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DIETER SUDHOFF

Auf dem Weg - Karl Mays "Mutterliebe"

Eine Werkanalyse



Zu den von der Kritik lange Zeit über die Maßen und oft pauschal gebeutelten Marienkalender-Geschichten Karl Mays sind erfreulicherweise in den letzten Jahren, bestärkt durch die verdienstvolle Reprint-Veröffentlichung "Christus oder Muhammed"(1), eine Reihe von abwägenderen und differenzierteren Urteilen formuliert worden. Hatte Claus Roxin schon früher von »teilweise vortreffliche(n) Kalendergeschichten«(2) gesprochen, so machte der Reprint, der erstmals alle Marienkalender-Geschichten Mays geschlossen und systematisch vorstellte, dem kritisch vergleichenden Leser einsehbar, daß sich in ihnen paradigmatisch die literarische wie menschliche Entwicklung des Autors dokumentiert, und daß im wesentlichen drei Gruppen von Erzählungen zu unterscheiden sind (die sich chronologisch zum Teil überschneiden)(3): 1. Alttestamentlich anmutende Rachegeschichten, die in tendenziöser Weise die Überlegenheit des Christentums über andere Religionen demonstrieren sollen oder göttliche Strafgerichte über ungläubige Frevler heraufbeschwören, z. B. "Christus oder Muhammed" (1891), "Maria oder Fatima" (1894), "Old Cursing-Dry" (1897), "Ein amerikanisches Doppelduell" (1897); 2. Geschichten, in denen der Religionenstreit und die Vergeltungsphantasien in den Hintergrund rücken (oft zugunsten größerer Spannung) und bereits der neutestamentliche Gedanke der Nächstenliebe und Versöhnung überwiegt, z. B. "Der Kutb" (1895) und "Blutrache" (1895); 3. Die beiden zum symbolisch-allegorischen Spätwerk zählenden Texte "Bei den Aussätzigen" (1907) und "Merhameh" (1910).(4)

   Zur zweiten Gruppe, in deren Erzählungen sich manchenorts schon Anklänge an Mays spätere Literatur finden, gehört fraglos auch die »Reiseerinnerung« "Mutterliebe" (1898/1899), eine der wenigen »amerikanischen« Marienkalender-Geschichten. Gelegentliche Wertungen fielen bisher - in Relation zu den meisten anderen Texten des ungeliebten Genres - überwiegend wohlwollend aus: Nach Roxin verdienen nicht nur die beiden allseits anerkannten Spätwerk-Geschichten, sondern »auch schon "Mutterliebe" ... eine durchaus positive Beurteilung«(5), nach Christoph F. Lorenz ist May die Erzählung »weitaus ehrlicher und unaufdringlicher gelungen ... als manche andere "Marienkalender-Geschichte"«(6), trotz »teilweise kitschige(r) Züge«, und zeigt ihn


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»auf dem Wege zu der Gedankenwelt der Spätwerke«.(7) Aufgabe der vorliegenden Untersuchung wird es neben anderem sein, diese freundlichen Urteile zu hinterfragen, sie entweder zu falsifizieren oder auf eine tragfähige Grundlage zu stellen. Nicht zuletzt gilt es, wenigstens in Ansätzen zu klären, inwieweit Mays Spätwerk sich schon vor der vieles wendenden Orientreise (1899/1900) in seinen Arbeiten, hier in "Mutterliebe", ankündigt oder gar manifestiert.(8)


A. WERKGESCHICHTE

Die ersten beiden Marienkalender-Geschichten Karl Mays, "Christus oder Muhammed" (1891) und "Mater dolorosa" (1892), veröffentlicht im "Regensburger Marienkalender" des Verlags Pustet, waren derart erfolgreich, daß sich schon bald auch »andere Verlage, die Marienkalender herausbrachten, ... um die Mitarbeit des Schriftstellers bemühten.«(9) So erschienen 1893 erste Beiträge Mays auch im "Eichsfelder Marienkalender" ("Eine Ghasuah") und in "Benziger's Marienkalender", Einsiedeln-Schweiz ("Nûr es Semâ. - Himmelslicht"). Gegen Ende 1895 nahm schließlich noch ein zweiter Einsiedler Verlag, »Eberle & Rickenbach« - er hatte sich eben erst unter diesem Namen firmiert(10) - brieflich Kontakt zu May auf, um ihn für den Anfang des Jahres gegründeten "Einsiedler Marienkalender"(11) zu gewinnen, vordergründig motiviert wohl durch den Erfolg des heimatlichen Konkurrenzunternehmens Benziger & Co. »Unter Leistung einer Vorauszahlung von M 100,- wurde Karl May gebeten, recht bald eine möglichst "marianische" Reisegeschichte ... zu liefern. Diese Vorauszahlung und der Hinweis, daß insbesondere die amerikanischen Leser des Marienkalenders nach Karl May verlangten, sollten den beliebten Schriftsteller geneigt machen, die dringend erbetene und wohl auch zur Anhebung des Umsatzes benötigte Erzählung zu liefern. ... Für ein Gesamthonorar von M 150,- kam es dann zu Mays Reiseerinnerung "Ein amerikanisches Doppelduell" im Jahrgang 1897.«(12) Eine zweite Erzählung, mit Rücksicht auf die »amerikanischen Leser« ebenfalls in Amerika spielend(13), versprach May für den folgenden Jahrgang, doch ließ er sich mit der Lieferung des Manuskripts, das der Verlag wegen der zu fertigenden Illustrationen und wegen des frühen Erscheinungstermins der Amerika-Ausgabe (Juli 1897) bereits im ersten Quartal 1897 benötigte, viel Zeit. Mays »Stillschweigen auf die verschiedenen schriftlichen Mahnungen und Depeschen des Verlages Eberle & Rickenbach brachte diesen in nicht geringe Verzweiflung. Erst der mehrfache Hinweis darauf, daß die so dringend (bis Mitte April 1897) benötigte Erzählung unabdingbare Voraussetzung für die Amerika-Ausgabe sei und der Verlag sonst schweren finanziellen Schaden erwarte, dürfte May be-


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stimmt [bestimmt] haben, das heißbegehrte Manuskript der Upsaroka-Erzählung "Mutterliebe" doch noch halbwegs rechtzeitig (etwa im Mai 1897) zu liefern.«(14) Wahrscheinliche Entstehungszeit ist also April 1897.(15) Unsicher über weitere May-Beiträge und beunruhigt durch die erlebte Saumseligkeit des Autors, entschieden sich Eberle & Rickenbach, die »Reiseerinnerung von Dr. Karl May« zu halbieren und die zweite Hälfte später zu bringen. So erschien 1897 im Kalender für 1898 zunächst Teil "I. Gefangen.", 1898 dann im Kalender für 1899 Teil "II. Gerettet."(16) Eine recht unglaubwürdige Fußnote zu Beginn der Erzählung sollte diese nicht sehr publikumsfreundliche, aber gewinnversprechende Praxis legitimieren: »Da der hochgeehrte Herr Verfasser infolge längerer Abwesenheit auf einer seiner großen Reisen uns diese prachtvolle Erzählung erst senden konnte, als der größte Teil unseres Kalenders schon gedruckt war, so waren wir gezwungen, den zweiten Teil derselben, "Gerettet", auf den nächstjährigen Kalender zu verschieben.«(17) Illustriert sind beide Teile der Erzählung mit eher dilettantischen und wenig kongenialen Zeichnungen A. Hrdlickas(18), von denen einige Old Shatterhand mit den Gesichtszügen Mays zeigen und sichtlich an den Kostümphotos orientiert sind, die 1896 Alois Schießer von May aufgenommen hatte.(19) Über die Publikumsresonanz auf "Mutterliebe" ist nichts bekannt, doch kann man dem weiteren Verhalten von Eberle & Rickenbach unschwer entnehmen, daß sie keineswegs negativ war. Schon im September 1897 nämlich bat der Verlag erneut dringlich um eine Erzählung, diesmal für die noch junge Monatszeitschrift "Mariengrüsse aus Einsiedeln", und zahlte wiederum M 100,- voraus. »May beschied den Verlag nicht abschlägig, so daß dieser sich Hoffnung auf eine mit M 400,- zu honorierende Erzählung ("aber marianisch muß sie sein!") von 300 Manuskriptseiten machte, die sich über zwei Jahrgänge der "Mariengrüße" erstrecken sollte. Durch eine weitere Vorauszahlung von M 100,- im November 1897 gedachte man dieses Vorhaben zu untermauern.«(20) Trotz dieser Zahlungen und trotz mehrfacher Anfragen und Mahnungen kam es jedoch nicht mehr zu einer Erzählung für den Einsiedler Verlag, auch nicht zur Mitarbeit an der 1899 gegründeten Jünglingszeitschrift "Die Zukunft", die man May im Juni 1898 anbot. Nicht einmal ein persönlicher Besuch Mays in Einsiedeln, im September 1901, führte zu einer geschäftlichen Vereinbarung mit Eberle & Rickenbach.(21) Offenbar in drängenden finanziellen Nöten, war der Verlag dennoch nicht bereit, ohne weiteres aufzugeben: »Mit den verschiedensten Vorschlägen versuchte anschließend Heinrich Rickenbach, mit May erneut ins Geschäft zu kommen. So legte er ihm die Herausgabe der bisher im "Einsiedler Marienkalender" erschienenen Erzählungen als Buch, ähnlich der Freiburger Ausgabe und illustriert, nahe. Neben den wiederholten und dringlich vorgetragenen Bitten um Erzählungen mit marianischem Akzent für die "Marien-


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kalender [Marienkalender]", "Mariengrüße" und "Die Zukunft" wurde May ferner gebeten, den Verlag doch auch bei Unterbringung seiner sonstigen Werke, die man in Buchform herausbringen wollte, nicht zu übergehen.«(22) Warum May auf keinen der Vorschläge einging, bleibt im Dunkeln. Im Januar 1903 zahlte er - nach einer diskreten Erinnerung durch Eberle & Rickenbach - die Anzahlung von M 200,- an den Verlag zurück; die Beziehung zwischen Verlag und Autor war damit endgültig abgebrochen.

   Eine Zweitveröffentlichung der Erzählung "Mutterliebe" noch zu Lebzeiten Mays erfolgte nicht (oder konnte jedenfalls bisher nirgends nachgewiesen werden), auch in die "Gesammelten Reiseerzählungen" nahm May den Text nicht auf.

   Eine bearbeitete Fassung brachte 1927 der Karl-May-Verlag im Radebeuler Band 48, "Das Zauberwasser", unter dem neuen und unpassenden (aber wohl effektvolleren) Titel "Die Söhne des Upsaroka". Der Text ist für die Forschung ebensowenig geeignet wie die heutige, stilistisch erneut überarbeitete "Upsaroka"-Fassung im Bamberger "Zauberwasser"-Band von 1954.

   Zitiert wird in der vorliegenden Arbeit nach den "Einsiedler Marienkalendern" für 1898 und 1899, faksimiliert im Sammelband "Christus oder Muhammed. Marienkalender-Geschichten von Karl May." (Hamburg, Gelsenkirchen 1979, S. 230-242).


B. WERKANALYSE

I.  F a b e l

Schwerlich weckt die Erzählung "Mutterliebe" - abgesehen vom befremdenden Titel - schon auf einen ersten, zwangsläufig flüchtigen Blick hin den Eindruck irgendwelcher Besonderheit. Im Gegenteil wirkt sie wie eine uninspirierte, lustlos und unter Zeitdruck(23) hingeschriebene Variante zurückliegender amerikanischer Kurzerzählungen Mays, zusammengefügt aus altvertrauten und publikumswirksamen Motiven der frühen Reiseerzählungen. Überraschen kann das nicht, handelte es sich doch für May darum, möglichst schnell eine ungeliebte Auftragsarbeit abzuliefern und dabei noch den Forderungen des Verlags (amerikanischer Schauplatz, gewohnte spannende Abenteuerlichkeit, marianischer Charakter) weitgehend gerecht zu werden. Ohnehin wenig motiviert und durch die Zeitnot zur Wiederaufnahme alter Elemente beinahe gezwungen, mußte er seine Phantasie auch noch bewußt in Zaum halten, Verlag und Lesern zuliebe. So baute er etwa die beiden - in der Erzählung nicht so titulierten - »verkehrten Toasts« in die Handlung ein, den stets lustige(n) Dick Hammerdull und


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sein(en) wortkarge(n) Freund Pitt Holbers (230, linke Spalte), die schon in "Old Surehand II" (1895) und "Old Surehand III" (1896)(24) für den nötigen Humor gesorgt hatten und manchem Leser vielleicht auch aus der Regensburger Marienkalender-Geschichte "Old Cursing-Dry" (1897) vertraut waren, wenn nicht gar aus dem frühen »Criminalroman« "Auf der See gefangen" (1878). Ihr Bekanntsein scheint May jedenfalls vorausgesetzt zu haben, denn nur kurz beschreibt er sie in der Exposition: Beide waren halbe Originale, Hammerdull sehr wohlbeleibt und kurz, Pitt Holbers aber lang und dürr, wie er auch, wenn er reden mußte, sich der größten Trockenheit befleißigte. (230 li)(25) Überhaupt ist die Exposition (230 li, Z. 1-47) recht kurz gehalten, beinahe karg, dabei aber doch mit einigem Geschick so angelegt, daß der Leser zugleich vorbereitet und gespannt wird auf das folgende Geschehen. Betrachten wir die Fabel im einzelnen.

   Wieder einmal sind Mays Alter ego Old Shatterhand und sein Blutsbruder Winnetou (samt Hammerdull und Holbers) bei den ... befreundeten Schoschonen gewesen (230 li)(26) - denen sich May noch im gleichen Jahr 1897 im Roman "Weihnacht" ausführlicher widmen wird -, wieder einmal reiten die Helden nach dem ehrenvollen Abschied einem fernen Ziel entgegen, genau gesagt, von der Mündung des Gooseberry-Creek in den Big Horn-River ... über die Dickhorn-Berge nach dem Powder River und dann nach den Black Hills(230 li)(27), scheinbar zu keinem anderen Zweck als dem der Abenteuersuche und in der eigentlich unbegründeten Hoffnung, irgendwelchen Bedrängten helfen zu können. Ausgangspunkt wie Ziel sind dabei kaum von Bedeutung, sie werden beinahe ganz ausgeklammert; was zählt, ist allein der Weg, auf dem die Helden Unerwartetes erwartet, Geschehen, das wiederum den Weg bestimmen wird. Auch "Mutterliebe" kann daher, wie die meisten Kurzerzählungen Mays, als Einzelglied einer »Aventiure-Kette« gelten.(28) Die Grundsituation ist, wie auch sonst des öfteren in Mays Amerika-Texten, als bedrohlich, als unausweichlich angelegt: Nördlich haben die feindlich gesinnten Upsaroka's ihre Jagdgebiete, bis in die südlich ... gelegenen Rattlesnake-Mountains(29) (sind) die Sioux Ogallalah vorgedrungen, die alten, rachgierigen Gegner(30) unserer Helden, höchst wahrscheinlich in der Absicht eines Angriffes auf die Upsaroka's (230 li).(31) Wenn sie ihn während unserer Anwesenheit ausführten, konnten wir sehr leicht zwischen die scharfen Schneiden einer Scheere kommen und, wie der Trapperausdruck lautet, ausgelöscht d.h. getötet werden. (230 li) Jeder halbwegs erfahrene May-Leser weiß nach diesen einführenden Sätzen, daß es in jedem Fall zu Auseinandersetzungen kommen wird, daß der Scheere nicht ungeschoren zu entgehen ist, und es stellt sich ihm nur die Frage,  a u f  w e l c h e  W e i s e  die Helden  i n  w e l c h  g e a r t e t e  Konflikte geraten werden. Kein Gedanke daran, sie könnten ausgelöscht werden...


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   Die eigentliche Handlung setzt wie dutzendmal zuvor mit dem Entdecken eines verlassenen Lagerplatzes ein. Das Spurenlesen gibt Anlaß zum Gespräch, in dem zum einen Dick Hammerdull und Pitt Holbers sich durch ihre Spracheigentümlichkeiten charakterisieren, in denen sich diesmal ihr Humor erschöpft(32), zum anderen die innere Hierarchie der Gruppe deutlich wird. Denn natürlich ist es der schweigsame herrliche Winnetou (230 li), der den entscheidenden Hinweis, einen kleine(n), scheinbar ganz unbedeutende(n) Gegenstand, ... einen Tropfen blaue Fettfarbe entdeckt, und natürlich sind es allein Winnetou und Old Shatterhand, die aus diesem Tropfen Kriegsfarbe schließen können, daß hier Upsarokas gelagert haben, wie aus weiteren Umständen, daß ihre Zahl »sich auf ungefähr zweihundert beläuft«, sie ihre Pferde in der Nähe hatten, »nicht in der letzten, sondern in der vorigen Nacht hier campiert haben«, daß sie »südwärts geritten« sind, »um die Ogallalah zu überfallen«, und »seit gestern früh von hier fort« (230, rechte Spalte) sind, allerdings »nicht auf dem richtigen Pfade«, denn »es steht zu erwarten, daß sie, wenn sie nach den Rattlesnake-Bergen kommen, die Sioux nicht mehr vorfinden, weil diese drüben entlang der Berge nordwärts geritten sind, um die nun unbeschützten Lager der Upsaroka's zu überfallen.« (231 li) Nicht nur ist jetzt die äußere Situation konkretisiert - hier hat das Gespräch eine erzähltechnische Funktion, denn der Leser ist ja wenigstens ebenso unwissend wie Hammerdull und Holbers -, auch die Überlegenheit Winnetous und Old Shatterhands über die beiden »Toasts« und damit zugleich ihre legitime Führerschaft ist manifest geworden. Hammerdull und Holbers sind nur humorige Helfer(33), die sich von Shatterhand(34) und Winnetou(35) jedwede Belehrung gefallen lassen müssen.(36) Ihre Funktion besteht u. a. darin, als Halbhelden die Haupthelden Winnetou und Old Shatterhand um so strahlender erscheinen zu lassen. Überspitzt formuliert, profiliert sich May/Shatterhand auf Kosten fremder Schwächen.(37)

   Die Handlung schreitet jetzt rasch voran und entwickelt dabei einige Besonderheiten, die hier vorerst noch unberücksichtigt bleiben sollen. Das ungleiche Quartett trifft auf eine von Norden kommende Spur von zwei Pferden (231 li) - wie sich später herausstellt, gehört sie den (namenlosen) Söhnen des Upsaroka-Häuptlings Uamduschka sapa(38), die ihrem Vater heimlich nachgeritten sind, um »unter die Krieger aufgenommen zu werden« (232 li)(39) - und stößt gleich darauf überraschend mit einer Indianerin zu Pferde zusammen, die erschrocken flüchtet, aber von Winnetou, dem stets und schnell Entschlossene(n), in zwei Minuten (231 li) zurückgeholt wird. Shatterhand, der ständige Wortführer der Gruppe(40), führt nun ein Gespräch mit ihr, das die Situation ein weiteres Mal konkretisiert und die Helden zu zielgerichteter Aktivität aufruft. Denn wie beim abenteuernden May nicht anders zu erwarten, bedarf die Frau der Hilfe unserer Helden. Sie ist »Uinorintscha ota, die


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Squaw von Uamduschka sapa« (231 re), eine gläubige, aber ungetaufte Christin, und ihren ungehorsamen Söhnen gefolgt, um sie vor dem Zorn des Vaters zu bewahren. (Vgl. 232 re) Die tatsächliche Gefahr ist eine größere: Die Knaben sind unwissentlich »nicht ihrem Vater nach, sondern den Feinden entgegengeritten« (232 re) - und ihnen, wie sich später erweist, prompt in die Hände gefallen. Auch im Gespräch mit der Squaw kehrt May/Shatterhand eitel seine Überlegenheit hervor: »Du (kannst) sie nicht retten (Gegen Ende der Erzählung erweist sich das Gegenteil.); eine Squaw bringt das nicht fertig; dazu gehören Krieger.« Und: »ich bitte Dich, uns an Deiner Stelle handeln zu lassen. Du würdest ihnen keine Hülfe bringen...« (232 re) Wenn Shatterhand dann noch prahlt, »schon oft« den Marterpfählen der Ogallalah entkommen zu sein (Vgl. 232 re), grenzt es bereits an Renommiersucht - und wirklich liegt hier ja noch eine wichtige Motivation des Mayschen Schreibens dieser Zeit. Hammerdull und Holbers werden von Uinorintscha ota nicht beachtet(41), womit erneut die Hierarchie unterstrichen wird, in die sich nun auch die Squaw einordnet, noch vor den beiden, wie die Reihenfolge während des anschließenden Rittes zur Rettung der Upsaroka-Söhne augenfällig macht: Winnetou (hatte) sich an unsere Spitze gesetzt. Hammerdull und Holbers ritten hinter ihr (Uinorintscha ota) und mir. (233 li) Am Rand eines Waldes entdeckt man eine bedeutende Schar von Reitern, die Sioux Ogallalah(42), von denen Shatterhand gleich richtig überzeugt ist, daß sie die Knaben in ihrer Gewalt haben. In einer - erzähltechnisch retardierenden - Lagebesprechung zu ihrer Rettung - man wartet die Dunkelheit der Nacht ab - weist Shatterhand die aufs höchste besorgte Mutter Uinorintscha ota zurecht: »Nur müssen wir verlangen, daß Du vollständig darauf verzichtest, auch nur das Geringste dabei zu unternehmen, denn Du könntest leicht alles verderben.« (233 li) Hammerdull fürchtet aus Erfahrung mit einigem Recht, daß »Mr. Shatterhand« sich »wie gewöhnlich« »vorgenommen« hat, »den Streich allein auszuführen«, und daß er und Pitt wohl wieder »bloß den Zuschauer machen« (233 re) werden. Nicht nur die Hierarchie wird wieder sichtbar(43), der May-Kenner ahnt auch, wie die Handlung fortschreiten wird: die Squaw, Hammerdull und Holbers werden Fehler begehen und dadurch die an sich, nämlich für Old Shatterhand und Winnetou, problemlose Rettung zur Freude der Leser erschweren.

   Tatsächlich geht Shatterhand dann »mit Winnetou« allein »recognoszieren« und die »jetzt vollständig überflüssig(en)« Hammerdull und Holbers erhalten den  B e f e h l ,  die Frau unter Aufsicht zu nehmen, mit dem Hinweis, »es könnte keine größere Dummheit geschehen« (233 re), als sie ihnen folgen zu lassen. Nach dem üblichen Mayschen Heranschleichen ans feindliche Lager erkennen Shatterhand und Winnetou - ihnen sind naturgemäß alle hervorragenden Häuptlinge und Krieger


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der Sioux bekannt - nur einen alten Indsman, welcher im Rufe der Klugheit stand ..., sonst aber keinen Rang besaß, Tantschan honska (Langer Leib), der an einem der Feuer ganz allein mit einem Manne, dem eigentlichen Anführer der Truppe, sitzt, der ihre Aufmerksamkeit besonders auf sich (zieht), denn er (ist) ein Weißer. (234 li) Bekanntlich ist es ein Klischee Mayscher Konfigurationen, daß der (unbekehrbare) Haupt-Bösewicht ein Weißer ist, die mit ihm kooperierenden Indianer hingegen lediglich (bekehrbare) Irregeleitete sind. Indem May hier einen Weißen zum dominanten Anführer macht und die Roten als lauter junge Leute (234 li) ohne wirklichen Häuptling beschreibt, entlastet er die Indianer von Schuld und motiviert schon jetzt die ihnen später werdende Verzeihung. Neben ihm lag ein ranzenartig zusammengenähtes graues Wolfsfell, aus dessen zugebundener Oeffnung einige mehr als fingerstarke Stäbe hervorragten. Dieses Fell wurde zuweilen von innen bewegt; es schien irgend ein lebendiges Tier darin zu stecken. (234 li) Das bisher nur entfernt angeklungene Schlangen-Motiv wird zum wichtigen Handlungsmotiv - doch bleibt dem Leser vorerst noch rätselhaft, worum es sich bei dem Tier handelt. Die Spannung ist an dieser Stelle geschickt aufgebaut: Der Leser weiß, daß die Upsaroka-Knaben gefangen sind, er weiß durch die stereotype Beschreibung des Weißen, die ihn als Bösewicht ausweist (Von robustem, starkknochigem Baue; ein wahre(r) Stierkopf auf dem Nacken; breite, wie zugehackte Gesichtszüge, 234 li), daß dieser voll heimtückische(r) List und Gewissenslosigkeit (234 li) ist, und er ahnt, daß im Fellranzen eine lebendige Gefahr für die Knaben droht - die um so bedrohlicher scheint, als er sie nicht einschätzen, mithin auch nicht relativieren kann.(44) Weitere Spannung schürt May durch innere Fragen des Ich: Wie kam dieses fremde Bleichgesicht dazu, die Sioux hierher nach dem Big Horn-River zu führen? Hatte er eine Rache gegen die Upsaroka's? Waren die Ogallalah von ihm durch Versprechungen veranlaßt worden, ihm bei der Ausführung derselben beizustehen? Das fragte ich mich, und Winnetou hatte jedenfalls ganz dieselben Gedanken.(45) Rasch zeigt sich der rhetorische Charakter dieser Fragen. Wie es May und der Zufall auch sonst in derartigen Lauschsituationen wollen, gehen nämlich gerade zur rechten Zeit die aufklärenden Gespräche und entscheidenden Handlungen vor sich. Beim Verhör der »Upsaroka-Brut« (234 li)(46) wirft der ältere Knabe(47) dem Weißen furchtlos dessen ganzes Sündenregister an den Kopf und stellt so den lauschenden Helden wie dem Leser den Charakter, die Vergangenheit und das Tatmotiv des Übeltäters vor: »Du bist Folder, der frühere Agent der roten Männer; Du hast sie betrogen und bist deshalb ... bestraft worden. Dann gingst Du nach dem wilden Westen und wurdest Pferdedieb und Mörder. Unser Vater ... erwischte Dich, als Du ihm fünf Pferde gestohlen hattest. ... da aber Uinorintscha ota, unsere Mutter, Mitleid hatte und für dich bot, tötete er Dich nicht, son-


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dern [sondern] ließ Dich nur schlagen und jagte Dich dann fort.« Natürlich wirkt diese Rede des älteren Upsaroka-Knaben vor Folder, der seine Vergangenheit wohl kennen dürfte, alles andere als realistisch; sie erfüllt nur den erzähltechnischen Zweck, den Lauschern und dem Leser notwendige Informationen zu vermitteln: Nun war es uns klar, daß er die Ogallalah zu einem Zuge gegen die Upsaroka's beredet hatte, um sich für die damals erhaltenen Hiebe zu rächen. (234 re) Zu dieser Rache bietet sich Folder jetzt die erste Gelegenheit: zum Erstaunen selbst Old Shatterhands (Vgl. 235 li) holt er aus dem erwähnten Fellranzen ... eine große Klapperschlange hervor und eröffnet den Upsaroka-Knaben, er habe sich aus den Rattlesnake-Mountains »ein halbes Dutzend dieser Schlangen« mitgenommen, »um die "Schwarze Schlange" mit Weib und Kindern durch Schlangengift in die ewigen Jagdgründe zu befördern.« (235 li) Die Idee zu dieser originellen Form der Rache gab ihm der Name des Upsaroka-Häuptlings ein. Im Augenblick, als Folder die Knaben direkt mit der züngelnde(n) und sich windende(n) Schlange (235 li) bedroht, also im Augenblick der höchsten Gefahr, geschieht das für die lauschenden Helden Unverhoffte, vom Leser aber Erhoffte und beinahe Erwartete: Die Mutter, Uinorintscha ota, die offenbar ganz in der Nähe im Gebüsch gelegen hat, springt aufs Feuer zu und bittet flehentlich, sich selbst als Opfer anbietend, um das Leben ihrer Söhne.(48) Natürlich geht Folder nicht auf das selbstlose Opferangebot der Squaw ein, sondern freut sich, nun auch sie durch die Schlangen töten zu können. Seine Bosheit gegenüber der Frau, die doch einst für ihn bat, ist schier grenzenlos: »Ich will mich an der Freude ergötzen, welche Du über deine roten Bengels haben wirst, wenn sie sich mit den Rattlesnakes um die Wette winden.« (235 re) Mit diesem Satz bestätigt sich Folder nicht nur als Bösewicht, sondern erweist sich weit darüber hinaus als Un-Mensch. Er gehört zu den pechschwarzen Gestalten der Reiseerzählungen, den Teufeln, nicht zu den gebrochenen Charakteren in der Art eines Old Wabble. Hoffte der Leser bisher vorrangig auf die glückliche Befreiung der Upsaroka-Knaben, sehnt er ab diesem Moment auch die gerechte Strafe Folders herbei, wohlwissend, daß May ihm diese Wunscherfüllung nicht versagen wird. Da »Langer Leib« nun »den ganzen Umkreis des Lagers absuchen« läßt, um sicherzugehen, daß Uinorintscha ota allein gekommen ist, müssen sich Winnetou und Old Shatterhand eiligst zurückziehen (in Wahrheit, weil alles Wichtige schon erlauscht ist) - nicht ohne vorher noch zu erfahren, daß der sadistische Folder die »drei Roten mit den Schlangen« in eine unweit entfernte »tiefe, weite Cache« (Anmerkung: Verborgene Grube zum Verstecken der erbeuteten Häute und Felle.) »werfen« (235 re) will. Indem May jetzt den Schauplatz der Handlung wechselt und den Leser so in Ungewißheit über das bedrohliche Schicksal der Mutter und ihrer Kinder läßt, schürt er die Spannung erneut auf effektvolle Weise.


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   Von Dick Hammerdull und Pitt Holbers werden die Helden in großer Verlegenheit empfangen, in der Furcht, tüchtig ausgescholten zu werden (235 re). Die Schelte bleibt jedoch überraschend aus, vordergründig, weil die Zeit fehlt, tatsächlich aber, weil sich Hammerdull und Holbers schon durch ihr Verhalten, durch ihre »Dummheit« (Vgl. 233 re) genug gekennzeichnet haben, so daß auf eine verbale Unterstreichung verzichtet werden kann. Wohl eine halbe Meile weit (235 re) von den Ogallalah entfernt, lagert die wieder aufs Quartett geschrumpfte Gruppe. Erst »um Mitternacht«, wenn »alles schläft« (236 li), will man zur Befreiung schreiten und zurückkehren. Winnetou nutzt die Gelegenheit, um im Namen Mays zu klagen, daß »ein Indianer ... ein Engel gegen diese Weißen (ist)«, Hammerdull und Holbers räsonnieren, ihr eigenes Versagen vergessend, über die »Weiber«, die »doch stets den Brei (verderben)« (236 li). An dieser Stelle endet der I. Teil, "Gefangen.", eine Zäsur, die - wie gesagt - kaum vom Autor selbst stammen dürfte.(49)

   Der II. Teil, "Gerettet.", beginnt mit neuerlichem Anschleichen und einer Ueberraschung: --- die Sioux waren nicht mehr da. Die vergebliche Anschleich-Mühe retardiert die Handlung und verleiht ihr ein neues Spannungsmoment: Wo waren sie hin? Zwar erkennen die erfahrenen Spurenleser schnell, daß die Roten über die Prairie hinüber (sind), ihren Kriegszug also fortgesetzt (haben) (237 li), doch begehen sie nun einen erstaunlichen Fehler, indem sie ihnen ohne Zögern blindlings in die Dunkelheit nachreiten, anstatt sich zunächst zu überzeugen, ob Uinorintscha ota mit ihren Söhnen - wie doch von Folder angekündigt - in der Fellgrube zurückgelassen wurde. Hier wie sonst vermeidet es May, seine Helden allzu geradlinig zum Erfolg gelangen zu lassen - auf diese Weise dehnt er die Handlung und baut gleichzeitig Spannung auf. Kann er nicht die zweitrangigen Gefährten Fehler machen lassen(50), müssen Winnetou und Old Shatterhand versagen. Natürlich hat May die Fabel so konstruiert, daß sich aus dem Fehler auch ein Erfolg ergibt, wie bald zu sehen ist.

   Nachdem der grauende Morgen hell genug ist, den Erdboden zu erkennen (237 li), verteilt sich die Gruppe, um die Fährte der Ogallalah zu suchen. Wieder ist es der Apatsche, der die Spuren entdeckt (237 re). Bald sieht man die Roten auf einem ebenen Streifen vor sich und bemerkt Zweierlei, etwas ... Willkommenes und etwas ... Ueberraschendes. Das Willkommene war, daß die beiden Anführer allein ritten, und zwar eine ziemliche Strecke hinter den andern her. Das Ueberraschende bestand darin, daß die Squaw und ihre Söhne nicht bei ihnen waren. (237 re) Der doppelte Entschluß - Folder und »Langen Leib« in alter Überrumpelungsmanier gefangen zu nehmen und dann mit ihrer Hilfe die Cache zu suchen, in der sich die Upsarokas befinden müssen - ist schnell gefaßt. Shatterhand spricht ihn aus, Winnetou hat, wie


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gewöhnlich, ganz dieselben Gedanken ... gehabt (237 re). Hammerdull und Holbers »dürfen« die Pferde und Gewehre halten - lange Zeit werden sie jetzt gar nicht mehr erwähnt, als hätte May sie, was möglich ist, einfach vergessen -, während Winnetou und Shatterhand mit langen Schritten und Sprüngen eine Höhe schnell bergan eilen, um die Ogallalah an einer Schneuße zu erwarten.(51) Keine Minute zu früh erreichen sie den Rand derselben und verstecken sich hinter einem über mannshohen, breiten Felsenstück (237 re), das nur zu diesem Zweck über mannshoch dort zu liegen scheint. Als die beiden Anführer die Stelle passieren, geschieht alles gewohnt schnell: Wir schnellten unhörbar hinter ihnen her; ein kräftiges Ausholen, ein gelungener Sprung, und wir befanden uns hinter ihnen auf den Pferden. Die eine Hand fest um ihre Kehle, mit der andern einige Hiebe an die Schläfe, und sie glitten, indem wir nachhalfen, in bewußtlosem Zustande von ihren Pferden herab ... (238 li) Diese einzige Gewalthandlung der Helden im engeren Sinn wird von May/Shatterhand mit einigem - pubertär wirkendem - Stolz kommentiert: Ein solcher Ueberfall von hinten auf das Pferd ist gar nicht leicht; man bringt es nur nach langer Uebung fertig. (238 li) An Stellen wie dieser wirkt Mays Renommisterei geradezu peinlich.

   Als die Entführten auf dem Rückweg wieder zu sich (kommen), erkennt »Langer Leib« gleich - mit Respekt, wie anzunehmen ist - die berühmten Helden. Folder dagegen (wirft) mit Grobheiten um sich, die Shatterhand entsprechend beantwortet: »Still, Hallunke, sonst schieße ich Dich augenblicklich nieder!« (238 li) Der barsche, bei May nicht allzu häufige Ton irritiert den Leser nicht, er ist ihm vielmehr aus der Seele gesprochen, seit ihm der Charakter Folders aufs schwärzeste gezeichnet wurde. Eher schon könnte (sollte!) es ihn irritieren, daß der Held seine Drohung dadurch verstärkt, daß er unnötig mit seinem Kriegsnamen protzt: »das schwöre ich, Old Shatterhand, Dir zu!« (238 li)

   Als die Gruppe - daß Hammerdull und Holbers wieder dabei sind, weiß man zwar, zu lesen ist es aber nicht - erneut auf dem gestrigen Lagerplatze der Ogallalah angekommen ist, fordert Shatterhand Folder auf, zu zeigen, wo die Mutter mit ihren Kindern zu finden ist, doch leugnet der mit einem brutal höhnischen Lachen (238 re) alles ab - womit er sich, wie ihm Shatterhand kundtut, alle Gnade verscherzt hat. Auch Tantschan honska leugnet, doch aus indianischem Stolz (und insgeheimer Reue?), nicht aus Bosheit. Für den Indianer ist es eine Schande, »mit Weibern und mit Kindern Krieg (zu führen)« (238 re). Notgedrungen muß die Cache gesucht werden, eine Gelegenheit für das Ich, sich und Winnetou - wenig überzeugend - nachträglich zu rechtfertigen: Es verstand sich ganz von selbst, daß von hier aus nach der Cache Spuren führten; wir hatten sie heut Nacht nicht sehen können, sonst wären wir den Sioux nicht nachgeritten, ohne vorher die Grube zu suchen.


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(238 re) Spuren menschlicher Füße und zweier Pferde werden gefunden, das Ich kombiniert, daß die Sioux zwei Krieger mit ihren Pferden hier gelassen (haben), um die Cache bis zur Rückkehr der Schar zu bewachen. (238 re) Wenig darauf erblickt Shatterhand die Spitze eines Moccassin hinter einem Baum und erkennt den dazugehörigen älteren Upsaroka-Knaben. Nach kurzer Vorstellung(52) erfahren die Helden von dem verstörten Jungen, der auf der Suche nach Giftkraut ist, daß die Schlangen seine Mutter gebissen haben und er ihren Tod fürchtet. Noch ehe die Gruppe die über zweihundert Schritte entfernte Cache erreicht, hört man Uinorintscha ota das christliche Vaterunser beten. Hier schiebt sich wieder eine - diesmal etwas befremdende, aber natürlich doch spannungweckende - Retardation ein: Genau beschreibt May die Fellgrube, klärt über ihre übliche Funktion auf und läßt Shatterhand sich dann über zwei frische, blutige Kopfhäute wundern, die in der Nähe ... an zwei Aststumpfen hängen, die Skalpe der beiden Ogallalah, die Wache standen. Der Upsaroka-Knabe muß die Helden regelrecht drängen, der Mutter zu helfen, auf unterwürfigste Weise: »Jetzt bitte ich die berühmten, großen Krieger, zuerst nach der Mutter zu sehen!« In der Grube liegt die Squaw in Krämpfen und schwer mit dem Atem ringend, ihr jüngerer Sohn hat ihren Kopf in seinem Schoße und (weint). Im entgegengesetzten Winkel (liegen) mehrere Riemen und drei große, vollständig ausgewachsene Klapperschlagen, welche nun tot waren. (239 li)(53) Der Leser ist natürlich äußerst gespannt, wie es zu dieser Situation gekommen ist, doch muß er sich noch einige Zeit gedulden. Immerhin erfährt er, daß die Schlangen durch Erwürgung getötet wurden und daß ihre fast zwei Meter langen Körper(54) zahlreiche kleine, wie von einer Stopfnadel herrührende Löcher in der Haut zeigen - noch ohne zu ahnen, was das bedeutet. Das wissen vorläufig nur die beiden telepathisch begabten Helden: Ich nickte dem Apatschen befriedigt zu, und er antwortete mit einem frohen Lächeln; Worte brauchten wir nicht. Nach der Untersuchung der inzwischen bewußtlos gewordenen Frau - eine etwas heikle Angelegenheit, weshalb der auf der Handlungsebene seiner Reiseerzählungen stets prüde May sich auch nur bis zum Knie herauf wagt -, bei der man zahlreiche Spuren von Bissen an ihren Beinen, Armen und Händen findet, wird sie aus der Grube herausgehoben; Hammerdull und Holbers, jetzt erstmals wieder erwähnt, dürfen sie handlangend vollends hinausnehmen (239 li). Im anschließenden Verhör Folders erfährt der Leser, daß der Bösewicht die drei übrigen Schlangen »für den Häuptling der Upsaroka mitgenommen (hat)« und daß die Squaw nicht sterben wird, »weil die Giftdrüsen leer gewesen sind. Die in dem Ledersack eng zusammengedrückten und darüber zornigen Schlangen haben sich unter einander selbst gebissen, wie wir jetzt an ihren Häuten gesehen haben, und dadurch wurde der Giftvorrat erschöpft.« Folders »Lage wird dadurch freilich nicht verbessert« (239 re).


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»Du wirst trotzdem als Mörder behandelt werden«, droht ihm Old Shatterhand. Als Folder sich dagegen auflehnt, von Shatterhand gerichtet zu werden - »Ihr wollt Euch doch nicht etwa als Richter über mich aufspielen?« - prophezeit ihm dieser: »Du wirst noch froh sein, wenn wir uns als Richter Deiner erbarmen.« Das Ende Folders ist damit vorgezeichnet, wie der erfahrene May-Leser, besonders der mit den Marienkalender-Geschichten vertraute, weiß, denn derartige Vorausdeutungen pflegen sich bei May durchweg zu verwirklichen. Wenn Folder sagt: »Ich würde lieber sterben, als mich unter Euer Urteil stellen.«, und Shatterhand antwortet: »Gut, merke Dir das!« (239 re), so ist unzweifelhaft, daß er wirklich sterben wird.

   Was nun folgt, ist das eigentliche Kernstück der Erzählung (239 re, Z. 29 - 240 li, Z. 50), dem sie auch den Titel "Mutterliebe" verdankt - obwohl es sich nur um einen nachträglichen Bericht handelt.(55) Die Upsaroka-Knaben erzählen, von May referierend wiedergegeben, was sich nach der Entfernung der Helden vom gestrigen Lauscherposten ereignet (hat). Uinorintscha ota war in heißer Angst um das Leben ihrer Söhne so unvorsichtig gewesen, die Anwesenheit Winnetous und Old Shatterhands zu verraten, was ihr böses Schicksal aber nicht zum guten wendete, sondern nur beschleunigte. Sie wurde mit ihren Söhnen, an Händen und Füßen gefesselt, in die Cache hinabgelassen, in die zuvor drei Klapperschlangen hinabgeworfen worden waren. Folder war dann aus Besorgnis vor den Helden mit den Sioux aufgebrochen, um die Upsaroka's (auszurauben), so viele wie möglich von ihnen (zu) töten und ihren Häuptling lebendig (hierherzubringen), um ihn dem Schicksale seines Weibes und seiner Kinder zu weihen. Zwei Krieger ließ er zurück. Als die sich für einige Zeit entfernten, ereignete sich hier in der Grube ein Beispiel selbstlosester, aufopfernster Mutterliebe: Die Mutter ... hatte, um ihre Kinder von dem schrecklichen Tode zu erretten, den ihre Hände zusammenhaltenden Riemen mit den Zähnen zernagt und, als sie dadurch die Arme frei bekam, im Finstern nach den Schlangen gesucht, um sie unschädlich zu machen, was nur dadurch geschehen konnte, daß sie eine nach der andern erwürgte. Daß sie dabei selbst und zwar viele Male gebissen wurde, kam bei ihr nicht in Betracht. (239 re) Das Motiv dieses mütterlichen Opfers ist einzigartig im Werk Mays, und wir werden noch ausführlich darauf einzugehen haben, denn hier hebt sich die Erzählung am stärksten aus dem Gewohnten heraus und gewinnt eine Dimension, die aufs Spätwerk vorausdeutet. Doch dazu später. Die Mutter konnte ihren Söhnen noch mit größter Mühe die Fesseln (lösen) (239 re), ehe sie dann zusammenbrach. Die Knaben befreiten sich aus der Grube, und es gelang ihnen, die beiden Wachen zu erschießen und zu skalpieren - was sie zum Eintritt in die Reihen der jungen Krieger würdig (macht) (240 li).(56) Soweit die Erzählung der Upsaroka-Knaben.

   Als Winnetou und Old Shatterhand sich nun auf die Suche nach


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Schlangenkraut für die Squaw begeben, sehen sie eine sehr beträchtliche Reiterschar auf (sich) zukommen, »Uamduschka sapa mit seinen Upsaroka's«. Wagemutig wie die beiden Helden sind, wollen sie sich »den Scherz machen, (sich) von ihnen umzingeln zu lassen.« (240 li) »Schwarze Schlange« hält Winnetou und Old Shatterhand für seine Feinde(57) und zweifelt auch noch an ihrer Freundschaft, als Winnetou erklärt: »es ist Friede!« und Shatterhand »ihm die Anführer der Sioux als seine Gefangenen schenken« (240 re) will. Erst das unerwartete Wiedersehen mit Frau und Kindern - von May nicht beschrieben - überzeugt ihn, daß Winnetou und Old Shatterhand nicht seine Feinde, sondern seine Brüder sind. (Vgl. 240 re)(58) »Sie haben ihr Leben für meine Squaw und meine Söhne gewagt, und meine Söhne sind durch sie zu Kriegern geworden (Krieger sind die Söhne doch ganz allein durch sich selbst geworden!); wir werden das Kalummet des Friedens mit ihnen rauchen.« (240 re) Zuvor muß aber noch die von Old Shatterhand prophezeite und also mit Sicherheit eintretende Ankunft der Sioux Ogallalah abgewartet werden. Die Upsarokas sollen sich auf Shatterhands Rat im Wald verstecken - wie nicht anders gewohnt, übernimmt das Ich auch hier gleich die Führerschaft -, und Uamduschka sapa ist freilich so gescheidt, diesen Rat zu befolgen. (240 re) Ebenso läßt er sich von seiner Frau und den Helden davon überzeugen, es dürfe zu keinem blutige(n) Kampf kommen. Er wollte sich mit Folder, der allerdings dem Tode verfallen war, begnügen... Wenn man den sogenannten Wilden nimmt, wie man ihn nehmen soll, ist er ein ganz vortrefflicher Mensch. (241 li) Den May-Kenner überrascht diese Milde nicht, und nur dem »Langen Leib« ist sie unbegreiflich - doch geht er mit um so größerer Bereitwilligkeit ... darauf ein, seine Sioux zum vollständigen und augenblicklichen Verlassen der hiesigen Gegend zu bewegen. Grad, als man mit ihm einig (241 li) ist, also erzähltechnisch genau zum richtigen Zeitpunkt, erscheinen die Ogallalah. Die Unterredung Tantschan honskas mit ihnen geht außerhalb vor sich, Gelegenheit für Hammerdull und Holbers zu einem Dialoggeplänkel über die Rednerkunst. (Vgl. 241 li) Allein aus Furcht vor dem »Zaubergewehr Old Shatterhands« entschließen sich die Ogallalah, »sogleich fortzureiten und nicht wiederzukommen.« Für Folder, der gehofft hatte, durch einen Kampf die Freiheit wiederzugewinnen, gibt es nun keine Hoffnung mehr. Wie von Shatterhand prophezeit, bittet er diesen, ihn zu retten. Der erinnert ihn - und den Leser - an seine eigenen Worte: »Ihr (habt) versichert, daß Ihr lieber sterben als Euch unter mein Urteil stellen würdet. Die Folgen, welche ich voraussah, sind eingetroffen und mögen ihren Lauf nehmen.« (241 re) Als Folder sich auf sein Christentum beruft, reagiert Shatterhand überaus hart: »Ihr seid kein Christ, sondern ein blutgieriger, gefühl- und gewissensloser Schurke, der unbedingt unschädlich gemacht werden muß!« (241f.) Zum Leser gewendet, kommentiert May: Dieser Mensch war keine Spur von Gnade wert. (242 li)


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   Endlich kann jetzt die Ceremonie der Friedenspfeife, die Versöhnung, vorgenommen werden; dann (folgt) die weniger feierliche Beerdigung der beiden Siouxleichen. Die spezifische Moral des »Auge um Auge«(59) vieler Marienkalender-Geschichten Mays wird sichtbar: Als Grab diente die Cache, in welcher ihre Opfer hatten sterben und verwesen sollen. Dieses Schicksal war nun ihren Wächtern geworden; es gibt keine größere Consequenz als diejenige der ewigen Gerechtigkeit. (242 li) Hammerdull und Holbers führen noch ein humoriges Gespräch, dann referiert May im Epilog über die erfahrene Gastfreundschaft der Upsaroka's.(60) Mit erschreckender Befriedigung, die vermutlich viele Leser ebenfalls erleben werden, teilt er Folders »Tod am Marterpfahle« mit: Ich bin im Leben nie mitleidslos gewesen, aber wenn ich diesem Menschen das Leben durch ein einziges Wort oder eine Handlung in die Rechte der Squaw hätte erhalten können, ich hätte es doch nicht ausgesprochen. Von Uinorintscha ota berichtet er, daß sie nach einer Woche so gesund wie vor den Schlangenbissen war, und daß er während eines spätern Besuches gesehen habe, wie sie die Schlangenhäute als Schmuck in ihre lang herabfallenden Zöpfe eingeflochten hatte. (242 re)

   Der Schlußsatz lenkt das Augenmerk noch einmal auf die Kernszene und das Kernthema: Noch heute, nach so langer Zeit, denke ich, wenn von Mutterliebe gesprochen wird, an diese Indianerin und möchte ihr Beispiel jedem Menschen vorhalten, welcher das Vorurteil hegt, daß nur die weiße Rasse tieferen Gefühlen zugänglich sei. --- (242 re)


Zusammenfassend:

Sieht man von der geheimen Hauptfigur Uinorintscha ota, von der Kernszene und ihren Ausläufern ab, bietet die Erzählung "Mutterliebe", wie das Abschreiten der Fabel bestätigt hat, vorwiegend Vertrautes. Wie in den meisten früheren Amerika-Texten Mays sind die beiden Haupthelden Winnetou und Old Shatterhand nahezu unfehlbar, werden handlungs-motorisch wirksame Dummheiten von einem komisch-karikaturistischen Halbhelden-Duo begangen, ist der weiße Bösewicht ein wahrer Teufel, sind die Rothäute mehr oder weniger Irregeleitete, die durch gutes Zureden leicht auf friedliche Wege geleitet werden können. Sie alle sind nur wenig individualisierte Typen, Schablonen in einem Schwarz-Weiß-System. Entschiedene Wandlungen erfährt keine der Personen, selbst Uinorintscha ota wird nicht durch eine Prüfung zur aufopfernden Mutter, sie ist es von Beginn an.

   Ziel der Handlung ist die Wiederherstellung der Ordnung; diesem Zweck dienen May-übliche Aktivitäten wie Spurenlesen, Anschleichen, Belauschen, Überwältigen und Gefangennehmen gegnerischer Anführer, Befreiungen, Verhandlungen mit Bekehrbaren und die Vernichtung des Bösen.


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   All dies geht in einem landschaftlichen Freiraum vor sich mit eigenen Gesetzen. fernab jeder Zivilisation, zwischen Prärie und Waldstücken. Unbestimmt wie die kulissenhafte Landschaft (trotz der Ortsbezeichnungen zu Beginn des Textes) ist auch die Handlungszeit; die Handlungsdauer ist etwa ein Tag. Die Einheit von Ort und Zeit unterstreicht das Episodische der Erzählung, ihr Wesen als Einzelglied einer »Aventiure-Kette«.

   Bliebe man bei der Betrachtung der Erzählung allein auf die äußere Fabel fixiert - die Sehweise der meisten (naiven) May-Leser -, käme man nicht umhin, sie als belanglos zu werten, zumal auch die Sprache, in der sie vorgebracht wird - ein durch zahlreiche Dialoge aufgelockerter Konversationsstil -, alles andere als kunstvoll ist.

II.  A u t o b i o g r a p h i s c h e s

Literatur war für Karl May ein Medium der Wunscherfüllung bis zuletzt. Der Ich-Held Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi diente ihm dabei, jedenfalls in den Werken vor der Spätphase, zur Kompensation eigener Fehler und Schwächen und zur nachträglichen Korrektur von Lebensdefiziten. In ihm, mit dem er sich von Anfang an identifizierte, realisierte er imaginativ das übersteigerte, von väterlichen Zügen bestimmte Ich-Ideal, das sich bei ihm schon in früher Kindheit ausgebildet hatte, als Reaktion auf eine schwere, hier nicht näher zu erläuternde Liebesversagung durch die Mutter, eine Versagung, die ihn narzißtisch prägte und liebesarm werden ließ.(61) Während er durch die Orientierung am Vaterbild die väterliche Bedrohung neutralisieren konnte und eine psychische Schutzpanzerung gegenüber der ebenfalls als bedrohlich empfundenen Außenwelt gewann, mußte er die frühe, von ihr verweigerte Liebesanlehnung an die Mutter beständig verdrängen, um diesen Schutz seines Ich zu bewahren, eine Seelenarbeit, die mit starken Schuldgefühlen einherging. Diese Verdrängung wird in den frühen Reiseerzählungen darin sichtbar, daß dort beinahe ausnahmslos Männergesellschaften agieren, Frauen oder gar Mütter hingegen, wenn überhaupt, nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Und sie wird natürlich sichtbar in den idealisierten väterlichen Charakteristika des Helden, seinen väterlich-autoritären Verhaltensweisen, die mütterliche Züge verdecken oder gar nicht aufkommen lassen. Aber nicht nur der Mutter-Komplex gefährdete das mühsam aufgebaute Ich-Ideal, sondern auch dessen eigene Irrealität. May konnte es nur deswegen so lange Zeit bewahren, weil es ihm gelang, sich schreibend eine ich-immanente Welt zu schaffen und so die feindliche Realität auszuklammern und zu ersetzen. Seine schier unerschöpfliche Produktivität erklärt sich daher, daß er diese Ersatzwelt - konkretisiert als Amerika oder als Orient - ständig neu schaffen mußte. In dem Augenblick, als


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er das Schreiben für längere Zeit unterbrach und der befremdenden, weil seinem phantasierten Freiraum widersprechenden Wirklichkeit des Orients ausgesetzt war - während seiner Orientreise 1899/1900 -, kam es zum psychischen Zusammenbruch, zum beschleunigten Abbau des väterlichen Ich-Ideals und zur Identifikation mit mütterlichen Idealen, abstrahiert zu einer umfassenden Liebesethik. Ein neuer Mensch und ein neues Werk, das Spätwerk Karl Mays, wurden geboren.

   Tendenziell kündigte sich diese Wandlung schon lange vorher an, genauer, seit dem Tod der Mutter Christiane Wilhelmine im Jahre 1885, den er als Schock erlebte. Die Schuldgefühle ihr gegenüber drangen in sein Bewußtsein und taten ihre Wirkung. »Mit (dem Tod der Mutter) wurde die dunkel gebändigte Macht der ersten Identifizierung schlagartig frei, der einst so ersehnten, durch Verweigerung in die Ambivalenz gedrängten und darin gefesselten Anlehnung an die Mutter; und ihre Ansprüche begannen nun immer drängender in das Gefüge der zweiten, der mit dem Vater, einzugreifen, die das Ich-Ideal aufgebaut hatte«(62) Zwar machte sich in den ersten Jahren nach 1885 der wachsende mütterliche Einfluß vorerst nur wenig bemerkbar, Mitte der 90er Jahre war dann aber ein Stadium erreicht, in dem es zu einer fragilen Balance von mütterlicher und väterlicher Identifikation kam. Um sein jetzt aufs höchste gefährdetes Ich-Ideal zu bewahren, suchte May ab 1896 die stärkende Ich-Bestätigung von außen. Er transponierte die vorgebliche Identität von Ich und Ich-Ideal in die Außenwelt und identifizierte sich in aller Öffentlichkeit - auf vielfach groteske Weise - mit Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi.(63) Die Werke dieser Zeit (von 1896 bis 1899), die »späten Reiseerzählungen«, unterscheiden sich in vielem von den vorangegangenen. Ihr wesentliches Kennzeichen ist die Ambivalenz. Während sich auf der einen Seite immer mehr mütterliche, passiv-feminine Züge bemerkbar machen, Friedensbereitschaft und christliche Nächstenliebe gepredigt werden, erstarkt auf der anderen Seite als Reaktion darauf noch einmal das alte Ich-Ideal. In diese Phase ordnet sich auch die Erzählung "Mutterliebe" von 1897 mit ihrem programmatischen Titel ein. Sie steht noch relativ am Anfang einer Entwicklung, in der das Mutter-Prinzip allmählich über das Väterliche triumphiert - die Eingliederung des Ich-Ideals in die äußere Wirklichkeit reduzierte den Konflikt mit der Außenwelt, so daß der Mutter-Komplex nachdrängen konnte -, und deren wichtigste Stadien von den beiden Romanen "Weihnacht" (1897) und "Am Jenseits" (1899) markiert werden, den direkten Vorstufen zum Spätwerk.

   Im folgenden ist zu zeigen, wie auf unterschichtiger Ebene der Konflikt zwischen Vater- und Mutteridentifikation in der Erzählung "Mutterliebe" ausgetragen wird - denn auch wenn May aus äußeren Gründen in diesem Text vieles Alte einfach lustlos wiederholte, schlug sich die Problematik jener Jahre dort doch geradezu exemplarisch nieder.


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1. Der Vater

In seiner Selbstbiographie "Mein Leben und Streben" (1910) beschreibt May seinen Vater Heinrich August als einen Mensch mit zwei Seelen. Die eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Uebermaß im Zorn, unfähig, sich zu beherrschen.(64) Neuere Forschungen bestätigen weitgehend diese Charakterisierung, sie betonen dabei die Negativseite der ambivalenten Persönlichkeitsstruktur.(65) Wichtiger als der Wahrheitsgehalt scheint mir im Blick auf die Literatur Mays, daß er seinen Vater, wenn er von zwei Seelen spricht, gewissermaßen in zwei Personen aufspaltet. Eben dies findet sich nämlich gespiegelt auch in seinen Reiseerzählungen, den frühen wie den späten. Während dort Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi die positive Seite des Vaters und das idealisierte Vaterbild repräsentiert, geht dessen negative Seite und das kindheitlich-traumatische Angstbild in die jeweiligen schurkischen Gegenspieler ein. Dabei identifizierte sich May nicht nur bewußt mit seinem Helden sondern unbewußt auch mit den Bösewichtern, die zugleich in übersteigerter Form für den May der kriminellen Phase stehen. Beide Vater-Imagines gelangen in den späten Reiseerzählungen als Reaktion auf das Vordringen des Mütterlichen zur Extremität. In "Mutterliebe" begegnet uns neben ihnen - Shatterhand und Folder - in der Figur des Upsaroka-Häuptlings Uamduschka sapa noch eine dritte, weniger bedeutsame Vater-Projektion.

a) Old Shatterhand

Das Wunsch-Ich Old Shatterhand besitzt in "Mutterliebe" wie eh und je ganz außergewöhnliche Fähigkeiten. Nur Winnetou, sein Blutsbruder, in dem sich der liebesarme May einen Bruder oder Freund erträumte, übertrifft ihn hierin noch.(66) Eindrücklich stellt Shatterhand seine Kombinationsfähigkeit, sein Wissen, seine körperliche Tüchtigkeit und seinen Mut unter Beweis. All das, was May in Wahrheit nicht in dem Maße besaß, schreibt er seinem Ideal zu. Er erfüllt damit im Nachhinein die Anforderungen, die sein Vater an ihn stellte, von dem er als Kind glauben mußte, daß dieser solche Qualitäten besaß. Noch in der Selbstbiographie, als das Vater-Ideal längst zerbrochen war, schreibt May von ihm: Er besaß hervorragende Talente ...(67) und: Er besaß zu allem, was nötig war, ein angeborenes Geschick.(68) Durch diese Talente legitimierte sich für den Knaben May die strenge Autorität, die übergroße Härte des Vaters, unter der er zu leiden hatte. Um sich dem väterlichen Zwang zu entziehen und sich die Macht des Vaters anzueignen, versuchte er, ihm an Talenten gleichzukommen - nur dadurch, daß ihn sein Vater dazu  z w a n g ,  läßt es sich nicht erklären, daß er ganze Tage und halbe Nächte lang (saß), um sich ungeordneten Wissensballast, die-


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ses [dieses] wüste, unnötige Zeug in den Kopf zu packen(69), oder tagtäglich mit seinem Vater geheime Evolutionen, Exerzierübungen, vornahm: Ich war ... nicht auf den Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache.(70) Das Vater-Ideal hatte sich bereits weitgehend ausgebildet, das Streben nach eigener Autorität machte sich bald schon gegenüber annähernd Gleichaltrigen geltend.(71) Da zwischen dem erstrebten Ideal und seiner tatsächlichen Fähigkeit aber eine Kluft war, die immer neue Fehlschläge nicht nur bestätigten, sondern noch erweiterten, rettete sich May früh in Einbildungen, ins Rollenspiel. Spätere Folgen waren die Hochstapeleien und Amtsanmaßungen in seiner kriminellen Phase und schließlich deren gesellschaftlich legitimierte Transponierung ins Literarische. War May als Kind daran gescheitert, unterschiedlichste, vom Vater vorgegebene Wissensstoffe in Einklang zu bringen und zu verarbeiten, gelingt es Shatterhand leicht, beinahe »allwissend« kombinatorisch den jeweils »richtigen Schluß zu ziehen« (230 re). Mußte er sich als Kind oft die Schläge des tyrannischen Vaters gefallen lassen(72), und konnte er sich hernach selten gegen äußere Gewalt wehren, ist Old Shatterhand, das sagt allein sein Name, berühmt für seine »Schmetterhand«, und auch der Ueberfall von hinten auf das Pferd (238 li) eines Gegners ist ihm kein sonderliches Problem. Mußte der Knabe May in ständiger Angst vor väterlichen Aggressionen leben, sitzt Old Shatterhand furchtlos inmitten von zweihundert feindlichen Indianern und blickt ungerührt in die Läufe ihrer Gewehre. (Vgl. 240 re) Shatterhand hat die väterliche Autorität gewonnen, sogar noch übertroffen, und mit ihm beim phantasierenden Schreiben auch Karl May. Das drückt sich vor allem im Verhalten des Ich zu seinen Begleitern aus: Shatterhand »traktiert sie wie ein herrschsüchtiger Vater seine Familie und verlangt zugleich, daß sie ihm Zuneigung schenken, da er ihnen auch eine umfassende Fürsorge angedeihen läßt.«(73) Dick Hammerdull und Pitt Holbers dienen in "Mutterliebe" ganz vorrangig dazu, dem Ich Gelegenheit zum Ausleben väterlicher Funktionen zu geben und seine Vaterrolle zu bestätigen; funktional werden sie zu Shatterhands »Kindern«, die keinerlei Autonomie besitzen. So müssen sie gemäß dem zeitgenössischen patriarchalischen Ritus  h i n t e r  ihm gehen (bzw. reiten, vgl. 233 li) und ihm auch sonst den Vorrang überlassen; sie müssen seine Belehrungen aufmerksam über sich ergehen lassen (Vgl. 230f.), ihm stets helfend zur Seite stehen (Vgl. 230 re, 239 li), seinen Befehlen unbedingten Gehorsam leisten (Vgl. 233 re, 237 re), sich von ihm geduldig ausschelten und überhaupt bewerten lassen (Vgl. 235 re) und sich nach seinem jeweiligen Willen erkundigen (Vgl. 236 re). Nach außen werden sie von ihm repräsentiert. Alle Gespräche und Verhandlungen, ob mit Uinorintscha ota, ihren Söhnen, Folder, »Langer Leib« oder Uamduschka sapa, werden von der Vaterfigur Old Shatterhand geführt, die »Kinder« Hammerdull und Holbers werden von den »er-


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wachsenen [erwachsenen]« Außenstehenden nirgends auch nur wahrgenommen. Es ist selbstverständlich, daß ihre »Vater«-Erlebnisse von May selbst in seiner Kindheit erfahren, besser erlitten wurden; es handelt sich bei Hammerdull und Holbers dennoch nur in sehr geringer Weise um unbewußte Spiegelungen seines Kindheits-Ich, da sich Mays Identifikationsbedürfnis im Vater-Sohn-Verhältnis ganz auf den Vater richtet. Ungebrochen behält May im Text die Perspektive des autoritären Vaters/Old Shatterhands bei, nirgends deutet sich eine Identifikation mit den »Kindern« an.(74)

   Wie gegenüber den »Toasts« verhält sich Old Shatterhand auch zu Uinorintscha ota väterlich-autoritär. In beiden Fällen verdeckt die Fürsorgepflicht nur sehr oberflächlich das eigentliche Handlungsmotiv, das Machtstreben. Recht barsch verweist der Held die männlich-aktiv auftretende Squaw(75), bei der man an Mays Mutter zu denken hat, auf die Grenzen, die ihre Weiblichkeit ihr seiner Meinung nach setzt: »eine Squaw bringt das (die Rettung der Söhne) nicht fertig; dazu gehören Krieger.« Er will sie sogar an den »häuslichen Herd« zurückschicken: »Kehre Du also um, und reite heim!« (232 re) May/Shatterhand vertritt hier eine Haltung, wie sie mit großer Sicherheit auch Heinrich August May vertrat, als seine Frau sich entschloß, einen Hebammen-Kursus zu absolvieren, um so das häusliche Elend zu mindern, dem er, der eigentliche Familienversorger, nicht beikommen konnte. Nach neueren Forschungen war Christiane Wilhelmine May, ganz im Gegensatz zu der Beschreibung, die uns ihr Sohn gibt(76), »eine sehr rührige, aktive, selbstbewußte, intelligente und praktisch veranlagte Frau.«(77) Heinrich Mays familiäre Autorität war daher von ihr, zumal als sie berufstätig geworden war, nicht unbedroht, und der drohende Autoritätsverlust, dem er möglicherweise durch noch gesteigerte Härte begegnete, mag sich auch dem Sohn mitgeteilt haben, der sich mit ihm identifizierte. Die übernommene Vaterfurcht vor der aktiven, »männlichen« Frau erklärt jedenfalls zum Teil, warum die - ohnehin seltenen - Frauengestalten in den Reiseerzählungen bis Mitte der 90er Jahre ganz überwiegend weiblich-passive Wesen sind. In "Mutterliebe" ist das anders - wie wenig zuvor schon in "Old Surehand III", wo Kolma puschi ganz ähnlich wie Uinorintscha ota, gar noch in Männerkleidung, nach ihren verlorenen Söhnen forscht -, doch hat Shatterhand hier noch nicht (wie im Spätwerk) die (teilweise) gewandelte Haltung Mays zur Frau nachvollzogen, beharrt noch auf den alten väterlichen Standpunkten. Er tut dies gegenüber manchem früheren Text sogar in gesteigertem Maße, die weibliche Autonomie Uinorintscha otas als Gefahr für seinen Selbstwert empfindend. Das geht so weit, daß er es für nötig hält, sie unter Aufsicht zu nehmen (233 re), sie also zur Passivität zu  z w i n g e n .  Zwar begründet er es damit, daß sie »leicht alles verderben« (233 li) könnte, wenn sie eigenmächtig handelt - was sich auch bestätigt -,


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aber das kann doch nur sehr fadenscheinig das tiefere Motiv verdecken, bei dem es sich eben nicht um Fürsorgepflicht, sondern um Machtstreben handelt. Da Uinorintscha ota, anders als Hammerdull und Holbers, auch gegenüber Shatterhand ihre Autonomie bewahrt, läßt sie sich nicht unter Aufsicht halten und beschleicht in männlicher Manier - nämlich ganz so routiniert und unbemerkt wie zuvor Winnetou und Old Shatterhand - das nächtliche Lager der Ogallalah. (Vgl. 235 li)(78) Interessant ist der spätere Kommentar Dick Hammerdulls zu ihrer Eigenmächtigkeit: »Da hat man es wieder einmal: Weiber verderben doch stets den Brei! Drum habe ich nicht geheiratet und werde diesen Fehler auch nie begehen.« (236) Es gehört nicht viel Phantasie dazu, hier an Emma Pollmer zu denken und an Mays heimlichen Wunsch, nie den Fehler begangen zu haben, sie zu heiraten. Ganz so wie sein Vater sah er sich ja mit einer Frau verbunden, die ihm an äußerer Aktivität und Lebensfähigkeit überlegen war, die »männlich« auftrat(79) und ihm seine eigene »Männlichkeit« bestritt. Mays Furcht vor weiblicher Autonomie war also nicht nur identifikatorisch vom Vater übernommen, er sah sich auch selbst in konkreter bedrohlicher Situation. Das erklärt Shatterhands Verhalten zusätzlich - darf aber nicht etwa dazu verführen, in der Upsaroka-Squaw nun eine Emma-Spiegelung zu sehen.(80)

   Old Shatterhands väterlich-autoritäre Härte erweist sich noch gegenüber einer weiteren Figur, gegenüber dem Bösewicht Folder. Während sich der gerechtigkeitslüsterne Leser in vielen früheren Texten unwillig damit abfinden mußte, daß die schurkischen Gegenspieler immer wieder Gnade vor Recht erfuhren - um dann nur neue, schändlichere Untaten zu begehen - und erst nach langem Hin und Her durch ein anonymes »Gottesurteil« ihre Strafe fanden, wirft Shatterhand sich gleich bei der ersten Habhaftwerdung Folders zum Richter über ihn auf - »Du wirst ... als Mörder behandelt werden.« (239 re) -, läßt ihm keine Gelegenheit zur Reue, konstatiert unerbittlich, daß er »unbedingt unschädlich gemacht werden muß« (242 li), und zeigt sich dann befriedigt über seinen »Tod am Marterpfahle« (242 re). In extrem übersteigerter Form kehrt hier das gnadenlose, »gerechte« Strafprinzip Heinrich August Mays wieder(81) - aber es richtet sich nun gegen diesen selbst und mit ihm auch gegen den May der frühen Verfehlungen.

b) Folder

Während Shatterhand, wenigstens in den getrübten Augen Mays, moralisch in tadellosem Weiß erstrahlt, gibt der Autor uns vom Widerpart Folder ein ungebrochen schwarzes Bild. Von robustem, starkknochigem Baue, hatte er einen wahren Stierkopf auf dem Nacken sitzen; seine breiten, wie zugehackten Gesichtszüge machten den Eindruck der heimtückischen List und Gewissenslosigkeit. (234 li) Diese einführende Be-


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schreibung [Beschreibung] ist sicherlich trivialliterarisches Klischee; mit ihren aggressiv-brutalen Vokabeln (zuhacken!) lenkt sie aber auch hin auf das Urbild Folders, auf Heinrich May, dessen zweite Seele May als tyrannisch, voll Uebermaß im Zorn, unfähig, sich zu beherrschen(82) beschreibt.(83) Der Knabe May lebte in ständiger Angst vor der tyrannischen Seite des Vaters: Da waren wir in steter Angst, ihn zu erzürnen. Dann wehe uns! Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte »birkene Hans«, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im großen »Ofentopfe« einzuweichen, um ihn elastischer und also eindringlicher zu machen.(84) "Mutterliebe" ist ein Beleg dafür, daß May die Angst vor dem väterlichen Ausbruch(85), die in seinem Unterbewußtsein fest verankert war, nie ganz überwand: er läßt die beiden Upsaroka-Knaben - mit denen er sich zum Teil identifiziert - in eine ganz ähnliche Angst-Situation geraten und an seiner Statt bestehen. Leicht verschoben kehrt am nächtlichen Lager der feindlichen Ogallalah die einstige häusliche Situation wieder. Die »Nacht« signalisiert, daß das Geschilderte bis auf die Zeit zurückgeht, als der kleine May noch blind war.(86) Der Ofen ist zum Lagerfeuer verwandelt. Die Mutter - Uinorintscha ota - ist in der Nähe, hält sich aber unbemerkt. Beherrscht wird die Szene vom Vater, von Folder. Der hat neben sich einen zugebundenen Fellranzen, aus dem einige mehr als fingerstarke Stäbe (hervorragen) (234 li). Vor den Augen der Knaben zieht er langsam einen der Stäbe heraus, (hält) den Stock ... empor und (lacht) (235 li). Aus dem großen »Ofentopfe« ist also ein Ranzen geworden, aus dem »birkenen Hans« ganz unverhüllt ein Stock.(87) Folder zelebriert seine Rache/Strafe regelrecht, und es ist zu vermuten, daß dies auch Heinrich May tat, wenn der kleine Karl ihn »erzürnt« hatte(88) - mehr als das spontane Ausleben einer Aggression verlieh dem Vater ihr genüßliches, sadistisches Auskosten Machtgefühle, Macht nicht nur über den Sohn, sondern auch über die Frau Christiane. Es ist sehr fraglich, ob Mays Mutter bei solchen Gelegenheiten tatsächlich oft eingriff und, wie Uinorintscha ota, aus dem Verborgenen Einhalt gebot: »Halt, thue es nicht, thue es nicht! Ich beschwöre dich ..., laß sie (= ihn) leben, und töte lieber mich!« (235 li) Sie mußte fürchten, wie die Squaw das Schicksal ihrer Söhne, das des kleinen Karl zu teilen. (Vgl. 235 re) In einer besonders gefährlichen Situation mag es aber einmal, oder auch manches Mal, zu solch einem mutigen Eingreifen gekommen sein - lange verdrängt, weil die väterliche Autorität und das Ich-Ideal bedrohend, kam das Ereignis bis 1897 so weit zum Bewußtsein, daß May es in seiner Erzählung dankbar beschreiben konnte.(89)

   Wie wir bereits andeuteten, ist Folder auch ein Selbstporträt des Autors. May wußte, daß ein Teil seines Ich große Aehnlichkeit mit (seinem) Vater (besaß) und ... alle seine Fehler (hatte).(90) Und er ahnte,


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daß es diese Aehnlichkeit, seine Orientierung am väterlichen Leitbild, das innere Bedürfnis, den väterlichen übersteigerten Ansprüchen zu genügen und das Machtstreben (oder auch Streben nach Anerkennung) waren, die ihn auf eine falsche Bahn gebracht, die ihn zu seinen Hochstapeleien und Amtsanmaßungen während seiner Krisenzeit bewegt hatten.(91) Die literarische Umsetzung seines Krisen-Ich und der Nachtseite des Vaters in  e i n e r  Figur, in Folder, entlastete ihn von Schuldgefühlen und schob alles dem Vater zu. Dessen Überwindung ist  e i n  Ziel der Erzählung "Mutterliebe". In seiner Selbstbiographie schreibt May, daß er in seiner Abgrund-Zeit eine gespaltene Persönlichkeit war. Neben seinem Ich und einem lichten Wesen (dem Guten in ihm) gab es eine dritte Gestalt, die ihm direkt widerlich war (das Böse in ihm, aber auch das Böse im Vater). Diese Gestalt des Bösen stimmt in Grundzügen überein mit der oben zitierten Beschreibung Folders: Fatal, häßlich, höhnisch, abstoßend, stets finster und drohend; anders habe ich sie nie gesehen, und anders habe ich sie nie gehört. ... Und sie wollte nie das Gute, sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich war. Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war.(92) Auch Folder ist von Shatterhand bisher nie gesehen worden: Wer er war, das wußten wir nicht; wir hatten ihn nicht gesehen. (234 li) Das dunkle Wesen, das May während der Krisenzeit an der Hand (führte)(93), gewann damals die Oberhand über das Gute in ihm, es kam zu den »Verbrechen« und zu den Haftstrafen.(94)

   Mays Haftzeit kehrt schon im Namen des Bösewichts wieder: »Folder« heißt »Falzer«, und »falzen«, nämlich Zigarren, mußte May während seiner Zeit im Zuchtbaus zu Waldheim (1870-1874) zur Genüge.(95) Vor allem aber weckt die Vorgeschichte, das Sündenregister Folders, Reminiszenzen an Mays »Verbrechen« und seine Haft, auch wenn sich eine Reihe chronologischer Unstimmigkeiten ergeben. Der »Falzer« war früher »Agent der roten Männer« (234 re) und hat da einen »haarsträubenden Betrug« begangen, indem er »Nahrung und Kleidung (unterschlug)« (241 re). Die Behörde (hatte sich) der Sache doch endlich einmal ... annehmen müssen. Er wurde abgesetzt und mit mehreren Jahren Gefängnis bestraft. (234 re) Folder hatte als »Agent« eine relativ angesehene und verantwortungsvolle Aufgabe - angesehen und verantwortungsvoll wie der Lehrerberuf, den May 1861 erst als Hilfslehrer in Glauchau und dann als Fabrikschullehrer in Alt-Chemnitz ausübte.(96) Eines »haarsträubenden Betrugs« wegen, nämlich wegen der »Unterschlagung« einer Taschenuhr, einer »Anbeißpfeife« und einer »Cigarrenspitze«, wurde May von der Behörde abgesetzt und erhielt eine sechswöchige Gefängnisstrafe. In der Folgezeit verbüßte er dann wie Folder mehrere Jahre Gefängnis für die »Unterschlagung« von »Nahrung und Kleidung«.(97) Folder ging nach der Haft »nach dem wilden Westen« und wurde »Pferdedieb« (234 re). May stahl u. a. in der


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zweiten Phase seiner Straftaten, nach der Zwickauer Haft, in Bräunsdorf »ein Pferd samt Trense, Reitpeitsche und Halsriemen«.(98) Kurz vor diesem Diebstahl(99) hatte auch er - wenngleich vergeblich - versucht, mit zwei Amerikanern namens Burton »nach dem wilden Westen« zu reisen.(100) Bei all diesen Übereinstimmungen erstaunt es nicht, daß Folder dem Ich-Erzähler Shatterhand nicht ganz unbekannt ist: Wir wußten nun, wer dieser Weiße war, denn wir hatten gar wohl von jenem berüchtigten Indianeragenten Folder (= Lehrer May) gehört, von dem die armen Roten (= die bedauernswerte sächsische Bevölkerung) in einer solchen Weise betrogen und übervorteilt worden waren... (234 re)(101)

   An den May der Straftaten, den »Räuberhauptmann«, läßt auch Folders mitten im Wald liegende (Vgl. 238 re) Cache denken. Mitte 1869 hatte May bekanntlich zeitweilig die nördlich von Hohenstein und Ernstthal im Oberwald gelegene Eisenhöhle (später »Karl-May-Höhle«), einen ehemaligen Eisenerzstollen, als Zufluchtsstätte benutzt.(102) Sie sollte ihm auch als Versteck für Diebesgut dienen, also als Cache, als »verborgene Grube zum Verstecken der erbeuteten Häute und Felle« (235 re, Anmerkung).(103) Folders Cache ist mit Rundhölzern ausgekleidet, um sie vor der Feuchtigkeit und dem Einsturz zu bewahren. Der Deckel besteht aus ebensolchen Hölzern und ist mit Moos bekleidet (239 li). Auch für den Vagabunden May war es nötig, seinen Unterschlupf vor Entdeckung zu schützen - um die erbeuteten Felle bis zur Zeit ihres Abholens zu verstecken. (239 li) Nach Lebius war die Höhle »mit Moos und gestohlener Leinwand wohnlich austapeziert«.(104) Interessanterweise schreibt May, als er Old Shatterhand zur Cache gehen läßt: Wir lauschten und hörten die Stimme der Frau wie aus einer Höhle (!) heraus (239 li).

   Nur angedeutet sei hier eine etwas gewagte These: Es könnte sein, daß May, sich mit den Upsaroka-Knaben identifizierend, seinen Vater (Folder) anklagt, ihn durch sein Wesen und Wirken indirekt in die Grube, in die Eisenhöhle gebracht zu haben.(105) Hier könnte ein zusätzliches Detail-Motiv für die unerbittliche Härte liegen, mit der Shatterhand Folder begegnet. In groben Zügen ist sie ohnehin verständlich (und die Eisenhöhle läßt sich leicht in die Argumentation einpassen): das negative väterliche Erbe, der Vater-Schatten hat endlich ganz zu verschwinden (zugunsten des Mütterlichen) und mit ihm zugleich auch der May der Straftaten. Gerade letzterer »(muß) unbedingt unschädlich gemacht werden« (242 li), denn er (oder die Vergangenheit) bedroht May und seine gesellschaftliche Existenz jetzt, während der Niederschrift 1897, auf dem Zenit des Erfolges, mehr als je zuvor. Inmitten der mütterlichen Welt, im Lager der Upsarokas, inmitten der bürgerlichen Wohlanständigkeit mit ihren »Theater(n), Bälle(n), Conzerts, Hochzeiten, Kindtaufen, Kirchweihen und was es sonst noch alles (gibt)« (242 re), ist für den tyrannischen Vater und ist für den Zuchthäusler, den


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Zigarren-»Falzer« kein Platz mehr, hier hat er endlich am Marterpfahl zu sterben.

   Noch wehrt sich May gegen den Gedanken, daß hier auch kein Platz mehr für das väterliche Ich-Ideal, für Old Shatterhand ist.

c) Uamduschka sapa

Die beiden Vater-Projektionen Old Shatterhand und Folder sind, wie wir gesehen haben, wenigstens ebensosehr auch Selbstspiegelungen Mays. Dabei ist die Identifikation mit dem positiven Shatterhand eine bewußte, die mit dem negativen Folder eine vorrangig unbewußte. Die Auseinandersetzung der beiden Widersacher ist der in Handlung umgesetzte Konflikt zwischen Gut und Böse in der Seele des Autors; beide Phänomene sind väterlich bestimmt. Anders verhält es sich mit dem dritten Vater-Imago, dem Upsaroka-Häuptling Uamduschka sapa. Nirgends verbirgt sich hinter ihm das Ich Mays, und moralisch ist er in keiner Richtung extrem angelegt. Das realistische Mittelmaß gibt ihm mehr Nähe zum wirklichen Heinrich August May als den beiden andern - daß dessen Bild dennoch nicht plastisch vor uns ersteht, liegt an seiner geringen Präsenz und Bedeutung in der Erzählung.

   Schon seine konfigurative Stellung weist ihn als Mays Vater aus. Er ist der Mann Uinorintscha otas, in der eindeutig Mays Mutter zu sehen ist, und er ist auf der Handlungsebene die einzige ausdrückliche Vaterfigur. Seine beiden Söhne stehen funktional gelegentlich für May selbst.(106) Uamduschka sapa hat seine Frau »sehr lieb«, sie steht bei ihm in ungewöhnlicher Achtung (231 re), so sehr, wie man es von ihm, dem Indianer, gar nicht für möglich gehalten hätte. (241 li) Daß Heinrich May seine Frau liebte, läßt sich vermuten, ebenso, daß er sie achtete, schließlich war sie der »weitaus erfolgreichere Partner«.(107) Folge der Überlegenheit seiner Frau waren aber auch Minderwertigkeitsgefühle, »die er durch tyrannische Gebärden und polternde Auftritte zu überspielen versuchte«.(108) »Der Häuptling (besitzt) im Zorne die Unerbittlichkeit des grauen Bären ...« (232 re)(109), bekennt Uinorintscha ota von ihrem Mann. Schon im Zusammenhang mit Folder wurde vermutet, daß Mays Mutter sich vielleicht einmal, oder auch bisweilen, schützend vor ihren Sohn stellte. Uinorintscha ota muß ihre Söhne nicht nur vor Folder, sondern auch vor dem Vater schützen: »Vor seinem Grimme über seinen(110) Ungehorsam kann kein Krieger sondern nur ich sie retten.« (232 re) Der Ungehorsam der beiden Söhne besteht darin, daß sie sich heimlich aus dem Lager entfernt haben, um »unter die Krieger aufgenommen zu werden« (232 li) und dem Stamm zu helfen. Ähnlich romantisch waren die Motive, die den jungen May einst dazu bewogen hatten, nach Spanien zu gehen, dem Lande der edlen Räuber.(111) Er wollte bei einem edeln spanischen Räuberhauptmann Hilfe für die finanziell


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bedrängte Familie holen.(112) Die berechtigte Furcht der Upsaroka-Knaben vor dem väterlichen Grimm erfüllt sich am Ende nicht, die Squaw und ihre Söhne erhalten keine Vorwürfe (241 li). Der Vater ist vielmehr froh, sie lebend wiederzusehen und stolz, daß seine Söhne Skalpe erbeutet (haben) und dadurch trotz ihrer großen Jugend Krieger geworden (sind). (241 li) Keine Vorwürfe erhielt auch der Knabe May für seine Reise nach Spanien, als ihn sein Vater nach einigem Suchen in der Gegend von Zwickau(113) bei Verwandten gefunden hatte: Er, der jähzornige, leicht überhitzige Mann, verhielt sich ganz anders als gewöhnlich. Seine Augen waren feucht. Er sagte mir kein einziges Wort des Zornes.(114) Ob Heinrich May - offen oder wenigstens insgeheim - stolz war über die kühne, familienorientierte Eigeninitiative seines einzigen Sohnes? Der wichtigste Grund für Mays Flucht nach Spanien war jedenfalls die Hoffnung auf familiäre Anerkennung gewesen, Anerkennung vor allem durch den Vater. Er selbst war natürlich wie die Upsaroka-Knaben außerordentlich stolz auf sich - man sah es ihnen an, wie sie vor Freude und Mut strahlten. (240 li) Wenn der Vater ihm damals die ersehnte Anerkennung als »Krieger« versagte - anders als in "Mutterliebe" -, so hat May diese quälende väterliche Unterlassung in seiner Erzählung wunscherfüllend durch das Vater-Abbild Uamduschka sapa korrigiert - und das mag die wichtigste Funktion des strengen, aber liebenden Upsaroka-Vaters sein.

2. Die Mutter

Beinahe beiläufig stellt die Upsaroka-Squaw Uinorintscha ota dem vater-orientierten Ich-Helden die Frage, die auf Mays ganzes bisheriges Lebensdefizit zielt, auf die nun aber die Erzählung "Mutterliebe" auch eine neue Antwort geben wird: »Hat Old Shatterhand noch keine Mutter gesehen, welche ihre Kinder liebt?« (232 re) So direkt gefragt, kann das Ich nur mit einem ausweichenden westmännischen »Well!« antworten - eine Verneinung wäre der Wahrheit weit näher gekommen als eine Bejahung -, aber in der Squaw selbst schafft sich May jetzt unbewußt-wunscherfüllend diese liebende Mutter.

   Gleich ihr erstes Auftreten gibt uns Hinweise auf Uinorintscha otas fiktive Identität mit Christiane Wilhelmine May. Die Squaw konnte nicht viel über dreißig Jahre alt sein. Sie saß nach Männerart und stolz im Sattel, war wohlthuend sauber gekleidet und verriet durch keine Miene, daß oder ob sie Angst ... hatte. Um ihre Kinder (ihren Sohn) zu retten, hat sie sich »ohne Schutz ... weit von ihrem Lager entfernt.« (231 li) Als Christiane Wilhelmine 1845/1846 für ein halbes Jahr ihre Familie verließ, um in Dresden, weit von ihrem Lager entfernt, einen Hebammen-Lehrgang zu absolvieren, war sie ähnlich, nämlich 28 Jahre alt.(115) Eine der ersten bewußten Erfahrungen mit der Mutter war für


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den dreijährigen blinden Knaben May ihr Verlust, den er damals wohl als Verrat, vielleicht auch als selbstverschuldete Strafe erlebt hat. Im Nachhinein, in "Mutterliebe", legitimiert er nicht nur ihr Fortgehen, er glorifiziert es als mutige selbstlose Tat zur Rettung der Familie. Auf die Übereinstimmung von Uinorintscha otas männlich-aktivem Auftreten mit der kämpferischen Veranlagung Christiane Wilhelmines wurde bereits hingewiesen. Mays Haltung zu dieser Aktivität ist zwiespältig. Während Shatterhand, sein väterliches Ich, es als Bedrohung seiner Autorität erlebt, kann der Erzähler May, der sich mütterlichen Positionen annähert, wie schon im Zitat deutlich wird, doch auch seine stolze Bewunderung für die Squaw von Anfang an nicht verhehlen.

   Ihre Furchtlosigkeit verdankt Uinorintscha ota ihrem christlichen Gottvertrauen und dem Gebet. (Vgl. 231 re) Zwar ist sie keine getaufte Christin, doch hat der christliche Glaube in ihrer Familie längere Tradition: »... die Mutter meiner Mutter war die Squaw eines Kriegers der Mandans und liebte die Squaw eines weißen Pu teh uakon (Anmerkung: Missionär.), von welcher sie das Gebet erlernte; sie betete auch mit ihrer Tochter, und diese, meine Mutter, erzählte mir alles, was sie von Uakantanka tschihintku (Anmerkung: Gottes Sohn.) wußte, und betete mit mir. « ... »Ich bete mit meinen beiden Knaben, doch darf der Häuptling es nicht hören ...« (231 re) Es ist fraglich, ob sich diese betende mütterliche Ahnenreihe auf diejenige Christiane Wilhelmine Mays übertragen läßt: allzu wenig wissen wir über ihre Mutter Christiane Friederike Günther (Klaus) (1788-1851) oder gar über ihre Großmutter Johanna Sophia Klaus (1768-1816), die sie nicht mehr kennengelernt hat. Und May selbst wird nur wenig mehr als wir gewußt haben.(116) Immerhin weisen zwei Umstände auf eine Hohensteiner/Ernstthaler Familienspiegelung hin: die christliche Erziehung wurde, wie allgemein üblich, auch in Mays Familie von den Müttern übernommen, und es war - darauf gibt der  v e r h e i r a t e t e  »weiße Pu teh uakon« den Hinweis - eine evangelisch-lutherische Erziehung. Die religiöse Führung der Kinder war in der ersten Hälfte des 19. Jh. einer der wenigen mütterlichen Machtbereiche, und die Vermutung, daß der sich in seiner Autorität gefährdet fühlende »Häuptling« Heinrich August May das Beten Christiane Wilhelmines mit ihren Kindern »nicht hören (durfte)«, hat daher einige Wahrscheinlichkeit. Das Verheimlichen vor dem Vater erinnert aber auch an ein anderes Kindheitserlebnis Mays, das ihm, damals vielleicht gar nicht bewußt erlebt, nachträglich zu einem Exempel mütterlicher Liebe geworden sein mag. Es fällt in die Zeit, als ihn der Vater mit wahlloser Lektüre traktierte: Ich mußte stets zu Hause sein, um zu schreiben, zu lesen und zu »lernen«! ... Wenn ich meine Altersgenossen auf dem Markte springen, tollen, spielen und lachen sah, wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, mittun zu dürfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte, war dies höchst gefährlich. Saß ich dann


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betrübt oder gar mit heimlichen Tränen bei meinem Buche, so kam es vor, daß Mutter mich leise zur Tür hinaussteckte und erbarmend sagte: »So geh schnell ein bißchen hinaus; aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst schlägt er dich. Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!« O, diese Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter!(117) Die Emphase Mays angesichts dieses nicht nur geringfügigen, sondern auch seltenen mütterlichen Erbarmens wirkt unangemessen - wenige positiv gefärbte Erinnerungspartikel genügten zur nachträglichen wunscherfüllenden Glorifizierung der Mutter.

   Die reale Lebenssituation des Knaben May war so, daß er in ständiger Furcht vor der Nachtseite des Vaters leben mußte, ohne sich auf den Schutz durch die Mutter verlassen zu können. In der Erzählung ist das ganz anders. Alles Tun der Squaw ist von der Angst und Sorge um die Söhne - funktionale Abbilder des kleinen Karl - bestimmt. Furchtlos folgt sie ihnen, um sie vor dem unerbittlichen Zorn Uamduschka sapas/Heinrich Augusts zu bewahren; furchtlos auch reitet sie dann den Feinden entgegen, die geführt, repräsentiert werden von Folder, der tyrannischen zweiten Seele des Vaters. In mehrfacher Spiegelung schildert May so die ersehnte mütterliche Auflehnung gegen den Vater - selbst die Auflehnung gegen das eigene verinnerlichte positive Vaterbild Old Shatterhand, denn nicht einmal diesem gelingt es, der Mutter ihre Autonomie zu nehmen.

   Ermutigt wird Uinorintscha ota von ihrem Christentum, angetrieben aber durch die vom Sohn May ersehnte Mutterliebe, der »Liebe, welche vom Himmel kommt«, die so stark ist, daß die Mutter »bereit (ist), für (ihre) Kinder in den Tod zu gehen.« (233 li)(118) Auf  e i n e  konkrete Situation, in der sich die Mutterliebe in der Erzählung erweist, auf das Eingreifen Uinorintscha otas am Lagerfeuer der Ogallalah, wurde schon eingegangen. Während dort ein reales Erlebnis am häuslichen Familienherd zugrunde liegen mag, das sich May nach dem Tod der Mutter verklärte, hat die Cache-Szene, in der der größere Liebesbeweis geschildert wird, symbolisches, beinahe mythisches Gewicht und thematisiert zugleich den Tod der Mutter selbst.(119) Auffallend abstrahiert May das Geschehen, nimmt ihm durch das bare Referieren - erzähltechnisch unglücklich - die Unmittelbarkeit des Erlebens, ein Zeichen, daß hier etwas lange Verdrängtes aus untersten Seelenschichten zur Sprache gelangt und vom Bewußtsein nur noch mühsam ins Abseits geschoben werden kann.

   Bereits das Äußere der Situation versinnbildlicht, daß es um den Konflikt zwischen Vater und Mutter geht, sowohl um den realen oder doch als real imaginierten im Elternhaus, in der Kindheit, als auch um den innerseelischen in May selbst, zur Zeit der Niederschrift.(120) Die psychoanalytische Methode, nicht ganz zu Unrecht auch in der May-Forschung heftig umstritten, gibt hier Hinweise, die allein schon deshalb


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beachtenswert sind, weil sich die (potentielle) Sexualsymbolik der Szenerie überraschend genau in unsere übrige Argumentation einpaßt. Weibliche und männliche Sexualbilder werden einander konfrontiert. Die Mutter befindet sich (mit ihren Söhnen) in der Cache, einer künstlichen Erdhöhle. Die Erde gilt seit altersher als weiblich und als Muttersymbol (die altgriechische Göttin Demeter, Mutter Erde), ausgehend von Weltentstehungsmythen, nach denen sie einst in einem Zeugungsakt vom Himmel befruchtet wurde. Eine Erdhöhle oder Erdspalte symbolisiert konkreter noch den mütterlichen Schoß, den Uterus oder aber auch die Vagina. Diese Vorstellungen, kollektives Gedankengut fast aller Kulturen, waren May in vermittelter Form vertraut - auch wenn er sie wohl nur unbewußt für seine Erzählung verwandt hat.(121) Die Beschreibung der Cache weist ihr insgeheim Uterus- oder Vagina-Attribute zu: sie ist acht Fuß tief, sechs Fuß lang und breit, also tiefer als breit, und ist mit Rundhölzern ausgekleidet, um sie vor der Feuchtigkeit (!) und dem Einsturz zu bewahren. Geschützt vor unerwünschter Entdeckung(122) ist sie durch einen mit Moos bekleidete(n) Deckel (239 li), der ebenso wie die Verwendung als Fell(!)grube an die Genitalbehaarung denken läßt. In diesen Mutterschoß gibt die Vaterfigur Folder drei große, vollständig ausgewachsene Klapperschlangen (239 li) hinein, die der Mutter (mit ihren Kindern) den Tod bringen sollen. Unschwer können diese Schlangen als Phallus-Symbole, als Gegenstück zum Uterus/Vagina-Symbol gedeutet werden.(123) Wird hier, wie von uns für möglich gehalten, im Zusammenbringen der beiden Sexualsymbole der geschlechtliche Verkehr (der Eltern Mays) in ein Bild gebracht, läßt sich folgern, daß Mays Unterbewußtsein in diesem eine aggressive Bedrohung der Mutter durch den Vater sah, eine geradezu tödliche Gefährdung.(124)

   Die ganze Szene läßt sich dahin deuten, daß May in ihr dem Vater die Verantwortung für den Tod der Mutter zuschreibt - und zudem, Ursache und Wirkung verwechselnd, auf einer abstrakteren Ebene seiner eigenen Vateridentifikation die Schuld gibt am Verlust der Mutterbindung. Beide Verluste, den realen wie den ideellen, hebt er in der Szene aber auch wunscherfüllend auf - wie noch zu zeigen ist. Der in Mays Unterbewußtem sexuell geprägte Konflikt zwischen Vater und Mutter endete in seiner Vorstellung mit dem Tod der Mutter. (125) Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die Erdhöhle, hier die Cache, nicht nur Symbol für den Mutterschoß ist, sondern in ambivalenter Weise auch das Grab, den Tod meint.

   Betrachten wir die Szene genauer. Die Mutter, die ihre Söhne (ihren Sohn Karl) von den »Schlangen« des Vaters, von seiner Aggressivität bedroht sieht, achtet ihre eigene Bedrohung gering und gibt, um ihre Kinder (ihren Sohn) von dem schrecklichen Tode zu erretten, ein Beispiel selbstlosester, aufopfernster Mutterliebe: sie erwürgt die Schlangen


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eine nach der andern ... Daß sie dabei selbst und zwar viele Male gebissen wurde, kam bei ihr nicht in Betracht. (239 re) Hier begegnet uns wieder die nachträgliche und in Wahrheit ungerechtfertigte Heroisierung der Mutter in ihrem Verhalten gegenüber der väterlichen Bedrohung. Ihre Auflehnung gegen den Vater brachte der Mutter nach Mays Vorstellung letztlich den Tod. Uinorintscha ota liegt (scheinbar) im Sterben. Sich mit ihren Söhnen identifizierend, rekapituliert May Bilder des mütterlichen Sterbens und seiner eigenen damaligen Not: »Mutter stirbt«, sagte er (der ältere Sohn) weinend. »Sie zittert am ganzen Leib und schlägt um sich; oft liegt sie schon wie tot; dann erwacht sie wieder, um zu beten. Wo sie gebissen wurde, ist alles geschwollen und dunkel gefärbt. Sie wird sterben, aber ich, ich werde sie rächen!« ... Unten lag die Squaw, jetzt wieder in Krämpfen und schwer mit dem Atem ringend. ... Die Krämpfe hatten plötzlich nachgelassen; sie lag nun bewußtlos. (239 li) Die geschilderten Symptome sind zwar wirklich bei Schlangenvergiftungen zu boobachten(126), lassen sich aber auch ohne weiteres der Todesursache »Geschwulst« zuordnen, die sich im Ernstthaler Totenbuch bei Christiane Wilhelmine May findet. Interessant ist der Vorsatz des älteren Sohnes, sich an Folder zu rächen. An sich als May-Topos nicht ungewöhnlich und daher belanglos scheinend, gewinnt dieser Rachevorsatz an Gewicht, wenn wir daran denken, daß die negativ besetzten Vaterfiguren Mays, die Bösewichter seiner Texte, nach 1885, dem Tod der Mutter, besonders gnadenlos gerichtet werden und sich Rachephantasien überhaupt mehren. Jede Freveltat wird letzten Endes gerächt, wenn nicht vom Ich oder einem seiner Stellvertreter, dann von Gott.(127)  E i n e  Übereinstimmung zwischen der schreckliche(n) Nacht (242 re) Uinorintscha otas und dem Sterben Christiane Wilhelmines ist besonders hervorzuheben, da sie konkreter und beweiskräftiger als die genannten ist. In einer Aufzeichnung Klara Mays aus dem Jahre 1932, die »ersichtlich eine Mitteilung Mays wieder(gibt)«(128), heißt es: »Als seine Mutter in seinen Armen starb, hielt er sie vom Abend bis zum Morgen als Leiche in seinen Armen. Handelt so ein uns normal erscheinender Mensch?« Vom jüngeren Sohn erzählt May: Der eine stieg hinab zu ihr, damit sie nicht allein sei (240 li). Und: Unten lag die Squaw ... Bei ihr saß ihr jüngerer Sohn; er hatte ihren Kopf in seinem Schoße und weinte. (239 li) Die Parallelität ist offensichtlich und die lapidare Formulierung des Geschehens in der Erzählung nur ein weiteres Indiz für Mays Bemühen, den Schrecken dieser Nacht zu verdrängen, zu vergessen.

   May mußte den Tod der Mutter als Schock erleben, weil er sich zu ihren Lebzeiten von ihr abgewandt hatte und weil er sich durch die Identifikation mit dem Vater mitschuldig an diesem Tod fühlte. Wie er in der Sterbenacht die Mutter im Leben festzuhalten, ins Leben zurückzurufen suchte - um sich so von eigener Schuld zu befreien, sich zu


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erlösen -, läßt er in der Erzählung die Mutter »auferstehen«. Die Cache, Mutterschoß und Grab, Symbol für Geburt und Tod zugleich wird als Bild der Auferstehung ein drittes Mal sinnfällig. Nur scheinbar liegt Uinorintscha ota im Sterben: »Die Squaw hat wohl zwanzig Bisse erhalten, wird aber doch nicht sterben, weil die Giftdrüsen leer gewesen sind. Die in dem Ledersack eng zusammengedrückten und darüber zornigen Schlangen haben sich unter einander selbst gebissen, wie wir jetzt an ihren Häuten gesehen haben, und dadurch wurde der Giftvorrat erschöpft.« (239 re) Die Schlangenhäute weisen nämlich zahlreiche kleine, wie von einer Stopfnadel herrührende Löcher (239 li) auf. Der Vater, so will es der tiefe Wunsch Mays, hat die Mutter nicht töten können. Seine phallischen Aggressionen haben sich gegen ihn selbst gerichtet, seine bedrohliche Männlichkeit, der »Giftvorrat«, wurde erschöpft - psychoanalytisch deuten die leeren Giftdrüsen auf Impotenz hin. Darauf, daß bei dieser nachträglich ersehnten Ent-Mannung des Vaters die Mutter Anteil hat, deutet der ungewöhnliche Vergleich mit der Stopfnadel, diesem typisch weiblichen Gegenstand, hin, und natürlich die Tatsache, daß sie es ist, die dann die Schlangen erwürgt. Die Mutter hat den Vater besiegt und sich gerettet, wenigstens in der Seele Mays, deren Erlösung von der Auferstehung der Mutter abhängig ist. Selbst die letzten Spuren der väterlichen Bedrohung werden verschwinden: »Sie liegt jetzt ruhig und schläft; ich weiß, daß sie bald wieder vollständig gesund sein wird, denn wir kennen Pflanzensäfte, welche das Schlangengift mit allen seinen Folgen (!) aus dem Körper treiben.« (242 li) Nachdem Folder, das Abbild des bösen Vaters, am Marterpfahl seine Schandthaten gebüßt hat, nachdem das väterlich Böse auch in May gestorben ist - und zwar durch die Mutter, die ihre Rechte wahrnimmt(129) -, kann die Squaw nach einigen Tagen das Zelt verlassen und ist nach einer Woche so gesund wie vor den Schlangenbissen. (242 re)

   Aber der Konflikt zwischen Vater und Mutter ist nicht dauernd gelöst: immer wieder muß er in den May-Erzählungen dieser Zeit aufs neue ausgetragen werden, immer wieder muß das mütterliche Prinzip das väterliche überwinden, ohne daß es zu einer endgültigen Erlösung kommt. Und einer geht in den Texten vor der Jahrhundertwende fast unbeschadet durch alle Gefährdungen hindurch: das väterliche Ideal Old Shatterhand. Sein phallisches »Zaubergewehr« (241 re), der Henrystutzen, den er einst von einem väterlichen »Heinrich« bekam, ist unverändert gefährlich und gefürchtet. (Vgl. 241)


Zusammenfassend:

Wie zu sehen war, birgt die abenteuerliche Handlung der Erzählung "Mutterliebe" auf einer unterschichtigen Interpretationsebene autobiographische Spiegelungen, die den realen äußeren Konflikt zwischen


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Mays Vater und Mutter wie den inneren Konflikt zwischen väterlichem und mütterlichem Ideal in der Seele Mays thematisieren. Wäre es möglich, diese beiden Konfliktarten, die sich häufig im gleichen Bild manifestieren, eindeutig voneinander zu unterscheiden, könnte man die autobiographische Ebene noch nach dem Abstraktionsgrad der Bedeutungen unterteilen. Die Schwierigkeit, vielleicht Unmöglichkeit einer solchen Differenzierung erklärt sich durch den Ursprung dieser Elemente. Im Unterschied nämlich zum Spätwerk, wo biographische Spiegelungen häufig bewußt konstruiert sind und über lange Strecken hin konsequent die äußere Fabel dirigieren, sind sie hier, wie auch in den meisten früheren Texten Mays, ganz überwiegend assoziativ aus dem Unbewußten geschaffen. Mehrfachbedeutungen sind ebenso die Folge wie das Fehlen eines stringent logischen Zusammenhalts. Eine gewisse autobiographische Geschlossenheit ergibt sich dennoch, da Mays unbewußte Gedanken alle um den gleichen Themenbereich, die Vater-Mutter-Problematik kreisen - ein deutliches Zeichen, wie sehr er sich in den Jahren vor seiner endgültigen Wandlung innerlich damit auseinandersetzte.(130) Diese Thematik, die Abwendung vom Vater und die Hinwendung zur Mutter, ist es, die aufs Spätwerk vorausweist, nicht aber das Vorhandensein autobiographischer Spiegelungen überhaupt. Dabei ist die Hinwendung zum Mütterlichen vorerst nur halbherzig vollzogen, noch ist May nur auf dem Weg und bedarf des väterlichen Rückhalts in der omnipotenten Identifikationsfigur Old Shatterhand. In dem Maße, wie das mütterliche Liebes-Ideal an Einfluß gewonnen hat, ist auch das väterliche Gegen-Ideal erstarkt. Negative Vaterzüge, die in May Schuldgefühle aufrechterhalten, sind auf den Schurken Folder übertragen, der gefahrlos für Mays irreales Selbstbewußtsein an seiner Statt von der Mutter überwunden werden kann, um den Autor von Schuld zu erlösen.

   Der autobiographische Hintergrund der Erzählung rechtfertigt es noch nicht, bei "Mutterliebe" von einer strukturellen Mehrdimensionalität zu sprechen, wie sie typisch für das Alterswerk Mays ist. Autobiographisches läßt sich bekanntlich in beinahe jedem literarischen Text nachweisen, wenn auch selten in einem solchen Ausmaß wie beim Neurotiker und Traumschreiber Karl May. Wie im folgenden zu zeigen ist, gibt es in Mays Erzählung aber auch vage Ansätze, die - mit einiger Vorsicht sei es gesagt - eine weitere Ebene andeuten, wenn auch nicht konstituieren.

III.  D e r  m a r i a n i s c h e  C h a r a k t e r

Den Briefen von Eberle & Rickenbach läßt sich entnehmen, daß es dem katholischen Verlag ganz besonders darauf ankam, vom Autor eine Erzählung mit marianischem Charakter zu erhalten - schließlich


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sollte der Text in einem Marienkalender erscheinen und die Marienverehrung der Leser fördern. May schien ganz der richtige Mann für einen solchen Stoff zu sein: berühmt geworden durch seine Reiseerzählungen im katholischen "Deutschen Hausschatz" des Regensburger Verlags Pustet, bekannt auch durch seine Marienkalender-Geschichten der letzten Jahre, galt er allgemein und unbezweifelt als überzeugter Katholik. Auch dem Marienkult hatte er schon mehrfach in seinen Erzählungen gehuldigt, so etwa in der Kalendergeschichte "Maria oder Fatima" (1894)(131) oder durch sein seit "Winnetou III" (1S93) weitbekanntes "Ave Maria".

   Über die Reaktion des Verlags auf den Erhalt von "Mutterliebe" ist zwar kaum etwas bekannt, es läßt sich aber annehmen, daß die spezifischen Erwartungen enttäuscht wurden und man wenig zufrieden war mit dem Marianischen der Erzählung. Nirgends wird die Gottesmutter auch nur namentlich erwähnt, und kein Ave Maria, sondern ein Vaterunser geht über die Lippen der Upsaroka-Squaw. (Vgl. 239 li)(132) Daß die Erzählung gleichwohl einen, wenn auch verschlüsselten marianischen Akzent besitzt, dürfte den Verlegern entgangen sein, da es zu dieser Erkenntnis einiger analytischer Fertigkeit bedurft hätte.

   Tatsächlich läßt schon der für May ungewöhnliche Titel "Mutterliebe" im Zusammenhang mit dem Marienkalender  a u c h  an die Liebe der Gottesmutter denken. Der Gedanke hat einiges für sich, daß es überhaupt der Wunsch des Schweizer Verlags nach einem marianischen Charakter und der geplante Publikationsort eines Marienkalenders waren, die May den äußeren Anstoß zum Mutter-Thema gaben, das sich dann erst während des Schreibens autobiographisch verselbständigte, ohne dabei den religiösen Ursprung ganz zu verleugnen. Autobiographische Elemente überdecken ursprünglich religiös Intendiertes, zwei unterschiedliche Dimensionen verbinden sich zum Teil in denselben Figuren, Handlungen und Bildern. Dabei kommt die bewußt gewollte religiöse Dimension längst nicht so zur Geltung wie die unbewußte, ihn seelisch viel mehr bedrängende autobiographische Problematik. Beides hängt aber eng miteinander zusammen: Mays Marienverehrung ist der ins Religiöse transponierte Ausdruck seiner inneren Hinwendung zum mütterlichen Prinzip. Verfolgen wir das marianische Element von "Mutterliebe" im einzelnen. In dem Maße, wie sich das religiöse Thema symbolisch-allegorisch dort verwirklicht, gelangt die Erzählung zur Mehrdimensionalität des Spätwerks, die Abstrakte oder Philosophisch-religiöse Ebene im Keim vorwegnehmend.

   May konfrontiert in seiner Erzählung zwei Daseinsformen des Christlichen miteinander: das Christentum der Tat, wie es von der ungetauften Upsaroka-Squaw Uinorintscha ota gelebt wird, und das pure Namenschristentum, für das der getaufte Bösewicht Folder steht. Schon bei der ersten Begegnung mit den Helden bekennt die Squaw


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ihren von Mutter und Großmutter ererbten Glauben »an den heiligen Erretter, welcher der Sohn des großen Geistes ist« (= Christus) und ihr Vertrauen ins Gebet, verurteilt aber zugleich die »Bleichgesichter, welche die Güte auf der Zunge, aber den Haß und den Betrug im Herzen tragen«, die »unter dem Vorgeben«, den »heidnischen« Indianern »das Gebet zu bringen, nur das Verderben in (ihre) Wigwams tragen.« (231 re) Als säkularer Repräsentant dieser »Bleichgesichter« wird später Folder auftreten, der berüchtigte Indianeragent (234 re).

   Die Tatsache, daß May Uinorintscha ota als gute Christin im Geiste schildert, ist nun noch kein Beleg dafür, daß sie auch marianisch zu verstehen wäre. Aber sie ist ja zuerst auch etwas anderes: eine liebende Mutter, die um ihre heimlich fortgerittenen Söhne fürchtet und ihr Leben für sie einsetzt, und in dieser Rolle, die May als christlich verstand, hat er sie derart idealisiert und heroisiert, daß sie dem Leser als Typus erscheint und ihn damit an die christliche archetypische Mutter, an Maria denken läßt.(133) Dazu paßt auch die Kraft, die Uinorintscha ota dem Gebet zuschreibt. Auf der Spur ihrer Söhne hat sie »fortwährend zum großen Manitou und zu seinem Sohne gebetet« (232 re), in der Todesnot betet sie später das Vaterunser und erhält gerade in dem Moment Rettung, als sie die Bitte um das Geschehen des göttlichen Willens spricht. (Vgl. 239 li) Das Gebet war für May die Verbindung des Menschen mit Gott, Maria aber ist nach christlich-katholischer Vorstellung als Mutter Christi die Vermittlerin zwischen Menschlichem und Göttlichem, die »Mittlerin aller Gnaden«. In seiner Kalendergeschichte "Maria oder Fatima" schreibt May dazu: »Unsere heilige Marryam ist die Mutter Gottes; sie thront im Himmel bei dem Allmächtigen und Allgütigen und fleht für uns, wenn wir sie darum bitten.«(134) Die vulgärkatholische häretische Anbetung Mariens war May fremd, nicht aber die Bitte an die Gottesmutter um Fürsprache. Das Gebet Uinorintscha otas ist besonders wirksam, weil sie nahe bei Gott ist. Daher kann sie auch Old Shatterhand versprechen: »Wenn ich wieder bete, werde ich auch für ihn beten.« (233 li)

   Mariologisch gilt die Fürsprecherin Maria auch als Symbol der Kirche, der Mutter der Gläubigen. Die Liebe der Squaw zu ihren Kindern läßt sich von daher als die umfassendere schützende Liebe Marias zur Christenheit, vielleicht zur ganzen Menschheit, verstehen. Auch Namenschristen wie Folder schließt sie in ihren Schutz ein, solange sie noch auf deren Wandlung hoffen kann: Dem Mitleid und der Fürbitte Uinorintscha otas verdankt Folder sein Leben. (Vgl. 234 re) Er verwirkt erst die Gnade und sein Leben, als er sich die Schlangen zum Instrument seiner Rache wählt.

   Die Schlange ist ein sehr vieldeutiges Tier-Symbol. Nach der alttestamentlichen Überlieferung der Genesis kam durch sie die Sünde in die Welt, als sie im Paradies Eva zum Ungehorsam gegen Gott verführ-


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te [verführte].(135) Die Schlange wird daher (auch) als Symbol des gottfeindlichen Satan, des Bösen und der Sünde verstanden.(136) Folder, der sich ihrer bedient, um Uinorintscha ota und ihre Familie zu töten, hat sich damit ganz und gar dem Teuflischen und Bösen verschrieben. Auf die Verzeihung der Squaw kann er so nicht mehr rechnen, denn die Feindschaft zwischen der Frau und der Schlange ist unüberbrückbar, wie der ewige Fluch besagt, den Gott in der Genesis zur Schlange gesprochen hat: »Feindschaft will ich stiften zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst nach seiner Ferse schnappen.«(137) Dieser Bibelvers wird in der katholischen Kirche oft als »Erstevangelium« bezeichnet, weil er neben dem Fluch auch die Heilsankündigung enthält. Bei dieser Sicht ist dann mit der »Frau« nicht nur Eva, die Mutter der Sünde, sondern auch schon Maria, die Mutter des Heils, gemeint(138), die Christus gebären wird, der der Schlange den Kopf zertreten wird. Durch ihr Ja zur Erwählung und durch ihren Schmerz unter dem Kreuz hat sie Anteil an der Erlösungstat Christi, ist sie zur »Miterlöserin« geworden. In der christlichen Kunst, besonders des Barock, drückt sich die Beteiligung Marias an der Überwindung des Bösen augenfällig in den zahlreichen Marienbildern oder -plastiken aus, bei denen sich zu Füßen der Madonna die Schlange windet.(139) Die Analogie zum Geschehen in der Cache ist unübersehbar. Uinorintscha ota/Maria überwindet die Schlangen/das Böse, und opfert sich selbst - wie Maria ihr ganzes Dasein und ihren Sohn geopfert hat -, um ihre Kinder/die Christenheit, Menschheit zu erlösen. Wenn wir am Schluß der Erzählung erfahren, daß die Squaw später die Schlangenhäute als Andenken und zum Zeichen ihres Sieges als Schmuck in ihre lang herabfallenden Zöpfe eingeflochten (hat) (242 re), erinnert dies sichtlich an die genannten Mariendarstellungen, in denen die Madonna als Überwinderin der Schlange bildhaft verherrlicht wird.

   Dennoch, trotz alles Genannten: sonderlich deutlich wird der marianische Unterton der Erzählung nicht, zu sehr geht das Bild der Gottesmutter in das der eigenen Mutter ein, deren Liebe sich May ersehnte. Der marianische Charakter ist nur vage realisiert, ähnlich vage, wie Mays religiöse Vorstellung von Maria überhaupt war. Noch im Spätwerk wird ihm Maria zuerst das Symbol mütterlicher Liebe sein; undogmatisch schreibt er in seinem "Glaubensbekenntnis" von 1906: Ich glaube an die himmlische Liebe, die zu uns niederkam, für die Sterblichen den Gottesgedanken zu gebären. Indem sie dieses tat, wurde sie für uns zur Gottesmutter. Sie lebt und wirkt, gleichviel, ob wir sie verehren oder nicht. Sie ist die Reine, die Unbefleckte, die Jungfrau, die Madonna!(140) Nicht zufällig läßt May Old Shatterhand ganz ähnlich zur Squaw von der auch in ihrem Herzen wohnenden »Liebe, welche vom Himmel kommt« (233 li), sprechen. »Himmlisch« ist diese Liebe nicht nur, weil


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sie von Gott kommt; sie ist es auch, weil sie für May seit dem Tod der Mutter nur noch aus dem Jenseits kommen konnte. Maria wurde dem Sohn zur religiösen Personifikation der jenseitigen Mutter. Da kann es in diesem Zusammenhang nicht überraschen, daß May seinen mütterlichen »Schutzengel«, »die leitende Instanz seines Innern«(141), »Marie« nannte(142), oder daß er später dem jungen Mutter-Ebenbild im Roman "Et in terra pax" (1901) den Namen »Mary« gab.(143) Und wir wissen, wer mit den Versen in Mays zweitem "Ave Maria" von 1898 wirklich angesprochen wird: Keine Liebe giebt wie Deine / Meinem Herzen selge Ruh.(144)


C. WERTUNG

Der Versuch, hier abschließend eine halbwegs objektive Wertung der Erzählung "Mutterliebe" zu geben, ist problematisch und kann nur mit gebührender Vorsicht unternommen werden. Dabei sind unterschiedliche Sichtweisen zu berücksichtigen.

   Naiv und oberflächlich betrachtet, unterscheidet sich die Erzählung in vielem nicht allzusehr von den meisten vorangegangenen Amerika-Texten Mays, übernimmt sie zahlreiche altvertraute Motive, die nur wenig variiert sind und klischeehaft bleiben. Auch die äußere Form ist auf einen ersten Blick hin wenig artifiziell, ebensowenig wie die Sprache, so daß die Erzählung textimmanent besehen als durchschnittlich spannende Abenteuergeschichte für anspruchslosere Leser zu bewerten ist. Positiv zu sehen ist dabei, daß sie ohne den vulgären Tendenzkatholizismus der meisten früheren Marienkalender-Geschichten auskommt, in dieser Hinsicht freier gestaltet ist und sich damit über sie hinaus auf ähnliches Niveau wie die berühmten Reiseerzählungen erhebt. Aber nicht mehr: die Forderung, auch "Mutterliebe" in den Kanon der deutschen Hochliteratur aufzunehmen - wie sie für Mays Spätwerk nach der Jahrhundertwende ganz selbstverständlich und mit vollem Recht gestellt wird -, wäre unsinnig und zeugte von blindem Wunschdenken.

   Dem May-Forscher allerdings, dem sich auch die Tiefendimensionen des Textes erschließen, erhöht sich subjektiv dessen Rang, da er in ihm einen noch unbewußt gestalteten frühen Vorläufer des Spätwerks erkennen kann. Von diesem aus rückblickend, ist "Mutterliebe" von hohem Interesse, da in der Erzählung thematisch wie strukturell vieles Spätere bereits keimhaft angelegt ist.

   Heimliches Thema ist die Überwindung des väterlichen durch das mütterliche Prinzip. Es ist dem zentralen Geschehen um Uinorintscha ota unterlegt und konstituiert eine eigene semantische Ebene. Anders als im Alterswerk, wo der endliche Sieg des Mutter-Ideals mehr oder


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weniger schon vorausgesetzt wird, ist er hier nur unvollkommen gelungen; die Problematik ist daher noch so drängend aktuell, daß sie kaum vom Autobiographischen ins Allgemein-menschliche abstrahiert ist, was ohnehin nur möglich gewesen wäre, wenn May sie bewußt, wie im Spätwerk didaktisch intendiert, literarisiert hätte. "Mutterliebe" gewinnt so zwar nicht an literarischem Wert, wohl aber an psychologischer Bedeutung. Die autobiographische Dimension der Erzählung zeigt den Weg, auf dem May zu seinen artifiziellen Altersleistungen gelangte und macht deutlich, daß es schon vor der einschneidenden Orientreise zu einer neuen Entwicklung kam, die in die spätere Richtung lief.

   Diese Entwicklung wird auch in der Struktur sichtbar, denn neben der planen Handlungsebene und der Autobiographischen Ebene deutet sich noch eine dritte, religiöse Dimension an. Sie ist zwar nicht zu einer Philosophisch-religiösen Ebene wie im Spätwerk ausgeführt, schenkt der Erzählung aber doch partienweise (die Cache-Szene!) eine erstaunliche Mehrdimensionalität. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß die religiöse Symbolik nicht nur lediglich rudimentär in Erscheinung tritt, sondern auch wenig eigenschöpferisch ist, sich orientiert an traditionellen Bildern und Vorstellungen der Bibel oder der Mariendichtung. Zwar ist auch Mays philosophisch-religiöses Denken im Spätwerk eher eklektischer Art, doch ist es ihm dort gelungen, überkommene Symbole und Allegorien dichterisch so umzuschaffen und zusammenzufügen, daß ein einzigartiger Mythos entstand. "Mutterliebe" ist davon noch weit entfernt, zeigt ihn aber auch hier auf dem Weg.

   Was May an der Schwelle zum Spätwerk in euphorischer Aufbruchsstimmung von all seinen bisherigen Bände(n) behauptete - von der Erzählung "Mutterliebe", wie von einigen anderen, gilt es: sie ist Einleitung, Vorbereitung seiner eigentliche(n) Aufgabe(145), seines eigentlichen Werks. Und so hat die scheinbar unscheinbare Kalendergeschichte, bei aller berechtigten Kritik, im Gesamtwerk des Phantasten Karl May einen eigenen, besonderen Stellenwert.



1 Christus oder Muhammed. Marienkalender-Geschichten von Karl May. Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg, Gelsenkirchen 1979

2 Claus Roxin: »Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand«. Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: Jb-KMG 1974. Hamburg 1973, S. 60

3 Vgl. Christoph F. Lorenz: Karl May als christlicher Erzähler. Anmerkungen zum Reprint der Marienkalendergeschichten. In: M-KMG 43 (1980), S. 26-28; ders.: Vom Haß zur Liebe. Karl Mays "Marienkalender-Geschichten" als Dokumente der inneren Entwicklung ihres Verfassers. In: Jb-KMG 1980. Hamburg 1980, S. 97-124

4 Vgl. zu den beiden Alterserzählungen Hartmut Vollmer: Merhameh. Studie zu einer Altersnovelle Karl Mays. Sonderheft KMG 44 (1983) und ders.: Karl Mays "Bei den Aussätzigen". Versuch einer Interpretation. In: Jb-KMG 1984. Husum 1984, S.28-43. Eine Analyse der ersten Marienkalender-Geschichte Mays hat Klaus Eggers vorgelegt: Anmerkungen zu Karl Mays Erzählung "Christus oder Muhammed". In: M-KMG 52 (1982) S. 3-16


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5 Aus einem Brief Claus Roxins an Herbert Meier, den dieser in seinem Vorwort zu den "Marienkalender-Geschichten" zitiert. Siehe: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 7

6 Christoph F. Lorenz: Karl May als christlicher Erzähler. a.a.O. S. 27

7 Christoph F. Lorenz: Vom Haß zur Liebe. a.a.O. S. 120 und 117

8 Eine Frage, der auch Hartmut Vollmer in seiner Analyse des Romans "Am Jenseits" (1899) - mit positivem Ergebnis - nachgeht. Siehe Hartmut Vollmer: Karl Mays »Am Jenseits«. Exemplarische Untersuchung zum »Bruch« im Werk. Ubstadt 1983

9 Vorwort von Herbert Meier zu: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 16

10 Direkter Vorläufer war die 1865 gegründete Verlagsbuchhandlung »Wyss, Eberle & Co.«. Vgl. zur Verlagsgeschichte das Vorwort von Herbert Meier zu: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 23

11 Vgl. zu diesem Kalender ebd.

12 Ebd. S. 22. Als Faksimile findet sich "Ein amerikanisches Doppelduell" in: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 222-229

13 Außer den beiden Erzählungen im "Einsiedler Marienkalender" haben nur die Kalendergeschichten "Christ ist erstanden" (1894) und "Old Cursing-Dry" (1897) den Handlungsort Amerika.

14 Vorwort von Herbert Meier zu: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 22

15 Die Entstehungszeit liefert möglicherweise  e i n  Motiv für das Mutter-Thema: Christiane Wilhelmine May war am 15.  A p r i l  1885 gestorben.

16 Der Verlag nahm die Teilung mehr oder weniger willkürlich vor und wählte auch selbst die Überschriften. May erfuhr davon erst später durch sein Belegexemplar.

17 Siehe: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 230

18 Siehe: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 232, 234, 237, 238, 240 und 241 sowie Gerhard Klußmeier/Hainer Plaul (Hrsg. ): Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. (Der große Karl May Bildband). Hildesheim-New York 1978, S. 143, B.323/324

19 Vgl. vor allem Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 241 mit Klußmeier/Plaul. a.a.O. S. 134, B. 284 (Frontispiz des 1896 erschienenen Bandes "Old Surehand III"). Siehe auch ebd. S. 143, B. 323/324. Die Idee zur zeichnerischen Identifikation Shatterhands mit dem Autor stammt vielleicht von May selbst; in jedem Fall wird es ihm nicht unangenehm gewesen sein, sich in der Gestalt seines von aller Welt geliebten Helden porträtiert zu finden. Ob er aber bemerkt hat, daß Hrdlicka sich so genau an die eben zitierten Kostümphotos hielt, daß er Old Shatterhand auf einem Bild - Christus oder Muhammed. a.a.O. S.240 - sogar die Silberbüchse des neben ihm sitzenden Winnetou in die Hand gab?

20 Vorwort von Herbert Meier zu: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 22

21 Am 17.9.1901 war May in die Schweiz gereist, wo seine erste Station Einsiedeln war. Eigentliches Ziel war der Rigi Kulm, wohin er am 20.9. weiterreiste, um im Rigi Kulm-Hotel eine mehrwöchige Kur zu verleben. Er reiste dann überraschend schon am 5.10. wieder ab. Die geschäftlichen Verhandlungen mit Eberle & Rickenbach blieben vermutlich deshalb ohne Ergebnis, weil May nur mit Eberle sprechen konnte - Heinrich Rickenbach befand sich auf einer längeren Deutschlandreise.

22 Vorwort von Herbert Meier zu: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 22

23 Die Entstehung von "Mutterliebe" - April 1897 - fällt in den Zeitraum, in dem May Nächte hindurch an der "Hausschatz"-Erzählung "Im Reiche des silbernen Löwen" schrieb, über einen Text "Scheitana" grübelte, täglich Leserbesuche von früh bis zum Abend empfing, und sich noch dazu einen neuen Garten anlegte. Vgl. Mays Brief an Emil Seyler, Deidesheim, vom 10.3.1897. Abgedruckt bei Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Bamberg 1973, S. 233-235

24 In gewisser Weise löste May mit "Mutterliebe" das Versprechen ein, das er dem lieben Leser auf der letzten Seite von "Old Surehand III" (Freiburg 1896, S. 566) gegeben hatte: Auch von Dick Hammerdull und Pitt Holbers wirst du noch hören. Diese beiden lieben Kerle sind nämlich --- doch ob sie sind, oder ob sie nicht sind, das ist ja ganz egal, wenn sie nur noch sind! ---.

25 Vgl. dagegen noch ihre umfängliche Beschreibung in "Old Cursing-Dry". In: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 91f.


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26 Vielleicht unbewußt lassen die »Schoschonen« (= Schlangenindianer) schon im ersten Satz der Erzählung das zentrale, beinahe leitmotivische Schlangen-Motiv anklingen.

27 Das Terrain ist teilweise aus den "Helden des Westens" (1890) bekannt. Südlich des Gebietes wird der Reiseweg in "Weihnacht" verlaufen.

28 Die berühmten Reiseerzählungen Mays können strukturell fast immer als solche »Aventiure-Ketten« verstanden werden, als Aneinanderreihungen abenteuerlicher Episoden. May hätte deshalb "Mutterliebe" problemlos in eine seiner Reiseerzählungen, etwa in den dritten Band der "Old Surehand"-Trilogie, einbauen können.

29 Offensichtlicher und direkter als die »Schoschonen« weisen die »Klapperschlangenberge« auf das Schlangen-Motiv voraus.

30 Die Wortwahl verrät, daß Shatterhand/May sich von Anfang an auf die Seite der Upsarokas stellt. Kein Wunder, waren die Ogallalah für May doch unvergeßlich die Mörder Winnetous.

31 Zwischen Upsarokas und Sioux Ogallalah waren schon die »Helden des Westens« geraten.

32 »Was ist das?« sagte Dick Hammerdull, »das sieht ja aus wie ein verlassener Lagerplatz. Meinst Du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?« Coon ist die Abkürzung von Racoon, Waschbär; so pflegte Hammerdull seinen Freund scherzhaft zu nennen. Dieser antwortete in seiner trockenen Weise: »Wenn du denkst, daß jemand hier gelagert hat, so habe ich nichts dagegen, lieber Dick.« (230)

33 Vgl. 230 re: Dick und Pitt halfen uns dann dabei.

34 Old Shatterhand: »... hier war es nicht schwer, den richtigen Schluß zu ziehen, und von einer guten Combination kann im "wilden Westen" das Leben abhängig sein.« (23() re)

35 Winnetou: »Man soll nicht allein Augen, sondern auch Gedanken haben!« (231 li)

36 Hammerdull ist sogar selbst bereit, sich als »dumme(n) Kerl« einzuschätzen. (Vgl. 230 re)

37 Was aber etwas dadurch gemildert wird, daß May bekanntlich zugleich eigene Schwächen auf Nebenfiguren wie Hammerdull und Holbers projizierte.

38 Sein Name, der »Schwarze Schlange« bedeutet, weist am direktesten auf das Schlangen-Motiv voraus.

39 Das Motiv des autonom handelnden Jugendlichen ist typisch vor allem für die Jugenderzählungen Mays.

40 Im Gegensatz zum meist schweigenden Winnetou, der aber gerade dadurch charismatischen Eindruck macht.

41 Daß auch sie mitreiten werden, um die Upsaroka-Knaben zu retten, scheint belanglos. Vgl. etwa Uinorintscha otas sie ausschließende Frage: »So ist es wirklich wahr, daß Winnetou und Old Shatterhand mit mir reiten wollen?« (232 re) Die Nichtbeachtung Hammerdulls und Holbers' bestätigt sich in der Erzählung immer wieder.

42 Bezeichnenderweise ist es wieder Winnetou, der die Entdeckung zuerst macht. Shatterhand erblickt die Ogallalah als zweiter, erst dann nehmen auch die Squaw, Holbers und Hammerdull die Lage in Augenschein. (Vgl. 233 li)

43 Daß in ihr der achillesartige Winnetou an der Spitze steht, zeigt eine Stelle ganz deutlich: Winnetou lag lang ausgestreckt im Grase und sagte kein einziges Wort dazu. Sein männlich schönes, bronzenes Gesicht war völlig unbewegt. Er der Vornehme, hielt es für vollständig überflüssig, ein Wort über eine Angelegenheit zu verlieren, in welcher nur die That zu sprechen hatte. Von ihm war im geeigneten Augenblicke ein einziger, kurzer Wink von größerer Bedeutung als tausend Worte, die ein anderer sprach. (233 re) Die tausend Worte der anderen spielen auf Hammerdull und Holbers an.

44 Scherzhaft könnte man von einem »Wundertüten-Effekt« mit negativem Vorzeichen sprechen.

45 Fast scheint es müßig, darauf hinzuweisen, daß die - im Text noch mehrfach angesprochene - Telepathie der Blutsbrüder übliches May-Klischee ist.

46 Der Ausdruck läßt nicht zufällig »Schlangenbrut« assoziieren - da der Vater der Upsaroka-Knaben »Schwarze Schlange« heißt, ist er sinnfällig.


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47 Hier wie später ist der ältere der Brüder weitaus aktiver in Rede und Tat. Sein jüngerer Bruder erscheint für die Handlung fast entbehrlich.

48 Es fällt auf, daß Winnetou und Old Shatterhand, die sonst so Hellhörigen, zwar jedes am Feuer gesprochene Wort verstanden, ihre Nachbarin nahe ... im Gebüsch (235 li) aber nicht bemerkten. May nimmt es in Kauf, daß seine Helden mitunter fehlbar sind, wenn sich die Situation dadurch in spannender Weise verschärft.

49 Ein Beleg dafür ist das Einsetzen des II. Teils mit Demonstrativpronomen -  D i e s e r  Versuch (nämlich zu schlafen) ... gelang nicht (237 li) -, das sich noch auf den letzten Satz des I. Teils (»Jetzt wollen wir versuchen, zu schlafen ...«, 236 re) bezieht. Stammte die Kapiteleinteilung von May, hätte er die beiden Sätze wohl schwerlich syntaktisch so eng miteinander verknüpft.

50 Alle wichtigen Entscheidungen - also hier der Entschluß zur sofortigen Verfolgung der Ogallalah - können bei May grundsätzlich nur von den Führern, Winnetou und/oder Old Shatterhand getroffen werden. Hammerdull und Holbers sind Befehlsempfänger, die stets dann Fehler begehen, wenn sie Weisungen nicht befolgen.

51 Es sind bei May ja oft solche Schneußen, Schluchten oder Talkessel, in denen die Gegner überrumpelt werden.

52 Ganz bezeichnend stellt Shatterhand nur sich und Winnetou vor. (Vgl. 238 re)

53 May hatte vermutlich vergessen, daß er Folder anfangs drohen ließ, er »habe sechs Schlangen, für jede Person zwei.« (235 re)

54 Hier übertreibt May wohl, auch wenn es tatsächlich Klapperschlangenarten gibt, die bis zu 2,50 m lang werden können. Es ist schwer vorstellbar, daß sich Folder mit sechs derart großen Schlangen in einem Fellranzen abgeschleppt haben soll.

55 Solche »Botenberichte« wie auch das Vorherrschen des Dialogs verleihen den Erzählungen Mays einen dramatischen Charakter.

56 Die Tat wirkt allerdings nicht sehr »kriegerisch«, eher wie ein hinterhältiger Doppelmord.

57 Ebenso wie zu Anfang auch Uinorintscha ota: »Ihr seid Feinde meines Stammes; ... unsere Krieger haben Euch vor einigen Monden, um Euch zu töten, bis an den Schlangenfluß verfolgt!« (232 li) Diese Episode hat übrigens nirgends literarischen Niederschlag gefunden.

58 Von Hammerdull und Holbers ist wieder einmal nicht die Rede.

59 Man könnte auch schön das Sprichwort anwenden: »Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.«

60 Die Gastfreundschaft der Upsaroka's verweist zurück auf den Anfang der Erzählung, die Gastfreundschaft der Schoschonen. Der Text ist in gewisser Weise wieder an seinem Ausgangspunkt angelangt; die anfängliche Ordnung ist wiederhergestellt.

61 Vgl. dazu Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/1973. Hamburg 1972, S. 11-92

62 Ebd. S. 51f

63 Vgl. zu dieser sog. »Old Shatterhand-Legende« Claus Roxin: »Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand«. Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: Jb-KMG 1974. Hamburg 1973, S. 15-73

64 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Olms-Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. v. Hainer Plaul. S. 9. Künftig abgekürzt: L&S.

65 Vgl. vor allem Hainer Plaul: Der Sohn des Webers. Über Karl Mays erste Kindheitsjahre 1842-1848. In: Jb-KMG 1979. Hamburg 1979, S. 67ff.

66 Es dürfte eine Regel sein, daß das Liebesobjekt als noch idealer phantasiert wird als das Wunsch-Ich.

67 L&S S.9

68 Ebd. S. 10

69 Ebd. S. 53

70 Ebd. S. 43

71 Vgl. ebd. S. 34ff.

72 Vgl. ebd. S. 10f.


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73 Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Königstein/Ts. 1979, S. 158

74 Was auch dadurch verhindert wird, daß es sich um  k o m i s c h e  Figuren handelt.

75 Vgl. 231 li: Sie saß nach Männerart und stolz im Sattel...

76 Vgl. L&S S. 9

77 Hainer Plaul: Der Sohn des Webers. a.a.O. S. 48

78 Auch ihre »Entdeckung« zeugt dann von ihrer Autonomie - denn sie begeht nicht einen Fehler, durch den sie unfreiwillig entdeckt  w i r d ,  sondern sie  e n t d e c k t  s i c h  s e l b s t .  Derartige überraschende und imponierende Auftritte an fremden Lagerfeuern waren früher meist allein den Helden Winnetou und Old Shatterhand vorbehalten, die diesem Effekt zuliebe selbst manchmal »alles verdarben«.

79 Was bestens illustriert wird durch eine Photographie aus dem Jahre 1896 - also ganz in zeitlicher Nähe zum Entstehen von "Mutterliebe" -, auf der sich »Emma als Mann« präsentiert. Vgl. Karl May: Frau Pollmer. Eine psychologische Studie. Faksimilewiedergabe der Handschrift und der dazugehörigen Anlagen mit einem Geleitwort und Anmerkungen von Prof. Dr. Heinz Stolte und dem vollständigen Text in zeichengetreuem Neusatz als Anhang. Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß. Bamberg 1982, Die »Anlagen« zur »Studie«, S. 946., »A«, und S. 54. Das von Alois Schießer aufgenommene Bild entstand im Zusammenhang mit den Kostümphotos, die May als Shatterhand oder Kara Ben Nemsi zeigen.

80 Schließlich können wir aus dem einen Zitat auch nicht folgern, daß Hammerdull ein Selbstporträt Mays ist.

81 Vgl. L&S S. 10f.

82 Ebd. S. 9

83 Vgl. auch Hainer Plaul: Der Sohn des Webers. a.a.O. S. 82ff. Plaul hebt u. a. hervor: »Seine Unbeherrschtheit, seine schnelle Erregbarkeit, seine Ungeduld, sein aufbrausendes Wesen und seine Eigenart, "Dinge, Menschen, Ereignisse ... aus aggressiver Perspektive" zu beurteilen ...« (S. 83) Denkt man, wie May, in Klischees, passen diese Vater-Eigenschaften genau auf Folders Physiognomie.

84 L&S S. 10

85 Ebd.

86 Was natürlich ganz und gar nicht heißt, daß es später nicht mehr zu väterlichen »Ausbrüchen« kam. Aber in dieser »Dunkelheit« begannen sie für May und wurden nie mehr so erschreckend erlebt wie damals vom blinden Knaben.

87 Daß die eigentliche Bedrohung nicht vom Stock, sondern von der daranhängenden Klapperschlange, einem Phallus-Symbol, ausgeht, verleiht der Vater-Figur Folder einen phallisch-aggressiven Akzent.

88 Schon eine Bezeichnung wie »birkener Hans« und das »geliebte« Einweichen im Ofentopf spricht dafür.

89 Plausibel wäre es aber auch, hier lediglich eine nachträgliche Wunscherfüllung zu sehen.

90 L&S S. 112

91 -- und zur Shatterhand Legende - was May 1897, auf ihrem Höhepunkt, aber wohl kaum ahnte. Drängend war die Krisenzeit, da er hier in ständiger Angst vor der Entlarvung lebte.

92 L&S S. 112

93 Ebd. S. 119

94 May begründet in seiner "Beichte" seine »verbrecherischen« Handlungen damit, daß er sich an der Gesellschaft rächen wollte, die ihn, vielleicht zu Unrecht, wegen der Uhrengeschichte zu einer sechswöchigen Gefängnisstrafe verurteilt hatte: Ich sann auf Rache, und zwar auf eine fürchterliche Rache, auf etwas noch niemals Dagewesenes. Diese Rache sollte darin bestehen, daß ich, der durch die Bestrafung unter die Verbrecher Geworfene, nun wirklich auch Verbrechen beging. Karl May: Meine Beichte. In: »Ich«. Karl Mays Leben und Werk. Bamberg 301976, S. 16. Erstabdruck bei Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Ein Beitrag zur Kriminalgeschichte unserer Zeit. Berlin Charlottenburg 1910, S. 4. Daran könnte Folders Vorsatz erinnern, sich für seine Bestrafung an den Upsarokas zu rächen: »Ja, euer Vater ...


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hat mich prügeln lassen. ... Ich habe damals einen himmelhohen und höllentiefen Schwur gethan, mich zu rächen ...« (234 re)

95 Vgl. L&S S. 170 und Hainer Plaul: Resozialisierung durch »progressiven Strafvollzug«. Über Karl Mays Aufenthalt im Zuchthaus zu Waldheim von Mai 1870 bis Mai 1874. In: Jb-KMG 1976. Hamburg 1976, S. 132f.

96 Hatte Folder es als »Agent« mit »hungernden und frierenden Indsmen« (241 re) zu tun, so unterrichtete May an einer Armen(!)schule in Glauchau und die Schüler in Alt-Chemnitz waren ausgebeutete »Kinder im Alter zwischen zehn und vierzehn Jahren, die als sogenannte Andreher fleißig zum mageren Haushaltsbudget ihrer armen Eltern beisteuern mußten.« L&S S. 370 (Anmerkung 104, Hainer Plaul)

97 In Penig nahm May 1864 »fünf eigens für ihn angefertigte Kleidungsstücke ... betrügerischerweise an sich« (Hainer Plaul: Auf fremden Pfaden? Eine erste Dokumentation über Mays Aufenthalt zwischen Ende 1862 und Ende 1864. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 158), in Chemnitz betrog er noch im gleichen Jahr einen Pelzwarenhändler um »diverse Rauchwaren« (Hainer Plaul: Alte Spuren. Über Karl Mays Aufenthalt zwischen Mitte 1864 und Anfang Juni 1865. In: Jb-KMG 1972/1973. Hamburg 1972, S. 196), und in Leipzig erschwindelte er sich 1865 einen Biberpelz (Vgl. ebd. S. 205f.). Daß May in der Zeit, als er sich versteckt halten mußte, besonders in der Phase nach der Zwickauer Haft, auch oft »Nahrung« stehlen mußte, ist selbstverständlich.

98 Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 40. Der Pferdediebstahl geschah in der Nacht vom 3. auf den 4.6.1869.

99 Im April 1869.

100 Vgl. Klaus Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann« oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870. 1. Teil. In: Jb-KMG 1972/1973. Hamburg 1972, S. 221ff.

101 Die Identität Folder = May »im Abgrunde« wird noch dadurch erhärtet, daß anfangs nicht die Rede davon ist, daß Folder die armen Roten, als sie sich auflehnten »einfach niederschießen (ließ)« (241 re). Erst ganz am Schluß weist May überraschend darauf hin, um auf der Handlungsebene das harte Urteil über Folder zusätzlich zu rechtfertigen. Tatsächlich beging May ja keine Gewaltverbrechen, sondern Diebstahls- und Betrugsdelikte - und folglich hebt er diese bei seinem negativen Abbild Folder hervor und erwähnt nur nebenbei im »Sündenregister« den »Mörder« (Vgl. 234 re).

102 Vgl. Klaus Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann« ... . a.a.O. S. 227. Eine Photographie der Eisenhöhle findet sich bei Klußmeier/Plaul. a.a.O. S.56, B. 88

103 Pelz-Delikte Mays aus dieser Zeit sind allerdings nicht bekannt geworden. Andererseits konnte die Behauptung von Rudolf Lebius, May habe »in der Räuberhöhle« »viele gestohlene Kleidungsstücke« aufgehäuft nicht widerlegt werden. Siehe den Lebius-Artikel "Hinter die Kulissen" in "Der Bund" Nr. 54 vom 19.12.1909. Wiederabgedruckt in: Jb-KMG 1980. Hamburg 1980, S. 143-147. Zitat S. 145. Es genügt im übrigen als Beleg für die Identität Cache = Eisenhöhle, daß May definitiv Pelzwaren, »Häute und Felle«, widerrechtlich an sich nahm und daß er definitiv die Eisenhöhle als Schlupfwinkel nutzte - wenn auch vielleicht nicht beides zur gleichen Zeit. In Mays späterer Vorstellung mögen sich die Ereignisse zeitlich ineinandergeschoben haben.

104 Rudolf Lebius: Hinter die Kulissen. a.a.O. S. 144

105 Es gibt auch einen direkten Bezug zwischen Heinrich August May und der Eisenhöhle: »Der Vater war ... einer derjenigen, die ständig und heimlich Nahrungsmittel in die Waldhöhle ... brachten.« Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. a.a.O. S. 295. May direkt in die Grube gebracht, ihm die Eisenhöhle zugewiesen, hat vermutlich sein Pate Christian Weisspflog. Vgl. Hans Wollschläger: Karl May. a.a.O. S. 39. Übrigens ist noch eine weitere autobiographische Deutung der Cache denkbar: die Grube läßt sich auch als Kerker, als Gefängniszelle verstehen. Die Schlangen könnten dann Fesseln, diese wiederum Unfreiheit symbolisieren. Immerhin ist es auffällig, daß Folder, obgleich dies praktisch schwer durchführbar ist (und später so auch gar nicht durchgeführt wird), am Lager der Sioux ankündigt, die


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Upsaroka-Knaben »mit (den) Klapperschlangen zusammen(zu)binden(!)« (235 li). Auch bei dieser Deutung würde May den Vater anklagen, die Schuld an seinen Verfehlungen und seinem Unglück zu tragen.

106 Hinter der Identifikation mit  b e i d e n  Söhnen verbirgt sich Mays lebenslanger Wunsch nach einem Bruder.

107 Hainer Plaul: Der Sohn des Webers. a.a.O. S. 84

108 Ebd.

109 Hier ist eine Übereinstimmung zwischen den beiden Vater-Projektionen Folder und Uamduschka sapa auffällig: Folders Schlangensack besteht aus  g r a u e m  W o l f s fell (Vgl. 234 li), Uamduschka sapa wird mit einem  g r a u e n  B ä r e n  verglichen. Mit den wilden Tieren Wolf und Bär läßt sich gleichermaßen Kraft und Aggressivität assoziieren, mit der grauen Farbe des Fells das Alter. Beides weist auf den Vater-Aspekt hin. Eine weitere Übereinstimmung signalisiert der Name Uamduschka sapas, der »Schwarze Schlange« heißt. Die Schlange, nach der der Upsaroka benannt ist, ist in der Erzählung wichtigstes Attribut Folders. Sie verweist auf die phallisch aggressive Komponente, die beiden Vaterfiguren gemeinsam ist.

110 Natürlich muß es, da die beiden Söhne gemeint sind, richtig heißen: »über  i h r e n  Ungehorsam«. Die Fehlleistung könnte als Indiz dafür genommen werden, daß May hier eigentlich von  s e i n e m  Ungehorsam gegenüber dem Vater spricht.

111 L&S S. 79

112 Ebd. S. 92

113 Ebd.

114 Ebd. S. 93

115 Daß May sie in der Erzählung um weniges älter darstellt, läßt sich leicht begründen: nur so konnten ihre 14- und 15jährigen Söhne glaubhaft sein.

116 In seiner Autobiographie erwähnt er von den beiden Frauen - eher beiläufig - nur seine »Hohensteiner Großmutter« Christiane Friederike. Vgl. L&S S. 9 und 20. Die »Ernstthaler Großmutter« Johanne Christiane Kretzschmar, die »Seelen- und Märchengroßmutter«, stand ihm weit näher.

117 L&S S. 67f.

118 Beides, Christentum und Liebe ist für May eigentlich untrennbar; noch im Spätwerk verbirgt sich hinter der gepredigten christlichen Nächstenliebe die eigene persönliche Liebessuche Mays.

119 Die Cache-Szene widerlegt damit Hans Wollschlägers Behauptung, »Spuren dieses Ereignisses«, nämlich des Mutter-Todes, fänden sich »weder im Werk noch in den Selbstdarstellungen: kein einziges Wort berichtet davon, in keiner Szene läßt es sich gespiegelt finden.« Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung ...«. a.a.O. S. 50

120 Beides läßt sich hier nicht trennen.

121 Mays Vertrautsein mit diesen Ideen bezeugt eine Zettelnotiz "Gesammeltes", die zum Umkreis des nach der Jahrhundertwende geplanten Dramas "Kyros" gehört. Erhellend eindeutig (und selbst biologisch/physiologisch richtig) heißt es dort:

    Der Regen Begattung. Erde (= Frau, Vagina) dehnt sich, wenn der

    Die Erde Regen (= Mann, Phallus, Sperma) sich ganz in sie verkriecht.

Zit. nach Max Finke: Aus Karl Mays literarischem Nachlaß. In: Karl-May-Jahrbuch 1921. Hrsg. v. Dr. Max Finke und Dr. E. A. Schmid. Radebeul bei Dresden 1920, S. 22. Zu finden auch bei Christoph F. Lorenz: Karl Mays Prolog zu »Kyros«. In: M-KMG 61 (1984), S. 3

Nebenbei: die hier vorgestellte psychoanalytische Deutung der Cache widerspricht keineswegs der Deutung als Eisenhöhle. Es handelt sich um zwei verschiedene Ebenen des Unbewußten: dem individuellen ist das kollektive Unbewußte unterlegt. Eine eindeutige Trennung ist nicht möglich.

122 Eine sehr spekulative Randbemerkung sei gewagt: Folder, Vater-Spiegelung, spricht von der »tiefe(n), weite(n) Cache, welche (er) früher selbst mit gegraben (hat)« (235 re). Verbirgt sich hier eine Anspielung auf den ersten, vorehelichen Geschlechtsverkehr der Eltern? Und vielleicht zugleich auf damalige väterliche Nebenbuhler? Wie Folder die Cache vor Entdeckung durch einen Moosdeckel schützte,


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glaubte vielleicht Heinrich August May, den sexuellen Besitz Christiane Wilhelmines durch eine Heirat schützen zu können, gewissermaßen »einen Deckel drauf legend«. Daß Folder sich weigert, Old Shatterhand die Cache zu entdecken, ließe sich dann in ödipaler Richtung interpretieren.

123 Die Deutung hat auch einen Anhalt darin, daß die Schlangen zuvor in einem grauen Wolfsfell-Sack steckten. Wie bereits an anderer Stelle gesagt, lassen sich mit »grau« und »Wolf« Vater-Aspekte assoziieren. Der »Ledersack« (235 re) in Verbindung mit den Schlangen kann als Hodensack interpretiert werden.

Als Phallus-Symbole deutet auch Klaus Eggers die Schlangen in "Mutterliebe". Vgl. Klaus Eggers: Hobble und Oedipus II. In: M-KMG 58 (1983), S. 21-30 hier S. 26. Seiner durchaus diskutablen These einer Reinkarnation der beiden durch »Knieschuß« getöteten jungen Upsarokas aus dem "Sohn des Bärenjägers" (1887) in den Söhnen Uinorintscha otas vermag ich dagegen vorerst nicht zu folgen.

124 Es sei nebenbei daran erinnert, daß im 19. Jh. die möglichen Folgen des Geschlechtsverkehrs, also Schwangerschaft und Geburt, tatsächlich eine große Gefährdung der Frau darstellten, erst recht im Elendsmilieu der erzgebirgischen Weber. Vierzehn Kinder mußte Christiane Wilhelmine ihrem Mann gebären, und jedesmal bestand die Sorge, ob sie es überleben würde.

125 Wobei es vielleicht wirklich einen konkreten Zusammenhang zwischen dem elterlichen Sexus und dem Tod Christiane Wilhelmine Mays gab: Das Ernstthaler Totenbuch verzeichnet als Todesursache: »Geschwulst«. Der Begriff ist vieldeutig und schließt nicht aus, daß es sich etwa um einen Gebärmutterkrebs handelte.

126 Vgl. Gert Asbach: Die Medizin in Karl Mays Amerika-Bänden. Düsseldorf 1972, S. 37

127 Erst im Alterswerk verurteilt May die Rache konsequent. Vgl. etwa seine Novelle "Schamah" (1907/1908) und meine entsprechenden Ausführungen im Aufsatz: Karl Mays "Schamah". Eine Werkanalyse. In: Jb-KMG 1984. Husum 1984, S. 175-230

128 Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung ...«. a.a.O. S. 50. Ebendort auch das Klara May-Zitat aus einem 4-Seiten-Manuskript von 1932. (Original im Karl-May-Archiv Bamberg)

129 Vgl. 242 re: Rechte der Squaw.

130 Dabei versteht es sich von selbst, daß zu dieser relativen Geschlossenheit auch die Kürze des Textes beigetragen hat. Bei einer längeren Erzählung wären sicher auch weniger drängende Assoziationen - vornehmlich der Außenbiographie - miteingeflossen.

131 Im gleichen Jahr 1894 hatte May auch in "Kürschners Literaturkalender" offiziell das Sigle für »katholisch« erhalten.

132 Diese Unzufriedenheit hätte sich wohl in argen Ärger verwandelt, hätten Eberle & Rickenbach bemerkt, welch protestantisches Kuckucksei May ihnen mit dem verehelichten »weißen Pu teh uakon« (231 re) ins katholische Nest gelegt hatte.

133 Auch diese - daran sei erinnert, ohne hier eine Spiegelung zu vermuten - hatte den zwölfjährigen Knaben Jesus einst mit Schmerzen suchen müssen, ehe sie ihn unter den Lehrern im Tempel von Jerusalem fand. Vgl. Lukas 2,41-52. Ganz als Mutter, als »Schutzmantel-Madonna«, zeigt übrigens das Titelblatt des "Einsiedler Marienkalenders" Maria. Siehe: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 221

134 Karl May: Maria oder Fatima. In: Eichsfelder Marienkalender, 18. Jg. 1894, Heiligenstadt 1893. Sp. 39-60. Zit. nach: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 200

135 Vgl. Genesis 3

136 Vgl. Offenbarung 12,9 und 20,2

137 Genesis 3,15. Ausdrücklich schildert Johannes im 12. Kapitel der Offenbarung die Konfrontation von der Frau und der Schlange.

138 Maria wird vielfach als die neue Eva des Evangeliums verstanden.

139 Solche und ähnliche Mariendarstellungen waren May vertraut. Vgl. nur das Titelbild des "Eichsfelder Marienkalenders", abgedruckt in: Christus oder Muhammed. a.a.O. S. 187. Maria steht dort, wie oft bei ähnlichen Darstellungen, auf einem Halbmond, wegen seiner zunehmenden Phase häufig als Symbol der Mutterschaft verstanden. Vordergründig bezieht sich der Halbmond zugleich auf das mit der Son-


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ne [Sonne] bekleidete apokalyptische Weib, das den Mond zu seinen Füßen hat und dessen Haupt von zwölf Sternen umkränzt ist. Vgl. Offenbarung 12,1. Diese ursprünglich die Gottesgemeinde, konkreter das Zwölfstämmevolk Israel meinende Frau der Offenbarung wird in der Liturgie mit Maria gleichgesetzt.

140 Karl May: Mein Glaubensbekenntnis. (Datiert: 21. Dezember 1906) Zuerst veröffentlicht in: Passauer Donau-Zeitung Nr. 3 vom 4.1.1907. Wiederabgedruckt in: Schriften zu Karl May. Ubstadt 1975, Nachwort S. 245f. Zitat S. 245

141 Hans Wollschläger: Der »Besitzer von vielen Beuteln«. Lese-Notizen zu Karl Mays "Am Jenseits" (Materialien zu einer Charakteranalyse II). In: Jb-KMG 1974. Hamburg 1973, S. 156

142 Vgl. Karl May: Am Jenseits. Freiburg 1899, S. 170

143 Vgl. Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung ...«. a.a.O. S. 63f.

144 Zit. nach dem Erstabdruck des Gedichts bei Amand von Ozoróczy: Das zweite Ave Maria. Beitrag zur »Spätlese in Deidesheim«. 2. Teil. In: M-KMG 26 (1975), S. 6. Das Gedicht, das May der 13jährigen Tochter Magda seines Deidesheimer Freundes Emil Seyler zur Erstkommunion schickte - was nicht heißt, daß es sich um ein Gelegenheitsgedicht handelt -, ist datiert mit »Sonntag, Quasimodogeniti (= 17. April) 1898«. Da dies das Datum der Erstkommunion ist, kann es durchaus auch einige Tage früher entstanden sein - vielleicht am 15. April, dem Todestag der Mutter?

145 Aus einem Brief Mays an seinen Verleger Fehsenfeld vom 10.9.1900. Zit. nach Hans Wollschläger: Karl May. a.a.O. S. 104


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