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HEINZ STOLTE

Hiob May



»Wer uns ob der Zeiten Wechsel schmäht, den
   sollst du befragen:
Ist's nicht der Edelmensch nur, den
   widrige Zeiten plagen?«
Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten.

Nachdem wir heute dank jahrelanger, mit Akribie betriebener Forschung zum Leben und Werk Karl Mays endlich in die Lage versetzt worden sind, das »Phänomen Karl May« fast in seiner Gänze zu überblicken, auch die verborgenen, von ihm selbst verständlicherweise in Dunkel gehüllten Einzelheiten ans Licht gebracht worden sind, bietet sich dem Betrachter ein gewiß ungewöhnlich faszinierendes Gesamtbild eines Menschenschicksals. Wer es unvoreingenommen anschaut, wird nicht umhin können, die siebzig Jahre des Erdendaseins, die sich ihm hier darstellen, mit Erstaunen, aber gewiß auch mit Erschütterung, ja, Erschrecken und tiefstem Mitleid wahrzunehmen. Es muß ihm ja vorkommen, als sei über das Leben dieses Menschen von vornherein so etwas wie ein Fluch verhängt gewesen, mehr noch, als habe ein böses Verhängnis sich gerade dieses Lebewesen gleichsam zu einem exemplarischen Versuch erwählt, um zu prüfen, was denn alles an Leid, Kummer, Schuld und Verfolgung eine menschliche Seele zu ertragen vermag, bis sie verzweifelt oder zerbricht.

   »Zu Tode gehetzt«, so hat der Strafrechtler Erich Schwinge (Maximilian Jacta)(1) einen Essay über Karl Mays Prozesse und die große Hetzjagd auf ihn in seinem letzten Lebensjahrzehnt überschrieben. Das ist wohl richtig, wenn damit gemeint ist, daß die psychischen Qualen, denen der gehetzte Mann ausgesetzt gewesen, zu jener physischen Erschöpfung und frühzeitigen organischen Vergreisung beigetragen hatten, die - nur wenige Tage nach seinem letzten Triumph in Wien - seinen Tod zur Folge hatten. Es ist aber insofern nur die halbe Wahrheit, als dieser selbe Mensch in seiner seelischen und geistigen Haltung noch zuletzt so völlig ungebrochen und von der Serenitas eines »Vollendeten« verklärt der großen Öffentlichkeit sichtbar in Erscheinung hatte treten können. »Tatsächlich«, so formulierte es Claus Roxin, »müssen Mays seelische Reserven ungeheuer gewesen sein. Ich an seiner Stelle wäre gewiß schon zehn Jahre früher am Herzinfarkt verstorben.«(2)

   Was für ein Leben! Weberelend, Hunger und Blindheit am Anfang, Prügelstrafen des Vaters und Kaschemmenmilieu des Kegeljungen, die bedeutende Intelligenz eines Knaben teils mit unverdaulichem Wissenswust, teils mit Schundliteratur gefüttert (aber wenigstens eine mär-


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chenerzählende [märchenerzählende] Großmutter als seelische Zuflucht), ein genialer Tagträumer im staubtrockenen Seminar-Internat bigotter Strenge überliefert? mit Schande relegiert, aus Gnade wieder aufgenommen, als Junglehrer erst strafversetzt, dann einer jugendlichen Torheit wegen ins Gefängnis geworfen und aus dem Lehrerstand ausgestoßen, ins kriminelle Milieu hinausgedrängt, von Steckbriefen polizeilich gehetzt und dann sieben Jahre im Gefängnis und im Zuchthaus eingesperrt. Das waren Kindheit und Jugend dieses Menschen. Und dann, bei wiedererlangter Freiheit, schon fast in der Mitte seines Lebens, eine Mißheirat, die seine Existenz auf Jahrzehnte beschwerte und verdüsterte, dabei dreißig Jahre am Schreibtisch unter der Hetzpeitsche der Kolportage- und Zeitschriftenverleger Berge von Manuskripten ausstoßend, wie eine Krake ihre Tintenwolken, und das eigene karge Stück Leben durch die Glücksphantome schier unendlicher Phantasmagorien verdrängend. Endlich scheint es, er sei aufgetaucht als Bestseller-Autor zu Ansehen, Reichtum, bürgerlichem Behagen, literarischem Ruhm, und eine Weile vermag er sich zu sonnen in dem fahlen, aber trügerischen Glanz dieser Berühmtheit, wiegt er sich wohlig auf der Flut von scheinbarer Liebe, die ihm von allen Seiten bezeugt wird. Das muß ihn wohl dessen versichert haben, daß eine gütige Vorsehung, eine göttliche Gerechtigkeit über dem Menschengeschick waltet, die dem reuigen Sünder, dem fleißigen Arbeiter, dem »immer strebend« Bemühten seinen Lohn zuteil werden läßt. War er nicht schon immer davon überzeugt gewesen, und hatte er nicht schon in den obskursten Kolportageromanen und in allen späteren Werken seinen Lesern wieder und wieder anschaulich vor Augen geführt, wie (von dem einzigen Fall Winnetou abgesehen) fast immer schon »hier auf Erden« das Gute siegt und das Böse seine Strafe findet, und sogar mitunter am gleichen Platz und auf die gleiche Weise, wie und wo einst gesündigt worden war? Da sah er sich denn nun selber, als die Bücherhonorare herbeiströmten und die Welle der Lesersympathien ihn hochhob, gar bis in den Vorhof königlicher Gnaden, als ein Musterbeispiel göttlicher Gerechtigkeit. Nach all dem, was wir von seinen Äußerungen dazu wissen, betrachtete er sich in der Tat als einen  e x e m p l a r i s c h e n  Fall; nicht vom Zufall, nein, von einer die Welt allmächtig dirigierenden metaphysischen Macht auserkoren. Er mochte das Gefühl haben, ein Stück Mythos zu verkörpern (Mythomane, der er ja auch in seinem literarischen Werke war!), so etwas wie ein Kronzeuge dafür zu sein, daß der nach dem Edlen, dem Edelmenschlichen immer strebend Bemühte auch der göttlichen Gnade und Fürsorge gewiß sein darf.

   Seinen "Faust" hat er zweifellos ebenso gut gekannt, wie er aus dem Goetheschen Hymnus »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut« seinen eigenen Begriff des »Edelmenschen« abgeleitet hatte. Da spukte gewiß im Hintergrunde seiner Weltsicht und Lebensanschauung die alte Me-


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phisto-Wette [Mephisto-Wette] um jenen Faust: »Was wettet Ihr, den sollt Ihr noch verlieren ...«, und daß es da um eine uralte Frage,  d i e  »Menschheitsfrage« überhaupt geht, das war ihm, Karl May, ein so unverlierbares Stück »Philosophie«, daß schon die frühen Kolportageromane davon geprägt sind; wie denn auch Claus Roxin das "Waldröschen" mit Recht einen »metaphysischen Roman« genannt hat, in dem die »gesamte Erde das Welttheater ist, auf dem die dunklen und hellen Mächte unablässig miteinander ringen.«(3)

   Aber man weiß, daß jene »Menschheitsfrage«, die Goethe zwischen Gott und Mephisto exemplarisch zur Entscheidung stellt, ein paar Jahrtausende früher schon literarisch gestellt worden war. Die Mephisto-Wette ist nur eine späte Variante jener anderen im Buche »Hiob«, das als ein erstaunliches literarisches Meisterwerk in das Alte Testament aufgenommen worden ist, aber von dem man weiß, daß es seinerseits wohl auf einen noch viel älteren »Ur-Hiob« zurückgeht, dessen Spuren man schon bei den Sumerern glaubt gefunden zu haben. Als Jahrhunderte hindurch mündlich tradierte Volkserzählung hat das Hiob-Motiv sich dann literarisch in unserer Bibelversion niedergeschlagen.

   Warum ich im Zusammenhang mit der Biographie Karl Mays auf dieses Thema zu sprechen komme? Das hat seinen Grund in einer persönlichen, jetzt Jahrzehnte zurückliegenden Erfahrung, besser gesagt: einer Ideen-Assoziation, die sich mir, als ich mich zum ersten Male auch nur umrißhaft mit dem Lebenslauf des Menschen Karl May beschäftigte, zwanghaft aufdrängte. Sie lautete: Das ist doch, dieser Karl May und sein Schicksal, ein  H i o b ,  wie er im Buche steht. Ein Hiob, nicht nur im äußerlichen Verlauf der Geschehnisse, diesem meteorhaften Aufstieg und dem grauenhaften Sturz in die Tiefen seelischer Qualen und gesellschaftlicher Ächtung, nein, auch in bezug auf jene zentrale weltanschaulich-religiöse Problematik, die damit auf das engste zusammenhängt: Wie denn ein Mensch, dem solches geschieht, einer doch von ihm geglaubten göttlichen Fügung, Gerechtigkeit und Güte überhaupt noch vertrauen könne. Ballen sich seine Fäuste prometheisch gegen den »da droben«, schlägt da ein so naiv optimistisches Weltbild (wie er es in seinen "Geographischen Predigten" entworfen hat) um in das Gegenbild eines Pessimismus und Nihilismus? »Denn besser wär's, wenn  n i c h t s  entstünde?« Das eben ist die alte, uralte »Menschheitsfrage«, um die es sich je und je schon immer gehandelt und die auch Karl May so sichtlich sein Leben lang umgetrieben hat.

   Daß May übrigens den hier erwähnten Zusammenhang zwischen dem Buch Hiob und der Faustdichtung genau gekannt hat, beweist eine Stelle in seiner Autobiographie "Mein Leben und Streben", wo er (im Zusammenhang mit den Vorwürfen, er sei ein Plagiator) eine Äußerung aus Goethes Gesprächen mit Eckermann zitiert, in der es heißt:


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»Hat daher auch die Exposition meines "Faust" mit der des "Hiob" einige Aehnlichkeit, so ist das wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als zu tadeln.«

   Es waren die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, in denen sich Karl May, dank der florierenden Fehsenfeld-Ausgabe, auf der Höhe seines Erfolges befand und er mit Recht meinen konnte, den Aufstieg aus den Niederungen Ardistans bewältigt zu haben. Daß ihm das Schlimmste seines Schicksals noch bevorstand, ahnte er ebenso wenig wie jener Reiche und Gerechte aus dem Lande Uz. »Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob. Derselbe war schlecht und recht, gottesfürchtig und mied das Böse. ... Und seines Viehs waren siebentausend Schafe, dreitausend Kamele, fünfhundert Joch Rinder und fünfhundert Eselinnen und sehr viel Gesindes; und er war herrlicher denn alle, die gegen Morgen wohneten.«(5)

   Da war es denn wohl für diesen anderen Hiob, für Karl May, die höchste Erfüllung lebenslanger Träumereien, daß er um die Jahrhundertwende die erste  w i r k l i c h e  Weltreise anzutreten vermochte, die ihn in jene Weltgegenden bringen sollte, in denen »gegen Morgen« auch der Mann aus Uz gelebt hatte. Wir wissen, daß eben diese Reise nicht nur eine innere Krise für ihn auslöste, sondern daß sie auch für den äußerlichen Verlauf des ihm noch verbliebenen Lebensjahrzehnts die Peripetie, der Glückswechsel im dramatischen Geschehen seines Schicksals gewesen ist.

   »Es begab sich aber auf einen Tag, da die Kinder Gottes kamen und vor den Herrn traten, kam der Satan auch unter ihnen. - Der Herr aber sprach zu dem Satan: Wo kommst du her? Der Satan antwortete dem Herrn und sprach: Ich habe das Land umher durchzogen. - Der Herr sprach zum Satan: Hast du nicht auch acht gehabt auf meinen Knecht Hiob? Denn es ist seinesgleichen nicht im Lande, schlecht und recht, gottesfürchtig und meidet das Böse. - Der Satan antwortete dem Herrn und sprach: Meinst du, daß Hiob umsonst Gott fürchtet? Hast du doch ihn, sein Haus und alles, was er hat, rings umher verwahret. Du hast das Werk seiner Hände gesegnet, und sein Gut hat sich ausgebreitet im Lande. Aber recke deine Hand aus und taste an alles, was er hat: was gilt's, er wird dir ins Angesicht absagen. - Der Herr sprach zum Satan: Siehe, alles, was er hat, sei in deiner Hand; ohne allein an ihn selbst lege deine Hand nicht. Da ging der Satan aus von dem Herrn.«(6)

   So liest sich jene Szene mit der Ermächtigung des Satans durch den »Herrn« in der biblischen Erzählung, die Goethe bekanntermaßen für seinen "Prolog im Himmel" verwendet hat und wofür er - mit Recht - nicht als Plagiator gescholten, sondern vielmehr gelobt zu werden beanspruchte. In der biblischen Erzählung macht der also ermächtigte Satan nicht so diplomatische Einleitungen, nicht so viel verlockende Ver-


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sprechungen [Versprechungen] wie der doch sehr vermenschlichte Mephisto. Den Hiob trifft es unvermutet und Schlag auf Schlag. Weiß man noch, was eine »Hiobspost«, eine »Hiobsbotschaft« ist? Hier sind die Exempel, von denen her im 18. Jahrhundert und besonders seit Goethes "Götz von Berlichingen" (1773) diese Redensarten im deutschen Sprachschatz gebräuchlich geworden sind:

   »Des Tages aber, da seine Söhne und Töchter aßen, und tranken Wein in ihres Bruders Hause, des Erstgebornen, kam ein Bote zu Hiob und sprach: Die Rinder pflügeten, und die Eselinnen gingen neben ihnen an der Weide, da fielen die aus Saba herein und nahmen sie und schlugen die Knaben mit der Schärfe des Schwerts; und ich bin allein entronnen, daß ich dir's ansagte. - Da der noch redete, kam ein andrer und sprach: Das Feuer Gottes fiel vom Himmel, und verbrannte Schafe und Knaben, und verzehrte sie; und ich bin allein entronnen, daß ich dir's ansagte. - Da der noch redete, kam einer und sprach: Die Chaldäer machten drei Rotten und überfielen die Kamele, und nahmen sie und schlugen die Knaben mit der Schärfe des Schwerts; und ich bin allein entronnen, daß ich dir's ansagte. - Da der noch redete, kam einer und sprach: Deine Söhne und Töchter aßen und tranken im Hause ihres Bruders, des Erstgebornen; und siehe, da kam ein großer Wind von der Wüste her, und stieß auf die vier Ecken des Hauses und warf's auf die Knaben, daß sie starben; und ich bin allein entronnen, daß ich dir's ansagte. «(7)

   Das also sind Hiobsbotschaften, Hiobsposten. Sie treffen den Mann auf der Höhe seines Lebens, seines Werkes, seines Erfolges. Sie schmettern auf ihn ein wie Hammerschläge, sie kommen geballt, gehäuft, die eine wird immer von der folgenden eingeholt. »Hiobsbotschaften« sind also etwas anderes als bloß »schlechte Nachrichten«, es sind vielmehr Schläge von einer Wucht und einer Destruktionskraft, daß sie an die Existenz des Menschen rühren. Es war diese Art von Nachrichten, die den aus dem Orient seiner Träume und Enttäuschungen Heimkehrenden zu seinem wachsenden Entsetzen aus der bisher so üppig grünenden Oase seines Schriftstellertums in jene Wüste hinausstieß, die er nunmehr zehn Jahre lang unter Qualen zu durchqueren hatte. Die Einzelheiten, die Zahl und Namen seiner Feinde und Verfolger will ich hier nicht wieder nennen, die Prozesse und Pressekampagnen gegen ihn nicht ausführlich darstellen: wir haben schon Bücher damit gefüllt, und die noch nicht publizierten Pressestimmen aus jenen Jahren würden abermals ganze Bücher füllen. Aber alles auf einen Nenner gebracht, war es dies: seine arme, dunkle und schuldvolle Vergangenheit hatte ihn eingeholt und drohte seine gesamte Existenz als Mensch und Schriftsteller zu verschlingen.

   Es läge nahe, hier nun die böse Welt, die ihn solcherart verfolgte, anzuklagen, wie es ebenso naheliegen würde, auch seine Verfehlungen in


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der Jugendzeit, die sich jetzt so spät noch einmal gegen ihn ausspielen ließen, bloß dem Milieu, dem Weberelend (das ja sprichwörtlich ist) anzulasten. Nein, das Entscheidende, das sein ganzes Schicksal bestimmt hat, lag doch in ihm selber. Wenn ich am Anfang dieser meiner Ausführungen davon gesprochen habe, daß das Phänomen Karl May nunmehr fast »zur Gänze« zu überblicken sei, so ist damit doch nicht gemeint, es sei auch einfach, diese besondere Struktur seiner intellektuellen und charakterlichen Individualität zu durchschauen. Nichts erscheint mir schwerer, als sich in seine so absonderlich gestaltete Psyche hineinzudenken oder gar hineinzuversetzen. Daß derselbe Mensch, der als Erzähler mit präziser Klarheit 73 und mehr Bände Romane und Erzählungen geschaffen hat, deren spezielle Charakteristik außer der Phantasiefülle die Schärfe der Details ausmacht, in allem, was seine persönliche Lebensführung betrifft, sich als so verworren, um nicht zu sagen »verwirrt« erweist, als ein so leichtfertiger Tor wie ein Trunkener auf der Grenze zwischen Realität und Wahn, zwischen Ehrsamkeit und flunkernder Hochstapelei balancierend -, dieses wirklich zu begreifen dürfte auch dem geschultesten Psychologen kaum möglich sein. »Pseudologia phantastica« ist wohl eine psychiatrische Nomenklatur, die der Sache am nächsten kommt, aber auch dies ist letztlich nur ein Wort, das sich, wie Goethe sagt, einstellt, wo »Begriffe fehlen«, das heißt in diesem Falle: ein eigentliches »Begreifen« außer unseren Möglichkeiten liegt. Schließlich war er kein Wahnsinniger, sondern ein kluger, kenntnisreicher Kopf, ein erzählerisches Genie. Wenn indessen von seiner Verworrenheit die Rede gewesen ist, so stellt sich, den Sinn und Gehalt seiner gesamten irdischen Existenz betreffend, sogleich wieder eine Reminiszenz aus Goethes "Faust" ein, wo es heißt:

Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient,
So werd' ich ihn bald in die Klarheit führen.(8)

   War es das, was für  i h n  s e l b e r  die Lösung seiner so oft erwähnten »Menschheitsfrage« bedeutete?

   Mit einiger Sicherheit kann man diese Frage bejahen. Über den tieferen Sinn seines wie des menschlichen Daseins überhaupt hat er im letzten Jahrzehnt seines Lebens umso schmerzlicher nachgedacht und gerungen, je vernichtender die Keulenschläge wurden, die ihn von ringsumher trafen. Schon während seiner Orientreise um 1900 erlitt er, wie wir wissen, jene ihn zutiefst erschütternde Lebenskrise, die ihn an den Rand des auch physischen Zusammenbruchs brachte und aus der er, wie er entschlossen war, als ein ganz anderer, als ein neugeborener Mensch wieder in die Welt hinaustreten würde. Aber sein eigentlicher Leidensgang, das Spießrutenlaufen unter Spott, Acht und Bann und Verfolgung, nahm erst seinen Anfang. Der Hiob May trat erst jetzt in


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die äußerste Belastung und Prüfung ein. Daß er ein neuer, ein in höhere und klarere Seinsform initiierter Mensch zu sein strebte, das bezeugt unmißverständlich die so viele seiner Leser befremdende Form seiner literarischen Produktionen, die zunehmend ins Symbolistisch-Allegorische entglitten. Zugleich streifte er, wenn auch nur zögernd, jene Lebenslüge von sich, die er in der hohen Zeit seiner Triumphe so fleißig um sich gesponnen hatte. Hundertemale wohl hatte er doch jahrelang auf entsprechende Fragen versichert, mündlich und schriftlich: Ja, ich bin es selbst, bin Old Shatterhand und Kara ben Nemsi, habe die Abenteuer selber erlebt, trage die Narben noch an meinem Leibe usw. Und nun auf einmal (wenn auch keineswegs als ein plötzlicher Einfall, denn als einen Prototyp, einen exemplarischen Fall hatte er dieses »Ich« schon immer empfunden) versichert er uns in seiner vom 28. Mai 1908 datierten "Beichte": ... Sie nennen mich einen Aufschneider und wohl gar noch anderes und schlimmeres. Du lieber Gott! Kein Mensch hat so wenig Grund und Lust aufzuschneiden, wie gerade ich! Das "Ich", in dem ich schreibe, das bin doch nicht ich selbst, sondern das ist die Menschheitsfrage, die ich personifiziere, um sie beantworten zu können.(9)

   Gewiß, diese "Beichte", so sehr sie seine Flunkereien der vergangenen Zeit, seine Identifizierung der Person mit der Fiktion, gewissermaßen wegwischen möchte, sie ist dennoch ein Zeugnis von jener »Klarheit«, in die er, wie Faust oder auch wie Hiob, aus der Verworrenheit geführt werden mußte.

   Was mich im übrigen - dieser Hinweis scheint mir nicht unwichtig - an den hier zitierten Zeilen der »Beichte« seit jeher besonders fasziniert hat, ist die bewußte oder unbewußte »List der Formulierung«, wenn May schreibt: ... die Menschheitsfrage, die ich personifiziere, um sie beantworten zu können. Denn dieses »die ich personifiziere« ist  d o p p e l d e u t i g !  Es kann bedeuten, und soll hier so verstanden werden, er habe die Menschheitsfrage in der fiktiven Ich-Figur (Old Shatterhand, Kara ben Nemsi) als Allegorie personifiziert. Es kann aber ebenso bedeuten: Ich, dieser Karl May, personifiziere (in meiner Person) diese Menschheitsfrage. Und diese zweite Deutung, die hier nur unterschwellig mitschwingt, ist es dann letztlich, zu der er sich wenige Jahre später in "Mein Leben und Streben" ganz eindeutig und unmißverständlich bekannt hat. Dieses ist dann die letzte Initiation in der Stufenfolge der Wandlungen seines Selbstverständnisses, seines Begriffs vom Sinn seiner eigenen Existenz als Mensch.

   Wenn hier von »Initiation« die Rede ist, so ist dies, terminologisch und sachlich, eine Anknüpfung an den in unserem Jahrbuch 1984 veröffentlichten Aufsatz von Bernd Steinbrink(10): "Vom Weg nach Dschinnistan. Initiationsmotive im Werk Karl Mays". In ihm hat sein Verfasser in ausführlicher Analyse dargelegt, daß Initiation, das heißt: das


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Geraten in eine höhere Seinsform und das Streben danach, ein Zentralthema ist, das sich durch das gesamte Lebenswerk des Autors hindurchzieht und auf diese Weise zugleich auch die gehaltliche  E i n h e i t  der beiden Teile seines dichterischen Schaffens, des fiktiv-real abenteuerlichen und des symbolistisch-allegorischen, bezeugt. Steinbrinks Hinweis darauf, daß im Brauchtum aller Völker und gesellschaftlichen Verbände solche Initiation eine zentrale Rolle spielt und jeweils mit rituellen Prüfungen oder auch, wie Steinbrink sagt, einer »Einweihungstortur« als Vorbedingung verknüpft ist, belegt aufs entschiedenste die Einsicht, daß das Œvre dieses Erzählers, was immer er auch schuf, in der Tat aus einem zentralen Menschheitsanliegen, einer echten »Menschheitsfrage« erwachsen ist.

   Geht es Steinbrink in seiner Abhandlung vorzugsweise um das  W e r k  Karl Mays, so steht, wie man sieht, in dieser meiner Skizzierung des Hiob-Schicksals Mays, das Leben und die Persönlichkeit im Vordergrund unseres Interesses. Der Beweis ist wieder einmal zu führen, daß bei aller phantastischen Verfremdung dennoch der Dichter und der Mensch  e i n e s  sind. Nichts anderes ist die Einsicht, jene »Klarheit« über den Sinn seines Daseins, als die zutiefst schmerzvoll errungene Überzeugung, daß alle seine Leiden eben so etwas wie »Initiationstorturen« gewesen sein müssen, die ihn am Ende selber, mit seiner eigenen Person, zur »Personifizierung« der Menschheitsfrage verwandelt haben. Das erlittene Leid als Initiationsritus zu verstehen, das hat er denn auch - als der Mythomane, der er war - in seinem Mythos von Märdistan in dramatisch-lyrischer Gestaltung ausgedrückt. Dieses Stück Dichtung darf man daher in unserem speziellen Sinne geradezu als ein Kernstück seines Œvres ansehen, weshalb ich es hier noch einmal zitiere:

Zu Märdistan, im Walde von Kulub,
Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede.

Da schmieden Geister?

Nein, man schmiedet sie!

Der Sturm bringt sie geschleppt, um Mitternacht,
Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen.
Der Haß wirft sich in grimmer Lust auf sie.
Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein.
Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.
Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug
Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer.
Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen.
Man stößt dich in den Brand; die Bälge knarren.
Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,
Und alles, was du hast und was du bist,


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Der Leib, der Geist. die Seele, alle Knochen,
Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,
Gedanken und Gefühle, Alles, Alles
Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert
Bis in die weiße Glut ---

Allah, Allah!

Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht!
Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert,
Wird weggeworfen in den Brack und Plunder
Und muß dann wieder eingeschmolzen werden.
Du aber willst zum Stuhl, zur Klinge werden,
Die in der Faust des Parakleten funkelt.
Sei also still!

Man reißt dich aus dem Feuer --

Man wirft dich auf den Ambos -- hält dich fest.
Es knallt und prasselt dir in jeder Pore.
Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.
Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu,
Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer ---
Die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord,
Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden.
Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten.
Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner,
Und dennoch mußt du wieder in das Feuer --
Und wieder -- immer wieder, bis der Schmied
Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual
Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag
Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.
Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.
Die kreischt und knirscht und frißt von dir hinweg,
Was noch ---

Halt ein! Es ist genug!

Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt,
der schraubt sich tief ---

Sei still! Um Gottes willen!(11)

   Für wie wichtig Karl May diesen Mythos von Märdistan und dem Walde Kulub mit seiner Geisterschmiede gehalten hat, ersieht man daraus, daß er die Verse nicht nur in seinem allegorischen Drama "Babel und Bibel", sondern zitatweise auch noch, gleichsam als Motto für seine gesamte Lebensgeschichte, für die Autobiographie "Mein Leben und Streben" in dem ouvertürehaft vorangestellten "Märchen von Sita-


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ra [Sitara]" verwendete. Es ist eben ins Mythologische verwandelte »Initiationstortur«, die hier aussagen soll, daß alle Leiden und Schicksalsschläge seines Lebens - nach seiner letzten Einsicht und Erkenntnis der notwendige Reinigungsprozeß gewesen seien, wie er nicht dem Durchschnittsmenschen, sondern dem zu menschheitlicher Bedeutung Bestimmten widerfahren  m u ß t e ,  damit man, wie es heißt: den Geist erkennt, der am Ende dem, der dies alles über ihn verhängt hat, aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag ... ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.

   Wer die seelische Kraft aufbringt, solche Torturen auszuhalten, dem winkt am Ende die Erlösung, die freilich nicht unbedingt noch in den engen Kreis der irdischen Existenz zu fallen braucht, denn:

Gott schrieb die Schöpfung nicht als Trauerspiel;
Ein tragisch Ende kann es nirgends geben.
Zwar jedes Leben ringt nach einem Ziel,
Doch dieses Ziel liegt stets im nächsten Leben.
(12)

   Der Glaube an eine Vollendung nach dem Tode, dieses allerdings konstante Stück Metaphysik, das er immer wieder, auch in seinen sehr frühen Werken, festgehalten hat und das insofern eine Reminiszenz des ihm aus dem Katechismus überkommenen Glaubensdogmas ist -, hier tritt es freilich nicht mehr als naive Selbstverständlichkeit auf, sondern als ein unter Qualen und Zweifeln neu erworbenes Glaubensbekenntnis. »Was du ererbt von deinen Vätern hast, / erwirb es, um es zu besitzen!« Auch diese Worte aus dem Faust werden uns bei dieser Gelegenheit einfallen. Überhaupt mag hier einmal der Hinweis verstattet sein (auf etwas, was einer genaueren Untersuchung wert wäre), wie sehr gerade Goethes Werk, bewußt oder unbewußt, immer wieder Karl Mays Weltbild beeinflußt hat, was sich auch in seiner Terminologie deutlich abspiegelt. Daß Mays »Edelmensch« von Goethes »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut« abgeleitet worden ist (und zwar in ausgesprochenem Gegensatz zu Nietzsches »Übermenschen«), wurde schon angedeutet. Aber auch, wenn der späte Karl May darauf besteht, daß seine früheren Reiseerzählungen als Gleichnisse verstanden werden müßten, erinnert uns dies unmittelbar an die Schlußpartie des Goetheschen "Faust", in der es heißt: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis ...« In diesem Zusammenhang vermeint man auch zu erkennen, daß der Titel, den May für seine Autobiographie gewählt hat, "Mein Leben und Streben" in doppelter Weise von Goethe her inspiriert scheint: nämlich formal vom Titel der Goetheschen Autobiographie "Dichtung und Wahrheit" her und inhaltlich von der Formulierung im "Faust":

Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.


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Die Liste ähnlicher Assoziationen und Adaptionen ließe sich mühelos vermehren. (12a)

   Aus der gleichen Zeit, in der "Babel und Bibel" sowie "Mein Leben und Streben" geschrieben wurden, muß auch das aufschlußreiche Gedicht Karl Mays stammen, das sich in seinem Nachlaß vorgefunden hat und in dem er in einer Art »Rollenlyrik«, d. h. im Ich-Stil, sich selbst mit der biblischen Figur, die wir hier erläuternd herangezogen haben gewissermaßen identifizierte: »Hiob«.

Schlage mich! Peinige mich!
Aber ich komme!
Ich komme hinauf zu dir
langsam, stetig.
Jede Stunde meiner Qual sende ich dir empor,
jede Stunde der Verzweiflung.
So komm ich:
Stück für Stück, nach und nach.
Aber wenn mein letzter Schrei zu dir gestiegen ist,
dann bin ich ganz bei dir, ganz, ganz!
Dann werde ich ganz versammelt sein, ganz, ganz.
Und dann trete ich vor dich hin
und fordere mich von dir,
mich, mein Leben, meinen Glauben, mein Glück,
alles, alles, was du mir gibst,
um es mir wieder zu nehmen.
Dein Geben war Schein, nur Trug und List,
dein Nehmen aber war Wirklichkeit.
Dann ringe ich mit dir, ich, ich!
Mit dir!
(13)

   Hier spricht er nun also selbst, der »Hiob May«, den wir meinen. Eindeutig formuliert er den Sinn seiner Leiden als die von höherer Macht, von Gott verhängte Prüfung, als ein »Verhängnis« im wörtlichen Sinne. »Schlage mich! Peinige mich!« Der Betroffene selbst fordert - so scheint es - dazu auf, die »Initationstortur« an ihm zu vollziehen. Der Philologe wird übrigens diese bei May ungewöhnliche Form der freien Rhythmen als bemerkenswert erkennen und auch hierin Reminiszenzen an Goethes Hymnendichtungen anklingen hören. Die Vorstellung, daß jedes ihn betreffende Leid, jeder Schmerz zugleich dazu dient, ein Stück seines Ich bereits - »nach und nach« - zum Göttlichen emporzutragen, von seiner irdischen Existenz vorab hinwegzunehmen, bis er ganz dort versammelt sein wird, insbesondere dieses »ganz bei dir, ganz, ganz« erinnert ja von ferne an Goethes Ganymed: »Aufwärts an deinen Busen, alliebender Vater«. Doch auch noch ein Stück »Prometheus« scheint mitzuschwingen in diesem »Dann ringe ich mit dir!«


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   In sehr eigenartiger Beziehung zu diesem Hiob-Gedicht stehen auch die in unserer Ausgabe ("Lichte Höhen") mit dem Titel "Königskrone" überschriebenen Verse:

Ja, das Weh, das Weh!
Es ist die Krone, die goldene Krone,
die so schwer ist zu tragen
von all den Edelsteinen,
die so schön sind,
so schön.
Doch all ihre Kostbarkeit
nimmt ihnen nicht
die Schwere.
Wie müde macht das Wandern!
Mein Weg war und ist weit.
Die Wandlung ist nicht leicht.
Wir Könige gehen
im Schmuck
so schwer
des Weges!
(14)

   »Wir Könige gehen im Schmuck so schwer des Weges«! Beziehen wir dieses Wort »wir Könige«, wie es wohl richtig ist, auf diejenigen, die unter der Last der Leiden und Qualen schwerer zu tragen haben als die Durchschnittsmenschen, diejenigen also, deren Herausgehobenheit und Adel darin besteht, daß sie in ihrem Leben mehr an Menschenelend und Existenznot, auch größere schöpferische Leistungen zu bewältigen haben, dann irren wir uns nicht in der Annahme, daß er sich selber in diesem »wir Könige« mit begriffen hat. Hatte er doch auch schon sehr viel früher den paradoxen Terminus vom »Fürsten des Elends« gebildet. In diesem Sinne steht dann dieses Gedicht (sicherlich in seiner Schlichtheit und doch Ausdruckskraft eines seiner wohlgelungenen) in nächster inhaltlicher Berührung zu denjenigen Textteilen aus "Leben und Streben", in denen er, der Autobiograph Karl May, nach allem Vorangeschickten das eigentliche  F a z i t  seiner Existenz gezogen hat. Ein Fazit freilich, das er nicht nur als Abrechnung mit der Vergangenheit, sondern auch als Statuierung des Neu-Gegenwärtigen seiner Lebensform betrachtete. Was die Vergangenheit betraf, so erschien sie ihm jetzt als ein bloß unzulängliches Gleichnis, sowohl das Persönliche, wie auch das schriftstellerische Werk betreffend. Alles das »Unzulängliche« wollte ihm nun als bloße Vorübung, als  S k i z z e  des noch zu Verwirklichenden erscheinen. So heißt es denn ausdrücklich:

   Wie meine »Reiseerzählungen« nur Skizzen sind, so ist auch das vorliegende Werk nur Skizze. Es kann gar nichts anderes sein, weil das, was ich erzähle, noch nicht zu Ende ist und weil eine Menge mir auferzwun-


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gener [auferzwungener] Prozesse wie drohende Revolver auf mich gerichtet sind. Außerdem verhindern mich brutale Körperschmerzen, in der Weise zu schreiben, wie ich möchte. Zehn Jahre lang täglich viermal ganze Stöße von Briefen und Zeitungen erhalten, die von Gift und Hohn und Schadenfreude überfließen, das hält kein Simson und kein Herkules aus. Geist und Seele sind stark geblieben. Es hat sich in mir nicht das Geringste geändert. Mein Gottvertrauen und meine Menschenliebe sind nicht ins Wanken gekommen. Aber meinen Körper, den früher so unverwüstlich scheinenden, hat es endlich doch gepackt. Er will zusammenbrechen. Seit einem Jahre ist mir der natürliche Schlaf versagt. Will ich einmal einige Stunden ruhen, so muß ich zu künstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur betäuben, nicht aber unschädlich wirken. Auch essen kann ich nicht. Täglich nur einige Bissen, zu denen meine arme, gute Frau mich zwingt. Dafür aber Schmerzen, unaufhörliche, fürchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts mich emporzerren und am Tage mir die Feder hundertmal aus der Hand reißen! Mir ist, als müsse ich ohne Unterlaß brüllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht sitzen, nicht gehen und nicht stehen, und doch muß ich das alles. Ich möchte am liebsten sterben, sterben, sterben, und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil meine Zeit noch nicht zu Ende ist. Ich muß meine Aufgabe lösen.

   Meine Aufgabe? Ja, meine Aufgabe! Die habe ich endlich, endlich erkannt. Sie ist genau dieselbe, wie ich dachte, und aber doch eine ganz, ganz andere. ... Das Karl May-Problem ist, wie das Problem jedes andern Sterblichen, ein Menschheitsproblem im Einzelnen. Aber während die meisten Menschen nur dazu berufen sind, in ihrem kleinen, engen Kreise gewisse Phasen des großen Problems darzustellen, gibt es noch Andere, denen die schwere Aufgabe wird, ein Abbild desselben zwar auch nur im Kleinen, aber doch nicht im Einzelnen, sondern im Ganzen zu liefern. Die Vielen stellen Menschheitsteile, diese Wenigen aber stellen Menschheitbilder dar. Die Vielen können ihren engen Kreis sauber halten; sie sind Dutzendmenschen; sie können sogar als Mustermenschen erscheinen. Den Wenigen aber ist die Tugend und die Sünde, die Reinheit und der Schmutz der ganzen Menschheit in gleichem Verhältnisse wie dieser zugeteilt; sie können berühmte Feldherren oder rohe Mörder, große Diplomaten oder berüchtigte Schwindler, segensreiche Finanzgenies oder niedrige Taschendiebe, niemals aber Mustermenschen werden. Ihnen ist nicht das wohltuende Glück der unbewußten Mittelmäßigkeit beschieden. Ist das Leben mächtiger als sie, so werden sie zwischen Tugend und Laster, zwischen Höhe und Tiefe, zwischen Jubel und Verzweiflung hin- und hergezerrt, bis sie über den Wolken zerstäuben oder in den Schluchten zerschellen. Sind sie stärker als das Leben und sind sie im Glücke geboren, so werden sie in stolzer Ruhe ihre leuchtenden Bahnen ziehen; kamen sie aber unter den Augen der Niedrigkeit, der Armut


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und der Not zur Welt, so werden sie zwar ihr Ziel erreichen, weil sie es erreichen müssen, aber der Widerstand, den sie zu überwinden haben, wird ein grausamer, ein unerbittlicher sein, und ehe sie, da oben angekommen, ihren Siegesruf erschallen lassen können, werden sie ermattet zusammenbrechen, um die Augen für diese Welt zu schließen.

   Eigentlich sollte ein Jeder wissen, zu welcher von diesen Menschenarten er gehört, oder er sollte sich doch wenigstens verpflichtet fühlen, hierüber nachzudenken. Das habe ich getan, und ich bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß ich kein billiges, ungestörtes Durchschnittsglück zu beanspruchen hatte, sondern das Menschheitselend in seinen tiefsten Tiefen kennen lernen mußte, um mich ebenso beharrlich und ebenso mühevoll aus ihm emporzuarbeiten, wie die Menschheit Ströme von Schweiß und Blut und die Zeit von Jahrtausenden braucht, sich aus dem ihrigen zu erheben.(15)

   Und dieses Bewußtsein einer Art Stellvertreterschaft für  a l l e  Menschheitsnöte und sozialen Probleme hat ihm dann offenbar, so kurze Zeit noch vor seinem Tode, die Überzeugung erweckt, es sei seine Aufgabe, nun auch in großem Maßstabe, ja - wie es heißt - vor dem Reichstage, das »Karl-May-Problem« als ein allgemeines Menschheitsproblem zu repräsentieren.

   Ich erinnere daran, daß ich von einem Dresdener Staatsanwalt sogar aus nur rein »wissenschaftlichen« Gründen an diesen Pranger genagelt worden bin, bei lebendigem Leibe! Er konnte nicht einmal meinen Tod abwarten und behauptete, durch einen Gesetzesparagraphen zu dieser Vivisektion berechtigt worden zu sein. Da schaut man denen, die von Humanität sprechen, ganz unwillkürlich in das Gesicht, ob sich da nicht etwa ein sardonisches Lächeln zeigt, welches verrät, wie es eigentlich steht. Und da fühlt man mit den Hunderttausenden, die hierunter leiden, das brennende Bedürfnis, einmal alle die Paragraphen, an denen der gute Wille der Menschheit scheitert, an das Tageslicht zu ziehen und dahin zu stellen, wo sie stehen müssen, um durchschaut zu werden --- vor die Oeffentlichkeit, vor den Reichstag! Hier liegt der Punkt, an dem meine Aufgabe anzusetzen hat. Es hat schon Einige gegeben, die als »entlassene Gefangene« ihre Erfahrungen niedergeschrieben haben; aber was man da erfuhr, das war so unbedeutend, daß es der Allgemeinheit keinen Nutzen bringen konnte. Hier genügt es nicht, kleine Menschengeschicke zu zeigen, sondern schwere, gewichtige Menschenschicksale, die, auch im klassischen Sinne, wirkliche Schicksale sind.  U n d  d a s  m e i n i g e  i s t  e i n  s o l c h e s .  Ich fühle mich verpflichtet, und meine Aufgabe ist, es in den Dienst der Humanität zu stellen. Wie ich mir das denke, das wird man, hoffe ich, aus meinem zweiten Bande ersehen.

   Es gehörte zu dieser meiner Aufgabe, daß die Oeffentlichkeit sich nicht nur mit dem Schriftsteller Karl May, sondern auch mit dem Menschen May befaßte und daß Alles, was dem Letzteren vorzuwerfen war, bis auf


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den letzten Tropfen ausgeschöpft werden mußte. Das Eine war berechtigte Kritik; das Andere war Henker-, Schinder- und Kavillerarbeit, die ich über mich ergehen lassen mußte, ohne mich durch das mir abgeforderte Geld von dieser Qual und Marter zu befreien. ... Schau ich auf die letzten zehn Jahre zurück, so bin ich voller Dankbarkeit, sie überstanden zu haben. Eine »Hetze« wie die gegen mich, hat es, so lange die Erde steht, noch nie in der Literatur irgend eines Landes, eines Volkes gegeben.(16)

   Betrachtet man dieses alles, so ist es in der Tat auch noch heute, aus der Sicht eines Dreiviertel-Jahrhunderts später (und wir haben inzwischen in einigen Ländern und Völkern noch tödlichere literarische Hetzjagden erlebt) schwer, die Faszination, daß da etwas Unheimliches, kaum noch mit irdisch-normalen Maßen zu Fassendes im Spiele gewesen ist, abzustreifen. Insbesondere, wie mir jedenfalls als eine Art atavistischer Vision dabei vorschwebt, daß da im Falle dieses unseres Hiob jener »Herr« da droben einen ganz besonders erwählten Spezial-Satan auf sein Versuchsobjekt in Sachen »Menschheitsfrage« angesetzt hätte. Lebius mit seinem irdischen Namen, und vergliche man ihn mit jenem weiland Mephistopheles, so wüßte ich wohl, mit welchem von beiden ich als Hiob, Faust oder May es lieber zu tun haben würde. Hier nur eine Probe aus dem, was May im Schlußkapitel seiner Autobiographie, Lebius betreffend, zusammengefaßt hat:

   ... der Antrag des Lebius an die Staatsanwaltschaft, mich in ein Irrenhaus zu sperren. Sein Antrag, mich nach Amerika steckbrieflich verfolgen zu lassen. Die zahllosen Artikel gegen mich in seinem Blatte, der »Bund«. Seine Flugblätter mit den gräßlichsten Unwahrheiten, welche die Runde durch Deutschland, Oesterreich, Schweiz, Italien, Frankreich, England, Nord- und Südamerika machten. Da beschuldigte er mich sogar, meinen Schwiegervater erwürgt zu haben! Das geht so fort bis in die neueste Zeit. Schließlich eine Denunziation wegen Beleidigung des Untersuchungsrichters, und zu allerletzt, vor ungefähr vier Wochen, eine Anzeige an den Staatsanwalt gegen mich wegen Blutschande, die bekanntlich mit bis fünf Jahren Zuchthaus bestraft wird. Man sieht, daß man zu den alleräußersten Mitteln greift, mich »kaput zu machen«!(17)

   Unmittelbar hierauf aber findet sich nun auch jenes Resümee, das eigentlich das Erstaunlichste an diesem Menschen Karl May gewesen ist und, eben im Sinne eines Hiob-Schicksals, dasjenige, was zu beweisen und zu erhärten gewesen war:

   Dies auszuhalten, ohne das Vertrauen zu Gott, den Glauben an die Menschheit und alle Lebenslust und Lebenskraft zu verlieren, ist eine Tat, zu der wohl kaum jeder fähig ist. Ich habe es ertragen, ohne mich zur Selbsthilfe reizen zu lassen, weil ich keinen Augenblick lang an Gott und seiner Liebe zu zweifeln vermag und weil mir in dieser überschweren Zeit ein Wesen zur Seite gestanden hat, dessen tapfere, hochstreben-


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de [hochstrebende] Seele mich wie auf Engelsflügeln über alles Leid erhob, dem ich verfallen sollte, nämlich meine jetzige Frau.(18)

   Das Vertrauen zu Gott, der Glaube an die Menschheit, keinen Augenblick Zweifel an Gott und seiner Liebe -: da haben wir, in wenigen Worten zusammengefaßt, sein Credo. Es ist ein Glaubensbekenntnis, das, wie ich meine, die letzte und so schwer erlittene  W a h r h e i t  dieser menschlichen Seele darstellt. Man kann es nicht anders als mit Ergriffenheit und Ehrfurcht lesen. Denn hier meldet sich nicht bloße Reminiszenz einer einst dem Kinde eingeprägten Denkbahn, sondern auch er, Karl May, hat in frühen Jahren seiner Kerkerhaft seinen Gott, jedenfalls den konfessionell dogmatisierten, den Zweifeln einer geradezu Feuerbachschen Denkweise unterworfen. Ich habe in meinem Aufsatz "Auf den Spuren Nathans des Weisen" vor einigen Jahren darauf aufmerksam gemacht. Franz Cornaro hat damals in einer Replik dagegen mir vorgehalten, er sei sicher, »daß May als reifer Mann und im Alter ein gläubiger Christ, wenn auch kein orthodoxer Anhänger einer bestimmten Konfession war.« Und er fährt fort: »Ich habe seinen letzten Vortrag in Wien, acht Tage vor seinem Tod, miterlebt und bewahre seine ehrwürdige Erscheinung zu deutlich in meiner Erinnerung, als daß ich Unaufrichtigkeit in seinem Bekenntnis zum Christentum für möglich halten könnte.«(19)

   Ich habe Franz Cornaro auf seinen (mir übrigens höchst wertvollen) Aufsatz nicht weiter publizistisch geantwortet. Es bedurfte einer solchen Entgegnung auch nicht, weil die von mir analysierte Toleranzidee bei Karl May seinem gläubigen Christentum in keiner Weise widersprach. Nein, da ist keine Spur von Unaufrichtigkeit in seinem Bekenntnis, da blicken wir in die kristallene Klarheit echter Überzeugung.

   In diesem Zusammenhang dürfte ein Dokument von entscheidender Bedeutung sein, das Karl May schon einige Jahre früher formuliert und durch den Redakteur Heinrich Wagner in der "Donau-Zeitung" hat veröffentlichen lassen; handelt es sich doch dabei um ein regelrechtes religiöses »Glaubensbekenntnis«, das (in der bisherigen May-Forschung nur wenig beachtet) der Schriftsteller in höchst sorgfältiger Wortwahl ersichtlich dem Muster des christlichen Grundbekenntnisses, dem »Nicäno-Konstantinopolitanum«, nachgebildet hat. Entscheidend interessant ist es dabei, daß diese Formulierung eben nicht ganz einfach den bekannten Katechismustext zitiert, sondern, sorgfältig abgewogen, ein das Dogmatische sprengendes, eigengeprägtes Credo verdeutlichen will. Hier zitiere ich den Text, wie ihn Hansotto Hatzig in seinem Nachwort zu dem Reprintband "Schriften zu Karl May" wiedergegeben hat. Er trägt den Titel "Mein Glaubensbekenntnis":

   Ich glaube an Gott, den allmächtigen und allweisen Schöpfer aller


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Himmel und aller Erden. Er thront von Ewigkeit zu Ewigkeit. Er ist der Herr aller Gesetze und Kräfte und der Vater aller fühlenden Wesen!

   Ich glaube an die himmlische Liebe, die zu uns niederkam, für die Sterblichen den Gottesgedanken zu gebären. Indem sie dieses tat, wurde sie für uns zur Gottesmutter. Sie lebt und wirkt, gleichviel, ob wir sie verehren oder nicht. Sie ist die Reine, die Unbefleckte, die Jungfrau, die Madonna!

   Ich glaube an den von ihr Geborenen, den Sohn des Vaters. Nur dadurch, daß er Mensch wurde, konnte er uns den Vater offenbaren. Und je tiefer er sich in die Menschheitsqual versenkte, um so überzeugender mußte diese Offenbarung sein. Er ist unser Führer, unser Ideal, der Weltenheiland, der Erlöser!

   Ich glaube an die göttliche Gnade, die diesen Heiland nun auch in unserem Innern geboren werden läßt, um uns wie ihn durch Leid und Tod zur Auferstehung und zur Himmelfahrt zu führen. Sie wird ausgegossen über alle Welt und spricht in allen Zungen. Sie ist der heilige Geist!

   Ich glaube an die einzige, alles umfassende katholische Gemeinde der Gläubigen, zu der ein Jeder gehört, der den Pfad des Erlösers wandelt. Das ist die christliche Kirche!

   Und ich glaube an das Gute im Menschen, an die Kraft der Nächstenliebe, an die Verbrüderung der Nationen, an die Zukunft des Menschengeschlechtes. Das ist das irdische Paradies, nach dem wir streben sollen und in diesem Streben beginnt schon hier auf Erden die uns für dort verheißene Seligkeit!

   Das ist es, was ich glaube. Es ist nicht ein unzulänglicher, trügerischer Körper, sondern der Geist und die Seele, der Inhalt und das Wesen meiner Religion. Mehr kann wohl niemand geben!(20)

   »Wir halten es nicht für nötig, unseren Standpunkt demgegenüber ausdrücklich darzulegen«, so kommentierte Wagner Karl Mays Confessio, als er sie in seiner Zeitung veröffentlichte. Wir verstehen das wohl. Es war ein konservativ-katholisches Blatt, das dem Vielgeschmähten und Gehetzten so mutig seine Zeilen für diese Selbstdarstellung öffnete. Aber mit dem Wortlaut, mit dem Inhalt von Mays Proklamation ließ sich das konfessionelle Dogma nicht zur Deckung bringen. Wer seine Worte genau abwägt, wird nämlich bemerken, daß May hier ganz deutlich ein Stück Entmythologisierung (wie wir heute sagen würden) in das Trinitätsdogma hineingebracht und daß er auch ausdrücklich eine die Konfessionsgrenzen überschreitende ökumenische Vorstellung von christlicher Glaubensgemeinschaft vertritt. Da wird schon im ersten Artikel Gott ausdrücklich als Herr aller (Natur-)Gesetze und Kräfte hervorgehoben, sowie als Vater nicht nur des einen Sohnes Jesus, sondern »aller fühlenden Wesen« genannt; welch letzteres bedeutet, daß nicht nur  a l l e  Menschen, sondern alle lebendigen Geschöpfe


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dieser Vaterschaft als teilhaftig betrachtet werden. Ein Gedanke, der geradezu an Spinoza erinnert.

   Ebenso interessant bietet sich der zweite Artikel dar. Man beachte nur, wie sorgfältig hierin der Name Maria vermieden worden ist. Vielmehr ist es die »himmlische Liebe«, die für die Sterblichen »den Gottesgedanken zu gebären« hat. Sie, die himmlische Liebe, wird »für uns« (das heißt doch wohl: symbolisch, nach unserem bloß menschlichen und bildhaften Verständnis) zur Gottesmutter. Und sie, die »Gottesliebe«, heißt es, »lebt und wirkt, gleichviel, ob wir sie verehren oder nicht«. Das heißt doch, mit anderen Worten: Man mag einen Marienkult zelebrieren oder auch nicht -, für die Echtheit christlichen Glaubens spielt das keine Rolle. Gewiß hätte da Wagner eigentlich, wie er schreibt,  u n s e r e n  Standpunkt dem gegenüber kritisch vertreten können oder sollen.

   Da ist weiter auffallend, daß im dritten Artikel, wo von Jesus die Rede ist, dasjenige fehlt, was dem Nicäno-Konstantinopolitanum entschieden das Wichtigste ist: weder »niedergefahren zur Hölle« noch »am dritten Tage wieder auferstanden« ist bei May dieser »Sohn des Vaters«, wohl aber »in die Menschheitsqual versenkt« und eben deswegen - so fügen wir hinzu - für den in Menschheitsqualen versenkten Hiob May »um so überzeugender«. Als das uns vorschwebende  I d e a l  eines edlen Menschen ist er dem Christen ein Führer und Erlöser. Und nicht in seiner vom Dogma ihm zugeschriebenen Göttlichkeit, die im Himmel beim »Vater« thront, ist er uns Erlöser und Heiland, sondern wie es im vierten Artikel gesagt wird (und das ist ein pietistischer Hauptgedanke), indem »die göttliche Gnade diesen Heiland nun auch in unserem Innern geboren werden läßt«. Dieser in uns geborene Heiland ist dann auch die Kraft in uns, »die uns durch Leid und Tod zur Auferstehung und zur Himmelfahrt führt«. Dies letzte, möchte ich meinen, spricht die zentralste Erfahrung des Menschen Karl May aus, den Kern jener bewundernswerten seelischen Kraft, von der wir als dem Erstaunlichsten in der Bewältigung seiner Hiob-Plagen schon gesprochen haben.

   Nicht minder undogmatisch erweist sich der fünfte Artikel, obgleich in ihm der Begriff »katholisch« hervorsticht. Doch ist ganz offenbar, daß May den Terminus »katholisch« hier nicht im Sinne einer konfessionellen Abgrenzung gegen den sogenannten Protestantismus gebraucht, sondern ökumenisch, im ursprünglichen griechischen Wortsinn als »allgemein« und »umfassend«, wenn es heißt, daß zu dieser »katholischen Gemeinde der Gläubigen« ... »ein  J e d e r  gehört, der den Pfad des Erlösers wandelt«.

   Und schließlich geht ein sechster Artikel höchst interessanterweise über das Trinitätsdogma hinaus und formuliert einen Gedanken, dessen Quelle die Philosophie der europäischen Aufklärung ist, wie sie


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von Lessing und Herder her dem Schriftsteller Karl May seit jeher geläufig gewesen ist. Der Glaube an »das Gute im Menschen«, an die »Kraft der Nächstenliebe«, an die »Verbrüderung der Nationen« und an die »Zukunft des Menschengeschlechtes« --, diesen Glauben nicht verloren zu haben nach all den Erfahrungen eines so geplagten Lebens, angesichts all der fanatischen und gewiß - wie im Falle Lebius, Münchmeyer, Fischer, Gerlach, Pöllmann und so weiter - durchaus bösartigen Verfolger und der ihn mit Schmutzkampagnen überziehenden Medienfehden gegen ihn: das ist wohl das Äußerste an Gottvertrauen, das der geplagte Hiob sich hat bewahren und vor dem »Herrn da droben« hat bewähren können. Zwar formulierte May seine Confessio schon im Jahre 1906, aber die Autobiographie von 1910 hat alles dieses ausdrücklich bestätigt, indem der Verfasser sein eigenes Schicksal geradezu als exemplarischen Beweis für seine Auffassung der »Menschheitsfrage« dargestellt hat.

   Nach solchen Bekenntnissen, am Ende einer langjährigen Tortur abgelegt, wäre nun der Augenblick gekommen, daß der Herr da droben die schreckliche Prüfung für bestanden erkennen sollte; und wäre er dieser Leidgeprüfte, Hiob und nicht Karl May gewesen, so hätte sich die Fülle des Glücks über ihn ergießen müssen: »Und der Herr wandte das Gefängnis Hiobs da er bat für seine Freunde. Und der Herr gab Hiob zwiefältig so viel, als er gehabt hatte. - Und es kamen zu ihm alle seine Brüder und alle seine Schwestern und alle, die ihn vorhin kannten, und aßen mit ihm in seinem Hause, und kehreten sich zu ihm, und trösteten ihn über allem Übel, das der Herr über ihn hatte kommen lassen. Und ein jeglicher gab ihm einen schönen Groschen und ein gülden Stirnband. - Und der Herr segnete hernach Hiob mehr denn vorhin, daß er kriegte vierzehntausend Schafe und sechstausend Kamele und tausend Joch Rinder und tausend Eselinnen.«(21)

   Nicht so, nicht nach orientalischer Märchenart, geschah es dem Hiob May. Aber liest man die letzten Seiten seiner Autobiographie, so spürt man doch so etwas wie ein Aufatmen und eine sich über sein Schicksal emporschwingende Gelassenheit: Ich bin nicht mehr so fürchterlich allein. Ich habe nicht mehr immer nur aus mir selbst herauszuschöpfen, sondern es hat sich mir ein köstlich reiches seelisches Leben zugesellt, durch dessen Einfluß sich Alles, was in mir zum guten Ziele führt, verdoppelt. Körperlich schwer leidend, bin ich geistig frisch und seelisch wenigstens ebenso vertrauensvoll wie in der Jugendzeit. Ich bin nicht töricht genug, mir zu verheimlichen, daß man mich als einen Ausgestoßenen betrachtet, ausgestoßen aus Kirche, Gesellschaft und Literatur. Der Eine schlägt auf mich los, weil er mich für einen verkappten Katholiken oder gar Jesuiten hält; der Andere greift zum Prügel, weil er meint, ich sei noch immer heimlich Protestant. ... Daß man mich als gesellschaftlich tot betrachtet, rührt mich nicht. Ich habe nicht den geringsten


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Grund, partout zu der Gesellschaft gehören zu wollen, die ich in meiner Leidenszeit gezwungen war, kennen zu lernen. ... Und was meine literarische Ausstoßung betrifft, so kann ich mich auch mit ihr zufrieden geben. Den Weg, auf dem ich mich befinde, ist noch kein Anderer gegangen; ich wäre also auch ohne den Haß, den man auf mich richtet, gezwungen, ein Einsamer zu sein. Auch bin ich überzeugt, daß später, wenn man mich und das, was ich will, erst richtig kennen gelernt hat, sich Manche, vielleicht sogar Viele von dem großen Haufen absondern werden, um sich mir zuzugesellen. ... Das Schicksal meiner bisherigen Arbeiten wird nur durch ihren Wert oder Unwert bestimmt, durch nichts Anderes. Taugen sie etwas, so werden sie bleiben, ganz gleich, ob man sie gegenwärtig lobt oder tadelt.(22)

   Und doch gönnte ihm nach all den Hiobsprüfungen das Schicksal (oder sagen wir: die göttliche Liebe?) in den beiden letzten Jahren seines Lebens so etwas wie eine Wiedergutmachung. Wie immer, wenn die Öffentlichkeit von solchen hysterisch aufgeputschten Wogen von Haß und Hetze lang genug überflutet worden ist, kommt die Zeit, da sich die Woge schließlich brandend überschlägt und zurückflutet, sich beruhigt oder gar in ihr Gegenteil tendiert. So wurde es im Blätterwald der Presse in den letzten beiden Jahren ruhiger um den »Fall May«, Verteidiger mit angesehenen Namen fanden sich ein und meldeten sich zu Wort, den gierigsten seiner Verfolger, Lebius, konnte er im Berliner Prozeß von 1911 einer gerichtlichen Bestrafung überantworten, wonach die öffentliche Meinung ihm mehr und mehr Sympathie signalisierte. Ja, er konnte einen letzten persönlichen Triumph feiern, als ihn der österreichische »Akademische Verband für Literatur und Musik« zu einem Vortrag nach Wien eingeladen hatte. Am 22.3.1912 wurde im Wiener großen Sofiensaal sein Vortrag (wie Wollschläger es nennt) eine »ungeahnte Demonstration«. Da kommen sie in Massen herbei, 3000 füllen den Saal und - um noch einmal mit dem Buche Hiob zu sprechen: »trösteten ihn über allem Übel, das der Herr über ihn hatte kommen lassen und ein jeglicher gab ihm einen schönen Groschen und ein gülden Stirnband.« Nun, ein »gülden Stirnband« gab es wohl nicht für ihn, wenn man nicht dasjenige für ein solches nehmen will, was Bertha von Suttner, die erste Inhaberin des Friedens-Nobelpreises, in der Wiener "Zeit" am 5.4.1912 über ihn geschrieben hat: »Es lag etwas Seherhaftes, Unendlichkeitssehnendes in seiner ganzen Art« und der »Jubel der Massen« sei um ihn gewesen als »eine Demonstration von persönlicher Verehrung, ein Protest gegen die Bosheits- und Verleumdungskampagne, die gegen ihn geführt worden und aus der er voll rehabilitiert hervorgegangen war.«

   Vielleicht bedürfte dieses »voll rehabilitiert«, das ihm Bertha von Suttner auf solche Weise bescheinigte, einer kurzen Erläuterung. Natürlich kann es nicht bedeuten, daß die erlittenen Gefängnisstrafen sich


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als ganz unbegründet, daß sich die Verurteilungen als Irrtümer, die ans Hochstaplerische grenzenden Eskapaden, sogar noch in seiner Glanzzeit, als berechtigt erwiesen hätten. Es kann nicht bedeuten, daß die merkwürdigen Flunkereien und Rollenspiele des von seiner weltflüchtigen Phantasie Genarrten als gar nicht wesentlich anzusehen wären. Ungeschehen konnte nichts gemacht werden, und ungeschehen wollte er es auch in seiner Wiener Rede (wie berichtet wird) nicht einmal wünschen. Es gehörte ja dieses alles zu jenem Hiobhaften, Exemplarischen und gewissermaßen das Menschheitsschicksal im ganzen Repräsentierenden seines Lebens, worin er denn endlich den  S i n n  seines Daseins erkannt zu haben glaubte. Dieser Glaube an die Stellvertreterrolle, die ihm ein höheres Schicksal auferlegt hatte, sie war es, die von den Massen seiner Zuhörer gleichsam durch Akklamation anerkannt wurde. Unter den Versen, die er in seine sonst frei gesprochene Rede eingeflochten hatte, findet sich der Vierzeiler, der das ausdrückt, was er zuletzt, sich selber sozusagen symbolisierend und allegorisierend, sein wollte, und als was er denn auch von seinen Hörern und Verehrern bestätigt wurde:

Kennst du den unergründlich tiefen See
in dessen Flut ich meine Ruder schlage?
Er heißt seit Anbeginn das Menschheitsweh,
und ich, mein Freund, ich  b i n  d i e  M e n s c h h e i t s f r a g e .
(23)




1 Maximilian Jacta: Berühmte Strafprozesse, Deutschland III. München 1972, 9-50. Ferner ders.: Zu Tode gehetzt - der Fall Karl May. Bamberg 1972

2 Brief v. 13.2.1984

3 C. Roxin: Zum ersten Band des "Waldröschen"-Nachdrucks. Mitteilungen der KMG 3, 14. Vgl. auch H. Stolte: Waldröschen als Weltbild. Zur Ästhetik der Kolportage. Jb-KMG 1971, 17-38

4 Karl May: Mein Leben und Streben. Herausgegeben und kommentiert von H. Plaul. Reprint Hildesheim - New York 1975, 225. Über das Puppenspiel und Goethes Faust vgl. auch S. 56f.

5 Das Buch Hiob 1, 1-3

6 Ebd. 1, 6-12

7 Ebd. 1, 13-19

8 Prolog im Himmel, Verse 308f.

9 Zitiert nach »Ich«. Bamberger Ausgabe 34, 18

10 Jb-KMG 1984, 231-248

11 Wie Anm. 4, 4-6

12 Motto zu "Babel und Bibel". Freiburg 1906. Hier zitiert nach "Lichte Höhen". Bamberger Ausgabe 49, 1956, 97

12a So zeigt Helmut Schmiedt in seinem nachfolgend (S. 85) abgedruckten Beitrag, wie May seine Autobiographie nach dem Muster von Goethes "Dichtung und Wahrheit" angelegt hat. Der Aufsatz von Schmiedt war mir bei der Abfassung des meinigen noch nicht bekannt.

13 Zitiert nach der Erstveröffentlichung durch Finke in KMJB 1923, 39. Die Fassung in "Lichte Höhen". Bamberger Ausgabe 49, 1956, 295 enthält Textabweichungen, die wohl nicht authentisch sind.


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14 Zitiert nach dem Faksimile der Handschrift Mays, das 1984 im Reprint des "Winnetou IV"-Vorabdrucks der "Augsburger Postzeitung" unter den Anhangsmaterialien (S. 300) wiedergegeben ist; es handelt sich um einen Reprint, den Dieter Sudhoff im Auftrage der Karl-May-Gesellschaft herausgegeben hat. Die Erstveröffentlichung des Textes durch Finke in KMJB 1923, 39 enthält einen argen Lesefehler (»Wanderung« statt »Wandlung«). Der Abdruck in "Lichte Höhen". Bamberg 1956, 294 ist noch weitergehend verändert. Über beide Gedichte vgl. auch die Ausführungen von Chr. F. Lorenz in M-KMG 59, 10ff.

15 Wie Anm. 4, 299-301

16 Ebd. 308-310

17 Ebd. 312

18 Ebd. 312

19 Jb-KMG 1978, 261

20 Schriften zu Karl May. Faksimile der Studien von Max Dittrich (1904), Heinrich Wagner (1907) und Franz Weigl (1909) = Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 2. Hsg. v. K. Serden im Auftrage der KMG, Ubstadt 1975, 245f. In etwas veränderter Fassung findet sich das Glaubensbekenntnis in einem Brief Mays an die Prinzessin Wiltrud, abgedruckt im Jb-KMG 1983, 100f.

21 Das Buch Hiob 42, 10-12

22 Wie Anm. 4, 313f.

23 Wie Anm. 9, 295. Über einige abweichende Fassungen dieses Textes vgl. E. Bartsch: Karl Mays Wiener Rede. Jb-KMG 1970, 52, 60 u. 62


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