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MARTIN LOWSKY

»Mummenscherz mit Tanz«

Vieldeutige Abenteuerlichkeit in Karl Mays Tunesien-Erzählung "Der Krumir"



»Cherchez le Khroumir!«
"L'Intransigeant" am 21.4.1881

1

Ein Teil der Besonderheit und Faszinationskraft der erfundenen Reise- und Abenteuerberichte Karl Mays liegt sicherlich darin, daß nicht nur der Erzähler, der Ich-Held, ausfährt und sich fernen Ländern und Kulturen konfrontiert, sondern daß er in dieser Fremde ständig Personen vorfindet, die gleich ihm reisen und die Fremde erfahren. Leicht wird, wenn man Mays Abenteuererzählungen von der geistesgeschichtlichen Tradition eines Homer, Defoe und Swift aus betrachtet und das Superheldentum der Mayschen Ich-Gestalt als Abgleiten ins Triviale kritisiert, dabei übersehen, daß May die bewundernswerte Beweglichkeit, Einfühlungsfähigkeit und Belastbarkeit seiner Hauptfigur durch die zahlreiche Präsenz ähnlich reise- und unternehmungslustiger Personen relativiert, ihr etwas von dem Eindruck der Außergewöhnlichkeit nimmt: den nur von Eingeborenen umgebenen Einzelreisenden, ideal vertreten durch Swifts Gulliver, kennt Mays Werk nicht. Diese durch das Personal vorgegebene allgemeine Reisefreude, diese grundsätzliche Unruhe im Werk - die May noch dadurch bekräftigt, daß er einerseits praktisch alle Erdteile für das Universum seiner Werke heranzieht und andererseits mit Vorliebe die Gegenden der Nomaden, der nichtseßhaften Völkerschaften, auswählt - verknüpft Mays Erzählungen mit archaischen Mythen vom Menschen als Wanderer, die also, wie in dem biblischen Bericht von der Vertreibung aus dem Paradies oder, auf der Ebene bewußter künstlerischer Vollendung, in Thomas Manns Joseph-Roman, eine existenziell begründete Ungebundenheit des Menschen entwerfen. Die solchen Mythen innewohnende Ambivalenz dieser Ungebundenheit, die einmal Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen, dann aber auch seine Isoliertheit und Orientierungslosigkeit meint, nimmt freilich May, zumindest vor seinem Alterswerk(1), nicht auf, sondern er spinnt virtuos die erste Richtung, ihren emanzipatorischen Gehalt, aus. Der Rückgriff auf ein in seiner Gesamtheit reisendes Personal ist auch ein literarisch dankbares Motiv, da sich dadurch dem Leser eine Palette von Figuren anbieten lassen, mit denen er


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sich von Fall zu Fall identifizieren kann: so gehen in dem Roman "Satan und Ischariot" nicht nur Old Shatterhand und Winnetou, die großen Helden, zur Jagd auf den Millionendieb, sondern zu ihnen gesellen sich, von Emery Bothwell bis Martha Vogel, mehrere heldenhafte und, in sorgfältiger Abstufung, weniger heldenhafte Reisende unterschiedlicher nationaler und geistiger Provenienz.(2)

   Gerade der "Satan"-Roman, der mit dem Zusammentreffen des reisenden Old Shatterhand, eines reisenden Kolonisators (den Old Shatterhand von einer früheren Reise zu kennen meint) und einer reisenden Auswanderergruppe beginnt, wobei zusätzlich die drei Parteien aus drei verschiedenen Ländern stammen, bringt dieses Motiv des ständigen Unterwegsseins zu einer besonderen Entfaltung, die der Autor an einer Stelle bis zur Selbstironie zu führen scheint. Als nämlich Old Shatterhand nach den Erlebnissen in Amerika und Europa schließlich auch Nordafrika ansteuert, in dem Moment also, als gewissermaßen Karl May den "Hausschatz"-Abonnenten weismachen möchte, eine einzige Abenteueraffäre habe ihn persönlich über zwei Kontinente hinweg zu einem dritten geführt, geht die Ich-Figur bei einem Gespräch im Roman noch einen Schritt weiter: sie schwindelt dem Verbrecher Melton etwas von ihren angeblichen Reiseerfahrungen und Geschäftsbeziehungen in Indien und Sibirien(3) vor, nimmt also fast, das Reisemotiv noch weiter dehnend, einen vierten Erdteil Asien in den Roman mit auf. Dieser letzte angedeutete Schritt in der nun viergliedrigen Reise-Kette dieses Werkes aber stellt zwangsläufig, da er als Schwindel deklariert ist, für einen Augenblick auch die vorherigen, im Ernst vorgetragenen Reisefabeleien vor dem Leser in Frage. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber durchaus denkbar, daß May hier eine Selbstparodie, eine Selbstkritik beabsichtigt hat.(4) Denn schon wenige Seiten später erzählt sein Ich demselben Gesprächspartner, man halte ihn  i r r t ü m l i c h  für den Abenteuerhelden Kara Ben Nemsi(5); das ohnehin schwierige Quiproquo um den falschen Hunter und den von ihm nicht durchschauten Verfolger wird durch diese Flunkerei - oder soll man sagen: dieses Geständnis? - wiederum für einen Augenblick so absurd kompliziert, daß in allerletzter Konsequenz der irritierte Leser bewogen wird, überhaupt die vorgezeichnete Identität von Roman-Ich und Autor zu verwerfen.

   Mit diesen beiden Episoden setzt der in Tunesien spielende Handlungsteil der "Satan"-Trilogie ein, und, recht besehen, kann es nicht verwundern, daß sich gerade an diesem Ort in der ironisch-kritischen Übertreibung des Reisemotivs die Realität geltend macht: ist doch Tunesien das Mitteleuropa am nächsten gelegene Land Afrikas, die für die heimatliche Realität am ehesten erreichbare Überseeregion, die überdies das klassische Reiseland Italien gleichsam nach Süden ins Exotische verlängert. Es ist daher für Reisetraum und Reiseziel des


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fernwehkranken Europäers prädestiniert und hat in diesem Sinne bekanntlich seine Spuren in der Kulturgeschichte Europas hinterlassen: André Gide hat 1893, seinem eigenen literarischen Bekenntnis nach, die persönliche Begegnung mit dem in geistigem Klima und Moral andersartigen Tunesien, seine erste Reiseerfahrung überhaupt, zur Selbstverwirklichung geführt; im Jahre 1910 wurde Rainer Maria Rilke durch einen Aufenthalt in Kairuan und die dort beobachtete Lebendigkeit islamischer Glaubenspraxis zu einem neuen, dogmenfreien Religionsbegriff angeregt; und wenig später, um noch ein drittes Beispiel anzuführen, haben die Aquarelle der "Tunisreise" (so der spätere Buchtitel) von Macke, Klee und Moilliet die Lichtfülle dieses orientalischen Landes, unter deren rauschhaften Eindruck Klee sich endgültig zum Maler berufen fühlte, in die europäische Malerei hereingeholt. Daß unser Karl May sehr von Tunesien angezogen wurde, zeigt schon der nach Tunis lockende Brief zu Beginn von "Christus oder Muhammed"(6), der diese Neigung Mays in eine Reiseaufforderung umsetzt, die dadurch, daß sie ohne sein Zutun an den Helden herangetragen wird, auf die äußere Realität der günstigen, zum Aufbruch anregenden geographischen Lage verweist (so wie später im vierten Band von "Winnetou" May seine einzige reale Amerika-Reise durch einladende Briefe inspiriert sieht, also wiederum der eintreffende Brief für reale Gegebenheiten steht). Übrigens spielt auch in "Satan und Ischariot" ein Brief die entscheidende Rolle für den Aufbruch nach Nordafrika. Zu einer wirklichen Tunis-Reise Mays, die eine spätere kuriose Legende behauptet hat, ist es freilich nie gekommen.

   Wenn auch Tunesien nicht zu den allerhäufigsten Handlungsräumen in Mays Œvre zählt - sieben Romane und Erzählungen führen dorthin(7) -, so steht es doch an exponierter Stelle. Von "Waldröschen" und "Scepter und Hammer" mit seiner Fortsetzung abgesehen, machen gerade diejenigen Werke Mays, die die Grenzen der Erdteile überschreiten, also "Deutsche Herzen, deutsche Helden", "Die Rose von Kairwan" und der erwähnte "Satan und Ischariot", auch in Tunesien Station, und der sechsbändige mit "Durch die Wüste" beginnende Orient-Zyklus, der genaugenommen auch die Kontinente wechselt, beginnt nicht nur seine weitgespannte Handlung im südlichen Tunesien, sondern hält, wenn im letzten Band "Der Schut" unvermittelt eine Zusammenkunft mit Krüger-Bei rückblickend beschrieben wird(8), am Schluß auch den Gedanken an eine Rückkehr nach Tunis aufrecht. Sogar der späte Amerika mit dem Orient verbindende Roman "Im Reiche des silbernen Löwen", der Tunesien nicht mit einbezieht, sondern ein allegorisch verklärtes Persien für den nun weniger abenteuerlüsternen Helden bestimmt, sollte nach Mays ursprünglichen Plänen Allan Forster, die aus der »Kairwan«-Erzählung bekannte Figur, und damit immerhin ein Tunesien-Motiv enthalten.(9)


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   Der Reiz der geographischen Nähe Tunesiens begründet nur zum Teil die besondere Rolle dieser Region in Mays Werk. Hinzu treten vielleicht das besondere Image von Gefahr und Abenteurertum, das Tunesien, bis zum beginnenden 19. Jahrhundert Sitz eines der Piraterie treibenden Barbareskenstaaten, für Europa lange Zeit hatte(10), und, als ein weiterer Grund, die unseren Autor gewiß ansprechende Tatsache, daß Tunesien um die Mitte des Jahrhunderts Flüchtlinge aus dem verarmten Malta, also im Elend Geborene wie May, aufgenommen hat. Ein entscheidender Einfluß kommt jedoch daher, daß dieses Land in den achtziger Jahren, in Mays erster Hauptschaffenszeit, im Brennpunkt der Weltpolitik stand: im Frühjahr 1881 fand der von ganz Europa aus aufmerksam beobachtete und auch in der deutschen Presse reichlich besprochene Einmarsch der Franzosen in Tunesien statt. In der Erzählung "Der Krumir", in den Monaten nach diesem Ereignis geschrieben und Anfang 1882 veröffentlicht(11) versuchte May offenbar, diese augenblicklich besondere Aktualität Tunesiens auszunutzen, also auf der Suche nach Leser und Einkommen an dem allgemeinen Interesse für dieses Thema zu profitieren. Da May den einleitenden Tunesien-Abschnitt seines Orient-Zyklus Anfang 1881, also noch vor den aufsehenerregenden Vorfällen, publiziert hatte(12), ist verständlich, daß er dieser vom Gesichtspunkt der Aktualität aus sich leider als verfrüht erweisenden Veröffentlichung rasch eine Neubearbeitung des Themas Tunesien nachliefern wollte. Entsprechend sind von dem Orient-Zyklus, in dessen lange und oft unterbrochene Entstehungsgeschichte auch die des "Krumir" fällt, mehrere Einzelmotive - der Diener als Freund des Helden, der spendable englische Lord, die Brautsuche und vor allem die Jagd auf dem Salzsee - in den "Krumir" eingegangen, so wie umgekehrt in den "Schut", wie erwähnt, eine Szene mit Krüger-Bei Einlaß gefunden hat. »Der Krumir«, das zweite Tunesien-Stück in Mays Œvre, ist somit der Beginn von Mays intensiver Beschäftigung mit Tunesien, und eingedenk der besonderen Bedeutung dieses Landes im Gesamtwerk, können wir uns von einer Betrachtung dieser Erzählung einige Erkenntnisse über Mays Schaffen erhoffen.


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Vergegenwärtigen wir uns die historischen Ereignisse um den erwähnten Einmarsch der Franzosen.(13) Tunesien hatte in der Regierungszeit von Mohammed es Sadok Bei (1859-1882) eine Verfassung erhalten (1861) und damit indirekt seine Autonomie gegenüber der Türkei erklärt; bis dahin war es zumindest nominell eine türkische Provinz gewesen. Die europäischen Großmächte waren im Zuge ihrer imperialistischen Expansionen zunächst rein wirtschaftlich in der Entwicklung Tu-


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nesiens [Tunesien], dem fruchtbarsten Gebiet Nordafrikas, engagiert, also durch den Erwerb von Konzessionen und Kapitalinvestitionen (vor allem durch den Eisenbahnbau der Franzosen und Italiener), und hatten seit 1869, um diese Investitionen abzusichern, für das schwer verschuldete Tunesien eine dreiseitige, von England, Frankreich und Italien beschickte Kommission aufgestellt, die die Finanzwirtschaft dieses Landes kontrollieren sollte. Für ein weiteres Vorgehen, also die politische Inbesitznahme Tunesiens, wurde Frankreich während des Berliner Kongresses 1878 diplomatisch ermächtigt (wenn wir das Schachern so benennen wollen), und zwar von England, das sich dafür im Gegenzug für seine Erwerbung Zyperns und Ägyptens freie Hand wünschte und außerdem ein drohendes Übergreifen Italiens nach Tunis, also eine militärisch gefährliche Doppelbesetzung der Meerenge von Sizilien, abwehren wollte, sowie von Deutschland, das die Aufmerksamkeit der Franzosen von ihren im Krieg von 1870/71 verlorenen Gebieten Elsaß und Lothringen abzulenken suchte. In Kreisen der französischen Regierung war eine Kolonie Tunesien in dreifacher Weise willkommen, und zwar - um das Wichtigste, aber offiziell in Abrede Gestellte zuerst zu nennen - als unbegrenzt verfügbares kapitalistisches Betätigungsfeld, als Beutestück aus der heftigen Rivalität mit Italien und - womit vor allem argumentiert wurde - als strategische Ergänzung der benachbarten Kolonie Algerien. Doch bewirkte Bismarcks leicht durchschaubare Taktik der Ablenkung, daß die Fürsprecher einer Besetzung Tunesiens in der französischen Abgeordnetenkammer nicht nur die extreme Linke entschieden gegen sich hatten, sondern auch die Rechte, die von Revanchegedanken gegen Deutschland getragen war und jedes hiermit nicht konforme Projekt als nationalen Verrat ansah. Aus diesen Widerständen im Mutterland erklärt sich, daß die spätere Kolonialpolitik der Franzosen in Tunesien, verglichen mit den rücksichtslosen Siedlungsprogrammen in Algerien, eher behutsam gegenüber der einheimischen Bevölkerung geriet.

   Diese Fürsprecher der Besetzung Tunesiens fühlten sich seit 1880, als die Regierung in Tunis durch ein besonders entgegenkommendes Verhalten gegenüber italienischen Kapitalgesellschaften Frankreichs wirtschaftlichen Einfluß zurückzuweisen versuchte, zum Handeln gedrängt und nutzten unter Führung des Premierministers Jules Ferry schließlich einen Grenzzwischenfall für ihre Zwecke aus. Im Februar und März 1881 befanden sich nach französischen Angaben zeitweise bis zu 500 Angehörige des nordtunesischen Stammes der Krumir bei der grenznahen algerischen Stadt La Calle, um eine Blutrache auszutragen; bei einem Scharmützel mit französischen Militärs wurden am 31. März vier Soldaten getötet und sechs verwundet. Dieses Ereignis war in diesem von Stammesfehden gezeichneten Gebiet (gerade die auch gegenüber dem Bei von Tunis oft unbotmäßigen Krumir hatten dort


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schon früher für Unruhe gesorgt) keineswegs außergewöhnlich, wurde aber nun von Ferry aufgebauscht: am 4. April beantragte er von der Abgeordnetenkammer über 5 Millionen Francs Kredit, um, wie er geschickt den zaudernden Abgeordneten vorhielt, lediglich eine Strafexpedition gegen die Grenzverletzer auszusenden; am 7. April stimmte die Kammer zu. Ein Corps von 25 000 Mann wurde in Marseille eingeschifft und erreichte am 20. April La Calle und Bône. Von dort aus, von der algerischen Provinz Constantine her, marschierten am 24. April die Franzosen mit 30 000 Mann unter General Forgemol in Tunesien ein. Dies geschah in zwei Abteilungen: einer nördlichen, die sich in die auf französisch »Khroumirie« genannte Region, zum »Krumirlande« (May(14)) wandte, und einer südlichen, die, um die Krumir von anderen Stämmen abzuschneiden, über die Hochebene von El Kef zog. Außerdem landete am 1. Mai in Bizerta an der nordtunesischen Küste General Bréart mit 8000 Mann. Wenige Tage später erreichten die Truppen die tunesische Hauptstadt. Dem Bei wurde ein Ultimatum gestellt, und am 12. Mai 1881 unterzeichneten er und Bréart, der Beauftragte der französischen Regierung, in der Residenz Kassar Saïd den sogenannten Vertrag von Le Bardo. Der Wortlaut dieses Vertrages sah im wesentlichen nur vor, daß für eine beschränkte Zeit, bis zur Herstellung der Ordnung an den Grenzen, französische und tunesische Truppen zusammenarbeiten sollen und daß Tunesien im internationalen Verkehr durch Frankreich vertreten werde, doch wurde bald danach das Abkommen in durchaus vertragsbrüchiger Weise von Frankreich als Errichtung eines Protektorats mit praktisch von Franzosen zu leitender innerer Verwaltung angesehen. Zu dem raschen Vertragsabschluß kam es vor allem durch den Nachdruck von Sadoks Premierminister Mustapha Ben Ismaïl, einem langjährigen Günstling des Beis, der bis vor kurzem proitalienisch eingestellt war, aber zum Schluß durch Versprechungen des französischen Konsuls für dessen Sache gewonnen worden war. Die Abgeordnetenkammer in Paris ratifizierte diesen Vertrag bei nur einer Gegenstimme, erklärte sich also insoweit mit Ferrys von einer Strafexpedition zur Okkupation sich wandelnden Kriegsführung einverstanden. Doch entstand gleichzeitig in Frankreich eine - überraschenderweise, wie noch zu zeigen sein wird, bis zu Mays "Krumir"-Erzählung sich auswirkende - Pressefehde, die sich während der anschließenden Kriegswirren steigerte und auch in das Parlament hineingetragen wurde; in ihrem Verlauf wurden die großen in Nordafrika engagierten Kapitalgesellschaften mit ihren Aktionären und Bodenspekulanten als die eigentlichen Urheber der tunesischen Kampagne mit ihrem Blutvergießen attackiert.

   In Nordafrika provozierte der Vertragsabschluß zahlreiche nationale, zum Teil von panislamischen und tripolitanisch-türkischen Gruppen gesteuerte Erhebungen, in deren Folge ein französisches Geschwader


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am 16. Juli 1881 Sfax bombardierte und 30 000 Mann Kairuan besetzten. Erst 1884 - wir blicken über das Jahr, in dem May den "Krumir" schrieb, hinaus - waren alle Aufstände unterdrückt, war der nach seinen vordergründigen Veranlassern »Krumirkrieg« (so auch May in einem späteren Artikel(15)) zu nennende Eroberungsfeldzug beendet, in der Konvention vom 8. Juni 1883 war Tunesien explizit zum Protektorat erklärt worden, das es bis 1956 blieb.

   Die Regierungen der Großmächte und die öffentliche Meinung in Europa haben das Vorgehen Frankreichs insgesamt gebilligt oder, wie im Falle Italiens, sich damit abgefunden. Neben den genannten Überlegungen der politischen Taktik haben auf das öffentliche Bewußtsein in Europa die Berichte von Reisenden gewirkt, die das despotische Rechtswesen des alternden Beis (etwa seine eigenmächtigen Beschlüsse bei den wöchentlichen Gerichtssitzungen), seine schlechte Finanzwirtschaft und die Unsauberkeit der Städte mit nationalem Dünkel anprangerten(16), also gerade dies, was dann von den Franzosen durch ihre administrativen und ökonomischen Reformen teilweise korrigiert wurde. Daß freilich das so kritisierte selbständige Tunesien, gelegen neben einem übermächtigen französischen Algerien, das den Freihandel unterband, schon wirtschaftlich schwer benachteiligt war, wurde nicht bedacht; auch die bis in die Innenpolitik sich auswirkende völkerrechtlich unklare Stellung Tunesiens, das aus der türkischen Oberhoheit nie offiziell entlassen worden ist, blieb bei der Beurteilung dieses Landes unberücksichtigt.(17)

   Der Leser Karl Mays ist unserem etwas langen Resomee vielleicht gern gefolgt, denn fast alle der hier genannten für die Geschichte Tunesiens wichtigen geographischen Namen tauchen in Mays Nordafrika-Erzählungen auf, sind ihrem Kenner vertraut, und sogar einige der historischen Ereignisse selbst finden sich dort wieder. So erwähnt May in "Christus oder Muhammed" die Errichtung des Protektorats (nun hat Frankreich seine Hand auch auf Tunesien gelegt(18)) und die damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Aktivitäten (das Verlegen von Eisenschienen(19)), und in der Erzählung "Der Kutb" kommt er auf das Bombardement von Sfax(20) - und übrigens auch auf eine andere nationale Erhebung in der Kolonialgeschichte, den Aufstand des Arabi Pascha in Ägypten vom September 1881(21) - zu sprechen; auch die mit dem Eisenbahnbau der Franzosen konkurrierende italienische Gesellschaft Rubattino wird im Werk angeführt.(22) Der Bei Mohammed es Sadok, bei May öfters erwähnt, tritt in "Deutsche Herzen, deutsche Helden" sogar persönlich auf.(23)

   Mit dem "Krumir" und den darin enthaltenen Verweisen zur Geschichte, zu den momentanen Vorfällen in der Kolonialpolitik, hat es eine besondere Bewandtnis, die daraus entstanden ist, daß dieses Werk von der politischen Aktualität unmittelbar angeregt wurde. Einerseits


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wollte May durch den Bezug auf diese Aktualität seine Erzählung attraktiv machen, andererseits mußte er, um den Eindruck des Selbsterlebten zu fördern und sich als längst tunesienerfahren darzustellen schon um einige Zeit zurückliegende Abenteuer seines Ich-Helden berichten. Die Verbindung mit dem Zeitgeschehen hatte daher indirekt zu sein, und diese indirekte Verbindung, die May so wichtig war, daß er mit keinem Wort das Aktuelle direkt erwähnte, gelang ihm, indem er zahlreiche zufällig anmutende und dadurch besonders suggestive Ähnlichkeiten mit den politischen Ereignissen in seiner Abenteuerhandlung unterbrachte, also in nicht eigens vom Erzähler betonten, aber dem damaligen Leser sofort erkennbaren Parallelen zwischen den fiktiven Erlebnissen und den neueren Zeitungsmeldungen. So reiten zu Beginn der Erzählung der Held und sein Diener von Algerien, und zwar aus der Provinz Konstantine(24), nach Tunesien ein, wie es - einige Jahre, nachdem die Erzählung spielt, ein knappes Jahr, bevor sie gedruckt vorliegt - das französische Heer tut, sie bewegen sich auf El Kef zu (»Wie weit ist es noch bis Kef?«(25) heißt es auf der ersten Seite), so wie der Südflügel des Heeres; und ebenfalls gleich zu Beginn erfahren wir, daß der Diener Achmed in Algier unter französischem Einfluß gestanden habe (ihm war das französische Maß geläufig)(26), also mit ihm fast ein Vertreter Frankreichs nach Tunesien eindringt. Der auffälligste Bezug zur aktuellen Lage ist natürlich der, daß May den wie fast immer schwarz gezeichneten Bösewicht der Erzählung, Saadis el Chabir, ausgerechnet einen Krumir sein läßt, also einen Angehörigen des Stammes, auf dessen Grenzverletzungen sich die Invasoren berufen hatten; dementsprechend erwähnt May die Streifzüge in Algier und Tunesien(27) dieses Mannes. Zusätzlich gibt May seinen Krumir als Mitglied von Ferkah ed Dedmaka aus und damit desjenigen der vier Krumir-Unterstämme, der laut einem zeitgenössischen Lexikon berberischer Herkunft ist und daher als besonders kämpferisch gelten muß.(28)

   Ferner knüpft May an neuere Pressemeldungen an, wenn er Krüger-Bei dem Helden begegnen läßt, denn im Juni 1881 hatte die "Gartenlaube" von dem aus Brandenburg stammenden Krüger, dem Oberst der Leibgarde des Herrschers, berichtet.(29) Mit diesem Krüger-Bei, in dessen Beschreibung May sich bis in Einzelheiten, etwa der goldstrotzenden Uniform(30), auf seine Quelle stützt, aber ihn, über sie hinausgehend, zum Anführer der tunesischen Leibscharen(31) befördert, hat auch das hochaktuelle Militär seinen Vertreter im Werk. Diese Linie führt May weiter, wenn er in der Unterhaltung mit Krüger Mohammed es Sadak(32), den Bei oder Pascha(33), erwähnt, den Bardo, die Residenz des Bei von Tunis(34) - nach dem der Vertrag von 1881 benannt wurde -, als den Ort des allwöchentlichen Gerichtstages zur Sprache bringt und die Unbotmäßigkeit mancher Beduinen, besonders der Krumir, erörtert. Möglicherweise ist sogar die auffällig zweimal vorgetragene Formulierung


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Land und Leute(35), die der Held in Tunesien kennenlernen will, eine Anspielung auf die etwa gleichzeitig erschienene authentische Reiseschilderung von Ernst von Hesse-Wartegg mit dem Titel "Tunis. Land und Leute"(36), mit der May vielleicht in Konkurrenz treten wollte.

   Wir werden Mays eigenwillige, auch Lust am Spiel verratende Art, die aktuelle Realität ausschließlich indirekt in seine Erzählung mit aufzunehmen, später noch zu diskutieren haben. Zunächst aber fällt uns bei der Lektüre auf, daß all die dargestellten Ähnlichkeiten und Verbindungen mit dem Realen nur knapp die erste Hälfte der Erzählung intensiv prägen, nämlich bis zu dem Punkt, als der Held auf die Verfolgung Saadis' und der von ihm entführten Mochallah, der Braut Achmeds, nach Süden(37) einschwenkt und damit das spätere Frontgebiet der Franzosen verläßt. Er wendet sich nun in Richtung der Salzseen, kehrt also zu den abenteuererprobten Örtlichkeiten und Motiven des großen Orientromanes zurück. Und tatsächlich beginnt nun, nach dem ersten Teil, der abgesehen von Saadis' Frauenraub hauptsächlich von Begegnungen und Beratungen berichtet, das weiträumige Reisen und Jagen. An diesem Punkt (Mein Rappe stöhnte laut auf vor Lust, heißt es) findet der eigentliche Eintritt in die Phantasiewelt Karl Mays statt. Diese Zäsur ist durch ein interessantes Detail markiert: Lord Percy weckt, als die neue Richtung eingeschlagen ist und er frohlockend »Endlich ein Abenteuer!« ausruft, beim Helden Erinnerungen an Ritter Don Quixote. Ein Werk der erzählenden Literatur wird also genannt, was sich leicht als Hinweis darauf lesen läßt, daß auch jetzt im vorliegenden Stück die eigentliche Fiktion, die Loslösung vom vergleichsweise realitätsbezogenen Handlungsteil einsetzt. Diese beiläufige Erwähnung eines Werkes oder einer Person der Literaturgeschichte gerade an solchen Trennstellen, beim Eindringen ins Phantastische, ist fortan bei May ausgesprochen häufig: zum Beispiel wird im 1. Band von "Winnetou" beim ersten Eintritt ins Indianerdorf Longfellows "Hiawatha" genannt, im "Scout" kurz nach dem Überschreiten der Grenze Cooper erwähnt und in "Christus oder Muhammed" vor dem ersten geheimnisvollen Abenteuer Dumas' Romanwerk zur Sprache gebracht.(38) Solche deutlichen Akzente sind gewiß kein Zufall und auch nicht, wie geschehen, als einfältiges Prunken des Autors mit seiner Bildung abzutun(39); sie würden als subtile Vorausdeutung auf die besondere Fiktionalität des Werkes eine eigene Betrachtung verdienen, die sich bis auf den "Mir von Dschinnistan" ausdehnen müßte, wo der Held, als er sein Reiseland Ardistan erreicht, nun in bemerkenswerter Umkehrung der früheren Verhältnisse seine Unterlagen vergessen(40) hat, also keinen Schriftstellerkollegen mehr erwähnen kann.

   Ein Vorfall an diesem Wendepunkt im "Krumir", wo das Reale zugunsten der Imagination zurückgedrängt wird, ist für unseren Zusammenhang besonders wichtig, nämlich der ausführlich geschilderte Ab-


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schied [Abschied] von Krüger-Bei, der das Einschwenken nach Süden nicht mitmacht. Dieser Soldat, der sich unserer Expedition natürlich nicht anschließen konnte(41) und in die Hauptstadt zieht, behält damit, im Unterschied zu den übrigen Akteuren, den Nicht-Militärs, die Marschrichtung des französischen Heeres bei. Die so vollzogene Trennung von Krüger stellt zusätzlich klar, daß der Erzähler ab jetzt auf den Bezug zum Tunesienfeldzug verzichten will. Dabei ist die bei der Verabschiedung gegebene und von May auch später nicht korrigierte Fehlinformation, er habe Krüger niemals wiedergesehen(42), in einem tieferen Sinne korrekt, denn so wie in dieser Szene, als Vertreter realer militärpolitischer Unternehmungen, tritt Krüger-Bei in den späteren Erzählungen nicht mehr auf.


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Versuchen wir, an dieser Stelle wieder an den Aventiure-Charakter unserer "Krumir"-Erzählung erinnert, sie in dieser Hinsicht zu bewerten, so müssen wir feststellen, daß die Komposition der Abenteuerkette insgesamt enttäuscht, und zwar gerade in dem etwas mehr als die Hälfte umfassenden zweiten Teil, in dem wir die eigentliche May-Welt wiederzufinden meinen. Die Verfolgungsgeschichte wird zunehmend langweilig, denn unklar bleibt, welche Motive, abgesehen von einer offenbar abgrundtiefen Bosheit, und welche weiteren Pläne den Krumir Saadis zu seinem Frauenraub bewogen haben. Außerdem wiederholen sich im Laufe der Erzählung die Handlungselemente: dreimal läßt sich Saadis als offizieller Gast des Stammes in einem Dorf aufnehmen, und in allen drei Fällen reist er vorzeitig ab. Die drei Hauptgefechte der Erzählung, der Überfall von Saadis' Freunden bei den Sebira, die Erlegung von Panther und Löwe bei den Mescheer und die Jagd auf dem Salzsee, stellen aufgrund der unterschiedlichen Situation keine echte Handlungssteigerung dar. Selbst der Verfolgungsritt auf dem See bietet, als Schlußszene der Abenteuerreihe gesehen, keinen rechten Höhepunkt; zwar wird Mochallah gerettet und das glückliche Liebespaar zusammengeführt, aber Saadis fällt nur als Leiche in die Hände des Helden, so daß die berechtigte Frage nach seinen Absichten tief im Süden unbeantwortet bleibt. Wenn der Erzähler zudem mit bewegten Worten, in der späteren Buchausgabe sogar unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl, auf das Salzsee-Kapitel des Orient-Zyklus hinweist(43), entsteht schließlich zu Recht der Eindruck, daß der Krumir nur deshalb so weit fliehen muß, damit Kara Ben Nemsi seine für spannende Szenen ergiebigen Salzseen wiedersieht.

   Dem Autor, der sonst besser zu arbeiten verstand, ist wohl selbst die Fragwürdigkeit dieser Handlungssequenz aufgefallen. So versucht er


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durch den Mund eines Akteurs die Folge der Kämpfe mit dem Panther, dem Löwen und auf dem See dem Leser als gezielte Progression der Handlung einzureden (»O, was ist el Areth (der Löwe), und was ist Abu 'l Afrid (der Panther) gegen diese Sebcha (diesen See) sagt Achmed(44)), und in der "Rose von Kairwan" korrigiert er rückschauend das Krumir-Abenteuer dahingehend, daß er nun an eine angebliche Gefangennahme des Bösewichts zu erinnern versucht.(45) Mays Unzufriedenheit mit diesem Handlungsverlauf zeigt sich auch darin, daß er den Leser gern davon ablenkt, indem er in die späteren Passagen überlange geographische Aufzählungen einschiebt(46) und auf die eigentlich mit Krüger-Bei verabschiedete politische Aktualität mit einigen Stichworten (Mohammed es Sadak, Blutrache, Grenze zwischen Algerien und Tunesien(47)) wieder anspielt.

   Einen wesentlich günstigeren Eindruck von der Handlung unserer Erzählung gewinnen wir, wenn wir einzelne Episoden isoliert betrachten. Gerade die Schilderung des Rittes über die Salzkruste des Sees besitzt eine kunstvolle Dramatik, die sich aus der Doppelfunktion des bösen Krumir entwickelt: der enteilende Krumir ist zugleich der einzige, der dank seiner Ortskenntnis den Verfolgern Sicherheit auf der Salzdecke, wo ganze große Flächen wankten, schaukelten und kochten unter den dahinrasenden Hufen unserer Pferde(48), bieten kann. Er ist unerbittlich Gehetzter und lebensrettender Führer in einem. Dieses, sagen wir, tragische Angewiesensein der Verfolger auf den Verfolgten, von dem sie um des entführten Mädchens willen nicht lassen konnten und der sie nun als magisch lockender Vorreiter in Fieber(49) hält, nimmt Mays Ich-Helden die gewohnte Stärke. Sieger wird daher nicht eigentlich er, auch wenn er das von Saadis fallengelassene Mädchen retten kann, sondern sein Rappe Rih gewinnt diesen nur von der Leistungsfähigkeit der Pferde entschiedenen Wettkampf: allein Rih, nicht der Stute Saadis' gelingt der rettende Sprung an Land, so daß der Krumir in einem tödlichen Sturz abgeworfen wird. Dieses durch einen beiläufigen Unfall provozierte Ende des Krumir, das man mit Blick auf die gesamte Erzählung als billige Lösung anzusehen geneigt ist, erweist sich als konsequenter Abschluß einer Verfolgungsjagd, bei der es keine menschliche Überlegenheit, sondern nur gegenseitige Abhängigkeiten gibt.

   Auch das Geschehen im Beduinendorf der Mescheer hat eine besondere Ausstrahlung, die durch die Raubtierjagd, die begonnene Liebesbeziehung und vor allem die überraschende Kombination dieser beiden Motive bewirkt wird. Der unglücklichen Liebes-Episode zwischen dem Helden und der jungen Dorfbewohnerin Dschumeilah, dem Naturkind(50), also diesem privaten Idyll, wird der für die Dorfgemeinschaft durchgeführte Kampf mit Naturgeschöpfen anderer Art, mit Panthern und Löwen, danebengestellt; ein Vorgehen, das sich zunächst als Kontrastierung, dann aber als bemerkenswerter Parallelismus herausstellt.


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Denn die nächtlich-heimlich umherstreifenden Raubkatzen treten als Paare auf - May nennt die Tiere einmal Gemahl und Mistreß(51) -, und diese Paare müssen aus Gründen der öffentlichen Ordnung des Dorfes jäh niedergestreckt werden. Ähnlich ergeht es dem menschlichen Paar, denn der Held muß als Landesfremder (Warum war ich kein Beduine! Oder warum ist sie nicht die Tochter eines andern Landes!(52)), also auch aus öffentlichen Gründen, sein häuslich-heimliches Zusammensein mit Dschumeilah beenden, ja sogar wegen ihres strengen Vaters, eines wiederum die Öffentlichkeit vertretenden Scheiks, fast ohne Verabschiedung jäh abbrechen.(53) Wie wichtig May die Verbindung zwischen beiden Komplexen ist, betont er nicht nur durch das erzählerisch etwas plumpe Auftreten der besorgten Dschumeilah bei der Pantherjagd(54), sondern auch in origineller Weise. Er läßt nämlich nach der innigsten Begegnung des Helden mit Dschumeilah (bei der er sie in freilich abgeschmackter Formulierung auf die warmen, nicht widerstrebenden Lippen küßt(54a)) und vor dem Aufbruch zur Pantherjagd, in dem so begrenzten Zwischenraum von wenigen Buchzeilen, von den Dorfbewohnern einen Mummenscherz mit Tanz aufführen und allerlei Jagdabenteuer erzählen(55), macht also die Zusammengehörigkeit des Liebes-Motivs (Tanz) mit dem Raubtier-Motiv (Jagdabenteuer) demonstrativ zum Thema eines dörflichen Schauspiels. Diese Schilderung des Dorftheaters, also einer literarisch-künstlerischen Veranstaltung, erinnert uns in anderer Ebene an den vom Autor veranstalteten Erzählvorgang, an die Erzählung selbst, so daß sich der beschriebene Mummenscherz oder Mummenschanz als Dorf-Geschichte innerhalb der Dorfgeschichte, als Spiel im Spiel darstellt. Seine Erwähnung ist daher wohl als Deutungshilfe des Autors für die fabulierte Abenteuerlichkeit der Erzählung anzusehen, und zwar, wie noch zu zeigen sein wird, über das Liebes-Motiv hinaus. Um aber nochmals auf die Verknüpfung der Liebes- und Raubtierthematik einzugehen - die übrigens schon auf den ersten Seiten, kurz nach dem Grenzübertritt, anklingt, als Liebesverlangen (Achmeds Heiratspläne) und Jagdlust (angesichts von Gazellen) dicht hintereinander genannt werden(56) -: das einzige auf den ersten Blick sichtbare Bindeglied zwischen den Sujets "Liebesbeziehung" und "Raubtier" ist lediglich die Vorstellung von "Naturgewalt", und so entpuppt sich die von May in seinen Dorfszenen viel weiter, bis zu den gesellschaftlichen Behinderungen hin ausgeführte Parallelität zwischen den beiden Komplexen (die allerdings berühmte Vorbilder in den Mythologien hat) als psychologisch feinfühliges literarisches Kabinettstück. Für den Kenner übrigens der auf psychischer und sozialer Ebene höchst tumultuösen Vorgeschichte von Karl Mays Ehebund, die auch ein Dorfereignis war, ist deren Einfluß auf diese Werkspassage leicht zu sehen.

   Interessant ist auch die Begegnungsszene mit Krüger-Bei zu Beginn


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des Werkes, in der May den Helden von einer Gazellenjagd ab- und zu dem deutschen Oberst hinlenkt, also den Leser aus der Exotik in die europäisch-militärische Umgebung zurückholt. Dies freilich nur für einen Augenblick, denn Krüger-Bei, den wir bisher als Vertreter des Militärs vorgestellt haben, besitzt eine weitere Auffälligkeit: er spricht sowohl ein fehlerhaftes, dialektgefärbtes Deutsch als auch ein gepflegtes Arabisch, was sich in dem natürlich durchweg deutschen Text dadurch realisiert, daß Krüger in hübschen Kontrasten zwischen zwei Sprachstilebenen wechseln darf. Er umschließt damit vertraute Nähe und exotische Ferne gleichermaßen, baut also dem in der Exotik noch tastenden Leser die Brücke, indem er sich, neben dem Ich-Helden, als Identifikationsfigur anbietet; eine Funktion, die übrigens Krüger hier deutlicher einnimmt als in dem späteren "Satan"-Roman, wo seine Sprachverdrehungen ihre oberflächliche Dialektfärbung verlieren und zur fast modernen absurden Sprachparodie werden.(57) Wie in dem Dorf-Kapitel finden wir auch in der Gestalt des ausgewanderten Krüger-Bei biographische Reminiszenzen, und zwar sogar in Krügers Sprachvermögen: er ist, wenn er sich der deutschen Sprache bedient, ähnlich gehandikapt wie May, dessen Stil, nach einem seiner Interpreten, »die Enge der Sprache dessen (verklagt), der im Dialekt aufwuchs«.(58)

   Wiederum auf diese Spur des Autobiographischen gestoßen, würde es nicht schwerfallen, auf Schritt und Tritt dieser Tunesien-Reise, bei all diesen Braut-, Diebstahls-, Flucht-, Jagd- und nicht zuletzt Gerichts-Episoden die Umsetzung von persönlichen Erfahrungen des Autors wiederzufinden, auch hier eine »Reise ins Innere« (Heinz Stolte(59)) zu konstatieren. Greifen wir noch eine solche Szene heraus: außerordentlich gereizt reagiert der Held, als er eines Pferdediebstahls, also einer von Mays tatsächlichen Straftaten, bezichtigt wird, und mit einem der Erzählung sonst fremden nationalen Hochmut preist er sein Deutschland, wo es angeblich mehr als woanders als Schande(60) gelte, Pferdedieb zu sein. Nicht weiter registrieren wollen wir jedoch diese im "Krumir" gebotene Fülle von Bildern und Gegenbildern zu Mays Schicksal. Doch sei angemerkt, daß hier, denken wir nur an das Nebeneinander von Liebe und Raubtierjagd, an die zahlreichen Häuptlings-Vater-Typen und allgemeiner an den mythisch-archaischen Hintergrund dieser Nomadenepisoden, ein psychoanalytischer Deutungsansatz zu einer reichen Ernte führen würde; und deutlich würde uns auf diesem Wege "Der Krumir" als ein Vorläufer des ersten Bandes der "Winnetou"-Trilogie erscheinen, wo in den Figuren Nscho-tschi und Intschu tschuna die psychisch elementaren Ängste um Liebesglück und Vaterstrenge neuen Ausdruck finden und einer radikaleren Lösung, Doppelmord statt Abschied, zugeführt werden.(61)

   Wichtiger als diese biographische Orientierung, als die Frage nach eher unbewußten Einflüssen, soll uns für unseren Rahmen ein Sachver-


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halt [Sachverhalt] sein, der uns zu Mays bewußtem Gestaltungsvermögen zurückführt. Wir meinen die Ähnlichkeiten der Nebenfiguren mit dem Haupthelden, die, letztlich zwar angeregt durch die soeben angedeutete Wirkung des Autorschicksals auf Handlung und Personal, von May auf der Ebene des Erzählten sorgfältig und einprägsam konstruiert wurden, insbesondere also auch dem nicht über Mays Vita Informierten auffallen müssen. Der Deutsche Krüger-Bei ist früher von Algerien nach Tunesien eingewandert, so wie es der Held, sein Landsmann, jetzt tut; Achmed liebt das Mädchen Mochallah gegen den Willen ihres Vaters, ähnlich wie es dem Helden mit Dschumeilah ergeht; Lord Percy ersehnt neue Abenteuer, die der hilfsbereite Held um der guten Sache willen und als Schriftsteller seiner Leser wegen gerne in Kauf nimmt; und der stürmische Ali en Nurabi, der überstürzt die Verfolgung beginnen will, nimmt die Ungeduld des Helden vorweg, die diesen später bei einer erneuten Flucht des Krumir befällt.(62) Auch der Krumir ähnelt dem Helden, wenn er ein Mädchen verbotenerweise für sich gewinnen will, wenn er sich wiederholt zum Gastfreund eines Dorfes erklären läßt und vor allem in dem Moment, als beide die Gefahren des Salzsees eingehen.(63) Jede der wichtigen Personen der "Krumir"-Erzählung darf also Züge der Hauptfigur verkörpern; in ihnen wird jeweils als isoliertes und überzeichnetes Abbild eine Seite des Helden sichtbar gemacht, seine grenzüberschreitende Reiselust (Krüger), seine auf Frauen wirksame Männlichkeit (Achmed), sein Abenteuer- und Kampfesmut (Percy), sein Justizeifer (Ali) und schließlich, wenn wir die Parallelen mit dem Krumir sehen, die Gefährlichkeit und vielleicht sogar die Fragwürdigkeit aus sozialer Sicht seines ungebundenen Lebenswandels. Dieser offenbar bewußte Versuch Mays, seine Hauptfigur in die Nebenfiguren aufzuspalten - möglicherweise mit der Absicht, das gesamte Personal der Erzählung zu einem Ensemble von sich wechselseitig bespiegelnden Figuren auszuformen -, ist gewiß nicht nur positiv zu bewerten, da auch einige der störenden Motiv-Wiederholungen, die die erwähnte streckenweise Langweiligkeit mitverantworten, durch dieses Vorgehen bedingt werden. Andererseits sind die auf diese Weise einander ähnlich gemachten Figuren eher davor gefeit, zu stereotypen, sich klischeehaft gegenseitig kontrastierenden Abenteuer-Akteuren abzusinken, so daß insgesamt aus der allgemeinen Ähnlichkeit, aus den oft nur in Nuancen liegenden Unterschieden May eine größere Realistik erzielt, als seinen Reiseerzählungen sonst eigen ist. Nennen wir einen konkreten Fall: das Duo Held und Achmed erscheint wirklichkeitsnäher als das bekannte Paar Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef der damaligen Schaffensperiode, und zwar vor allem deshalb, weil der Held und Achmed nicht nur Waffengefährten, sondern auch Leidensgenossen in Liebesabenteuern sind; bei Kara und Halef, von denen nur der zweite Liebesprobleme haben darf und so eine existentielle Ge-


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meinsamkeit [Gemeinsamkeit] fehlt, herrscht eher der Eindruck eines märchenhaft typisierten Figurenpaares vor. Daß eben durch diesen Eindruck vom Paar Kara/Halef die größere, Mays Ruhm mitbegründende Faszination ausgeht, soll nicht bestritten werden, doch darf diese Einsicht uns nicht den Blick auf die erzählerischen Qualitäten der vergleichsweise realistischen Darstellung des Freundespaares im "Krumir" versperren.

   So haben wir, um aus unserer vor allem auf einzelne Details gerichteten Betrachtung eine Bilanz zu ziehen, nach mehreren Schwächen im Gesamtaufbau und in der Handlungsreihung auch zahlreiche positive Züge aufdecken können. Diese liegen zum einen in den kunstvoll-mehrdeutigen Darstellungen einiger Einzelepisoden und zum anderen in den Figurenkonstellationen mit ihren teilweise realistisch anmutenden Nuancierungen, die starren Typisierungen entgegenwirken. Wir halten den "Krumir", als unterhaltende Abenteuergeschichte gesehen, für eine insgesamt gelungene Erzählung, die sich durch bemerkenswerte Vorzüge, aber auch durch einige Schwächen in Mays Reiseerzählungswerk abhebt.


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Bei diesem Urteil bleibt zu klären, ob es berechtigt ist, vor dem Hintergrund der politischen Umwälzungen, die der Anlaß für die Niederschrift des "Krumir" waren, dieses Werk als schlichte Abenteuergeschichte anzusehen und zu bewerten; und wenn es so wäre, daß May sie lediglich um des Abenteuer-Erzählens willen ersonnen hat, so müßte man ihm den Vorwurf allzu vordergründiger Themenwahl machen. Präsentiert uns May, so wäre dann überspitzt zu fragen, mit seiner Abenteuerkette nicht lediglich ein buntes Spektakel angesichts eines imperialistischen Eroberungszuges, auf den er, um sich und sein Werk interessant zu machen, indirekt, aber deutlich genug anspielt?

   Dieses Problem wird uns zu neuer Sicht auf die Erzählung führen, und um sie zu gewinnen, erinnern wir uns daran, daß May den ersten Bezug zur aktuellen Politik schon durch den Titel »Der Krumir« herstellt, der überraschenderweise das historische Geschehen um den Stamm der Krumir auf eine Einzelperson, auf  d e n  Krumir zu verengen scheint. Von einem einzelnen Krumir können die Nachrichten aus Nordafrika wohl nie berichtet haben(64), und so mag dieser Titel und schließlich die ganze um diesen Bösewicht aufgebaute Erzählung den unterrichteten Zeitgenossen nicht nur angezogen, sondern auch befremdet haben.(65) Dieses Vorgehen Mays, das konträr zu aktuellen Meldungen über einen Stamm einen einzigen Angehörigen und sein isoliertes Tun herausstellt, fällt auch deswegen auf, weil May sonst die Gelegenheit gern nutzt, Umtriebe von ganzen Gemeinschaften, wie etwa


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des wirklich terroristischen Ku Klux Klan im "Scout", als tragendes Element aufzunehmen.

   Die ungewohnte Situation aber ist erklärbar, denn für Mays Berufung auf  d e n  Krumir hat sich eine mögliche Quelle, von besonderer Art freilich, auffinden lassen: es hat den einen Krumir schließlich doch gegeben, zwar nicht als reale Person in gängigen Verlautbarungen, sondern als Fiktion in einem aufsehenerregenden Zeitungsartikel, der ironisch diese Verlautbarungen kommentierte. Der Artikel erschien mit der Überschrift "Cherchez le Khroumir!" am 21. April 1881, also kurz nach Beginn des tunesischen Unternehmens, in der sozialistischen Pariser Tageszeitung "L'Intransigeant"; sein Verfasser war der Gründer und Herausgeber dieses Blattes Henri Rochefort, der "Fürst der Polemiker" (prince des polémistes, ein Beiname, der May gewiß angesprochen hat), wie er seinerzeit genannt wurde. In dem Artikel wird behauptet, daß trotz aller amtlichen Beteuerungen nie ein Krumir gesehen worden sei, ja daß es die Krumir gar nicht gebe, und dann folgt die Passage, die einen literarischen Vorläufer von Mays Titelfigur enthält:

   »Wir sind sicher, daß das Kabinett Ferry dreißigtausend Francs demjenigen böte, der ihm einen Krumir verschaffte, um ihn dem Heer zeigen zu können, und sei es nur als Musterstück. Doch leider ist ein Krumir nirgendwo aufzutreiben... Der verkrachte Student, der nur die Schlauheit besäße, ein paar Tätowierungen an sich vornehmen zu lassen und sich so in einen Krumir zu verwandeln, wäre alle seine Sorgen los. Und wenn er dann noch erzählen würde, er sei nach einem elfstündigen Kampf von der Brigade des Generals Forgemole gefangengenommen worden, würde ihn ganz bestimmt der Staat mit Gold und Edelsteinen überschütten... Es ist sehr zu vermuten, daß von der "exemplarischen Bestrafung", die die Regierung an diesen sogenannten Räubern durchführen zu wollen vorgibt, am Schluß nur ein Plakat in den Folies Bergères übrigbleibt, das verkündet, ein Krumir werde ausgestellt und sein Auftritt finde um neun Uhr abends statt. Die erregte Menge wird sich dieses außergewöhnliche Wesen von nahem besehen und bald verdutzt feststellen, daß es in Les Batignolles als Kind französischer Eltern geboren ist.«(66)

   Mit diesen und ähnlichen Artikeln opponierte der "Intransigeant", anfangs allein, gegen das militärische Vorgehen in Tunesien, und wenngleich sich später andere Blätter, auch rechtsstehende wie der "Clairon", dieser Kampagne anschlossen, so ist es doch das Verdienst des großen und in seiner Gesamtpersönlichkeit auch schillernden Journalisten Rochefort, die »Tradition eines aggressiven Antikolonialismus« (Jean Ganiage(67)) in Frankreich eingeleitet zu haben. Die Angriffe Rocheforts, der, wie in unserem Auszug schon sichtbar wird, auch die Beleidigung nicht verschmähte und daher in Prozesse verwickelt wurde, konnte zwar die kolonialistische Expansion nicht verhindern. Doch seine Artikelserie, die allerdings später das Vorgehen in Tunesien allzu eng auf einzelnen Schmiergeld-Ränken des französischen Botschafters


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basiert sah, öffnete dem Publikum die Augen über die als Vorwand benutzte Krumir-Affäre und die Verbindungen zwischen Kapitalgesellschaften und Regierungskreisen. (Les Batignolles, ein Stadtviertel im Nordwesten von Paris, das Rochefort im Wortspiel als Geburtsstätte des Krumir bezeichnet, ist auch der Name einer solchen Gesellschaft.) Noch im November desselben Jahres mußte Ferry, der das Parlament während der militärischen Anfangserfolge fast ganz auf seine Seite gebracht hatte, zurücktreten.(68)

   Der zitierte Artikel präsentiert also neun Monate vor Mays Erzählung der Öffentlichkeit den einzelnen Krumir, doch in diesem formalen Aspekt erschöpft sich nicht die Ähnlichkeit von Rocheforts literarischer Karikatur, die den militärischen Berichten von den Kämpfen mit diesem Stamm den Wahrheitsgehalt von Maskeraden und Theaterspielen beimißt, mit Mays Erzählung; hat diese doch insbesondere etwas Maskeradenhaftes an sich, wie sich schon in dem goldstrotzend uniformierten Krüger-Bei zeigt und worauf uns May vor allem durch seinen Mummenscherz mit Tanz hinlenkt, jenes in die Erzählung eingebettete Theaterspiel, das zumindest das gesamte Dorfgeschehen zu charakterisieren scheint. So entdecken wir, mit dem Blick auf Rocheforts scharfe Satire, eine neue Seite von Mays Erzählung, die ihrer Abenteuerlichkeit eine politische Aussage verleiht. Denn in der Titelgebung und in zahlreichen Motiven setzt Mays Erzählung in die literarische Tat um, was Rocheforts Artikel seinen Lesern polemisch für die Zukunft verspricht: die phantastisch aufgeputzte Zurschaustellung eines »Krumir« genannten Bösewichtes, dessen isolierter und pointierter Auftritt zwangsläufig die öffentlichen Erklärungen zur Kolonialpolitik in Tunesien, die May bezeichnenderweise mit keinem Wort direkt und im Ernst erwähnt, lächerlich macht und damit diese Kolonialpolitik selbst als abwegiges Unterfangen erscheinen läßt. Sogar Rocheforts Imperativ »Sucht den Krumir!« könnte als Motto auch über Mays Verbrecherjagd mit ihrem Spurensuchen stehen. Freilich geht Rocheforts Wunsch, man möge in der Krumir-Maskerade den Einfluß des Großkapitals aufdecken, bei May nicht in Erfüllung. Dafür arbeitet May in seiner charakteristischen Weise, die uns an die ethische Grundhaltung seiner Indianererzählungen und besonders wiederum an den 1. Band von "Winnetou" denken läßt: er kümmert sich um den Bereich, den Rochefort bei seiner auf das Mutterland und sein Kapital konzentrierten Kritik nicht mit einbezieht, er widmet sich in den Beschreibungen der Stämme und Dörfer einfühlsam den Lebensverhältnissen der von der Eroberungssucht betroffenen Bevölkerung. Ja er verbündet sich mit ihr, wenn er gegenüber der zweimaligen Einladung Krügers in die Europäerkreise der tunesischen Hauptstadt höflich-reserviert bleibt(69), aber bei seiner Liebesepisode sehr gern (Warum war ich kein Beduine!) unter den Eingeborenen seßhaft geworden wäre.


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   Wenn wir auch nicht sicher sagen können, ob May die Polemik Rocheforts, etwa durch die Vermittlung deutscher Presseberichte, gekannt hat, so ist doch sichtbar geworden, daß May mit seiner Darstellung des Krumir, die die militärischen Meldungen respektlos aufgreift, umformt und sogar satirisch verzerrt, in der geistigen Verwandtschaft mit Rochefort und seiner antikolonialistisch konzipierten Ironie vom Theater-Krumir steht. Dieser Aufdeckung einer politischen Dimension der Erzählung steht auch nicht im Wege, daß es dem Phantasten May hierbei wohl mindestens ebenso sehr um eine poetische Freude am Spiel(70) wie um eine zeitkritische Stellungnahme zu tun war. Die weiteren auffälligen Parallelen zwischen Realität und Mays Erzählung, die wir bereits aufgezählt, aber noch nicht gedeutet haben, ordnen sich in dieses Bild von einer die Realität satirisch verzerrenden Abenteuerlichkeit genau ein. Wie der ganze angeblich raubende und mordende Stamm zu einem einzelnen Bösewicht, so wird das einmarschierende 30 000-Mann-Heer zum unternehmungslustigen Reise-Duo Held und Achmed reduziert, aus illustren Generälen wird der dicke Oberst Krüger mit seiner obskuren militärischen Laufbahn, und der historische Eroberungszug transformiert sich - von Anfang an wohlgemerkt, als gleich nach dem Grenzübertritt Achmed, der politisch-militärischen Welt gänzlich fern, seine drängenden Heiratspläne kundtut - in ein teils amouröses, teils jagdfreudiges Verfolgungs- und Versteckspiel um Frauen-, Kamel- und Pferderaub. Das an Personen und Aufgaben umfangreiche Unternehmen einer abendländischen Großmacht wird also farcenhaft verkleinert, die politische Affäre um den Krumir-Stamm wird in einer privaten Abenteuer-Affäre parodiert. Wir wollen sogar vermuten, daß die zahlreichen Debatten mit Scheiks und Dorfältesten, die wir als Autoritätskonflikte des Schreibers erklärt haben, ebenfalls ein bekanntes reales Vorbild persiflieren, nämlich die Verhandlungen in der europäischen Diplomatie und in der französischen Abgeordnetenkammer, die den Tunesienfeldzug bestimmt und begleitet haben.

   Gewiß können wir nicht alle bewußt eingesetzten Motive der "Krumir"-Erzählung im Sinne von Rocheforts Artikel interpretieren, sondern müssen uns Mays Inkonsequenzen fügen, müssen einräumen, daß er über weite Strecken nichts anderes vorhatte, als dem Leser spannende Abenteuer zu bieten. Anders ließe sich etwa die Zäsur in der Mitte des Werkes mit dem Aufbruch nach Süden und der Ritt auf dem Salzsee kaum erklären. Sodann erinnern uns in der Erzählung die realistischen Züge und vor allem die ausführlichen Angaben zur örtlichen Geographie daran, daß May auch der Gedanke bewegt hat, als Reiseschriftsteller vor die Leserschaft zu treten, der, wenn auch nicht alles selbst erlebt, so doch die Schauplätze gesehen hat. Aber immer wieder setzt sich das andere, parodistische Bestreben Mays durch, das die äußere Einheitlichkeit des um Authentizität bemühten Abenteuer- und


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Reiseberichts zerstört und zweifellos aus rein literarischer Sicht bemängelt werden kann. Gerade die Episoden und Motive, die sich durch geschickte Anspielungen an die aktuelle Politik vordergründig anzulehnen scheinen und so zum bunten Abenteuer-Spektakel werden, führen ein politisch bedeutsames Persiflieren militärischer Verlautbarungen vor, vollführen eine Maskerade im Sinne Rocheforts. Sie erweisen sich als Mummenscherz mit Tanz oder, um Mays Worte modern wiederzugeben, als Happening, als kritisches Polit-Happening, das unter der Anleitung oder zumindest in geistiger Nähe einer antiimperialistisch eingestellten Zeitung die europäische Invasion in Tunesien zur Narretei umfunktioniert.

   Diese beachtliche Verwendung abenteuerlicher Elemente für die politische Satire findet sich übrigens, eindeutiger und konsequenter durchgeführt, in einer kleinen Szene von Mays "Et in terra pax" wieder, jenem pazifistischen späten Roman, der gleichfalls einem Ereignis in der Kolonialpolitik, der China-Expedition von 1900/01, seine Entstehung verdankt und schon dadurch in der Nachfolge unseres "Krumir" steht. Dort(71) randaliert einmal eine Gruppe chauvinistischer Engländer in einem internationalen Hotel auf Ceylon, so daß der Diener Omar des Erzählers, der die politischen Parolen der Lärmenden aufschnappt, einen Mann, welcher Ohm Krüger heißt, als Opfer einer Prügelei im Hotel vermutet. Omars naive, ungewollt satirische Betrachtungsweise verzerrt damit das imperialistische Geschehen in Südafrika zur reinen Prügelszene, ja, wenn wir kurzerhand die anschließend beschriebene Zimmerschlacht mit einbeziehen, zum Theaterklamauk, und bemerkenswerterweise scheint der Erzähler dieser Sicht seine Zustimmung zu geben. Denn obwohl er durch angedeutete Äußerungen der Engländer ihr Gesprächsthema genau festlegt (den Jameson-Raid und die Krüger-Depesche um 1895/96), teilt er dem Leser betont reserviert und wie unwissend mit, sie feierten irgend ein südafrikanisches Ereignis, und rechtfertigt somit, die Satire zu Ende führend, die einfältige Interpretation seines Dieners.

   "Der Krumir" hat die verständnisbereite Leserschaft nie gefunden. Denn, wie schon bemerkt, mußte das »Der« im Titel den aufmerksamen Zeitgenossen befremden, und wahrscheinlich ist es unter den Redakteuren, die die Erzählung durch die "Belletristische Correspondenz" zugestellt bekamen, bei diesem Befremden geblieben, als sie statt des erwarteten direkten Bezugs zur kriegerischen Realität die weiteren karikierenden Anklänge entdeckten. Die zeitkritische Tendenz von Mays Verfahren wird ihnen nicht aufgefallen oder, was näher liegt, ihnen und der Tendenz ihrer Blätter nicht genehm gewesen sein. Mays Erzählung wurde, als ihre politischen Anspielungen noch hochaktuell waren, von keiner Publikumszeitschrift akzeptiert. Als May sie elf Jahre später in den zehnten Band seiner Reiseerzählungen aufnahm


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(1893), konnte dieser Bezug für die neue Leserschaft im Detail nicht mehr sichtbar sein. Dem Autor ist die Erzählung sehr wichtig gewesen; hat er sie doch damals seinem Verleger Fehsenfeld gegenüber eine meiner besten Arbeiten(72) genannt und weitere elf Jahre später, im Jahre 1904, in einem Verteidigungstext öffentlich behauptet, er habe dafür in Frankreich den Doktorhut erhalten.(73) Erinnerte sich also May daran, daß die antikolonialistische Tendenz seiner Erzählung auf eine französische Quelle zurückgeht?


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Der persiflierende Zug, den wir in unserer Erzählung aufgedeckt haben, liegt zwar durch seine Anlehnung an spezielle Fakten einer späteren und insbesondere der heutigen Leserschaft ohne zusätzliche geschichtliche Information nicht mehr offen zutage, doch hat er, wie uns scheinen will, auch heute noch gut sichtbare Spuren im Werk hinterlassen, die wir zum Schluß darstellen wollen. Wir finden sie in dem Streben nach Internationalität, in den übernationalen, länderübergreifenden Elementen der Erzählung, die das lokale Geschehen in Tunesien in einen weltweiten Rahmen stellen: zum einen der Umstand, daß die nach Tunesien einreisenden Personen, die beiden Deutschen Ich-Held und Krüger, der Engländer Percy und der lange im französischen Algier wohnhaft gewesene Achmed, aus verschiedenen Ländern kommen, und zum anderen die in Erzählerkommentaren und Gesprächen enthaltenen Rückblicke auf die Weltreisen der Hauptpersonen. So spricht der Held und Erzähler von seinen Fahrten bis jenseits des großen Meeres, Percys Jagden auf Ceylon und Achmeds Aufenthalt in Stambul(74) werden genannt, und Ali en Nurabi, der übrigens in, so der Tenor von Mays Text, kurzsichtiger Verblendung Achmed den Auslandsaufenthalt vorwirft(75), wird als Mekkapilger vorgestellt.(76) Prinzipiell sind, so möchte man bei diesen wenigen Beispielen wohl einwenden, solche Querverweise auf andere Länder in Mays Erzählungen nichts Besonderes, doch außergewöhnlich ist, wie über alle Maßen zahlreich und weitgespannt diese Verweise in der relativ kurzen "Krumir"-Erzählung geraten sind. May greift hier auf eine solche Fülle von Länder- und anderen geographischen Namen zurück, wie er allenfalls in seine umfangreichen Romane, die ein Vielfaches der Länge unserer Erzählung haben, einfließen läßt. Versuchen wir, diese direkt oder indirekt angeführten Namen aufzulisten, so finden wir (meist jeweils mehrfach) Deutschland, Frankreich und England, die nordafrikanischen und orientalischen Länder von Algerien über Ägypten bis zum Lande der Kurden und Perser, ferner Indien und beide Amerika, Südafrika (das Land der Kaffern) und Australien, ja sogar Lappland müssen wir mitzählen.(77)


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   In diesem wortreichen, aufdringlich anmutenden Bemühen Mays, den ganzen Globus zu umfassen, ihn durch geradezu bühnengerechte Rück- und Ausblicke auf das schmale Podium seiner Erzählung zu bringen, macht sich zunächst bemerkbar, daß May in jener Zeit auch mit seinem Orientroman beschäftigt war, also im Begriff stand, seinen Ich-Helden endgültig zum "Weltläufer" (so nennt er sich im Untertitel unserer Erzählung) zu entwickeln, und dieses eifrige Nennen von Ländernamen erscheint so als Vorstufe der öffentlichen Prahlereien des angeblich weitgereisten und polyglotten Schriftstellers der späten neunziger Jahre. Auch hat hier wohl das Motiv Tunesien den Autor May zu weiten Reiseausblicken ermuntert - Ähnliches sahen wir in "Satan und Ischariot" mit der Erwähnung Indiens -, und ihr zahlreiches Auftreten wäre dann eine Umbildung, sozusagen eine Transformation ins Komplementäre der bereits beschriebenen und durch Tunesiens einladende Lage begründeten Tatsache, daß sich in Mays weltumspannenden Großromanen fast immer ein Tunesien-Kapitel findet. Doch drängt sich noch eine andere, aktuell-politische Erklärung auf, wenn wir das weltpolitische Klima vor und während der Tunesien-Invasion betrachten, den Sachverhalt also, daß mehrere europäische Staaten die Entwicklung in Tunesien beobachteten, beeinflußten und - wir sprachen von der Überwachungskommission für die tunesische Finanzwirtschaft und der Behandlung der tunesischen Frage auf dem Berliner Kongreß - kontrollierten, daß demnach in Tunesien zahlreiche Länder durch ihr kolonialistisches Interesse gegenwärtig waren. Dieses auch von den Zeitungen verbreitete internationale Treiben, dieser "Internationalismus" um dieses Land, hat wohl May zu dem Internationalismus der "Krumir"-Erzählung inspiriert, durch den, in besonderer Weise dem realen Vorbild folgend, ebenfalls eine Vielzahl von Ländern in Tunesien anwesend sind. Es ist freilich eine andere Art von Anwesenheit, der es nicht um Kontrolle und Eroberung geht, ein Internationalismus nämlich, mit dem May, betrachten wir die Globetrotter unserer Erzählung genau, die realen Verhältnisse umkehrt. Dem weltweiten Machtstreben um Tunesien stellt May ein Reisebild entgegen, das fern von Diplomatie und Krieg Tunesien mit allen Weltteilen in Verbindung bringt, indem er es zum Reiseland brüderlich zusammenarbeitender und den ganzen Globus friedlich durchstreifender Helden macht.

   Wir wissen nicht, inwieweit der phantasierende May dieses Gegenbild bewußt und planvoll erstellt hat; eine explizit formulierte Kritik an der Politik Europas suchen wir vergebens. Doch fällt uns wieder eine Ähnlichkeit mit dem "Pax"-Roman auf, die uns in unserem Erklärungsversuch bestärkt. Dort stellt May einmal das Nationalitätengemisch auf der Yacht Yin - also auf noch kleinerer Bühne - und zugleich die antiimperialistische und kosmopolitische Aussage dieses Bildes mit deut-


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lichen [deutlichen] Worten klar, wenn er die von überall her zusammengetroffene Gesellschaft ..., Engländer, ein Deutscher, ein Araber, ein Chinese, als generelle Aufforderung dafür beschreibt, daß die Wohlmeinenden aller Nationen sich zu vereinigen haben, um die unausbleiblichen Folgen eines zuvor berichteten »civilisatorischen« Terrorisierens wieder gut zu machen.(78)

   Der tüchtigste der Helden in unserer Erzählung ist allerdings ein Deutscher, was er, bei allem Globetrottertum ein Kind seiner Zeit, selbstbewußt bekennt. Doch er verfällt nicht in nationalistischen Hochmut, abgesehen von der erwähnten Diebstahlsbeschuldigung, wo offenbar Mays persönliche schmerzhafte Erfahrung so weit durchgeschlagen hat, daß sie ihn zur reaktiven Überheblichkeit geführt hat. Ein Punkt sei nicht übersehen: wohl wagt der Held, der übrigens mit entschiedenen Worten für religiöse Toleranz(79) eintritt, Kritik an den Fertigkeiten der eingeborenen Nomaden, doch stellt er ihnen mit Vorliebe nicht die Europäer, sondern andere unzivilisierte Völkerschaften wie die Indianer als Vorbild hin.(80) Das kolonieversessene Abendland wird kaum als Bezugspunkt verwendet.

   Wir haben zu Beginn unserer Betrachtungen die universale Reiselust der Mayschen Helden genannt und dieses dauernde Unterwegssein, dieses ständige Zusammentreffen von nichtseßhaften Leuten als ein Charakteristikum der Werke Karl Mays bezeichnet. Dieses von May grundsätzlich in emanzipatorischem Sinne verstandene Motiv scheint in dem speziellen Internationalismus, dem völkerverbindenden Globetrottertum seiner "Krumir"-Erzählung zum ersten Mal eine politische Qualität zu bekommen. Das Bestreben Mays, den ganzen Globus in den Abenteuern seiner Erzählung sichtbar zu machen, hat, sagten wir, auch theatralische Züge, und dies führt uns zurück zu dem anderen politischen Phänomen, verträgt sich damit, daß die Abenteuerlichkeit im "Krumir" nicht nur eine simpel aufgebaute Handlungskette mit allerdings gelungenen Einzelepisoden bietet, nicht nur angebliche Reiseerfahrungen mit teilweise realistischen Zügen vermittelt, auch nicht nur durch die Abbildung sozialer Leiden des Autors den Kenner (und im Unbewußten vielleicht jeden Leser) anspricht, sondern uns streckenweise als eine Karikatur, als Happening zu den Fakten des Tunesienfeldzugs von 1881 erschien. "Der Krumir", den wir in mehreren seiner Motive als Vorläufer bekannterer Werke Mays erfaßt haben, erweist sich so in einem speziellen bedeutenden Sinn als Vorläufer; er ist eine frühe Etappe auf dem Wege zu Mays Alterswerk, zu jenen seiner Passagen, die die imperialistischen Kriege der Europäer direkt zur Sprache bringen und brandmarken. Ziehen wir ein drittes Mal "Et in terra pax" heran: könnte die dort vorgetragene bittere Kritik an den nach China ziehenden Großmächten, an der Erfindung ihrer »Interessensphären«(81) nicht auch in ähnlicher Form der "Krumir"-Erzählung angefügt werden?


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Wir zitieren die Erzählung "Der Krumir" nach dem Abdruck in Band X "Orangen und Datteln" (1894) der Gesammelten Reiseerzählungen Karl Mays, der den fast unveränderten Originaltext auf den Seiten 213-425 enthält. Das im Erscheinen begriffene Buch Karl May: Der Krumir [Sammeltitel]. Gelsenkirchen 1985 gibt mit einer Einführung von Wilhelm Vinzenz den Erstdruck wieder, der 1882 unter dem Titel "Der Krumir. Nach den Erlebnissen eines »Weltläufers« von Karl May." in der "Belletristischen Correspondenz", einer für Zeitungsredaktionen bestimmten Zeitschrift des Verlages Velhagen & Klasing, erschienen ist. - Allgemein bezeichnen römische Zahlen die Bände der Gesammelten Reiseerzählungen (bzw. Reiseromane) Karl Mays, Freiburg i. B. 1892-1910, eine mit ergänzendem Material versehene Reprintausgabe dieser Reihe liegt seit kurzem vor: Karl May: Freiburger Erstausgaben. Hrsg. v. Roland Schmid. Bamberg 1982-84. Herrn Dr. Wilhelm Vinzenz sei für seine Hinweise herzlich gedankt.

1 Zur Unruhe in Mays Alterswerk, die etwas »Vorwärtstreibendes und -drängendes« enthält, siehe Hans Wollschläger: Das »eigentliche Werk«. Vorläufige Bemerkungen zu "Ardistan und Dschinnistan". In: Jb-KMG 1977, 58-80 (63f.)

2 Nachdrücklich lenkt May in seinen eigens für die Jugend bestimmten Erzählungen, indem er dort den Er-Stil verwendet, den Blick auf die Gesamtheit des Personals und seine zahlreichen Identifikationsmöglichkeiten. Siehe hierzu Heinz Stolte: Ein Literaturpädagoge. Untersuchungen zur didaktischen Struktur in Karl Mays Jugendbuch "Die Sklavenkarawane", 1. Teil. In: Jb-KMG 1972/73, 171-194 (183f.) und Bernhard Kosciuszko: Nachwort. In: Karl May: Der Geist des Llano estakado. Stuttgart 1984 (Reclam 8235), 326-346 (342f.)

3 XXI, 284f.

4 Für solcherart Selbstkritik und Selbstverspottung schon vor dem Alterswerk gibt es einige Belege; siehe die Deutung der Rahmenerzählung von "Old Surehand" bei Ekkehard Koch: Der "Kanada-Bill". Variationen eines Motivs bei Karl May. In: Jb-KMG 1976, 29-46 (41f.) und die Analyse des Hampel (aus "Der Ölprinz") bei Heinz Stolte: Narren, Clowns und Harlekine. Komik und Humor bei Karl May. In: Jb-KMG 1982, 40-59 (49f.)

5 XXI, 316

6 X,158

7 Dies sind "Giölgeda padishanün" (1881), "Der Krumir" (1882) "Deutsche Herzen, deutsche Helden" (1885-1887), "Christus oder Muhammed" (1890) "Krüger-Bei" (der 2. Teil von "Satan und Ischariot", 1894) "Der Kutb" (1894) und "Eine Befreiung" (das Schlußkapitel der "Rose von Kairwan", 1894).

Die fiktive Chronologie von Mays Tunesien-Abenteuern zu erstellen ist schwierig, vgl. Klaus Eggers: Anmerkungen zu Karl Mays Erzählung "Christus oder Muhammed". In: M-KMG 52 (Juni 1982), 3-16 (6f.). Zu Eggers' Datierungsversuchen ist zu ergänzen, daß "Christus oder Muhammed" einige Jahre vor 1881 spielen muß, wenn man die Rückblicke und Erläuterungen in "Eine Befreiung" (Karl May: Die Rose von Kairwan. Hildesheim-New York 1974, 277f. und 289) und "Der Kutb" (XXIII, 361 und 355) beim Wort nimmt. - Die Handlungszeit des "Krumir" liegt vor der von "Christus oder Muhammed", wo der Held von damals, als ich von dem Krumirlande aus nach Süden ritt, spricht (X, 203). - Warum ziemlich zu Beginn des "Krumir" für den Helden sein Ritt vom Lande der Krumirs nach Süden bereits Vergangenheit ist (X, 263) und auf welche zwei Aufenthalte in Krüger-Beis Nähe der "Satan"-Roman anspielt (XXI, 301), sind offene Fragen, die uns vielleicht davor bewahren sollten, in Mays Erzählerfiguren stets ein und dieselbe Person zu sehen. Zu dem Problem, ob der Erzähler des "Krumir" mit Kara Ben Nemsi gleichzusetzen ist, siehe die genannte Einführung Vinzenz', 4. Abschnitt; vgl. auch die Angaben dort zur Handlungszeit.

8 VI, 100f.

9 Zu diesen Plänen siehe die von Roland Schmid im Nachwort zu Bd. XXV (Reprintausgabe), S. N 38 mitgeteilten Notizen Mays; diese erwähnt bereits Hansotto Hatzig: Karl-May-Register (zu Band X, XI, XXIII) (= Sonderheft der KMG Nr. 27 (1980)), 47. - Die relativ kurzen exotischen Einschübe in Mays "Liebe des Ulanen" führen zwar nicht nach Tunesien, aber in die ihm benachbarte algerische Provinz Constantine (Karl May: Die Liebe des Ulanen. II. Hildesheim-New York 1972, 667).


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10 Noch ist's nicht lange her, so zitterten die schiffahrenden Völker Europas vor den Raubfelukken der Barbareskenstaaten, schreibt May in "Christus oder Muhammed" (X, 185)

11 Zu den Daten der Entstehung und Veröffentlichung siehe Vinzenz, 1. Abschnitt sowie Roland Schmid im Anhang zu Bd. XXIII (Reprintausgabe), S. A 32

12 Der "Deutsche Hausschatz" begann mit dem Abdruck des Orient-Zyklus im Januar 1881, und bereits in der dritten Fortsetzung verschwand der Schauplatz Tunesien, wie aus dem Reprint - mit der Einführung von Claus Roxin - Karl May: Giölgeda padishanün. Reise-Abenteuer in Kurdistan. Regensburg o. J. (1977) hervorgeht.

13 Die folgende Darstellung stützt sich vor allem auf Balthasar Hofstetter: Vorgeschichte des französischen Protektorats in Tunis bis zum Bardovertrag 12. Mai 1881. Bern o. J. (1914), Stephen H. Roberts: The History of French Colonial Policy 1870-1925. 2London 1963 (1. Auflage 1929), Jean Ganiage: Les Origines du protectorat français en Tunisie (1861-1881). Paris 1959 und Mohamed Salah Lejri: L'Evolution du mouvement national tunisien des origines à la deuxième guerre mondiale. Volume I. Lausanne 1975; ferner den ausführlichen Artikel "Túnez" in der Enciclopedia universal ilustrada europeo-americana. Tomo LXV. Bilbao-Madrid-Barcelona 1929.

14 X,203

15 Im "Dresdner Anzeiger", November 1904; zit. nach Jb-KMG 1972/73. 137

16 Vgl. etwa Ernst v. Hesse-Wartegg: Tunis. Land und Leute. Wien-Pest-Leipzig 1882 und Amand Freiherr v. Schweiger-Lerchenfeld. Der Orient. Wien-Pest-Leipzig 1882, 774-797. Das letztgenannte Werk wurde von May wiederholt benutzt; siehe Erich Mörth: Karl May und Amand von Schweiger-Lerchenfeld. In: KMJB 1979, 64-95. Wie May sich bemüht, einer abwertenden Berichterstattung eine für das fremde Land günstige Seite abzugewinnen, belegt ein Satz in "Christus oder Muhammed", wonach in Tunis des Abends bei Dunkelheit jedermann verpflichtet ist, eine Laterne zu tragen (X, 187); die mutmaßliche Vorlage bei Schweiger-Lerchenfeld (a.a.O. 779, ähnlich Hesse-Wartegg, 39) spricht dagegen von Handlaternen, »die jeder nächtliche Passant mit sich tragen muß, will er nicht mit der Wache in Conflict gerathen, oder auf räudige Straßenköter treten, die die gestörte Nachtruhe mit Bissen beantworten.« Der selbstgefällig-hochmütige Ratschlag Schweiger-Lerchenfelds wird also bei May zur eher Respekt gebietenden behördlichen Ordnungsmaßnahme.

17 hierzu Lejri a.a.O. 39f.

18 X, 185f.

19 X, 186. siehe auch die Erwähnung der Bahn zwischen Tunis und Goletta in Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden. I. Bamberg 1976, 276

20 XXIII, 373

21 XXIII, 355

22 X, 190, 199 und Rose von Kairwan (wie in Anm. 7), 351

23 Deutsche Herzen ..., 353

24 X, 215

25 Ebd.

26 X, 216

27 X, 249

28 X, 236. Vgl. J. S. Ersch und J. G. Gruber (Hg.): Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste. 2. Section. 40. Theil. Leipzig 1887 (Artikel "Krumir"). Die Angaben dieses Bandes, der erst später erschienen ist, sind vermutlich typisch für den Kenntnisstand der Interessierten seit der Tunesien-Invasion.

29 Indem Aufsatz von P. R. Martini: Ein Spaziergang in Tunis, teilweise wiedergegeben bei Franz Kandolf: Sir David Lindsay und Krüger-Bei. In: KMJB 1979, 41-53 (48). Siehe auch Vinzenz, 2. Abschnitt.

30 X, 220

31 X, 222

32 X, 221 u. ö.

33 X, 221, 292

34 X, 229, 250

35 X, 223


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36 siehe Anm. 16. Das Werk Hesse-Warteggs, das als Erscheinungsjahr 1882 angibt, könnte, da Vordatierungen nicht ungewöhnlich sind, schon 1881 vorgelegen und damit für den "Krumir" noch als Quelle gedient haben; die Bibliographie bei dem in Anm. 13 erwähnten Artikel nennt das Erscheinungsjahr 1881. Von "Land und Leuten" (eine gängige Formulierung) sprechen auch der Aufsatz von Martini - siehe Vinzenz, 3. Abschnitt - und der Titel eines früheren Werkes Hesse-Warteggs: Nord-Amerika seine Städte und Naturwunder, sein Land und seine Leute. Leipzig 1880 - siehe Bernhard Kosciuszko: »Eine gefährliche Gegend«. Der Yellowstone Park bei Karl May. In: Jb-KMG 1982, 196-210 (202).

37 X, 306, die folgenden Zitate 308f.

38 VII, 304; VIII, 200; X, 165. Zur Deutung der Dumas-Erwähnung vgl. Eggers a.a.O. 8, 15 (Anm. 53)

39 So sieht Bettina Hürlimann (Europäische Kinderbücher in 3 Jahrhunderten. Zürich 1959, 93) hier nur »rührende [] Mittel []«, »Bildung zu zeigen«. Zit. nach: Gabriele Wolff: Gedanken zum Leseerlebnis Karl May. In: M-KMG 26 (Dez. 1975), 29-33 (31).

40 XXXI, 45

41 X, 305

42 X, 306

43 X, 407. Zu den Quellen für Mays südtunesische Abenteuer siehe Anton Haider: Karl May und Joseph Chavanne. In: M-KMG 32 (Juni 1977), 18-22

44 X, 422

45 Rose von Kairwan, 277

46 vor allem auf den Seiten 382-391

47 X, 393, 406

48 X, 419

49 Ebd.

50 X, 345

51 X, 366, 350

52 X, 355

53 X, 383

54 X, 351-355

$54a$ X, 345

55 X, 346

56 X, 216f., 219. Das Wort Gazelle wird in Achmeds Schilderung seiner Braut (ihre Füße sind wie die Füße der Gazelle, 216) vorweggenommen, wodurch die beiden Motivkreise fast auch inhaltlich verknüpft werden.

57 Auch sonst ist die Figur Krüger-Beis nicht einheitlich gezeichnet, Unterschiede gibt es in seinem Schicksal und in seiner Haltung zu ehemaligen Landsleuten zwischen "Deutsche Herzen, deutsche Helden" (wie in Anm. 19, 236) und "Satan und Ischariot" (XXI, 276)

58 Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, 80. Ebenso, wenn auch noch offensichtlicher, läßt sich der sächselnde und auch korrekt englisch redende Hobbel-Frank als Selbstdarstellung Mays erfassen. Siehe hierzu Hedwig Pauler: Der Held des Westens oder The Life and The Opinions of Mister Penman in the Dark and Bloody Grounds. II. In: M-KMG 60 (Juni 1984), 3-9 (5)

59 Heinz Stolte: Die Reise ins Innere. Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays. In: Jb-KMG 1975, 11-33

60 X, 241

61 Vgl. Martin Lowsky: Problematik des Geldes in Karl Mays Reiseerzählungen. In: Jb-KMG 1978, 111-141 (130ff.). - Übrigens schildert "Der Krumir" auch einmal (400ff.) ein Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn.

Hingewiesen sei auf die ersten und grundlegenden psychoanalytischen Arbeiten über Mays Werk: Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften. In: Jb-KMG 1971, 39-73 und Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/73, 11-92


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62 Ich war außer mir und hätte mich am liebsten gleich auf mein Pferd geworfen, um ihm nachzujagen (376), erklärt der Held dem Leser in demselben stürmische(n) Tone (278), in dem Ali früher seine Ungeduld gegenüber dem Helden ausgedrückt hat.

63 Bemerkenswert ist auch, daß Achmed und der Krumir zusammenrücken, wenn sie, ihre persönliche Unabhängigkeit betonend, Krüger Bei mit fast denselben Worten zurechtweisen (228, 254f.).

Zu den unbewußten Schaffensmechanismen bei solchen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen Bösewicht und Ich-Held siehe die Betrachtungen Walther Ilmers über die Titelgestalt von Mays Südamerika-Roman "El Sendador", der u. a. das Salzseemotiv wieder aufgreift: Walther Ilmer: Karl May auf halbem Wege. Mannigfaches zur hochbrisanten, »hochinteressanten« Erzählung "El Sendador". In: Jb-KMG 1979, 213-261 (v. a. 234ff.). Hierzu auch Claus Roxin in der Einführung zu Karl May: El Sendador. Regensburg 1979, 5f. sowie Gert Ueding: Die Rückkehr des Fremden. Spuren der anderen Welt in Karl Mays Werk. In: Jb-KMG 1982, 15-39 (22f.).

64 Abbildungen eines einzelnen Krumir sind freilich May zu Gesicht gekommen, s. Vinzenz, 2., 3. Abschnitt.

65 Diese Titelgebung ist auch außergewöhnlich in Karl Mays Gesamtwerk. Wohl bezeichnet May seine Personen zuweilen in papierenem Stil durch Stammes- und Völkernamen (»der Apache« statt "Winnetou", »der Deutsche« statt "Old Firehand") oder benutzt Personennamen als Werkstitel ("Der Schut", "Der schwarze Mustang"), doch fast nie verwendet er, wie im vorliegenden Fall, Stammesnamen als Werkstitel.

66 Wir zitieren übersetzend nach Ganiage (wie in Anm. 13), 674.

Henri de Rochefort (1831-1913), der einer adligen, streng royalistisch orientierten Familie entstammte, hatte als Verfasser von Komödien begonnen und sich dann dem Journalismus zugewandt. Seine Artikel, in denen er eine linksrepublikanische Position vertrat, brachten ihm im Zweiten Kaiserreich Verhaftungen, aber auch politischen Ruhm und die Freundschaft eines Victor Hugo ein. Zeitweilig war er Abgeordneter der extremen Linken. Nach seinem (allerdings wegen persönlicher Zwistigkeiten nicht eindeutigen) Eintreten für die Pariser Kommune wurde er, wie viele, in die Verbannung nach Neukaledonien geschickt. 1874 floh er von dort, zuerst nach Amerika - so wie die vielleicht von ihm angeregte Figur des Camille L'Hermite, der Revolutionär in Theodor Fontanes "Quitt" -, dann nach England und in die Schweiz, und kehrte nach der Generalamnestie von 1880 nach Paris zurück. Dort ließ er den "Intransigeant" erscheinen, seine vierte Zeitungsgründung, in dem er die herrschenden "Opportunisten" (Gambetta, Ferry) der Dritten Republik attackierte. Ab 1885 schloß er sich mehr und mehr nationalistischen und revanchistischen Kreisen an; sein "Intransigeant" wurde zu einem nationalistischen, antiparlamentarischen und antisemitischen Kampfblatt, von dem er sich allerdings in seinen letzten Lebensjahren löste.

67 Ebd. 699

68 Dies war noch nicht das Ende der politischen Laufbahn Ferrys, der in anderen Bereichen, etwa bei seinen demokratischen Reformen des Bildungswesens, durchaus politische Größe besaß.

69 X, 227, auch 305f.

70 Die Freude am Spiel äußert sich natürlich auch darin, daß sich der Held selbst gern in Szene setzt, was aber in der "Krumir"-Erzählung mit ihren, wie erwähnt, eng miteinander verbundenen Figuren vergleichsweise sehr gedämpft geschieht. Zu diesem Gesichtspunkt siehe Hans-Otto Hügel: Das inszenierte Abenteuer. In: Marbacher Magazin 21 (1982), 10-32 und Annette Deeken: »Seine Majestät das Ich«. Zum Abenteuertourismus Karl Mays. Bonn 1983 (v. a. 96ff.)

71 Karl May: Et in terra pax. Zit. nach: Karl May: Et in terra pax und Und Friede auf Erden. Bamberg/Braunschweig 1976, 109f. Die Neufassung "Und Friede auf Erden!" weicht in dieser Passage (XXX, 150f.) vom "Pax"-Roman ab; so fehlt eine Angabe von der Art: Es kam die Rede auf eine gewisse Depesche und auf einen gewissen Emperor (Pax 110), wodurch die für die Satire entscheidende Diskrepanz zwischen dem offensichtlichen Wissen des Erzählers und seiner gespielten Unkundigkeit verschwindet. - Es sei bemerkt, daß die Szene natürlich nicht als antienglische Äußerung zu verste-


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hen [verstehen] ist; die aktive Hauptfigur des Romans, der engagierte Kosmopolit Raffley, ist Engländer.

72 Vinzenz, 5. Abschnitt und Roland Schmid (wie in Anm. 11), S. A 14

73 Wie Anm. 15. An anderer Stelle (Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Berlin-Charlottenburg 1910, 21, auch 17) wird genauer die (damals nicht existierende, erst 1966 gegründete!) »Universität Rouen« genannt.

74 X, 282, 342, 218

75 X, 252

76 X, 232

77 Wir beschränken uns auf den Nachweis der Zitate: X, 263, 344, 253; zu letzterem sei noch auf den lappländischen Sumpf (409) hingewiesen.

78 Et in terra pax, 198, auch XXX, 279

79 Siehe etwa die Erklärung (X, 262), wonach er als Christ auch an Glaubensriten der Moslems teilnimmt.

80 X, 286 u. ö. - Auch Hesse-Wartegg (wie in Anm. 16, 195) stellt Vergleiche zwischen Beduinen und Indianern auf.

81 Et in terra pax, 126, auch XXX, 172


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