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HELMUT SCHMIEDT

Literaturbericht



Der diesjährige Literaturbericht kann nicht viele Arbeiten vorstellen, die im Berichtszeitraum außerhalb der Karl-May-Gesellschaft zu Karl May erschienen sind; insofern unterscheidet er sich deutlich von seinen Vorgängern. Aber jede der neuen Publikationen verdient Aufmerksamkeit - auf höchst unterschiedliche Weise.

   Die einzige in Buchform veröffentlichte Studie, die uns hier zu beschäftigen hat - es handelt sich um eine Dissertation -, stammt von Feruzan Gündogar(1) und befaßt sich mit dem Bild, das Mays Orientromane von den vorderasiatischen Völkern und speziell von den Türken entwerfen. Frau Gündogar rekapituliert zunächst die Tendenzen, die in europäischen Orientdarstellungen des 19. Jahrhunderts generell erkennbar werden, und stellt dabei fest, daß diese »kein reales Abbild der Wirklichkeit« gezeichnet hätten, daß man in ihnen vielmehr »ein Sammelbecken politisch-ideologischer Programme und Spekulationen im Kontext des westlichen Dichotomiedenkens (findet), das dem Orient einen Okzident kontrastiv gegenüberstellt. Der Okzident kann und wird nur in Opposition zum Orient, der hier als Negativbild fungiert, definiert und identifiziert. (...) Die Orientkonzeption als ideologisches Konstrukt steht insofern in enger Beziehung zum Arsenal europäischer Handlungsmuster« (4); die Schematik, mit der in den entsprechenden Publikationen gearbeitet werde, stelle »Zivilisation versus Barbarei, Gerechtigkeit versus Korruption, Ehrlichkeit versus Verschlagenheit, Sauberkeit versus Schmutz usw.« (6). Auch Karl May, so legt Frau Gündogar dann ausführlich dar, operiere mit diesen Schablonen, unterstreiche mit derartigen Schwarz-Weiß-Mustern den trivialen Charakter seiner Romane und legitimiere letztlich »die These von der deutschen Priorität im Rahmen politisch-imperialer Theorien« (123). Ein weiterer Teil der Studie verfolgt die »Antithetik von tugendhaften Christen und lasterhaften Orientalen« (112) in literarischen und visuellen Darstellungen vom Mittelalter bis ins l9. Jahrhundert und gelangt zu dem Ergebnis, daß sie nur vereinzelt, z. B. in Goethes "West-östlichem Divan", durchbrochen worden sei; die polemisch-verzerrende Porträtierung des Orients, wie wir sie bei May finden, stütze sich also auf eine reichhaltige Tradition.

   Ich vermute, daß Frau Gündogar mehr recht hat, als viele May-Leser unserer Zeit wahrhaben wollen. Aber in ihrem Fazit spielen die zuvor


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von ihr registrierten positiveren Äußerungen Mays über die Türken keine Rolle mehr, und daß sie gelegentlich selbst die »unterschiedlichen Intentionen der einzelnen Aussagen (...) anhand einiger frappanter Textstellen« (77) verdeutlicht hat, gerät nahezu in Vergessenheit. So versperrt sich die Autorin den Weg, der Widersprüchlichkeit, der Ambivalenz nachzugehen, die Mays Umgang mit fremden Völkern und Rassen und dabei eben auch mit den Türken tatsächlich auszeichnet: Propagiert er auf der einen Seite Toleranz und Unvoreingenommenheit gegenüber den Fremden und dem Fremden, ist er damit also dem vorherrschenden Denken seiner europäischen Zeitgenossen weit voraus, so fällt er auf der anderen Seite doch auch immer wieder in schlimme Denkschablonen zurück, am markantesten in seiner Variation eines damals in Deutschland offenbar weit verbreiteten Spruchs: »Ein Jude überlistet zehn Christen; ein Yankee betrügt fünfzig Juden; ein Armenier aber ist hundert Yankees über« ("Auf fremden Pfaden"). Frau Gündogar konzentriert sich am Ende völlig auf diese eine Seite des Problems, und so kommt bei ihrer Arbeit in erster Linie heraus, daß May beträchtliche Vorurteile gegenüber den vorderasiatischen Völkern hegte und daß er damit dem Trend bestimmter literarischer Traditionen und ideologischer Schemata folgte - ein für ihn nicht gerade schmeichelhaftes und wohl nur bedingt richtiges Ergebnis.

   Man hätte sich freilich vorstellen können, daß die selbst aus der Türkei stammende Autorin ihr Thema mit einem dezidiert persönlichen Engagement untersucht hätte; eine solche individuell geprägte, von eigener Betroffenheit zeugende Art der Annäherung hätte ihren Beobachtungen gewiß mehr Intensität und Überzeugungskraft verliehen und auch dem Eindruck entgegengearbeitet, wir läsen bei ihr nur in neuer Form, was schon manch anderer Kommentator gesagt hat. Aber so ist sie gerade nicht verfahren; statt dessen hat sie versucht, ihren Gedanken Gewicht zu verleihen, indem sie sie immer wieder in einem entsetzlich hochgestochenen, schwer erträglichen Fachjargon daherkommen läßt, der wenigstens teilweise in groteskem Widerspruch zu den eher schlichten Überlegungen steht, die er artikulieren soll. Nicht selten stößt man auf solche Sätze: »Diese Klassifikation involviert simultan den sukzessiven Wandel des Türkenverständnisses und die schrittweise stattfindende Exklusion aus dem Gesamtkonzept der Orientalismus-Forschung« (122); »Orient und Orientalism sind differente Semanteme einer nur scheinbar homogenen Kategorie« (184). Zwar ist nicht das gesamte Buch so geschrieben: Die eindeutige Vorherrschaft gewinnt dieser Stil erst auf den letzten Seiten in der "Zusammenfassung" (184ff.), aber er hat sich vorher schon intensiv genug angekündigt.

   Man kann von dieser Arbeit nicht reden, ohne auf einige Punkte zu kommen, die zwar nicht den Kern der Argumentation berühren, aber


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auf das gesamte Unternehmen ein sehr unerfreuliches Licht werfen. Ganz offensichtlich hat sich die Verfasserin über die philologischen Voraussetzungen ihrer Untersuchung keine Klarheit verschafft, obwohl dies bei einem auch nur einigermaßen aufmerksamen Umgang mit der vorliegenden Forschungsliteratur nicht hätte schwerfallen dürfen: Sie will ihre Analyse auf eine »Bamberger Ausgabe von 1918« (19) gestützt haben, die es ebensowenig gibt wie »die zum Teil konzipierte Historisch-Kritische Ausgabe (Bamberg)« (32). Ferner steht die Autorin mit elementaren Tatsachen der neueren deutschen Literaturgeschichte auf Kriegsfuß: Sie macht zunächst Lavater und Lichtenberg (69), dann auch Hagedorn, Haller, Klopstock und selbst Lessing (171) zu Schriftstellern des 19. Jahrhunderts - der Zusammenhang gibt keinen Anlaß zu der Vermutung, es handle sich lediglich um Schreibfehler.

   Schließlich reizt auch der Umgang mit anderen May-Studien zum Protest; ich will das ein wenig ausführlicher dokumentieren. Frau Gündogar zitiert wiederholt aus der Buchfassung meiner Dissertation (1979 veröffentlicht), und das ist natürlich ihr gutes Recht, wenn sie dabei die betreffenden Stellen deutlich macht und korrekt ausweist, wie sie dies vielfach auch tut. Darüber hinaus aber folgt sie in zahlreichen der May gewidmeten Passagen meinen Überlegungen und Formulierungen ohne entsprechende Hinweise, und das ist in einer wissenschaftlichen Arbeit nicht akzeptabel. Ihre Ausführungen zur Physiognomik z. B., zu Lavater und Lichtenberg (69), entsprechen sowohl im Gang der Argumentation als auch in einzelnen Wendungen exakt meiner Erörterung des Sachverhalts (175); zwar fügt sie zwischendurch ein May-Zitat ein, das bei mir nicht auftaucht, führt dafür aber von Lavater genau jene Sätze an, die sich schon bei mir finden, wobei ihr überdies das Mißgeschick unterläuft, daß sie eine Schmiedtsche Formulierung Lavater zuschlägt; hier findet sich wohl auch die Erklärung dafür, daß sie den 1801 gestorbenen Lavater für einen Mann des 19. Jahrhunderts hält: Ich habe ihn nach einer Ausgabe von 1862 zitiert, die auch in Frau Gündogars Anmerkungsteil auftaucht (104), und so hat sie offenbar von dem Erscheinungsjahr der Edition falsch auf die Lebenszeit des Autors geschlossen. Ein zweites Beispiel! In meiner Arbeit findet sich an einer Stelle der Satz: »Die Ehre des Einzelnen trägt hohen, eigenständigen Wert: es ist schlimmer, "die Ehre, den guten Namen, das Wohlgefallen bei Gott und den Menschen." (Mahdi II 192) zu verlieren als das Leben« (109); später heißt es: »Der auf mehreren hundert Seiten beschriebene Aufenthalt in Amadijah (Kurdistan) ist eine einzige Demütigung des Personals dieser "Festung": die Soldaten sind zerlumpt und völlig unfähig, ihren Dienst zu versehen (...), und reißen vor Kara Ben Nemsis Blick aus (...); der Kommandant läßt sich die Bewirtung seiner Gäste von diesen bezahlen (...), plündert die Bevölkerung aus (...) und er-


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preßt [erpreßt] seine Gefangenen« (122). Frau Gündogar bringt die Ausführungen kühn in einen Zusammenhang, fügt einen Zwischensatz ein und schreibt: »Die Ehre des einzelnen trägt im Orient einen hohen, eigenständigen Wert und es ist schlimmer, die Ehre, den guten Namen zu verlieren als das Leben, formuliert May in einer Erzählung. Aber diesen Grundsatz kehrt er ins Gegenteil um. Auch der auf mehreren hundert Seiten geschilderte Aufenthalt in der Stadt Amadijah in "Kurdistan" läßt sich als eine einzige "Demütigung" der Agierenden umschreiben und definieren: "Die Soldaten sind zerlumpt" und nicht in der Lage, "ihren Dienst zu versehen"; "der Kommandant läßt sich die Bewirtung seiner Gäste" bezahlen, plündert rücksichtslos die Bevölkerung aus und versucht, seine Gefangenen zu erpressen« (78f.) - der aufmerksame Leser mag sich fragen, was es mit den unvermittelt auftauchenden Anführungszeichen auf sich hat, aber eine Auflösung des Rätsels: einen Hinweis darauf, daß hier sogar die inhaltliche Zusammenfassung einer Vorlage entnommen ist, erhält er nicht. Noch an vielen anderen Stellen folgt die Verfasserin bis in die Wortwahl meinem Text, ohne darauf hinzuweisen; so gleich anschließend mit der Wendung von der »Ausbeutungspolitik des Kolonialherrn von Mossul« (79; bei mir 124). In meiner Arbeit heißt es: »Die positiven Figuren der Romane stehen ohne inneren Zweifel immer und mit Erfolg auf der Seite der Gerechten, der Schwachen und Unterdrückten« (124f.); Frau Gündogar teilt mit, daß »die positiven Persönlichkeiten immer mit Erfolg auf der Seite der Schwachen, Gerechten und Unterdrückten stehen« (79). Man könnte die Vergleichslesung fortsetzen.


   Daß Karl May sich sein Ich erschrieb, wie der Titel eines Aufsatzes von Gerhard Neumann(2) registriert, daß er sich mit Hilfe der Phantasie eine Identität zu verschaffen suchte, mit der er nach den deprimierenden Erfahrungen der Vergangenheit leben konnte: das ist natürlich keine neue Einsicht. Neu und ungewöhnlich ist indes die Perspektive, unter der der Autor das Thema abhandelt: Hier werden nicht literarische Verwandlungen autobiographischen Materials bis ins letzte Detail entschlüsselt, hier wird nicht mit psychoanalytischer Akribie das Maysche Triebleben aus seiner geheimnisvoll-exotischen Drapierung rekonstruiert - hier steht der Akt des Schreibens selbst am Ausgangspunkt. Es geht um den Roman "Weihnacht": Darin spielt bekanntlich ein Gedicht, mit dem der Schüler Karl May bei einem Preisausschreiben reüssiert, eine wichtige Rolle, und zwar nicht nur im ersten, in Deutschland angesiedelten Teil, sondern auch später im Wilden Westen, da aus dem kleinen May längst ein großer Old Shatterhand geworden ist.

   Dieses Gedicht, so erläutert Neumann, gibt zunächst einmal »den mythischen Rahmen des Geschehens ab«: Es handelt von der Geburt Christi, von der »Einbindung des Einzelnen in die Wirklichkeitsord-


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nung [Wirklichkeitsordnung] als Erlösungsordnung (...) der Aufhebung von Leben und Tod im göttlichen Heilsplan« (338). Über den gesamten Roman hinweg erhalte das Gedicht sodann eine Funktion, die leitmotivisch zu nennen eine gewaltige Untertreibung wäre; May integriere es vielmehr auf jede nur erdenkliche Weise: »Es fungiert als Regler des Verkehrs aller Protagonisten, es wird zum Schibboleth der Kommunikation, es erscheint als Legitimationsinstrument des Helden, als Talisman und Erkennungszeichen in den verschiedensten Situationen« (343). May setze es aber nicht nur vielfältig ein, sondern zugleich auch um: in konkrete Handlung, in Geschehen. Seine Wildwestphantasien handelten ja ebenfalls von der Geburt, von der Initiation eines Helden - Neumann gebraucht hier denselben Ausdruck wie Bernd Steinbrink in seinem im letztjährigen Literaturbericht besprochenen Buch, das er freilich noch nicht zur Kenntnis nehmen konnte - und von der sozialen Ordnung, die in der Wildnis nicht zuletzt dank der Aktivitäten dieser Figur entsteht, handelten mithin ebenso von einem Erlöser und dem, was er bewirkt, wie das Geschehen, mit dem es das Weihnachtsgedicht zu tun hat. »Das im Gedicht des Schülers Karl May Vor-Geschriebene wird von der Handlung des Romans, die Old Shatterhand verwaltet, nur nach-geschrieben« (344). Indem das Gedicht derart intensiv verarbeitet werde, ergebe sich eine drastische Konsequenz: »(...) durch die gewissermaßen "natürliche" Verwandlung von Schrift in Handlung werden Autor und Held zu "umgekehrten" Pseudonymen ein- und derselben Person: Dr. Karl May alias Old Shatterhand« (344). Daß sich das Romangeschehen »in geradezu heilsgeschichtlichen Dimensionen« (345) vollziehe, zeige am eindringlichsten die Schlußszene, die sich »ganz und gar als "Jüngstes Gericht" (gestaltet), als definitive Festschreibung der Ordnung der Welt, aus der heraus jedem Handelnden seine Rolle aus der Begründung des Heilsplans zugeschrieben werden kann« (344). Man müsse hier, so lesen wir weiter, die Gesetze biblischer Hermeneutik am Werke sehen: »die Struktur von Verheißung und Erfüllung, die im Figuralprinzip ihre Vollendung erfährt - die Erfüllung dessen, was die Schrift vorschreibt, durch den Körper des Handelnden, sich ihr gewissermaßen lebendig Nachschreibenden: eine "Realprophetie"« (344), wie es in Anlehnung an Erich Auerbach heißt. Eine solche Personalunion von Autor und Held, eine so subtil betriebene »Umwälzung von Kunst in Leben, von Autoridentität in Heldenidentität« (349) müsse als eine im Kontext der damaligen Zeit einzigartige, beispiellos dastehende Form der Konstituierung eines Ichs gelten. Neumann stellt heraus, daß andere Werke des 19. Jahrhunderts - er spricht ausführlich über Stifters "Narrenburg" und Kleists "Findling" - »in der Schrift letztlich nur ein Mittel zum Zweck der Identifikation (erblicken), nie deren Beglaubigungsakt selbst« (350); May handle also entschieden radikaler, aber auch mit größerem Risiko: »Hier werden


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Gelingen, tragisches oder lächerliches Scheitern ununterscheidbar« (350); einen Entwurf von gleicher Radikalität findet Neumann erst wieder in Kafkas Fragment "Der Verschollene".

   Dies ist das gedankliche Zentrum einer trotz ihrer Kürze außerordentlich reichhaltigen Studie, die noch manches berührt, was hier nicht in gleicher Ausführlichkeit wiedergegeben werden kann: Sie vergleicht unter ergänzenden Gesichtspunkten die deutsche Welt des Schülers May mit der amerikanischen Old Shatterhands, streift gewisse biographische Hintergründe des Romans und erläutert, wie May es fertigbrachte, »Disziplinierungsrituale der Adoleszenz in Formen der Freiheit umzuerzählen« (349); zum Schluß stellt Neumann systematische Erwägungen zur »Legitimation von Subjektivität durch die Schrift und aus der Schrift in der erzählenden Literatur des 19. Jahrhunderts« (352) an und veranschaulicht das Ganze mit Hilfe von Schaubildern.

   Der Verfasser eines Aufsatzes muß oft sehr einseitige Akzente setzen, muß vieles aussparen, und so fällt es auch hier nicht schwer, eine Reihe von Fragen anzuschließen: Z. B. ist ja "Weihnacht" geradezu ein Spätwerk unter den typischen Mayschen Abenteuerromanen, und man mag überlegen, warum der Autor ausgerechnet in diesem Moment eine so ungewöhnliche Zeugung des Ichs aus Geist und Struktur einer literarischen Schöpfung betreibt; wie verhält es sich ferner mit alledem, wenn man es in den Kontext der Gesamtheit des in den Shatterhand- und Kara-Ben-Nemsi-Geschichten gezeichneten Kosmos rückt, wie speziell in Hinblick auf die Karriere Old Shatterhands, die "Geburt" des Westmanns in "Winnetou I"? Diese Fragen enthalten keinen Einwand gegen Neumanns Argumentation, sondern zeigen erst recht deren Fruchtbarkeit auf: Aus der Originalität und Überzeugungskraft, mit der dieser eine Roman analysiert wird, erwachsen Überlegungen zum übrigen Werk dessen, der mit der vielfältig sich auswirkenden heilsgeschichtlichen Orientierung des "Weihnacht"-Romans offensichtlich mehr als ein Vorspiel zu seinem eigentlichen Spätwerk entwirft und der schon im ersten "Winnetou" Sam Hawkens darüber informiert, er reise, um der »Lehrer meiner Leser« sein zu können: ein elementarer, in Mays Werk mit vielen Variationen auftauchender Gedanke, der es ebenfalls auf recht komplizierte Weise mit dem Verhältnis von Ich-Konstitution, Schreibtätigkeit und Abenteuer zu tun hat.

   Vor allem in methodischer Hinsicht scheint mir Neumanns Studie geradezu wegweisend zu sein: im Nachweis, daß die biographische Substanz der Mayschen Werke sich nicht im Inhaltlichen, im Stofflichen, im materiellen Bestand erschöpft, sondern daß sie sich wesentlich in ihrer Form, ihrer Ästhetik im engeren Sinne mitteilt, daß die therapeutische Funktion, die das Schreiben für May besaß, nicht nur das Was seiner Texte prägt, sondern auch das Wie ihrer Organisation; dazu hat es in der Forschung bisher, wenn ich recht sehe, erst wenige


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Hinweise gegeben. "Das erschriebene Ich" ist in erster Linie eine Analyse dessen, was der Autor aus einem gleich zu Anfang auftauchenden Motiv des Romans macht - eben aus dem Weihnachtsgedicht -, betrachtet also die Tektonik des Werkes: seinen Aufbau unter dem Aspekt des Umgangs mit diesem einen Element. Indem Neumann die sowohl quantitativ als auch qualitativ gewaltige Intensität der Verarbeitung nachzeichnet, gelangt er ebenso konsequent wie selbstverständlich zu der Einsicht, daß die Handlung des Romans im wesentlichen die einfallsreiche Interpretation jenes von Ursprung, Bestimmung und Erlösung sprechenden Textes darstellt, die ständig sich erneuernde Inszenierung, das sich permanent weiterentwickelnde Arrangement eines längst vorgegebenen Stoffes: So ergeben sich aus der Betrachtung der literarischen Form Einblicke in die Identitätsbestimmung, an der der Autor Karl May arbeitet. Ich muß gestehen, daß mir der Roman "Weihnacht", der darin unverkennbar sich aussprechenden psychischen Not des Verfassers zum Trotz - man denke an die Figur des Carpio -, immer auch als reichlich kitschig erschienen ist, und vermutlich geht es vielen Lesern ähnlich. Wenn man ihn aber so liest, wie es Neumann nunmehr tut, eröffnen sich ganz andere Perspektiven: Am Ende geht es dann um nichts Geringeres als um das für jedes Literaturverständnis grundlegende Realismusproblem, um die Frage, inwiefern ein Kunstwerk, das sich mit seinem Stoff, noch mehr aber mit dessen ästhetischer Organisation auf das energischste von unserer profanen empirischen Wirklichkeit zu entfernen scheint, mit dieser dann doch so viel zu tun hat.


   In den Literaturberichten unserer Jahrbücher ist immer wieder betont worden, daß die Fortschritte der Karl-May-Forschung sich nicht nur in den neuen Publikationen über May spiegeln, sondern auch in der Neuveröffentlichung seiner lange Zeit nahezu unzugänglichen Originaltexte. Das jüngste Beispiel dafür ist der mit ergänzendem Material großzügig ausgestattete Reprint des vierten "Winnetou"-Bandes in der Fassung, in der er 1909/10 in der "Augsburger Postzeitung" erschien(3); wir haben damit Mays letzten Roman in seiner ersten Version vor uns.

   Eine bestimmte Spezies von May-Editionen aber hat es bis vor kurzem nicht gegeben: philologisch vertretbare, hinreichend kommentierte und dabei auch noch preisgünstige Ausgaben - Studienausgaben mit einem Wort, wissenschaftlich ausgewiesene Veröffentlichungen, mit denen man etwa im Lehrbetrieb der Schulen und Universitäten sinnvoll arbeiten kann, ohne die finanziellen Kräfte der Schüler und Studenten zu überfordern. Mit der Aufnahme von Mays "Geist des Llano estakado" in Reclams traditionsreiche Universalbibliothek(4) liegt nun auch ein solcher Band vor. Bernhard Kosciuszko, Mitarbeiter der KMG, hat ihn herausgegeben: Der Wiedergabe des nur ganz geringfü-


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gig [geringfügig] gegenüber der ersten Buchausgabe veränderten Textes folgen zwanzig Seiten Anmerkungen, die fremdsprachige Ausdrücke, heute veraltete Wendungen und dergleichen erläutern und - ein besonderes Verdienst! - die Verwirrkünste des Hobbel-Frank auflösen, also etwa zeigen, welche Gedichte diese von tückischen Bildungsreminiszenzen geplagte Figur im Kopf hat, wenn sie reimt; ein ebenfalls zwanzigseitiges Nachwort schließt sich an, das im ersten Teil über Mays Vita informiert und im zweiten Hinweise zur Analyse der "Geist"-Erzählung gibt; es folgen eine chronologisch geordnete Übersicht zu Mays Werken und ein kleines Literaturverzeichnis, dessen letzter Teil leider einige Fehler enthält. Für den kundigen May-Leser bringt der Band natürlich nicht viel Neues, wenn man davon absieht, daß die Durchleuchtung der Reden Franks indirekt Aufschlüsse über das Bildungsniveau seines geistigen Vaters vermittelt. Im Hinblick auf die angedeuteten Arbeitsmöglichkeiten aber darf man von einem weiteren Initiationsritus sprechen den nun nicht Old Shatterhand, sondern die seriöse Beschäftigung mit seinem Werk vollzogen hat.


1 Feruzan Gündogar: Trivialliteratur und Orient: Karl Mays vorderasiatische Reiseromane (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur Bd. 684). Frankfurt a. M.-Bern-New York 1983

2 Gerhard Neumann: Das erschriebene Ich. Erwägungen zum Helden im Roman Karl Mays. In: Germanistik in Erlangen. Hundert Jahre nach der Gründung des Deutschen Seminars (Erlanger Forschungen: Reihe A, Geisteswissenschaften; Bd. 31). Hg. v. Dietmar Peschel. Erlangen 1983, S. 335-363

3 Karl May: Winnetou Bd. IV. Hg. v. Dieter Sudhoff im Auftrag der Karl-May-Gesellschaft, o. O. u. J. (Hamburg 1984)

4 Ders.: Der Geist des Llano estakado (Reclams Universalbibliothek, Bd. 8235). Hg. v. Bernhard Kosciuszko. Stuttgart 1984


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