte (62f., 87, 145), teilt wie selbstverständlich (21) und als Expertin alle Strapazen (21, 45, 78), kennt und schätzt dieselben Personen, denen auch May gewogen ist (16, 103), und kocht unübertrefflich (117, 229). Muß man noch erwähnen, daß dieser (Schutz)engel in Menschengestalt, dem es ganz unmöglich ist, einen Wurm oder Käfer unzart zu berühren (109), aus Liebe zum Autor Sebulon niederschießen will oder sich in der Nigger-Episode opferbereit vor ihren Mann stellt (253)? Übergehen wir angesichts des klaren Befundes kommentarlos weitere Szenen, die Arno Schmidt in seiner launischen Respektlosigkeit als »meist läppische & schmalzige, zuweilen etwas lustige Familienpimpelei« bezeichnete(92), und wenden uns der Frage zu, welchen biographischen Aussagewert die in ihnen plastisch werdende Romanfigur besitzt. Mir scheint, er ist erheb-


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lich [erheblich], nicht hinsichtlich konkreter Details oder in der wunschhaften Übersteigerung, aber möglicherweise in der grundsätzlichen Definition ihrer gegenseitigen Beziehung.

   Was diese Frau als Kameradin, Mitarbeiterin (21) und Mitstreiterin auch im realen Leben therapeutisch lindernd für den alten Mann geleistet hat, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Sie half ihm - soviel läßt sich vielleicht schon den Romanpassagen entnehmen - sicher nicht beim Aufdecken seiner Grundproblematik, eher beim Zudecken und Verschleiern(93), aber wer weiß, ob ihm jenes am Ende seines Lebens noch genützt hätte. Sie wußte ihn offenbar zu nehmen, »verstand« ihn, teilte seine Marotten, empörte sich mit ihm, warb und plädierte, glaubte an ihn (181f.) oder tat wenigstens so, flößte ihm Vertrauen ein, brachte ihn zum Sprechen (98) und zu einem - für Old Shatterhand wahrlich außergewöhnlichen - Eingeständnis:

Ich bin nämlich gewohnt, die Gedanken und Gefühle meiner Frau in allen Stücken mit in Erwägung zu ziehen. Ihr angeborener Scharfsinn kommt mir oft zur Hilfe, während mein mühsam erworbener Scharfblick mich in die Irre führt. Ich gebe gern zu, daß die Frau dem Manne in Beziehung auf die feineren Instinkte überlegen ist. Darum freue ich mich immer, wenn die meinige mir sagt, daß sie einen »Gedanken« oder eine »Ahnung« habe, denn ich weiß, daß es mir zur Hilfe dient. (105)

Ihr weiblicher Instinkt bewahrte sie jedenfalls davor, allzu unsanft zu korrigieren - immerhin brachte sie ihn laut "Winnetou" dazu, sich das Rauchen abzugewöhnen (119) -; vielmehr hielt sie sich diplomatisch an seine Auflagen und Geheimniskrämereien (85), um letztendlich doch einen bedeutenden Einfluß auszuüben, deren springendstes Ergebnis ja die Scheidung Mays von Emma Pollmer war. Sie bestärkte ihn in seiner im Alter regressiven Haltung ins Weiblich-Mütterliche - ist sie es doch, die im Roman auffälligerweise Sebulons Dämon durch bloße Blicke zu bändigen weiß (113) - und vermutlich in seiner spiritistischen Anlage.(94) Sie teilte ostentativ seine Religiosität(95), und er sah sie als künstlerisches Gewissen (181).


IX.

Solche Einflußfaktoren, die ja schon um die Jahrhundertwende anzutreffen waren, dürfen nicht aus der Diskussion um das männliche oder weibliche Ich-Ideal ausgeklammert werden. Ihre Wirksamkeit zu unterschätzen und sich weitgehend auf ein ganz bestimmtes, nur vermeintlich erschlossenes Kindheitstrauma zu beschränken, wird m. E. der Sachlage nicht gerecht. Und noch eine letzte scheinbar unanfechtbare Wertung sei hier hinterfragt. Sie betrifft Mays Orientreise, die gemeinhin als Wendemarke zwischen Alterswerk und späten Reiseroma-


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nen [Reiseromanen] gilt. Seit Wollschläger nehmen manche Forscher sogar einen völligen Mayschen Charakterwandel an, bedingt durch einen »rätselhaften Zusammenbruch während der Orientreise, der seine Persönlichkeit wie auch sein Werk vollkommen veränderte«.(96) Das Rätsel glaubt Wollschläger allerdings zumindest seinem Gehalt nach gelöst zu haben, indem er eine genau datierte(97) Konfrontation zweier rivalisierender Ich-Ideale auf der Basis eines Mutter-Traumas unterstellt:

»Was May in Padang widerfuhr, wird äußerlich immer dunkel bleiben; der Anlaß ist nicht mehr zu erfahren, und Vermutungen darüber wären ein zu großes Wagnis. Definierbar aber ist das innerere Ereignis: es war nichts geringeres als ein totaler Zusammenbruch der narzißtischen Schutzpanzerung, eine schockartige Regression auf jene frühe Stufe der Analität, auf der die Anlehnung an die Mutter einst traumatisch fixiert worden war.«

»Die Überwindung gelang; der Widerstreit zwischen den beiden Identifikationen wurde entschieden, das alte Ich-Ideal vollständig zerstört und durch das ältere, traumatisch gebundene der Mutterfixierung abgelöst.«(98)

   Daß die Geschehnisse in Padang »immer dunkel bleiben werden«, mag sein. Doch sollte man zumindest Mays eigene Hinweise, z. B. aus "Mein Leben und Streben" mit heranziehen, die, falls man nicht die banalere Erklärung einer reisebedingten Entkräftung(99) oder einer Infektionskrankheit - Waller z. B. litt an einer Dysenterie - akzeptiert, seine turbulente Gemütsverfassung weniger aufwendig und sicher nicht unwahrscheinlicher begründen:

Plöhns aber schrieben, doch konnten mich diese Briefe erst in Padang auf der Insel Sumatra erreichen. Sie lauteten aufregend. Die Presse hatte begonnen, sich mit meinen Münchmeyerschen Romanen zu beschäftigen, und zwar in einer für mich ungünstigen Weise. Es wurden Gerüchte über mich verbreitet, die teils lächerlich, teils gewissenlos waren. Man las in den Zeitungen, daß ich mich gar nicht im Orient befinde, sondern mich wegen einer bösartigen Krankheit im Jodbad Tölz, Oberbayern, versteckt habe. (245)

   Die Angaben werden übrigens durch die Denkschrift "An die 4. Strafkammer" und in gewissem Sinne durch die Studie "Emma Pollmer" gestützt(100), wobei es noch nicht einmal erheblich wäre, ob diese Informationen nun tatsächlich auf Padang oder schon vorher gegeben wurden; entscheidend ist, daß May persönlich Padang in Zusammenhang mit den Presseangriffen und der Fischer-Affäre bringt. Ihm muß damals, fernab von jeglichem privaten Zuspruch und jeglicher narkotisierender Unterstützung durch seine Fan-Gemeinde, klargeworden sein, daß er künftig seine Old-Shatterhand-Kara-Ben-Nemsi-Existenz wohl kaum würde aufrecht erhalten können.  D a s  - und nicht die Destruktion eines alten, ja schon längst modifizierten Ich-Ideals - dürfte der


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Hintergrund dieser vielzitierten Krise gewesen sein. Was damals tatsächlich zusammenbrach, war die Illusion, ungestört bis ans Lebensende weiter hochstapeln zu können, die Hoffnung, die schäbige Vergangenheit zugunsten einer glanzvoll-reputierlichen Abenteuer-Existenz verleugnen und sich den nie aufgegebenen Jugendtraum erfüllen zu können, endlich  e i n  a n d e r e r  zu sein.


X.

»So streng, fast wie unerbittlich durfte sein einstiges Ich-Ideal nur einer zerstören, der es überwunden hatte.«(101)

Diese Wollschläger-These wäre nun allerdings im gesamten Alterswerk zu überprüfen, wobei der erste Einwand der Tatsache gilt, daß May seine Sprachrohre Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi ja nach Padang nicht fallen ließ, was die Spekulation auf die Lesererwartung allein nur zu einem Teil erklärt. Beschränken wir uns aus Raumgründen auf "Winnetou IV", so wäre zu fragen, welche Dimensionen des »früheren« Ich-Ideals denn nun zerstört sein sollen. Old Shatterhands Hauptkennzeichen (männliches Prinzip von Macht und Stärke, Omnipotenz, Renommage, Pseudonymität als Ausdruck einer Ablehnung der bestenfalls subjektiv ertragenen Wirklichkeit, unabdingbare Autoritäts- und allgemein akzeptierte Vertrauensperson, missionarische Religiosität) müßten sich jetzt völlig verwandelt sehen, im Sinne einer weiblich-(groß-)mütterlichen Regression. Daß sich die Reiseromane und das Spätwerk in dieser Hinsicht erkennbar unterscheiden, braucht nicht eigens wiederholt zu werden; diskussionswürdig wären allerdings Konsequenz, Intensität oder innere Glaubwürdigkeit dieses Bruchs. Als Auskunftsträger in dieser Frage könnten dabei möglicherweise Relikte früherer Gestaltungsstufen dienen, ein methodisches Verfahren, das sich am Beispiel von "Winnetou IV" bewähren wird.

   Inwiefern die Wildwestgesinnung aus diesem Roman weitgehend gewichen ist, wurde eingangs bereits belegt, desgleichen die Tatsache, daß der Autor, respektive sein Sprachrohr Old Shatterhand, sich vom heldischen Kampfplatz eigenen Versicherungen gemäß zurückgezogen haben. Fraglich bleibt dennoch, ob diese von der Bergpredigt bestimmte Haltung nur proklamiert oder auch gelebt wurde. Betrachtet man Mays Biographie, so schleichen sich manche Zweifel ein, doch liegt mir nichts ferner, als mich zum moralischen Inquisitor außerhalb textlicher Manifestationen aufzuschwingen. Das Problem stellt sich aber als literaturpsychologisches insofern, als die Konsequenz oder Inkonsequenz, mit der Mays Weltanschauung von ihm selbst im Romanwerk umgesetzt wurde - denn dies war sein eigentlicher Lebensraum, in dem er sich verwirklichte -, Aufschluß gibt über die Ernsthaftigkeit und Tiefe


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einer Bekundung, über Betroffenheit, Verdrängungen oder Vorspiegelungen.

   Mustert man also den Text auf die Frage hin, ob das Prinzip der Friedfertigkeit von den Protagonisten durchweg praktiziert werde, so stößt man immer wieder auf einen bezeichnenden Widerspruch, der von Oel-Willenborg mit den Mitteln der quantitativen Analyse offenbar nicht angemessen erfaßt werden konnte.(102) An Old Shatterhands Aufforderungen zur Versöhnung, zu christlichem Duldertum, herrscht kein Mangel, an entsprechenden Taten zuweilen schon. So verteidigt er zwar Herzle gegenüber seinen kampflosen Rückzug vom Nugget-tsil hochtrabend als »bedeutendes Avantgarde-Gefecht für unser Ideal« (136), was ihn jedoch nicht daran hindert, Paper zu ohrfeigen (135) oder es Evening bei nächster Gelegenheit mit gleicher Münze heimzuzahlen, wobei die Revolverdrohung eine delikate Begleiterscheinung darstellt (166). Darüber hinaus schlägt er Paper zwar nur einmal, weil Herzle »das gar nicht gerne« sieht (165), wirft ihn aber ersatzweise ins Wasser oder reitet mit seinen Gefährten ihn am Durchgang hindernde Indianer fast über den Haufen (171). Bereits vorher hatte er Howe, wenn auch in Notwehr, zu Boden geboxt (59). Der Einwand, was Old Shatterhand denn hätte tun sollen - schließlich könne man auch vom friedfertigsten Menschen kein ständiges Nachgeben erwarten -, trifft nicht den Kern. Denn May findet seine Handlungen ja nicht vor, er  e r findet sie. Und dies auch nicht ausschließlich mit Rücksicht auf eine noch nicht nachgekommene Leserschaft, sondern primär weil er ihren Ablauf für sich selbst als seelische Erbauung oder Befreiung herbeiwünscht. Gerade die autobiographische Fundierung mancher Szene stützt diese Deutung.

   So dürfte kaum zu übersehen sein, daß die Anfangskontroversen mit dem Komitee sich durch bloße Namensnennung hätten vermeiden lassen, wobei die Pseudonymität zu diesem Zeitpunkt nur äußerst geringe Plausibilität besitzt. Geht es May trotz vielfacher Behauptungen doch gar nicht unbedingt darum, Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen. Die Konfrontation mit den angeblichen Künstlern z. B. wählt er bewußt, da er eine jener Szenen erwartet, »an denen der Westmann immer eine große Freude hat« (48). Herzle gegenüber rechtfertigt er sein Vorgehen bezeichnenderweise wie folgt: »Willst Du mich in Deinem eigenen Innern blamieren?« (49). Der Nachweis persönlichen Mutes und männlicher Kraft sowie manche heroische Tugend halten in Mays Wertskala nach wie vor ihren Kurs, wenn dies auch nur gelegentlich sozusagen aus Versehen - zum Ausdruck kommt. So vergießt er zwar kein Blut, beweist aber, indem er Indianerlanzen durchlöchert (165), nachdrücklich seine Schießkünste. »Du bist Old Shatterhand«, konstatiert der Junge Adler. »Ein Kampf mit Dir wäre mein Tod.« (162) Natürlich kommt es nicht dazu, aber die Bestätigung ist erwünscht. Old


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Shatterhand nimmt die rote Kampfkraft vor Herzles Spott in Schutz (165), zeigt sich angetan von der Disziplin im Winnetou-Clan des Jungen Adlers (82) und äußert sich anerkennend über die dem typischen Indianer allzeit unterstellte Bereitschaft, für seine rote Farbe zu sterben (191). Doch wahrhaft entlarvend ist sein Verhalten am Mount Winnetou. Den Denkmalsturz will er »zunächst in Güte und Liebe« betreiben, wenn das aber nicht wirke, »mit allen möglichen Fäusten!« (192). Und in der Tat, die schockierende Duelldrohung gegenüber Old Surehand und Co, wie immer sie gemeint bzw. wie provozierend trivial sie schließlich aus dem Wege geräumt sein mag(103), gehört nicht nur zur auffälligsten Diskreditierung des Westmännertums, sondern darüber hinaus zu den aussagekräftigsten Relikten im Werk. Solche Rückfälle in die heroische Sphäre sind sprechende Indizien einer zumindest relativen charakterlichen Kontinuität.

   Im Kontext zu den Äußerungsformen heldischer Provenienz muß auch seine im Alterswerk ungebrochene Schwarz-Weiß-Technik gesehen werden(104), die eben nicht nur erzählerisches Mittel pointenreicher oder didaktisch-vereinfachender Charakterisierung ist, sondern zugleich auch Kennzeichen einer grotesk antagonistischen Weltsicht sowie Teil eines psychischen Defekts. May kann die Gesellschaft anscheinend nicht anders denken als dualistisch, seine Gegner nicht anders als in jeder Beziehung indiskutabel, wobei er sich wie sein Werk natürlich ständigen Widersprüchen aussetzt: der Feind, dessen vom Autor periodisch beredete Gefährlichkeit unerläßlicher Teil der Spannung ist, erweist sich im Zusammentreffen mit Old Shatterhand stets als Papiertiger. Betrifft die Ungleichheit der Kontrahenten ja bereits die Physis und äußere Erscheinung. Feindliche Häuptlinge werden als greisenhaft gebrechlich oder abstoßend häßlich gezeichnet - Solche Leute befinden sich [ja] nicht im Besitze der Seelenkraft, die auch äußerlich jung erhält (91) -, während sich Old Shatterhands und Wakons Schilderung an den Normen der Kalokagathie orientiert:

»Man sagte mir, Du seist ein Greis geworden. Du bist keiner! Das Menschenleid kann zur Matrone werden, doch nie die Menschenliebe, die uns vereint« (178)

»Wahrhaft große Männer pflegen nicht eher zu sterben, als bis sie wenigstens innerlich das erreicht haben, was sie erreichen wollten oder sollten.« (70)

Wieviel verborgene Angst hier mitschwingt und sich in beschwörenden literarischen Fiktionen Bahn bricht, erhellt erst ein Blick auf die wenig später veröffentlichten Memoiren oder Klaras Aufzeichnungen, aus denen das ganze Ausmaß der körperlichen Zerrüttung des Autors hervorgeht.(105) Des weiteren wird deutlich, wie dringend May offensichtlich der Droge eines wirklichkeitsfernen kompensierenden Gestaltens bedurfte, und es fällt leicht, seine verfehlte Prozeß- und Publikationstak-


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tik [Publikationstaktik] nach 1900 mit diesen Realitätsverkennungen in Zusammenhang zu bringen.

   Auch das Renommieren kann May einfach nicht lassen. Natürlich ist er zum Verzicht auf seinen wirklichen Namen, den man da drüben sehr wohl kennt (28), gezwungen, was auch Hariman sofort erfaßt:

»Ich reise pseudonym, unter dem Namen Burton.« -

»Well!« nickte Hariman. »Der Leser wegen, die Euch nicht in Ruhe lassen würden, Sir, wenn sie Eure Anwesenheit erführen!«

»Allerdings!« (39)

   Etiketten- und Statusfragen nehmen in Old Shatterhands Denken breiten Raum ein(106), und die Trinkgeld-Episode (28f.) einschließlich ihrer verunglückten, nun tatsächlich entlarvenden Motivierung manifestiert auf geradezu klassische Weise die Pose des Neureichen. Rührend verräterisch sind auch die Anflüge von Scheinbescheidenheit. Pappermann gegenüber gesteht er gönnerhaft angebliche frühere Fehler ein, dem Leser gegenüber archäologische Inkompetenz, löst aber nichtsdestoweniger binnen kurzem das akustische Rätsel der Devils Pulpit:

Ich dachte an die schwierigen, astronomischen Berechnungen, welche dem Baue der ägyptischen Pyramiden zugrunde liegen, an die noch unaufgeklärten Geheimnisse der Teokalli und anderer Tempelwerke aus früherer Zeit, doch bin ich weder Fachmann, noch Gelehrter, und darf es unmöglich wagen, mich auf so schwierige, wissenschaftliche Spekulationen einzulassen.  A b e r  ein Gedanke kam mir  d o c h ,  wenngleich die Aufrichtigkeit mich zwingt, zu gestehen, daß er mir bedeutend kühner erschien, als ein einfacher Westmann (...) sich gestatten darf. (81)(107)

   Das gleiche Verfahren, Old Shatterhands Geltung zu steigern, indem er auf entgegengesetzte Leserurteile spekuliert, wird mehrfach angewandt.

»Sag', wer ist hier am Mount Winnetou die maßgebende Persönlichkeit: Du oder Tatellah-Satah?«,

fragt Herzle ihren Gatten, und dieser antwortet pflichtschuldig: »Ganz selbstverständlich er!« (248)(108) Doch wer von den Lesern glaubt dies, soll dies glauben, angesichts der unumschränkten Herrschaft des Radebeuler Superman? Tatellah-Satah braucht ihn dringend, um zu siegen (181); er bezeichnet ihn nun als den immer »Gebende(n)« (222) und erteilt ihm nolens volens Handlungsvollmacht (181), die Old Shatterhand weidlich nutzt und dabei den Oberpriester geradezu zum Statisten degradiert. Nicht einmal der Aufklärung über die Einsturzgefahr des Denkmals wird er für würdig befunden, denn:

»Ich möchte diese Situation allein beherrschen. Es soll mir kein anderer dreinkommen und mich stören oder die Sache gar verderben!« (237)


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Und selbst Winnetou gegenüber, dem auf anderer Ebene zum roten Heiland Erhobenen, vermag er sich keine völlige Zurückhaltung aufzuerlegen. Dies scheint zunächst gar nicht so, denn Herzle gelangt am Nugget-tsil zu dem Urteil:

»Winnetou war abgeklärter und größer als  d a m a l s  Du, lieber Mann. Sein eigentlicher, sein unschätzbarster Wert lag nicht im Umgange mit Dir, lag überhaupt nicht in Deiner Nähe.« (105)

   Doch läßt bereits die (von mir hervorgehobene) temporäre Eingrenzung aufhorchen, heben Wertungen der sich anschließenden Handlung die Feststellung weitgehend wieder auf. Das gilt nicht nur für die geistigen Fähigkeiten, die z. B. Intschu-inta andächtig bestaunt - »Nicht einmal Winnetou hat es gekonnt« (217) -, sondern vor allem für den Anteil Old Shatterhands an der religiösen Erneuerung der Indianer. Tatellah-Satah selbst bereut, Old Shatterhand verkannt zu haben, ihn »der allein imstande ist, (...) seine roten Kinder neu zu beseelen« (214) wie er es einst mit Winnetou getan habe, und auch Pida sieht den Initiator der Christianisierung in Mays Alter ego:

»Es ist ein wunderbarer Samen, den Old Shatterhand in das Herz seines Bruders Winnetou legte. Dieser Same trug köstliche Früchte.« (268)

Wenn dieser divinisiert wird, muß jener in irgendeiner Weise auch daran beteiligt werden.

   Sudhoff(109) hat diese an der Grenze zur unfreiwilligen Blasphemie angesiedelte Problematik aus der Zusammenfassung von Winnetou-Bildern verschiedener Zeitstufen bzw. aus seinem Verzicht auf eine völlige Neukonzeption erklärt. Dies ist sicherlich zutreffend, doch bezweifle ich, daß May zu einer rigorosen Unterordnung seines Ich-Ideals je imstande gewesen wäre. (Dies hätte ja bereits eine erste Stufe tatsächlicher Heilung bedeutet.) Zu sehr waren psychische Befindlichkeiten mit dieser Figur verknüpft, als daß ihm eine erzählerische Distanzierung je geglückt wäre. Man sieht dies am deutlichsten an den zwanghaft-masochistischen, literarisch selbstmörderischen Versuchen, die alte Authentizitätsfrage der Reiseerzählungen im Roman erneut zur Diskussion zu stellen. Daß May hier nachkartet, in einem Werk, das ihm gleichzeitig als große Konfession dient(110), als Plattform letzter Aussagen über Menschheit und religiöse Läuterung, ist bezeichnend für die charakterliche Disposition des alten Mannes, für seine Unfähigkeit zum tatsächlichen Verzicht auf diese Fiktion.

   Mit wem die Enters denn überhaupt sprechen wollten, »mit dem Westmanne oder mit dem Schriftsteller?« (40) - die alte Formel aus den goldenen Zeiten seiner überbordenden Renommage(111) schleicht sich unverdrossen und unverdrängbar auch in diesen Roman wieder ein und


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könnte als Motto über all seinen Taten der letzten beiden Jahrzehnte stehen. Natürlich schreiben Indianer, die »Old Shatterhand« informieren wollen, an »May. Radebeul. Germany« (12), doch das ließe sich bei einigem Wohlwollen noch als neckisches Spielchen mit der Ich-Perspektive auslegen(112), wenngleich diese bei May stets auf durch Pseudoindizien beglaubigte Selbstdarstellung abzielt. So muß auch in diesem Fall (scheinbares) Expertenwissen die Globetrotter-These untermauern, sei es, daß Hariman Enters - wie autobiographisch hintersinnig! - die detailgenaue Korrektheit geographischer Angaben bestätigt (24), sei es, daß Mays Kennerschaft durch Renommiervergleiche(113) oder wiederholte Verbesserung schriftstellernder Kollegen erwiesen werden soll:

Wie viele Menschen, besonders sogenannte Volks- oder gar Jugendschriftsteller, haben schon »Indianerbücher« geschrieben, ohne von dem Außen- und Innenleben der amerikanischen Rasse auch nur die geringste positive Kenntnis zu besitzen! Und das wird dann von anderen, die noch weniger wissen, gelobt und warm empfohlen! Ich wurde schon von vielen, sogar von sehr vielen »Indianerschriftstellern« besucht, aber es gab keinen, wirklich keinen einzigen unter ihnen, der von dem Allerersten, was man da zu studieren hat, nämlich von den Clanverhältnissen, etwas wußte. (75)(114)

   Pikant erscheinen solche schlecht kaschierten Rodomontaden natürlich besonders, da sich der Autor schon wenig später im prozessualen Zusammenhang genötigt sah, öffentlich die Behauptung zu dementieren, zu den bestorientierten Indianerschriftstellern zu gehören.(115) Aber dies alles übertrumpft May durch die folgende Textstelle, die nun in keiner Ebene und durch keine interpretatorische Rabulistik mehr zu retten ist. Es geht um den Henrystutzen, dessen Funktionsfähigkeit - als Teil der Old-Shatterhand-Legende - von kritischen Lesern verschiedentlich angezweifelt worden war:

»Ja, man hat mich ausgelacht, wenn ich von fünfundzwanzig Schüssen sprach. Es hat sogar kluge, sehr kluge Menschen gegeben, welche mich dieses Gewehres wegen einen Lügner und Schwindler nannten, obgleich sie von Handfeuerwaffen und vom Schießen so wenig verstanden, daß es mich geradezu erbarmte. Nun aber ist es schon lange her, daß ich nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar übertroffen worden bin. In Italien erfand Major Cei-Rigotti ein fünfundzwanzigschüssiges Armeegewehr, und dem englischen Kriegsminister wurde sogar ein achtundzwanzigschüssiges, welches 3100 Meter weit trägt, von einem schottischen Erfinder vorgelegt. Übrigens wird dieser Stutzen zu seiner Zeit genau denselben Weg gehen, den jetzt Winnetous Silberbüchse geht.« (83)

   Diese späte Antwort im Roman zeigt nochmals in nuce den in der Tat "unverbesserlichen" May, der seine publizistischen Gefechte mit Notwendigkeit verlieren mußte, da er die Verteidigungsstellung auch bei gegnerischer Überlegenheit stets um eine Spanne zu spät räumte. Von


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hier aus wird verständlich, daß Mays zu Lebzeiten weitgehend vergeblicher Kampf um Rehabilitierung durch die Einbeziehung von Unzumutbarem oder schlicht Unberechtigtem zum Teil einem Anrennen gegen die Realität gleichkam, einer Realität, vor der er sich von Jugend auf zu verstecken, der er später durch Rollenwechsel immer wieder zu entgehen suchte. Dieses Zentralmotiv seines Lebens und Werkes beherrscht auch noch seinen letzten Roman. So verbirgt sich der Autor in Figuren und Szenen ebenso wie sein Ideal Old Shatterhand hinter einem nur unbeholfen begründeten Scheinnamen oder genüßlich präsentierten falschen Paß (168). Belohnt wird diese erfolgreiche Tarnung durch die »große Freude«, welche die Zurechtweisung von Menschen gewährt, »die ihn für albern oder sonstwie  m i n d e r w e r t i g  halten« (48).

   Geheimniskrämerei steht offenbar nur Old Shatterhand zu; Herzles diesbezügliche Versuche werden ihr scherzhaft ausgetrieben (248), während sie selbst in solchen Fällen nicht mehr weiter in ihn dringt (85). Das "Nie sollst du mich befragen" ist tief verankertes seelisches Gebot, dessen biographische Fundierung auf der Hand liegt. Die Verehrung oder Gefolgschaft muß blind geschenkt bzw. geleistet werden, wie es Pappermanns Appell nachdrücklich bestätigt.

   »Setzt Euch in Gottes Namen wieder nieder, und habt zu diesem Manne Vertrauen! Er weiß, was er will.« (99)

Und eine Stufe höher, ins Prophetische verlagert, klingt es dann so:

»Dein Wort, daß diese Quadern wohl eher in die Erde verschwinden werden, als daß Du Lampions und Feuerwerk duldest, hat sich wie ein Gewicht auf mich gelegt. Es kommt bei Dir so häufig vor, daß das, was Du sagst, in Erfüllung geht, selbst wenn andere es für vollständig unmöglich halten. Zuweilen ist diese Erfüllung eine geradezu wörtliche.« (181f.)

   Um so strenger muß natürlich ein Verstoß gegen dieses psychische Bedürfnis bestraft oder getadelt werden. Abfall vom Glauben ist die schwerste, die Todsünde im religiösen wie Mays persönlichen Wertesystem, und es überrascht daher nicht, daß der Autor im "Silberlöwen" den Atheisten Nietzsche wie den Zweifler Mamroth, der die Authentizität seiner Werke bestritt, gleich (schlecht) behandelt, indem er beide in der Person des Ahriman Mirza zum absolut Bösen dämonisierte. Das tiefenpsychologische tertium comparationis "Unglauben" hält in diesem Fall die Figur überzeugend zusammen.(116) Und auch Old Wabble, der »Judas« und »Abtrünnige« von Gott wie - bezeichnenderweise - von Old Shatterhand, verdient eine entsprechend harte Bestrafung.(117) Um jedoch auf "Winnetou IV" zurückzukommen: Amerikas "Babylonischer Turm", der ja gegen Old Shatterhands ausdrückliches


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Votum errichtet werden soll, stürzt ein. Selbst humoristische Episoden wie die des Pappermannschen Untreue-Verdachts finden ihren Abschluß erst in der strengen Rüge:

»Euch dieses Geheimnis zu verraten, dazu war ich nicht befugt. Ich hatte Euch nicht verschwiegen, daß der Kiowa Vertrauen verdient. Das war genug. Warum habt Ihr mir nicht geglaubt?« (152)

Im gleichen Sinne ist Tatellah-Satahs bußfertiges Bekenntnis zu werten, daß er im Gegensatz zu Winnetou Old Shatterhands Wissen nicht angenommen, ihm nicht geglaubt habe (214), und auch Old Surehands reuevolle Zerknirschung bewahrt ihn nicht vor Old Shatterhands obligatorischem Kommentar:

»Hätten die beiden jungen Herren damals (...) mehr Vertrauen zu mir (...) gehabt«! (261)


XI.

Als Fazit ergibt sich wohl eine deutliche Rollenveränderung, aber kein fundamentaler Neuansatz des Helden und seines Tugendsystems. Gewiß, die Akzente sind jetzt unverkennbar verschoben. Die männliche Heroik ist weniger gefragt, wenn auch nicht völlig passé; weibliche Intuition oder christliche Motivation ersetzen weitgehend Tapferkeit und Kampfgesinnung. Doch die religiöse Bindung findet in der Regel dort ihre Grenzen, wo die Anerkennung Mays, ein zu seinem Verständnis zentraler psychologischer Begriff, tangiert wird. Mays Christentum ist schließlich ein Konglomerat aus tatsächlicher Empfindung und geschäftlicher Opportunität, aus therapeutischer Auflage (Kochta) und nicht zuletzt Anpassungs- und Rehabilitierungszwängen. Und so brechen sich aus christlicher Form oder Fassade auch immer wieder Haß- und Rachegelüste Bahn, sei es gegen den »Erzfeind« Ahriman Mirza oder das Komitee, wobei er diese fiktionalen Abrechnungen offenbar braucht. Old Shatterhand bleibt bis zuletzt sein Ideal, und zwar nicht nur als Friedensbringer, sondern auch als Schmetterhand.

   Erwähnenswert ist dabei jedoch, daß er in zunehmendem Maße seit den späten Reiseerzählungen seine Protagonisten aus der vordersten Front zurückzieht. May nimmt nicht unbedingt Abschied von der Härte, sondern von der persönlichen Verantwortung seiner Ich-Figuren für einen schrecklichen Ausgang. Bestrafung erfolgt nach wie vor, doch meist durch göttliches Gericht. Solche Überzeugungen oder Wunschschemata überträgt der Autor sogar auf den nichtliterarischen privaten Bereich, wenn er z. B. den schweren Tod seines Prozeßgegners Adalbert Fischer als göttliche Strafe interpretiert: Wie furchtbar hat die Hand Gottes im Lager unserer bittersten Feinde gewüthet!(118)


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   Old Shatterhands Omnipotenz unterliegt auch im Alterswerk im Prinzip keinem Zweifel. Die Figur nähert sich sogar in Anlehnung an Winnetou fast ihrer Divinisierung, untrügliches Indiz für die Tatsache, daß Mays reale Machtlosigkeit dem Autor immer bedrückender oder bewußter wurde. Ohne auf den Nimbus kriegerischer Fertigkeiten ganz zu verzichten - er figuriert als der einzige Stratege der Auseinandersetzung am Mount Winnetou -, geraten jetzt zivilisatorische und religiöse Eigenschaften in den Vordergrund. Old Shatterhand wird zum Propheten und politischen Wegweiser einer neuen Kulturepoche; er stellt hier einem ganzen Kontinent oder wenigstens der indianischen Rasse die Entwicklungsperspektive (Einigkeit, Gesellschaft auf der Basis ethischer Solidarität, »Fliegen« als zivilisatorisch-moralischer Aufbruch), betätigt sich als geistiger Städtegründer, als poetischer Volkserzieher und Hohepriester der Kunst, als Religionsstifter, der Tatellah-Satah zur Nebenfigur stempelt. Er schlichtet Sozialkonflikte, treibt Götzen aus und versöhnt stellvertretend ganze Nationen. Old Shatterhand allein öffnet den Roten die Augen für den wahren Glauben, bringt ihnen mit Winnetous Nachlaß ihr "Neues Testament". Er schließlich erntet die Früchte seines gelebten Ideals in einer Massenbekehrung, die Bonifatius' Erfolge in den Schatten stellt. Vom Alter ungebrochen in Gesundheit und Schönheit, steht er den schon äußerlich gezeichneten personifizierten Hilflosigkeiten seiner Feinde gegenüber, die er wie lästige Fliegen zerquetschen könnte, aber gnädig versöhnt.

   Das Bedürfnis nach Anerkennung wurde, wenn auch auf andere Bereiche verlagert, kaum jemals deutlicher artikuliert als in diesem Text und zwangsläufig auch die Renommiererei, als deren intensivste Form die (indirekte) Behauptung tatsächlichen Erlebens auftritt. Das von der Glaubwürdigkeit oder Argumentationschance her fast selbstquälerische Festhalten an dieser Identifikations-Fiktion ist das eigentlich Neurotische in Mays Werk. Und auch die komplementären psychischen Bedürfnisse finden sich im Roman befriedigt. Voraussetzung aller erfolgreichen Rollen- und Versteckspielerei, aller Hochstapelei oder Pseudonymität ist die rückhaltlose Vertrauensseligkeit des "Publikums", und nicht zuletzt daher rührt die zentrale Bedeutung der Appelle um Glauben und Vertrauen.

   Die Verdrängungen und Überkompensierungen sind also weiter da, zum Teil noch monströser und muten durch den proklamierten seelischen Aufbruch nur noch skurriler an. Die Lebenslügen machen vor dem Alterswerk nicht halt. Nun wird die Indianerwelt weiblich umstilisiert, allerdings in einer Pose, als sei dies eine bare Selbstverständlichkeit und von ihm immer schon so dargestellt. Mit Ausschließlichkeitsanspruch erfolgt eine Neudefinition Winnetous als religionsstiftender Friedensfürst, deren Einseitigkeit fast einer Fehlinterpretation gleichkommt und nur durch Fremdbeschuldigung aufrechterhalten wird.


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Weil May geschichtsklittert, müssen Young Surehand und Young Apanatschka buchstäblich der »Lüge« (199) geziehen werden - eine wirklich bezeichnende Härte. Aber signalisiert nicht auch Karl May in der Person Old Shatterhands bei der neuerlichen Testamentsgrabung Reue und radikale Umkehr? Die Heftigkeit der Selbstvorwürfe (106) in Verbindung mit der verräterischen Absicherung, daß auch sein früheres Verhalten durch »wohltätige, edle Zwecke« (105) bestimmt gewesen sei, indiziert allerdings einen wenig organischen Wandel, der im übrigen über Rhetorik hinaus im Romanverlauf keine weiteren Konsequenzen zeitigt, die ja wohl auch im Verständnis für solche Irrtümer hätten liegen müssen.

   Man muß diesen seelischen Vorgang, ob bewußt oder unbewußt gesteuert, wohl illusionsloser sehen. In der literarischen Gestaltung von Heroismus und Christentum hatte May zwei grundlegende Möglichkeiten gefunden, die ihm soziale Geltung verschafften und durch Anpassung an herrschende Wertvorstellungen bestimmter Gruppen eine Rehabilitationschance boten. Die erste Form ist ihm nach der Jahrhundertwende versagt, da die Glaubwürdigkeit wesentliche Bedingung der Heldenverehrung darstellt. So verlegte er sich, mehr oder minder bewußt, mit allem Nachdruck auf die zweite, allerdings ohne die erste völlig aufgeben zu wollen. Er verstärkte die Hinwendung

- zur Religion, weil Frieden, Verzeihen, Lieben und Glauben in seinem Leben jetzt mehr denn je fehlten,

- zum Weiblichen, weil vom männlichen Prinzip, das mit Härte, Gericht und publizistischem Pranger assoziiert werden mußte, nichts zu erwarten war, alles aber von Verständnis, Nachsicht und mütterlicher Milde,

- zum Märchen, weil dort Gerechtigkeit im Sinne seines subjektiven Empfindens geübt, seine Feinde zerschmettert, die Guten gerettet und völlige Aufhebung der Realität verheißen wurde,

- zum Symbol, weil dies, nicht festlegbar, die Authentizitätsfrage auf eine ungefährlichere Ebene brachte.(119)

Warum May dann aber trotz aller Widersprüche zu seiner im Alter verkündeten Programmatik keine grundsätzliche und dauernde Abkehr vom bewährten Typus der Reiseerzählung herbeiführte, läßt sich im letzten nur aus seiner psychischen Befindlichkeit erklären. Es war nicht nur die zweifellos berechtigte, durch den stockenden Absatz von "Himmelsgedanken" und "Babel und Bibel" verstärkte Befürchtung, einen Teil seiner Leser zu verlieren. Er brachte es einfach nicht fertig, da er die Helden brauchte als Ausdruck des Andersseins wie als trügerische Garanten letztendlicher Triumphe, die von ihm gezeichneten Konstel-


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lationen [Konstellationen] und Konflikte als Ausdruck seiner Vorstellung von göttlicher Gerechtigkeit, die immerwährende Bewegung als Ausdruck einer nie aufgegebenen Flucht. Als einer, der, wenn auch chiffriert, eigentlich stets nur von sich selbst erzählen wollte, konnte May von Old Shatterhand und Co. nicht plötzlich Abschied nehmen, weil nur sie (wenigstens in der Fiktion existierende) dauernde Erfolge sicherstellten und jedes andere Erzählen, welches ein Scheitern miteinschloß, ihn auf die ungeliebte Realität zurückgestoßen hätte. Von daher erkennt man auch, welch große Überwindung es gekostet haben dürfte, in Enters, Waller oder dem Münedschi die jämmerliche Seite seines Ichs zu gestalten und welch bemerkenswerter Altersfreimut hier am Werke war - ohne kompensierende Gegenfigur eine Unmöglichkeit.

   Es ist ein Irrtum zu glauben, daß Mays ursprüngliches Ich-Ideal zusammengebrochen sei. Gerade die forcierte Proklamation des Neubeginns (bei - wie nachgewiesen - keineswegs konsequenter Wandlung) hätte stutzig machen müssen, verweist sie doch unfreiwillig auf die Mühe, die es bereitete, Unpassendes zu unterdrücken. Wie er auch den Vater nie ganz aufgab, sondern »erlöste«, so auch sein Ideal. May war zwar ein Mann der Extreme, aber nie der Ausschließlichkeit. Was nach der Orientreise und den folgenden publizistischen und juristischen Attacken geschah, erweist sich lediglich als längst überfälliger, wenn nicht verspäteter Rückzug in eine neue Auffangstellung, ein neues Versteck. Old Shatterhand war schließlich nicht nur der große Spurenleser, sondern auch Meister der Tarnung.


1 Die in Klammern gesetzten Ziffern beziehen sich im Fall von "Winnetou IV" auf die Seiten des Augsburger Reprints (Hamburg 1984). Zitate aus anderen Werken Karl Mays entstammen der Fehsenfeld-Ausgabe.

2 Bereits Ekkehard Koch (Winnetou Band IV. Versuch einer Wertung und Deutung, 2. Teil. In: Jb-KMG 1971, S. 272) legte völlig zu recht die funktionale Gleichsetzung von Winnetou und Christus nahe. Dem sind Kai Riedemann (Aspekte zur Deutung der Winnetou-IV-Symbolik, Sonderheft KMG, Nr. 17, Hamburg 1979, S.24) und zuletzt Dieter Sudhoff (Karl Mays "Winnetou IV". Ubstadt 1981, S. 100-103) gefolgt, dessen Deutung der abstrakt-symbolischen Romanebene weitgehend überzeugt und mir erlaubte, mich bei der Abhandlung der religiösen Thematik im wesentlichen auf einige Ergänzungen zu beschränken.

3 Vgl. Sudhoff a.a.O. S. 104

4 Ebd. S. 148: »May versteht die Erbsünde nicht als Fluch "der vom Vater auf die Söhne erbt" (399), sondern als Segen, denn dadurch, daß die Schuld Adams an seine Nachkommen vererbt wird, ist es möglich, (...) noch zu sühnen und auf diese Weise das Paradies wiederzuerlangen.« Man könnte in dieser Vorstellung das Ergebnis einer lebenslangen denkerischen Anstrengung sehen, die dem bereits in "Ange et Diable" formulierten religiösen Unbehagen an der Konsequenz  e i n e s  e i n z i g e n  Fehlers  e i n e s  e i n z i g e n  Menschenpaares (Jb-KMG 1971, S. 130) galt.

5 Winnetou IV S. 222: »Wenn ich in dieser Weise von Old Shatterhand spreche, so meine ich ihn nicht allein, sondern das Bleichgesicht überhaupt, dem wir von jetzt an nur noch Gutes zu verdanken haben werden.«

6 Eine Jubelorgie ohnegleichen begleitet die Bergung der 4000 Verschütteten, unter denen sich bezeichnenderweise kein Toter befindet, den Gnadenakt nach scheinba-


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rer [scheinbarer] Verurteilung, die Massenbekehrung und Aussöhnung ehemaliger persönlicher oder rassischer "Erbfeinde". Die Schlußregie des Ehepaars May mit zeitgerecht eingesetzten Wasserfall-Projektionen, Spalier der Winnetous und emanzipatorischem Adlerflug - unter bewußter Anpassung an die Sicht- und Wirkungsverhältnisse - hätte sicherlich auch einem Max Reinhardt Ehre gemacht.

7 Martin Lowsky (Über die Wandlung des Frauenbildes in Mays Werk. In: M-KMG 19 [1974], S. 5) spricht davon, daß der Autor ihre Ermordung »schwer bereut« habe. Vgl. zur Frauenproblematik Mays ergänzend auch Lowskys übrige Ausführungen (M-KMG 20 [1974] S. 4-9 und 17 [1973], S. 4-9) und das Sonderheft 29 der KMG (Werner Tippel/Hartmut Wörner: Frauen in Karl Mays Werk. Hamburg 1981).

8 Amand von Ozoróczy: Das zweite Ave Maria. In: M-KMG 25 (1975), S. 7; vgl. zum Komplex Nscho-tschi auch Mays "psychologische Studie" "Frau Pollmer". Bamberg 1982, S. 21

9 Ekkehard Koch: Winnetou IV, 1. Teil. In: Jb-KMG 1970, S. 136f. Vgl. zu dieser Problematik auch Martin Lowsky: Alterswerk und »Wilder Westen«. Überlegungen zum Bruch in Mays Werk. In: M-KMG 36 (1978), S. 3-16

10 Vgl. unten S. 136ff., wo aus psychologischer Warte auf einige besonders aufschlußreiche Abweichungen eingegangen wird.

11 Vgl. dazu Sudhoff (S. 101), der aus allerdings ganz anderen Erwägungen heraus zum gleichen Ergebnis kommt: »Mays Vorhaben, im Anschluß an "Winnetou IV" ein "Großes Werk" "Winnetous Testament" zu schreiben, erscheint so geradezu unwahrscheinlich, es wäre wohl das verwegenste Unternehmen der abendländischen Literaturgeschichte geworden, sicher auch von vornherein zum Scheitern verurteilt, hätte es sich doch um nichts Geringeres als das Neuschreiben des Neuen Testaments, der Lebensgeschichte Jesu Christi gehandelt.«

12 Für Martin Lowsky (Alterswerk, S. 6) ist das sogar das Hauptmotiv.

13 Zur generellen Unterbewertung des Westmännertums in diesem Roman vgl. Lowsky (Alterswerk, S. 12) oder Arno Schmidt (Sitara und der Weg dorthin. Frankfurt a. M. 1969, S. 203), der von einem bedenklichen Verfahren spricht, »das Rote Personal möglichst komplett mit durchzuschleppen«, »die alten Weißen Buschklepper« aber sämtlich wegzulassen.

14 Vgl. dazu auch das instruktive Sonderheft Nr. 16 der KMG: Wolfgang Wagner: Der Eklektizismus in Karl Mays Spätwerk. Hamburg 1979, S. 45f.

15 Gert Ueding: Der Traum des Gefangenen. Geschichte und Geschichten im Werk Karl Mays. In: Jb-KMG 1978, S. 81

16 S. 155: Ich sehe davon ab, diese Mumien und Skelette zu beschreiben. Ich liebe es nicht als Schriftsteller zu  g e l t e n ,  der seine Erfolge im Sensationellen, Blutigen oder Schaudererweckenden sucht. (Hervorhebung durch G. S.; man beachte die sicherlich unbewußt verwendete Formulierung!)

17 Tatellah-Satah: »Ich stieg zu der Erkenntnis empor, daß diese beiden unzertrennlich sind im großen Menschheitsgedanken.« (186)

18 Koch, Jb-KMG 1970, S. 140. Seiner These sind im übrigen bislang alle Winnetou-IV-Interpreten gefolgt. Von Riedemann (S. 15-18) über Lowsky (Alterswerk, S. 13) bis Sudhoff (S. 28ff. und passim).

19 Sitara S. 204

20 Sudhoff S. 72f. Auch Koch übrigens konzediert an anderer Stelle (Die biographischen Ebenen in Winnetou IV. In: M-KMG 13 [1972], S. 8) eine solche Gleichsetzung als Spiegelung auf einer »zweiten autobiographischen Ebene«.

21 Sudhoff S. 29. Bedenkenswert sollte wohl auch die Tatsache sein, daß May selbst im Gegensatz zu Pappermann die Pseudonymität ja keineswegs scheute.

22 Heinz Stolte: Narren, Clowns und Harlekine. Komik und Humor bei Karl May. In: Jb-KMG 1982, S. 40f.; ders.: Die Affaire Stollberg. In: Jb-KMG 1976, S. 171ff. Zur abschließenden Klärung dieser Problematik müßte der ganze Komplex Mayscher Figurenzeichnung im Zusammenhang möglicher Identifikationen erörtert werden, so auch die Frage, ob eine komische Type wie z. B. Turnerstick Selbstironisches oder Selbstbestätigendes - etwa gemäß dem Verfahren »Haltet den Dieb!« - enthält. Hinzu käme das Problem, ob die zuweilen aufscheinende Selbstentlarvung bewußt


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erfolgt oder unbewußt unterläuft, wobei u. U. Relativierungen von Person zu Person angebracht sind. Eine eigene Studie zu diesem Thema, das hier nur grob skizziert werden konnte, wäre lohnend.

23 Koch, Jb-KMG 1970, S. 142; Sudhoff S. 38

24 Sudhoff S. 38

25 Hervorhebung durch G. S.

26 Koch, Jb-KMG 1970, S. 142; Sudhoff S. 28 27 Sudhoff S. 30

28 Koch, Jb-KMG 1970, S. 140; Sudhoff S. 31f.

29 Zur Sonderstellung des "Silberlöwen III/IV", der, was den allegorischen Gehalt betrifft, allenfalls noch mit "Ardistan und Dschinnistan" vergleichbar ist, beschränke ich mich in diesem Zusammenhang auf zwei Stichworte: Mays ausdrückliche Absichtsbekundung einer Mehrdeutigkeit gegenüber Fehsenfeld (Vgl. Hans Wollschläger: Karl May. Zürich 1976, S. 116) und die gegenüber dem übrigen Œvre auffallende Sorgfalt der Textgestaltung, als deren Symptome eine Fülle von Umarbeitungen gelten können (vgl. H. Wollschläger: »Herr Karl May von der anderen Seite«. In: Konkret, September 1962, S. 19).

30 Sudhoff S. 34-36. Die Grunddeutung bereits bei Koch, Jb-KMG 1970, S. 140-144

31 Es ist ja von zwei Gruppen die Rede: 9 Pferde, 4 Maultiere, 3 Hengste (S. 49).

32 Vorwort zum Reprint der "Augsburger Postzeitung", a.a.O. S. 6, XIII, 1

33 Vgl. Sudhoff (S. 34), der allerdings selbst den spekulativen Charakter einer Gleichsetzung Corner-Walther betont.

34 Sudhoff S. 29f.

35 Ebd. S. 31

36 Riedemann S. 20. Sudhoff (S. 56) stimmt dem ausdrücklich zu.

37 Riedemann S. 22

38 Ebd. S. 20-22

39 Koch: Die biographischen ... In: M-KMG 13 (1972), S. 8

40 Sudhoff S. 46-51. Übrigens wurden die beiden Aschtas mit mindestens ebenso hoher Wahrscheinlichkeit auch noch als Bertha von Suttner bzw. Lu Fritsch identifiziert (Hansotto Hatzig: Karl May und Sascha Schneider. Bamberg 1967, S. 181; ders.: Bertha von Suttner und Karl May. In: Jb-KMG 1971, S. 252/ A. Schmidt: Sitara S. 204), der Junge Adler dagegen als Adolf Droop (Sitara S. 204).

41 Sudhoff S. 64

42 Schmidt: Sitara S. 203. Zu »Burton« vgl. auch z. B.: Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften. In: Jb-KMG 1971, S. 52

43 So H. Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. In: Jb-KMG 1972/73, S. 12

44 Schmidt: Sitara S. 32

45 Vgl. Jürgen Wehnert: Die Rache des Mormonen. In: M-KMG 55 (1983), S. 14f.

46 Ich selbst habe nur eine  u n z u l ä n g l i c h e  Deutung anzubieten, die auf der spontanen Assoziation einer überdies noch kontextbegründeten Passage aus dem Schluß basiert. Als die Winnetou-Sterne der Brüder Enters gelöst werden, heißt es: Hariman hatte meinen Namen Sebulon den Namen meiner Frau geschrieben. (269). Eine entsprechende Überprüfung ergab nur sehr vermittelt Anklänge an den Namen Plöhn: Blon mit Füllvokal »u«, Vorsilbe »se« als auf Mays Person verweisendes Reflexivpronomen. Doch, um es zu wiederholen: Diese Auslegung trifft bei mir selbst auf größte Skepsis. Ich halte sie zwar nicht für unmöglich, bestehe aber keineswegs auf ihr. Zwingend ist sie ebensowenig wie die Tatsache, daß am Ende die Zahl der gestorbenen Enters-Brüder der in Mays Familie entspricht (S.24). Wenn ich sie überhaupt angeführt habe, so in der Hoffnung, daß sie einen Leser des Aufsatzes zu einer überzeugenderen Erklärung provozieren möge.

47 Daß in diesem Zusammenhang drohend eine Uhr auftaucht - allerdings hinreichend durch die Handlung motiviert -, sei für tiefenpsychologisch Spekulierende immerhin angemerkt.

48 Vgl. Text zu Anm. 118

49 S. 64: »Wenn Ihr ehrlich seid, werde ich wieder zu Euch stoßen und Euch nach den bei-


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den [beiden] Orten führen, die Ihr sehen wollt. Aber nur eben dann, wenn Ihr ehrlich seid!« Vgl. dazu S.38, 41, 44, 226, 249. Dem entspricht auch die totale Verdammung der Lüge im 3. Band des "Silberlöwen" (S. 438ff.).

50 S. 38. Hervorhebung durch G. S. Man beachte den unfreiwilligen Doppelsinn!

51 Sudhoff S. 64; vgl. zu den Enters auch die Äußerungen von Koch, Jb-KMG 1971, S. 276 und Riedemann S. 27f.

52 S. 109: »Es handelt sich hier um unendlich wichtige psychologische Vorgänge, die ich in dieser Weise gewiß niemals wieder zu sehen bekomme.«

53 Das explizite Fehlverständnis äußert sich z. B. in folgenden Passagen der Sudhoffschen Arbeit: »Sebulon, der für Shatterhand nach dem Testament gräbt, ist wohl kaum eine durchgängige Spiegelung Mays zur Münchmeyer-Zeit - die Enters haben ihre Bedeutung überhaupt primär auf der abstrakten Ebene.« (S. 64)

»Tatsächlich - so scheint mir - gibt es nur wenige Stellen im Roman, die eine biographische Deutung der Enters-Brüder zulassen - so etwa das "buchhändlerische Gespräch" mit Hariman zu Anfang des Romans. Diese möglicherweise biographischen Einsprengsel scheinen mir bedeutungslos zu sein.« (S. 82)

»Die Namen der beiden scheinen keine besondere Bedeutung zu haben, "Enters" könnte vielleicht das "Eintreten" ins Edelmenschentum andeuten.« (S. 142)

54 Vgl. den grundlegenden Aufsatz von Martin Lowsky (Problematik des Geldes in Karl Mays Reiseerzählungen. In: Jb-KMG 1978, S. 111-41), dessen psychoanalytische Spekulationen im Schlußteil, z. B. Intschu-tschuna betreffend, allerdings einige Skepsis verdienen.

55 Mays Verlautbarungen in Sachen Reichtum sind ein Kapitel für sich. Einerseits prunkt er, wenn auch getarnt, mit seinen Einkünften (z. B. 28f.), andererseits wird er nicht müde, sein persönliches Desinteresse an materiellen Dingen zu betonen, am extremsten wohl, als er ein ganzes »orientalisches Klondyke« verschmäht, in "Winnetou IV" z. B. auf S. 24, 105. Dabei besitzt er in Wirklichkeit »durchaus auch Sinn für die nüchternen Alltäglichkeiten des Geschäftslebens« (Ekkehard Bartsch: »Indem ich die Preisliste beilege ...« In: M-KMG 8 (1971), S. 13, Winnetou-Reprint, 1984 z. B. S. 291). Und schließlich sucht er auch noch fieberhaft den Eindruck größerer Wohlhabenheit zu vermeiden. »Von Reichtum ist bei mir keine Rede.« heißt es in "Winnetou IV" (S. 24): »Ich habe nichts als mein gutes, für mich und meine Zwecke grad so zureichendes Auskommen, mehr nicht. Aber das genügt mir vollständig. Und wenn Ihr meine Erzählung "Winnetou" wirklich kennt, so wißt Ihr, daß ich überhaupt nicht nach Reichtum trachte.« Die zuletzt genannte Bemühung dürfte sich zu einem wesentlichen Teil im Rahmen der aktuellen publizistischen Auseinandersetzungen erklären lassen. May befürchtete offenbar Neidreaktionen bei manchem Leser oder Kritiker (vgl. Mein Leben und Streben [= LuS]. Reprint Hildesheim 1975, S. 38f. bzw. Prozeßschriften III: An die 4. Strafkammer des Kgl. Landgerichts III in Berlin [Schriftsatz aus dem Jahre 1911]. Reprint Bamberg 1982, S. 5 und 11).

56 Sudhoff S. 62-64

57 Riedemann S. 13

58 LuS S. 17-19

59 Hans Wollschläger: Der »Besitzer von vielen Beuteln«. In: Jb-KMG 1974, S. 157f.

60 Vgl. LuS passim, Silberlöwe III S. 624f.; Gabriele Wolff: Versuch über die Persönlichkeit Karl Mays (Sonderheft KMG Nr.45, 1983, S. 8, die sich auf Hatzig [Karl May und Sascha, a.a.O. S. 231] bezieht).

61 Ich behalte mir vor, dieser Problematik einmal auf breiterer Textgrundlage und in breiterem Rahmen nachzugehen.

62 Vgl. Hainer Plaul: Der Sohn des Webers. Über Karl Mays erste Kindheitsjahre 1842-1848. In: Jb-KMG 1979, bes. S. 76-89

63 Vgl. LuS S. 67f.

64 Zum Seelenzustand Mays, der auch Selbstmord-Überlegungen mit einschloß, vgl. z. B. Kurt Langer: Der psychische Gesundheitszustand Karl Mays. Eine psychiatrisch tiefenpsychologische Untersuchung. In: Jb-KMG 1978, S. 168-73

65 LuS S. 117

66 Der »Sandersche Zwang zum Mord« korrespondiert mit dem »geborenen Verbre-


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cher [Verbrecher]«, ein Vorwurf, der ja gerade zu dieser Zeit gegen May selber erhoben wurde. Lebius' Brief vom 12.11.09 an Selma vom Scheidt (In: LuS S. 479) datiert zwar etwas später als die Abfassung der entsprechenden Romanfolge doch könnte May ein derartiger Vorwurf bereits zu Ohren gekommen sein, bevor er den schriftlichen Beweis in Händen hielt.

67 Zu Mays latenten Selbstmord-Gedanken in dieser Zeit vgl. M-KMG 30 (1976) S. 2f.; Hartmut Vollmer: »Weihnacht!« - ein »Erlösungswerk« Karl Mays. In: M-KMG 46 (1980), S. 11, dazu LuS S. 300 (Ich möchte am liebsten sterben, sterben, sterben, und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil meine Zeit noch nicht zu Ende ist.) oder das Gedicht aus "Himmelsgedanken": Ich bin so müd, so herbstesschwer.

68 vgl. Sudhoff S. 30ff.

69 Verklausulierte Andeutungen finden sich sowohl in der Autobiographie [LuS S. 230: »Unsere (...) ablehnende Stellungnahme gilt nicht den  S c h r i f t e n ,  sondern der  P e r s ö n l i c h k e i t  des Verfassers.« dazu S. 229: Da weicht man zurück und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt gewiß.] als auch in "Winnetou IV" (S. 115: »Was man Dir, dem Lebenden, nicht glaubt, das wird man mir, dem Verstorbenen, glauben müssen.«).

70 Vgl. stellvertretend für viele: Bach: Fluchtlandschaften. a.a.O. S. 39ff.; Claus Roxin: »Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand«. Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: Jb-KMG 1974, S. 15ff., bes. S. 41; Heinz Stolte: Die Reise ins Innere. Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays. In: Jb-KMG 1975, S. 11ff., bes. 19-21; Gert Ueding: Der Traum. a.a.O.

71 Diese viel simplere Erklärung steht gegen Wollschlägers in der Tat aufwendige These: »Ein Kind hatte gelauscht, einmal vor langer Zeit, wankend, torkelnd, irr laufend im Morgengrauen an einer Mauer, weinend, - und eine ganze Welt war schuldig geworden. Von dieser Zeit an mußte May lauschen um das Unrecht in aller Welt zu erfahren, ja er mußte dieses Lauschen (...) zu einer hohen Kunst und Tugend machen: von der Artistik des Anschleichens in den frühen Büchern (...) bis hin zu den späten Sublimationsstufen im Alterswerk« (Die sogenannte. a.a.O. S. 33f.).

72$ Solche Amtsübernahmen oder -anmaßungen beschränkten sich bei May nicht nur auf die Fiktion, sondern fanden - wie Stolte (Affaire Stollberg. a.a.O. S. 181) belegt hat - sogar in der Wirklichkeit statt. So schwadronierte May davon, während seiner "Untersuchungen", »wenn der Staatsanwalt nicht richtig gehandelt hat, lasse ich ihn einstecken«.

73 Stellvertretend für entsprechende psychoanalytische Deutungen seien hier lediglich angeführt: Bach: Fluchtlandschaften. a.a.O.; Schmidt: Sitara. a.a.O.; Wollschläger: Die sogenannte. a.a.O. Wollschlägers Rekonstruktion der Urszene (30-34) muß dabei ebenso in den Bereich bloßer Spekulation verwiesen werden wie Bachs Brustbeißer-Hypothese (67f.) oder Schmidts Unterstellungen von Homosexualität und großmütterlichen S-Spielen (185-89 und passim).

74 Heinz Stolte: Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May. In: Jb-KMG 1978, S. 58, bes. 47ff. Seiner erhellenden Anspielung auf Max Frischs Kardinalproblem verdankt der vorliegende Aufsatz sein Motto.

75 Stolte: Reise ins Innere. a.a.O. S. 19

76 Vgl. z. B. die überzeugenden Darlegungen zur Kindheit Mays: Plaul a.a.O.; zur weiteren Entwicklung z. B. Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: Jb-KMG 1971, S. 74ff., bes. 86ff.; Wollschläger: Karl May. a.a.O. passim.

77 Insofern erscheint zur Charakteranalyse Mays Adlers Ansatz der Individualpsychologie besonders geeignet. Auf die ihr methodisch verpflichtete Studie von Gabriele Wolff (a.a.O.) sei daher ausdrücklich verwiesen, wenngleich auch sie, Wollschläger folgend, nicht ohne die biographisch unbewiesene These einer zerstörten Mutterbindung (8f.) auskommt.

78 Wollschlägers These von der »eine(n) große(n) Liebesversagung durch die Mutter« als »alles entscheidende(s) Trauma in Mays so schadenreichen Leben« (18) scheint mittlerweile herrschende Meinung geworden zu sein. Zumindest innerhalb der Publikationen der KMG findet sich kaum expliziter Widerspruch; zustimmend z. B. Claus


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Roxin: Dr. Karl May. a.a.O. S. 38, 55; ders.: Karl May, das Strafrecht und die Literatur. In: Jb-KMG 1978, S. 21f.

79 Plaul a.a.O. S. 33-35

80 LuS S. 160. Eine fast identische Stelle findet sich S. 244, wo von Emma Pollmers Unverständnis seinem Schaffen gegenüber die Rede ist: (...) ich stand innerlich allein, allein, allein, wie stets und allezeit.

81 LuS S.9, 20f. u. a.

82 Wollschläger: Die sogenannte. a.a.O. S. 20

83 Ebd. S. 31. Dagegen wandte sich bereits Monika Evers (Karl Mays Kolportageroman "Der verlorene Sohn". In: Jb-KMG 1981, S.119-21), die auf eine Parallelsituation im Roman aufmerksam machte und daraus den realbiographischen Gehalt der Szene im Zusammenhang mit Kriminal-Vorwürfen folgerte.

84 Indiz für eine (bereits früh) geläuterte Sehweise könnte in der von Monika Evers (vgl. Anm. 83) genannten Stelle Gustav Brandts Beurteilung von Almas Verhalten sein. Doch finden sich in Mays Romanen auch zahlreiche gegenteilige Verhaltensweisen, welche offenbar ebenfalls die Billigung des Autors fanden. Die Problematik wäre eine eigene Abhandlung wert, in der im Idealfall das Gesamtwerk einbezogen werden müßte.

85 Wollschläger: Die sogenannte. a.a.O. S. 57

86 LuS S. 169

87 Roxin: Dr. Karl May. a.a.O. S. 48f., 56-64. Sein Hinweis auf die Fülle von Motiven, in denen eine »Suche der Mutter nach verlorenen Söhnen« (58) oder umgekehrt stattfindet, berührt den Kernpunkt Mayschen Empfindens in diesen Jahren, doch scheinen mir die Ursachen anderswo zu liegen als in der von Wollschläger gezeigten Richtung.

88 Die Äußerungen, die May in der Erwartung von Leserwidersprüchen Kiktahan Schonka in den Mund legt, behalten ihren realbiographischen Kern. Man denke hier nur an den Zuspruch durch Lu Fritsch (vgl. u. a. Rudolf W. Kipp: Die Lu-Droop-Story. In: M-KMG 37 [1978], S. 3-19) oder Bertha von Suttner (vgl. Hatzig: Bertha v. S. a.a.O. S.246-58)

89 Vgl. z. B. May: Frau Pollmer. a.a.O. S. 18f., 33, 40; Prozeßschriften III, S. 61f., 67

90 Prozeßschriften III, S. 72: vgl. "Am Jenseits" (S. 361): »Und ich habe nie, nie Liebe gefunden.«.

91 LuS S. 243f. Die Bedeutung dieses Motivs ist gar nicht zu überschätzen. Auch Siegfried Augustin z. B. (Armands Saat und Karl Mays Ernte. In: M-KMG 53 [1982] S. 15-26) begründet ein dreistes Plagiat Karl Mays autobiographisch mit dem psychologischen Reiz einer Szene, in der Armand Mays Ideal einer Frau gezeichnet habe, die die Werke ihres geliebten Dichters liest und versteht (24).

92 Sitara S. 204; gedacht haben mag Schmidt an die Seiten 11, 39, 78, 87, 117, 148-51, 248 z. B..

93 Diese Haltung verlängerte sich ja noch über Mays Tod hinaus. So vernichtete sie einen Teil des persönlichen Nachlasses in der mehr oder weniger wohlmeinenden Absicht, ihren Gatten nicht in einem »falschen« Licht zeigen zu müssen, und beteiligte sich noch in den 30er Jahren in ihrem Tagebuch an der Legendenbildung bezüglich Old Shatterhands (vgl. Sudhoff S. 13f.; dazu: Klara May: Die Lieblingsschriftsteller Karl Mays. Mit Anmerkungen von Hans Wollschläger. In: Jb-KMG 1970, S. 149-55).

94 Zum Spiritismus vgl. Mays Version in: Pollmer. a.a.O. S. 24f.

95 Sie betet oft und gern., heißt es in "Winnetou IV" (S. 104).

96 Wollschläger: Die sogenannte. a.a.O. S. 15

97 Ebd. S. 55 (zwischen 10.11. und 17.11.1899)

98 Ebd. S. 56/57

99 Frau Pollmer S. 32

100 Frau Pollmer S. 29; Prozeßschriften III, S. 75

101 Wollschlager: Die sogenannte. a.a.O. S. 79

102 Gertrud Oel-Willenborg: Von deutschen Helden. Weinheim/Basel 1973: »Kam in den Amerika-Romanen der Handlungskomplex "Kampf" je 100 Seiten 1,6 mal vor, in den Orient-Romanen je 100 Seiten 1 mal, so sinken "Kampfe" in den symbolischen


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Romanen je 100 Seiten auf 0,3 ab. (...) Kara Ben Nemsi ist ein anderer geworden.« (S. 124) / »Der Unterschied zu den Reiseromanen besteht darin, daß diese Forderungen nicht nur gestellt, sondern auch befolgt werden. Kara Ben Nemsi handelt jetzt wirklich nach seinen Grundsätzen. Die Kluft zwischen Deklaration und Handeln klafft nicht mehr.« (125)

103 S. 227: Die beiden letzten waren -- Old Surehand und Apanatschka. Als sie eintraten, suchten sie mit den Augen nach mir. Sie sahen mich, und da brach alles, alles, was früher gewesen war, durch, und all der gegenwärtige Zwist war verschwunden. Sie eilten jubelnd auf mich zu, drückten mich wieder und wieder an sich und baten, sich zu meiner Rechten und Linken niedersetzen zu dürfen. Wie froh ich war! Ich wußte nun mit einemmale, daß ich gewonnen hatte.

104 Man vergleiche stellvertretend den Gegensatz der Paper- oder Nigger-Darstellung zu den Schilderungen Algongkas und Athabaskas als wahre Weise. Der bombastisch-weihevolle Stil überschreitet hier zuweilen die Grenzen zur unfreiwilligen Parodie: Denn aus ihrem Munde kam kein einziges Wort, welches nicht seinen besonderen Wert besaß. Oft hatte ein einziger Satz den Wert einer ganzen, vollen Lebenserfahrung. Diese beiden Häuptlinge glichen Giganten, welche große, vielzentnerschwere Gedanken aus den Felsenbergen brechen und hinab in die Ebene rollen lassen, damit die dortigen kleinen Menschen daran Arbeit für ihre feineren Werkzeuge finden. (S. 37)

105 Über Tusahga Saritsch heißt es bezeichnenderweise: In solchen menschlichen Ruinen pflegen Haß und Rachgier sich länger zu erhalten als in gesunden, widerstandsfähigen Personen. (89f.). Was ist davon zu halten angesichts der Tatsache, daß May zu dieser Zeit ernsthaft erkrankt war? Mischt sich hier Wunschdenken mit Selbstentlarvung?

106 Vgl. z. B. S. 34, 48, 196f., u. a.

107 Hervorhebung durch G. S. Natürlich beherrscht Old Shatterhand auch den alten Pikontschidialekt der Mayasprache (207).

108 Man beachte die expressive doppelte Bestätigung, verstärkt durch das Ausrufungszeichen. »Selbstverständlich« hätte schließlich auch genügt.

109 Sudhoff S. 105

110 Man denke nur an die Enters Handlung.

111 Vgl. zu dem Gerücht, May habe eine ähnliche Formulierung auch am kaiserlichen Hof in Wien gebraucht, Roxin (Dr. Karl May. a.a.O. S. 66f. Anm. 49; dazu Franz Cornaro: Wiener Nachträge zum Jahrbuch 1974. In: M-KMG 21 [1974] S. 28-30). Für unsere Fragestellung ist es unerheblich, ob die Anekdote nun authentisch ist oder nicht. Ihre Verbreitung wie die formelhafte Prägung dieses Ausspruchs spricht für sich.

112 In ihrer Unverfrorenheit schon wieder komisch ist schließlich auch die "Beglaubigung" des Adlerflugs, bei dem May einmal mehr in die Trickkiste früherer Authentizitätsbezeugungen griff: Das klang wie ein Märchen oder gar wie eine Münchhauseniade, und doch war es wahr; das verstand sich ganz von selbst. (182)

113 S. 200: Zum besseren Verständnis dessen, was nun kommt, erinnere ich an die berühmte Mammuthöhle in Kentucky (...), die (...)

114 vgl. auch S. 88, 184

115 Prozeßschriften III, S. 47; vgl. auch S. 13, 17, 133

116 Wolfgang Wagners (Der Eklektizismus. a.a.O. S. 40) Hinweis auf Mamroths Atheismus wäre ergänzend heranzuziehen.

117 Vgl. dazu Gert Ueding: Die Rückkehr des Fremden. Spuren der anderen Welt in Karl Mays Werk. In: Jb-KMG 1982, S. 29f.

118 Wollschläger: Karl May. a.a.O. S. 146

119 vgl. LuS S. 139-44


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