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DIETER SUDHOFF


Der beflügelte Mensch
Traumflug, Aviatik und Höhenflug bei Karl May



Ich habe zuweilen geträumt, ich könne fliegen; der Körper ist vorhanden, hat aber weder Umfang noch Gewicht und scheint sich in eine durchaus rein geistige Potenz verwandelt zu haben, die frei in alle Richtungen streben kann, ohne durch den hindernislosen Raum gestört zu werden. So bin ich geschwebt hoch über der Erde hin, weit über sie hinaus, von Mond zu Mond, von Stern zu Stern, aus einer Unendlichkeit in die andre, von unaussprechlicher Wonne erfüllt. Das war aber nicht eine Wonne des Stolzes darüber, daß ich selbst es war, der den Raum besiegte, sondern die demütige und vertrauensvolle Seligkeit, daß allmächtige Liebe mich trug und immer weiter und weiter führte. Dann lag ich nach dem Erwachen noch lange geschlossenen Auges da, um mich langsam zu besinnen, daß es nur ein Traum gewesen und ich ein ohnmächtiger Knecht der Zeit und des Raumes sei.1

   Ein frei schwebender Geist im Traum, ein ohnmächtiger Knecht in der Wirklichkeit - kaum ein Bild illustriert die dialektische Ich-Befindlichkeit Karl Mays zwischen erschriebener Wonne und erlebtem Leid so genau wie das vielfach von ihm aufgegriffene ikarische Motiv. Blieb das Flugthema in diesem Sinne bis zuletzt von weithin gleicher Gültigkeit, so gewährt es doch auch ein Paradigma für die Wandlungen des Schriftstellers: vom Traumbild ersehnter Weltflucht entwickelte es sich zum nietzscheanischen Symbol eigener Elevation. Dem Motiv des fliegenden Menschen in Mays Werk nachspürend, von der frühen Novelle ›Wanda‹ (1875) über die berühmten Reiseerzählungen mit ihren archaischen Flugphantasien bis hin zum letzten Roman ›Winnetou IV‹ (1910), lassen sich so Einsichten gewinnen in Kontinuität und Progression seines Denkens überhaupt. Kulturhistorisch von Interesse ist daneben die Frage, inwieweit und auf welche Weise May literarisch auf den Durchbruch der modernen Aviatik in den Jahren 1908 bis 1910 reagierte. Am konkreten Fall wird sich die Korrespondenz von Fortschrittsdenken und mythologisch-religiöser Verwurzelung zu Anfang unseres Jahrhunderts erweisen.


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Friedliche Welt, du große Mausefalle
Entkäm ich endlich dir . . . O hätt ich Flügel -
I.Alfred Lichtenstein, Sommerfrische (1913)

Im eingangs zitierten Exkurs aus ›Old Surehand I‹ (1894), geschrieben immerhin zu einer Zeit, als Otto Lilienthal mit seinen Gleitfliegern der dynamischen Luftfahrt bereits den Weg gebahnt hatte, ist von realer Aviatik ebensowenig die Rede wie von persönlicher Elevation. Als Gegenentwürfe zur industrialisierten deutschen Wirklichkeit boten die exotischen Reiseerzählungen der Thematisierung technischer Neuerungen nur wenig Raum, und dem bewußten Ich geht es in ihnen noch vorrangig um bodenständig-abenteuerliche Rettungen und erdgebundene Selbstbehauptung, durchaus fern späteren Sendungsbewußtseins, fern der Selbsterhebung zum Protagonisten der Menschheit. So soll der Passus vordergründig auch lediglich den Zweck erfüllen, dem unkundigen Leser die Imagination eines nächtlichen Wüstenritts zu erleichtern, ein Bezug, in den May das Flugmotiv immer wieder rückt, vor allem, wenn er die außerordentliche Schnelligkeit eines Pferdes (oder Kameles) beschreiben will: Ich trieb meinen Rappen an, der . . . wie ein Vogel dahinflog.2 Das Pferd läuft nicht, sondern es fliegt. Man kann kaum die Beine sehen, so groß ist die Schnelligkeit.3 Es war jetzt kein Ritt, kein Jagen mehr, sondern ein Fliegen zu nennen.4 Undund. Nur unbewußt gerieten ihm solche fliegerischen Stellen zu beredten Zeugnissen eigener Befindlichkeit, zu Spiegeln tiefinnerster Lebensproblematik. Im Eingangszitat ist dies leicht erkennbar, handelt es sich doch ausdrücklich um einen  T r a u m, noch dazu von solch archetypischer Art, daß wir sicher sein können, daß May ihn tatsächlich ­ wie wohl ein jeder dies tut - zuweilen träumte. Auffallend ist, daß May ihn in langer Reflexion verschriftlichte und ihm so die Dimension des Tagtraums gab. Es wird ahnbar, daß sich hier mehr artikuliert als der gelegentliche Wunsch nach Gefühlen von Lust und Unbeschwertheit, nämlich die realiter unerfüllte Grundsehnsucht nach Befreiung, die der ständige Impuls seines Schreibens, zumal vor der Orientreise, war: Flug als Flucht vor der leidigen Vergangenheit, dem häuslichen Eheelend, der eigenen ungeliebten Unzulänglichkeit. Schwerelosigkeit, Unbelastetsein - dieses Glück konnte May nur für Zeiten im Schreiben, im geistigen Flug gewinnen, wenn der Körper, die erdhafte Wirklichkeit, obschon noch vorhanden, Umfang und Gewicht verlor und nur die rein geistige Potenz blieb, die vom Schreibtisch aus frei in alle Richtungen, in alle Kontinente und Gedankenreiche streben konnte, ungestört von den Hindernissen der Realität, des Raums, der Zeit. Mit den


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Flügeln seiner Phantasie konnte er hoch über der Erde hin schweben und weit über sie hinaus, von unaussprechlicher Wonne erfüllt. Wie dringlich dem Schriftsteller sein Tagträumen war, verrät sich, wenn er den möglichen Stolz auf die Überwindung des Raums negiert und die Wonne als demütige und vertrauensvolle Seligkeit darüber definiert, daß ihn allmächtige Liebe trage und führe. Obgleich als religiöse Aussage sicher ernstgemeint, bleibt das Eigentliche doch nicht verborgen: schreibend gelang es dem liebesarmen Ich, das weder in der armselig-tristen Kindheit und in der quälenden Isolation der Abgrund-Zeit, noch in der demütigenden Alltäglichkeit mit der Frau Emma wahre Zuwendung gefunden hatte, sich geliebt zu wähnen. Die Empfindungen, wenn man auf leichtfüßigem Pferde oder Dromedar über die Wüste fliegt (eine Erfahrung, die sich auch May nur imaginieren konnte), zum fadenscheinigen Vorwand nehmend, schildert May im Fortgang des Zitats - nur scheinbar in religiöser Inbrunst - emphatisch die (doch nur am Schreibtisch erlebte) Beglückung des Geliebtseins, ein Gefühl, das - umgekehrt - wiederum beflügelt: die Unendlichkeit im eigenen Innern läßt Gedanken entstehen, die nicht auszudenken sind; es steigen Ahnungen auf, die man vergeblich in Worte fassen möchte, und es wallen und wallen Gefühle und Empfindungen empor, die man aber nicht einzeln zu fühlen und zu empfinden vermag, weil sie eine einzige, endlose Woge bilden, auf und mit welcher man weiter und weiter schwebt; immer tiefer und tiefer hinein in ein andächtiges Staunen und ein beglückendes Vertrauen auf die unfaßbare und doch allgegenwärtige Liebe . . . 5 Sich derart von imaginierter Liebe tragen zu lassen, mußte May immer wieder in seine Traumwelt flüchten, denn nach dem Rausch des Schreibens erwachte er stets zum Bewußtsein, nur ein ohnmächtiger Knecht der Zeit und des Raumes zu sein: seine immense Arbeitsleistung hat hier eine ihrer Ursachen.

   Mays euphorische Beschreibungen des Fliegens in den Reiseerzählungen ­ ob es sich nun um einen Traum oder um (ja auch nur erträumte) fliegende Ritte handelt - könnten auf die seit Freuds Essay über Leonardo da Vinci gemutmaßte sexuelle Komponente des Flugtraums hindeuten; unserem Bild wäre so ein weiterer Aspekt hinzuzufügen. Die Koinzidenz von Flug/Ritt und Lustgefüblen, die allerorten - auch und gerade bei gefährlich-riskanten Verfolgungsjagden - begegnet, ist immerhin auffällig, vergegenwärtigt man, daß May auf kein Reit-Erleben zurückgreifen konnte: Es war eine Lust, dieses Gefühl, als ob man nur den freischwebenden Sattel und gar kein sich bewegendes Tier unter sich habe!6 Wenn Arno Schmidt den ›Surehand‹-Exkurs als »Schilderung eines einwandfreien Euphorie-Zustandes«, als »chiliastisches


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›Juhu!‹« bezeichnet, so tut er dies also mit einigem Recht und irrt sich nur darin, die Deutung aufs Sexuelle zu beschränken, allzu sehr in der Autorität Freuds stehend. (»Wer wüßte seit FREUD nicht, was dergleichen ›Flugträume‹ von ›Großen Vögeln‹ bedeuten?«)7 So richtig es ist, die fliegenden Ritte mit ihrer Dynamik, ihren Geschwindigkeitsräuschen - bei denen bezeichnend genug oft die Anwendung eines »Geheimnisses« Auslöser ist - auch als Wunschkompensationen unbefriedigenden Sexuallebens und als Erinnerung an frühkindliche sexuelle Sensationen zu sehen, so sicher ist dies nur ein Teil, und nicht einmal der wichtigste, weit umfassenderer Defizitbewältigung. Die Reittiere des Protagonisten ­ die allein ja auf der Handlungsebene der exotischen Reiseerzählungen glaubhaft Fluggefühle vermitteln können - sind weniger Symbole sexueller Potenz(wünsche) als Verwandte des geflügelten Rosses Pegasus, auf dessen Rücken sich der Dichter zu Höhen der Inspiration emporschwingt, die ihn das Tägliche vergessen lassen. Die erst im Spätwerk bewußt gesetzte Gleichung Pferde = Bücher, etwa im ›Silberlöwen‹ oder in ›Winnetou IV‹, hat ihre unbewußten Vorläufer schon im früheren Werk. Flug und Ritt sind in ihnen Metaphern für ein Schreiben, dessen Ziel weiträumiges Entkommen ist, Fort-Bewegung im eigentlichen Wortsinn.

   Die Reiseerzählungen dienten May aber nicht allein zur Weltflucht, zur glücklichen Illusion; von Anfang an ging es in ihren unterschichtigen Ebenen gegen seinen eigentlichen Willen auch um die Austragung vergangener und gegenwärtiger Ich-Konflikte, und leicht konnte sich beglückender Tagtraum da zum Alptraum wandeln. Die ikarische Dialektik des Fliegens birgt ja die Gefahr in sich, in eben die Abgründe zu stürzen, die zu überfliegen wären, und oft genug ist May ihr erlegen und schreibend in die Qual gefallen. Stürze von galoppierenden Pferden oder von steilen Felsen herab, die zum ständigen Handlungsrepertoire der Reiseerzählungen gehören, könnten hierfür unbewußte Metaphern sein. Die Widersacher des Helden, Personifikationen eigener verdrängter Befindlichkeiten,  f a l l e n  übermäßig oft in den Tod; aber auch der Protagonist erleidet manchen Sturz, mitunter gar wirft ihn sein ungestümer Ritt mitten in ein Räubernest hinein, hinab in den Abgrund der eigenen kriminellen Vergangenheit.8 Eine durchs Erinnern provozierte Verstörung artikuliert sich deutlich in einem Flugtraum aus den ›Schluchten des Balkan‹, der auffallend zum ›Surehand‹-Exkurs kontrastiert. Kara Ben Nemsi, Mays Alter ego, hat hinterrücks einen fürchterlichen Schlag auf den Kopf erhalten:

   Ich war gestorben; ich besaß keinen Körper mehr; ich war nur Seele, nur Geist. Ich flog durch ein Feuer, dessen Glut mich verzehren wollte,


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dann durch donnernde Wogen, deren Kälte mich erstarrte, durch unendliche Wolken- und Nebelschichten, hoch über der Erde, mit rasender, entsetzlicher Schnelligkeit. Dann fühlte ich nur, daß ich überhaupt flog, grad so, wie der Mond um die Erde wirbelt, ohne einen Gedanken, einen Willen zu haben. Es war eine unbeschreibliche Leere um mich und in mir. Nach und nach verminderte sich die Schnelligkeit. Ich  f ü h l t e  nicht nur, sondern ich  d a c h t e  auch. Aber was dachte ich? Unendlich dummes, ganz und gar unmögliches Zeug. Sprechen aber konnte ich nicht, so sehr ich mich auch anstrengte, einen Laut von mir zu geben. . . . . Nach und nach kam Ordnung in das Denken. Mein Name fiel mir ein, mein Stand, mein Alter, in welchem ich gestorben war; aber wo und wie ich den Tod gefunden hatte, das war mir nicht bekannt. . . . . Ich sank nach und nach tiefer. Ich wirbelte nicht mehr um die Erde, sondern ich näherte mich ihr wie eine leichte Feder, welche langsam, immer hin und her gehaucht, von einem Turme fällt. Und je tiefer ich sank, desto mehr vergrößerte sich die Erinnerung an mein nun beendetes irdisches Dasein. Personen und Erlebnisse fielen mir ein, mehr und mehr. Es wurde klarer in mir, immer klarer. Ich erinnerte mich, daß ich zuletzt eine weite Reise unternommen hatte; es fiel mir langsam ein, durch welche Länder ­ zuletzt war ich in Stambul gewesen, in Edreneh, hatte nach Hause gewollt und war unterwegs in einer steinernen Hütte auf einer Vorhöhe des Planinagebirges erschlagen worden. Die Mörder hatten mich dann gefesselt . . . 9

   Das Flugmotiv ist hier in mehrfacher Weise sinnfällig. Vordergründig, weil sich der Held gestorben glaubt: nach vulgärreligiösem Mythos entschwebt beim Tode die vom Körper befreite Seele als beflügelter Engel ins All; Berichte, nach denen Menschen an der Schwelle von Leben und Tod zu schweben oder zu fliegen meinten, wurden und werden immer wieder kolportiert. Zurückfallend auf die Erde gewinnt Kara Ben Nemsi in dieser Sicht das Leben zurück. Hintergründiger besehen, hat sich dem phantasiebeflügelten Schreiber May im Traumpassus der sonst befreiende Gedankenflug ins Gegenteil verkehrt, führt der Flug zur schockierenden Begegnung mit vergangener und doch noch quälender Wirklichkeit: statt unaussprechlicher Wonne in hindernisloser Unendlichkeit fühlt das Ich unbeschreibliche Leere und Willenlosigkeit. Die Ähnlichkeit zu Stellen in der Autobiographie ›Mein Leben und Streben‹ (1910) ist auffällig genug, im hier beschriebenen Schock eine Erinnerung an Mays Erleben während der leidigen Uhrenaffäre zu erkennen, mit der sein Sturz in den Abgrund begann - auch wenn in der Biographie das Flugmotiv nicht wieder aufgegriffen wird. Tödlich erschrocken hatte May damals (1861) reagiert, als er des Diebstahls be-


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zichtigt wurde: Ich hatte das Gefühl, als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen. . . . Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb aus. . . . ich stand vor Schreck wie im Fieber . . . Ich weiß nur, daß ich mich vollständig verloren hatte . . . 10 Die . . . Begebenheit hatte wie ein Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag über den Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. . . . innerlich blieb ich in dumpfer Betäubung liegen.11 Die Parallelen ließen sich leicht weiterverfolgen (die weite Reise von Altchemnitz nach Hause, die langsame Wiederkehr der Erinnerung, die steinerne Hütte - Gasthof »Drei Schwanen« ­ im erzgebirgischen Hohenstein, die Fesseln sechswöchiger Haft, das beendete irdische Dasein als Junglehrer . . . ), für unser Thema mag es genügen, festzuhalten, daß das Flugmotiv auch bei May wie in den alten Mythen nicht ohne die Ambivalenz möglichen Sturzes ist und den Gedanken des Abgrunds bewahrt, der sein Ursprung ist. Daß die Höhe des Gedankenflugs auch die Fallhöhe definiert, mußte May später zur Genüge erfahren.


Vom Gedärm der Erde ackre dich bloß;
Stampfe, bäume dich, schwanke los,
Steige - sei ohne Grenze und Ziel!
II.Walter Hasenclever, Erster Flug (1911)

Das Bild des Fliegens erscheint in den berühmten Reiseerzählungen als archaisches und archetypisches Motiv, als am Schreibtisch imaginierte Vision vom eigenen freien Flug. Obwohl idealer Ausdruck innerer Befindlichkeit, der Sehnsucht nach Befreiung, und sich dem Autor daher immer wieder aufdrängend, war es literarisch dort nur in Traumreflexionen und Reitszenen zu übersetzen und findet sich entsprechend selten. An die Integration konkreter Luftfahrt war nicht zu denken: abgesehen davon, daß es mehr als fraglich ist, ob Mays Unterbewußtsein damals den Bezug eigenen Befindens zu solch technischer Manifestation herstellen konnte, wäre das in den exotischen Fluchtlandschaften glaubwürdig nicht zu vermitteln gewesen, und hätte zudem ihren Charakter als Gegenentwürfe zur industrialisierten Welt unterlaufen. Anders verhält es sich mit und in den frühen Texten, die in der zivilisierten Heimat handeln, den Dorfgeschichten, Humoresken usw. Auch in ihnen begegnet gelegentlich das Flugmotiv als archaisch-mythisches Muster - in sehr rudimentärer Weise­, vor allem aber nimmt May technische Phänomene in die Fabeln hinein, um ihnen realistischen Schein zu geben: neben anderem auch die zeitgenössische Luftfahrt, die sich


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damals ­ zumindest vor und in den Augen eines großen Publikums ­ auf spektakuläre Ballonfahrten beschränkte. In einem seiner ersten Texte nach der Waldheimer Haft, der Novelle ›Wanda‹, die von März bis Juli 1875 bei Münchmeyer im selbstredigierten Wochenblatt ›Der Beobachter an der Elbe‹ erschien, machte May eine abenteuerliche Fahrt im Freiballon zum fesselnden Angelpunkt der Handlung. Ganz sicher spekulierte er dabei auf die Sensationslust der Leser: beinahe ein Jahrhundert nach den ersten Montgolfièren und Charliéren (1783), nach dem Beginn der Luftfahrt und der ersten großen Flugeuphorie in Europa, war die Faszinationskraft des Ballonfliegens immer noch ungebrochen und sorgten gerade in Deutschlands Provinzen Schauflüge meist französischer Aeronauten für den besonderen Nervenkitzel und jahrmarktähnliches Treiben. ›Wanda‹ handelt allem Anschein nach in Hohenstein-Ernstthal, wo May seit seiner Haftentlassung im Mai 1874 bei den Eltern lebte: die Realistik der Schilderung läßt vermuten, daß er tatsächlich in dieser Zeit dort einen Ballonaufstieg zuschauend - oder gar mitfahrend? - erlebte und so zu seiner Novelle inspiriert wurde.12 Zusammen mit der Orientierung an der Lesererwartung mag es dieses anschauliche Erleben gewesen sein, das dem Motiv jegliche Metaphorik austrieb. Oder doch nicht jede?

   Als der ehrgeizige junge Polizist Winter, einer der beiden brüderlichen Handlungsprotagonisten und Alter egos des Jungschriftstellers Karl May (der nun auch auf der richtigen Seite des Gesetzes steht), von seinem mißgünstigen Vorgesetzten, Commissar Hagen, gefragt wird, ob auch er bei den geplanten Schauflügen des angeblich professoralen Aeronauten mit dem Ballon aufsteigen werde, antwortet dieser bitter-ironisch: »Ich glaube nicht. Das Emporsteigen ist mir von jeher erschwert worden.«13 Sichtlich spiegelt sich hier Mays Verbitterung über sein soziales Scheitern als Lehrer; dabei schiebt er sein Versagen in der Gesellschaft ­ ganz wie noch Jahrzehnte später in der Selbstbiographie - eben dieser Gesellschaft (vertreten durch den Commissar) als Schuld zu, und entlastet sich psychisch noch zusätzlich, indem er sich in Umkehrung der wirklichen Verhältnisse zum tadellosen, akademisch gebildeten Polizisten stilisiert, dem gerade seine Vorzüge bislang den sozialen Aufstieg verwehrten. Der Freiballon bot sich May als Symbol des ersehnten Aufstiegs wie von selbst an. Obgleich durch die Schauflüge geschäftstüchtiger Aeronauten wie Jean Pierre Blanchard (ein Vorbild für den »Professor«?) schon früh in den trivialen Bereich von Zirkus und Jahrmarkt gezogen, hat sich für den Ballonflug nicht ohne Grund bis in unsere Tage hinein die ursprüngliche Faszination erhalten. Während die späteren Aeroplane in den Pionierzeiten einen bis-


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weilen kläglichen und lächerlichen Eindruck machten, Flugversuche nicht selten mit einer schnellen Bruchlandung endeten, bietet der langsame Aufstieg eines Ballons stets einen erhebenden und majestätischen Anblick. Und während den dynamischen Flugapparaten anfangs nur ein bodennaher kurzer Vorwärtsflug möglich war, erhebt sich der Ballon aus der Menschenmasse aufwärtssteigend und sie überfliegend in ungeahnte Höhen. Ganz so wollte sich auch der arme Proletariersohn und jüngstentlassene Sträfling aus der Masse zu sozialen Höhen erheben, die Dutzendmenschen überfliegen und sich dabei von den in der Tiefe Bleibenden noch bewundern lassen.

   Wenn auch durch kolportagehafte Elemente recht unkenntlich gemacht, ist die Metaphorik der Ballonfahrt - als Symbol sozialen Aufstiegs - nicht nur im angeführten Zitat, sondern auch in der späteren Handlungsführung erkennbar. Alle Teilnehmer der riskant-brisanten Fahrt streben in irgendeiner Weise nach sozialen Höhen: der verbrecherische Aeronaut, der sich als französischer Professor ausgibt (und damit eine Deliktsorte Mays wiederholt), verspricht sich durch einen Mordanschlag während der Fahrt finanziellen Reichtum und ein neues Leben in Amerika oder Australien; die wilde Polin Wanda von Chlowicki, das geplante Opfer, will aller Welt beweisen, daß sie ein Herz hat und weiblich emanzipiert ist; der eigentliche Hauptheld, der arme Essenkehrer und angehende Dichter Emil Winter, neben seinem Bruder, dem Polizisten, das andere Wunsch-Ich Mays, liebt unstandesgemäß die adlige Wanda und will sie aus der tödlichen Gefahr retten (eine typische Wunschvorstellung unglücklich Liebender, die sich Liebe »verdienen«, eigentlich erzwingen wollen); Commissar Hagen schließlich will durch Kühnheit Wandas Achtung und Liebe gewinnen. Die hochfliegenden sozialen Interessen des nicht mitfahrenden schurkischen (vermeintlichen) Barons von Säumen werden vom »Professor« mitvertreten, die des Polizisten Winter von seinem Bruder. Durch seinen Symbolwert fungiert der Ballon als novellistischer »Falke«, zugleich markiert die Ballonfahrt den dramatischen Wende- und Höhepunkt der Fabel. Wie es Mays Welt- und Wunschbild verlangen, findet nicht nur der »Professor« bei der Landung des Ballons einen schrecklichen Tod, auch die soziale Anmaßung des Commissars, der seinem Untergebenen (= May) den gesellschaftlichen Aufstieg verwehrte, erhält ihren gerechten Lohn: aus der hochfliegenden Gondel stürzt er auf den harten Boden der Tatsachen zurück und wird zerschmettert. Zuletzt endet der verbrecherische Drahtzieher, Baron von Säumen alias Morelly, durch tödlichen Sturz: er fällt in einen Brunnen mit giftigem Wasser und ertrinkt schmählich im Abgrund. Allein Wanda und den


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Winter-Brüdern wird der Ballonflug zum sozialen Höhenflug, der Ballon zum Vehikel ihrer Wünsche: Emil, der sich als bravouröser Luftschiffer erweist14, und die wilde Polin finden endgültig in Liebe zueinander, beide Brüder sehen sich in der Schlußidylle sozial ins adlige Gefilde der Familie von Chlowicki aufgestiegen. So plakativ das alles auch ist und so wenig literarisch durchformt, bleibt es doch interessant, wie May in ›Wanda‹ das abenteuerliche Motiv eines Ballonflugs mit dem Bild vom sozialen Aufstieg korreliert.

   Daß May späterhin nicht mehr auf das Ballon-Motiv zurückgriff, hat vermutlich nicht nur damit zu tun, daß es ihm literarisch »abgehandelt« schien, sondern ebenso mit einer allmählichen Werteverschiebung in seinem Wollen: während es dem eben erst aus langjähriger Haft Entlassenen zuerst darum gehen mußte, sich einen ansehnlichen Platz in der Gesellschaftshierarchie zu schaffen, schwand diese Motivation mit der zunehmenden Anerkennung als Schriftsteller, und machte damit den bislang verdrängten Ich-Konflikten, den Mühen der Wirklichkeitsflucht Raum. Mit der Minderung des Aufstiegswillens entfiel das Ballon-Sujet, das sich ihm unbewußt damit verknüpfte, seiner Vorstellungswelt. Als Flucht-Symbol, wie die Flugträume und die als Flug imaginierten Ritte der Reiseerzählungen, war der Ballonflug wenig geeignet: ganz abgesehen vom Fesselballon, der in direktem Wortsinn an die niedrige Wirklichkeit gebunden bleibt, erlaubt auch der Freiballon keinen Sieg über Raum und Zeit, bleibt der Aeronaut stets in passiver Abhängigkeit vom Wind und kann allenfalls versuchen, den Ballon in die Höhe zu manövrieren, in der der Wind aus gewünschter Richtung bläst. Ein Spielball der Winde, ein Abhängiger der Wirklichkeit war May tatsächlich: aber zumindest in seinen Tagträumen wollte er sich als aktiver Überwinder des Wirklichen sehen, wollte er aus eigener Kraft schweben, Flieger und Reiter sein, nicht Passagier.



III. Zusammenfassend:


Im Werk Karl Mays vor dem Durchbruch der motorisierten Luftfahrt begegnen Flugmotive zwar relativ selten, geben dann aber (wie auch später) paradigmatisch Aufschluß über seine Befindlichkeit und sein Wollen. Zu unterscheiden sind zwei Ausprägungen: die explizite Thematisierung zeitgenössischer Luftfahrt (Ballonflug) in der frühen Novelle ›Wanda‹ und archaische Flugphantasien in den nachfolgenden Reiseerzählungen. Ist das Motiv in ›Wanda‹ bewußt gestaltet und soll zuallererst Spannung wecken, steht es später kaum noch in zwingendem Fabelbezug und scheint als spontane Phantasie eher unbewußt


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während des Schreibprozesses in den jeweiligen Text eingegangen zu sein, als Ausdruck ungebärdigen Wunsches nach psychischer Entlastung. Wunschdenken artikuliert sich in beiden Fällen, doch von je ganz anderer Art: während es in ›Wanda‹, symbolisiert im Ballonflug, um das Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung und sozialen Aufstieg geht, ein Wollen, das auch im übrigen Frühwerk (nicht zuletzt auch in den Kolportageromanen) in anderer Verkleidung nachweisbar wäre und seinen Ursprung in der proletarischen Herkunft und in der Desozialisierung durch die Haftstrafen hat, spiegeln die späteren Flugphantasien, geschrieben, als May tatsächlich sozial gestiegen war, seine Fluchttendenzen gegenüber vergangener und gegenwärtiger Wirklichkeit, seine Unfähigkeit, mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben und das Leben ohne Phantasieflüge zu bewältigen. Anders als das soziale Streben, das sich bald erfüllen konnte, war der irreale Versuch, sich selbst zu entfliegen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Fall in die böse Wirklichkeit, den May während seiner Orientreise 1899/1900 erleben mußte - der sein Leben und Werk von Grund auf wandelte -, kündet sich schon im Alptraum des ›Balkan‹-Bandes an: Wie eine leichte Feder, immer hin und her gehaucht, von einem Turme fällt, fiel auch der federschreibende May von seinem sicher geglaubten Piedestal auf den Boden zurück. Daß er dann wie ein Phönix aus der Asche wiedererstand und zu ungeahnten Höhenflügen ansetzte, bleibt ein immer erstaunliches Mirakel neuerer Literaturgeschichte.


Ein Weilchen lang sitzt Blériot ganz still in seinem
Sitz; seine sechs Mitarbeiter stehn um ihn herum,
ohne sich zu rühren; alle scheinen zu träumen.
IV.Franz Kafka, Die Aeroplane in Brescia (1909)

Die fliegerischen Pionierleistungen der Brüder Wright und die zahlreichen Flugrekorde vorwiegend französischer Aviatiker wurden im Deutschland des neuen Jahrhunderts zwar wahrgenommen und in Fachkreisen heftig diskutiert, erreichten in der Öffentlichkeit aber bei weitem nicht die Resonanz, die der äußerst populäre, volkstümliche Graf Ferdinand von Zeppelin mit seinen lenkbaren starren Luftschiffen, den ›Zeppelinen‹, fand, oder August von Parseval mit seinen nicht starren Lenkluftschiffen. Daß Deutschland lange Zeit kaum an der Entwicklung der dynamischen Aviatik »schwerer als Luft« teilnahm und stattdessen massiv die der Aerostate förderte, hat nicht nur mit der Persönlichkeit Zeppelins und mit dem wilhelminischen Nationalismus


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zu tun, sondern auch und wohl mehr noch mit dem gravitätischen und majestätischen Eindruck, den die sicheren und leistungsfähigen, gemächlich über den Himmel ziehenden »Zigarren« machten - ganz im Gegensatz zu den häßlichen, lärmigen Ein- und Doppeldeckern. Aus gleichem Grund reflektiert auch die deutsche Literatur bis zum Weltkrieg, sofern sie sich überhaupt einmal mit moderner Aviatik abgibt, weit häufiger in pathosschwangeren Worten neben dem nach wie vor beliebten Ballonflug das Motiv des Luftschiffs ­ und stilisiert dabei den biederen Grafen Zeppelin zum modernen Heldentyp nietzscheanischen Ausmaßes15 ­ als die eigentlich zukunftsweisenden Taten der Pioniere und Abenteurer Wilbur und Orville Wright, Latham oder Bleriot.16 Karl May macht hier, wie wir sehen werden, eine bemerkenswerte Ausnahme, zeigte sich aber, besonders in den Jahren bis 1909, auch von Zeppelin und den Luftschiffen sehr beeindruckt. Eine Reihe von Erwähnungen belegt dies, nicht zuletzt eine flüchtige Zettelnotiz, die sich in der Nachlaßmappe ›Winnetou‹ fand, geschrieben um 1911: Materielles Leben: Luftschiff in Süddeutschland erfunden, geht nach Norddeutschland. Geistiges Leben: Süddeutschlands Oberherrschaft über Norddeutschland in litterarische Beziehung.17 Das Zitat ist typisch für Mays Reaktion auf die neue fliegerische Entwicklung: sie war ihm hoffnungsvolles Zeichen, daß die Menschheit nun auch geistig endlich auf dem Wege sei, erwachsen zu werden und sich vom Boden des Niedrigen (vom Materialismus) zu hohen Idealen (zum Christentum der Tat, der Nächstenliebe) zu erheben. Er selbst sah sich als Pionier auf diesem Gebiet, und der Zufall, daß seine Wandlung während der Orientreise zeitlich zusammenfiel mit den ersten erfolgreichen Probeflügen des Konstanzer Grafen Zeppelin über den Bodensee im Jahre 1900 - noch dazu beides zum Intro des neuen Jahrhunderts - gab ihm (der nicht an den Zufall glaubte) darin ebenso Bestärkung wie die bald darauf im Süden Deutschlands und in Österreich einsetzende geistige und literarische Neuorientierung katholischer Schriftsteller, die 1905 durch Richard von Kralik und seinen ›Gralbund‹ eingeleitet wurde. Wie das Luftschiff von Süddeutschland aus Norddeutschland erflogen hatte ­ vermutlich dachte May an Zeppelins triumphale Fahrt im Jahre 1909 vom Bodensee nach Berlin, wo der Erfinder vom Kaiser und der gesamten Bevölkerung der Hauptstadt jubelnd empfangen wurde (ein naiver Wunschtraum auch Mays), vielleicht an die Aufnahme des ersten flugplanmäßigen Passagierdienstes durch Zeppelins Assistenten Hugo Eckener im Jahre 1910 -, so sollten auch seine Ideale, die er im katholischen Süden erstrebt glaubte, von dort den darin zurückstehenden Norden im Fluge erobern. In Mays Literatur bis 1909 sind solche


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Gedanken allenfalls marginal eingegangen: zur Gestaltung brauchte er als Anstoß das unmittelbare Erleben, und da wurden es nicht die Luftschiffe - von denen May womöglich nie eines zu Gesicht bekommen hat ­, sondern die motorisierten Aeroplane, die ihn zum Aviatiker auch im Werk werden ließen.

   Die Genese von Mays letztem Roman, ›Winnetou IV‹ (1910), ist aufs engste verknüpft mit der aviatischen Entwicklung der Jahre 1908 bis 1910, die dem Prinzip »schwerer als Luft« endgültig zum Durchbruch verhalf und aller Welt die Leistungsfähigkeit der neuen Technik vor Augen führte. Im August 1908, also kurz vor Mays Amerikareise, von der er sich Anregungen für den neuen ›Winnetou‹-Roman erhoffte, hatte Wilbur Wright in Frankreich erstmals öffentliche Schauflüge durchgeführt (Le Mans), im September des gleichen Jahres, als May mit seiner Frau Klara bereits in Amerika war. Iieß sich sein Bruder Orville auch in den Vereinigten Staaten feiern (Fort Myer). Beide Ereignisse wurden in der internationalen Presse ausgiebig reflektiert und mit Sicherheit auch von May in den deutschen Zeitungen verfolgt, erst in Radebeul, später in Niagara-Falls und Lawrence, Mass. Wohl schon in dieser Zeit entstand der Gedanke, den motorisierten Flug ­ der für ihn seit Zeppelin und Parseval auch eine geistige Dimension besaß ­ als Sujet in ›Winnetou IV‹ zu verwenden. Im Laufe des Jahres 1909 wurde die vage Idee zur festen Absicht, als der Franzese Louis Blériot am 25. Juli erstmals mit Erfolg den Ärmelkanal von Calais nach Dover überflog und damit von einem Tag zum anderen der populärste Held der Neuzeit wurde. Mit Blériot war der ikarische Mythos endgültig realisiert, durch das Zusammengehen von Mythos, Technik und Abenteurertum ein neuer Heldentyp geboren: »der Tagesjournalismus stilisierte ihn bald zum Nationalhelden, bald zum kosmopolitischen Genie, bald zum Künder einer neuen Epoche, bald zum Bannerträger des technischen Fortschritts, . . . und in kulturellen Zirkeln wurde das Erscheinen eines Zeitgenossen von übermenschlicher Statur gefeiert.«18 Ohne Zweifel erreichte die allgemeine Euphorie auch Karl May (und wurde ihm Blériot zum ersten, eigentlichen Vorbild für den »jungen Adler« in ›Winnetou IV‹), wobei es weniger der technische Triumph und der entschlossene Wagemut Blériots waren, die ihn nachhaltig beeindruckten, als der Symbolwert dieser fliegerischen Leistung: daß es erstmals einem Menschen gelungen war, mit einem selbstgebauten Aeroplan den trennenden Kanal zwischen Frankreich und England zu überfliegen, machte ihm Hoffnung auf die Überwindung auch der geistigen Grenzen zwischen den Völkern und Menschen und auf eine gemeinsame friedliche Entwicklung der Menschheit, eine Utopie, die er


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dann in ›Winnetou IV‹ symbolisch zur Gestalt brachte. (Die militärischen Implikationen des Blériot-Fluges, von den Engländern, die ihr schützendes Insel-Dasein verloren sahen, bald gewittert, konnte sich der pazifistische Tagträumer May in seinem Glauben an die Menschheit und den endlichen Sieg des Guten nicht vorstellen; die bittere Erkenntnis, daß Blériots Flug über den Ärmelkanal die Luftschlachten des Weltkriegs möglich gemacht hatte, blieb ihm erspart.) In seinem kosmopolitischen Denken stand May zu seiner Zeit keineswegs allein: allgemein war man der trügerischen Hoffnung, die Aeroplane würden die Menschen einander näher bringen und einen Krieg schon deswegen verhindern, weil sie in ihm eine furchtbare Waffe wären (die Hirnlosigkeit unserer heutigen Politiker hat ihre Tradition): »Die grundsätzliche Bedeutung der Luftschiffahrt und der Flugmaschine liegt nicht in ihrer militärischen, sondern in ihrer kulturellen Wirkung. Nicht in den Zank und Haß der Parteien soll sie eingreifen, sie soll - wörtlich genommen ­ ›über den Parteien‹ stehen. Hilft sie auf der einen Seite Weltkriege vermeiden, so fördert sie direkt den Friedensgedanken, indem sie ein Glied bildet, die Nationen zueinander zu führen, die Menschheit zu einen. . . . Dann kommt die Zeit, von der Zarathustra träumt: ›Alle Grenzen werden überflogen werden‹«19

   Die völkerverbindende Wirkung der neuen Fliegerei schien nach Blériots Triumph durch zahlreiche internationale Flugmeetings, Wettbewerbe und Ausstellungen bestätigt. Die erste Großveranstaltung dieser Art war das internationale Meeting von Reims (Grande Semaine de Champagne, 22.-29. August 1909), bei dem vor großem Publikum Aeroplane verschiedensten Typs miteinander konkurrierten und sich vor allem Hubert Latham und Henry Farman qualifizierten ­ May, der bis dahin den ›Mir von Dschinnistan‹ für die Buchausgabe bearbeitet hatte, begann in der gleichen Woche mit der Niederschrift von ›Winnetou IV‹, eine Koinzidenz, die vielleicht kein Zufall ist. Das Meeting, von dem er sicher in der Presse las, war ganz dazu angetan, ihn in seiner Utopie der Menschheitsverbrüderung zu ermutigen und sein Interesse für die Aviatik allgemein zu fördern. Gleiches gilt für das Flugmeeting in Brescia vom 8. bis 13. September, das May noch besonders interessiert haben mag, weil es in einer ihm vertrauten und geliebten Landschaft stattfand. Fliegerisch trotz der Teilnahme Blériots und solcher Größen wie Rougier und Curtiss eher ein Mißerfolg, da das schlechte Wetter außer einem Höhenrekord Rougiers keine besonderen Leistungen zuließ, wurde Brescia für die europäische Flugdichtung zur Geburtsstunde. Erstmals reagierten Schriftsteller auf ein konkretes aviatisches Ereignis: Von Riva aus, wo er sich zusammen mit den


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Freunden Otto und Max Brod erholen wollte, fuhr der technisch interessierte Aushilfsbeamte der Prager ›Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt‹ Franz Kaflka nach Brescia, um sich die Maschinen anzusehen, von denen er bislang nur gelesen hatte.20 Auf Anregung Max Brods schrieb er aus unmittelbarem Erleben heraus seine launige Skizze ›Die Aeroplane in Brescia‹.21 Bei aller Distanz zum Geschehen, bei allem Witz und aller Kritik gegenüber der technokratischen Vereinnahmung des Menschen, kann auch er sich nicht ganz dem Charisma Blériots entziehen: »Nun kommt aber der Apparat, mit dem Blériot den Kanal überflogen hat; keiner hat es gesagt, alle wissen es. Eine lange Pause, und Blériot ist in der Luft, man sieht seinen geraden Oberkörper über den Flügeln, seine Beine stecken tief als Teil der Maschinerie. Die Sonne hat sich geneigt, und unter dem Baldachin der Tribünen durch beleuchtet sie die schwebenden Flügel. Hingegeben sehn alle zu ihm auf, in keinem Herzen ist für einen andern Platz. Er fliegt eine kleine Runde und zeigt sich dann fast senkrecht über uns. Und alles sieht mit gerenktem Hals, wie der Monoplan schwankt, von Blériot gepackt wird und sogar steigt. Was geschieht denn? Hier oben ist zwanzig Meter über der Erde ein Mensch in einem Holzgestell verfangen und wehrt sich gegen eine freiwillig übernommene unsichtbare Gefahr. Wir aber stehen unten ganz zurückgedrängt und wesenlos und sehen diesem Menschen zu.«22 Franz Kaflkas beinahe realistische und doch überaus kritische, das Karikatureske streifende Reportage markiert den einen Pol literarischer Reaktion auf die aviatischen Erfolge, den entgegengesetzten der 1910 erschienene Roman ›Forse che sí, forse che no‹ Gabriele d'Annunzios, der noch im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung (›Vielleicht, vielleicht auch nicht‹, Leipzig 1910) vorlag. Anders als Kafka war d'Annunzio nicht nur als Zuschauer, sondern auch als Teilnehmer nach Brescia gereist. Seine beiden Flüge mit Curtiss und dem Italiener Mario Calderara ­ zum ersten Mal erhob sich ein Dichter wirklich und leibhaftig motorisiert in die Lüfte - wurden von der internationalen Presse als ikarisches Ereignis gefeiert: Mays Idee geistiger Aviatik wird dadurch gefestigt worden sein, wenngleich er sich kaum mit der umstrittenen Person d'Annunzios identifizieren konnte. Im Roman ›Vielleicht, vielleicht auch nicht ›reflektiert d'Annunzio in fiktiv-artifizieller Form das Erlebnis von Brescia und verbindet dabei »den Mythos der Maschine mit dem Mythos des Übermenschen«: »der ›heroische Wind der Geschwindigkeit‹ hebt ›den Menschen über sein Schicksal‹ hinaus.«23 Im symbiotischen Einklang mit der Technik, so d'Annunzios nationalistische Privatmythologie in der Abhängigkeit Nietzsches und Mario Morassos, kann sich der aristokratische Mensch


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über die plebejischen Massen erheben, wird er zum gottähnlichen Übermenschen, der die höllisch-dunkle Erde überwindet und im befreienden Höhenflug den lichterfüllten Himmel als neue Heimat erobert: »›Einsam sind wir nun, Bruder, frei, fern von der quälenden Erde‹, dachte Paolo Tarsis, der schon die erste Runde hinter sich hatte und jetzt vor dem Winde flog, um seinen Freund einzuholen. ›Ich will nicht mehr trauern, mir nicht mehr das Herz zermartern, dir meine Folter nicht länger verhehlen. Ich muß dir zurufen, muß deine Stimme im Flug vernehmen. Siegst du, siege ich. Siege ich, siegst du. Wie groß und männlich der Himmel heute ist!‹«24

   Wo das Flugmotiv im Spätwerk Karl Mays zwischen Kafka und d'Annunzio, zwischen Warnung vor Entmenschlichung und Apotheose des Übermenschen, einzuordnen ist, wird zu untersuchen sein. Feststeht, daß er einer der ersten deutschen Schriftsteller war, die überhaupt das Thema moderner Aviatik literarisch verarbeiteten25, und auch er, wie Kafka und d'Annunzio, auf unmittelbares Erleben zurückgreifen konnte. Denn die Flugmeetings von Reims und Brescia hatten ihn nicht nur weiter darin bestärkt, das Motiv motorisierten Flugs in ›Winnetou IV‹ zu thematisieren, sie hatten in ihm auch den Wunsch geweckt, selber einmal als Zuschauer an einem solchen Spektakel teilzunehmen, um sich vor Ort über die neue Technik zu informieren. Da traf es sich günstig, daß nur zwei Wochen nach Brescia, am 26. September 1909, der Flugplatz Berlin-Johannisthal (Kreis Teltow) mit einer ›Internationalen Flugwoche‹ eröffnet wurde, bei der ausländische Rekordflieger wie Blériot, Farman und der Anglofranzose Hubert Latham ihre Flugkünste zeigen sollten.26 Wie eine Tagebuch-Notiz Klara Mays belegt, ließ May diese einmalige Gelegenheit nicht ungenutzt und reiste gleich zum Eröffnungstag nach Berlin: »26. September Berlin. Im Auto nach Johannisthal zur Fliegerbahn. Mit Lathan (sic) und den anderen Fliegern gesprochen. Ihre Maschinen angesehen.«27 Der von Klara besonders erwähnte Latham, berühmt geworden durch zwei vergebliche Versuche, vor Blériot den Ärmelkanal zu überfliegen und durch seine oft waghalsigen Wettbewerbsflüge, etwa in Reims (er war Flieger geworden, weil seine Ärzte ihm nur noch kurze Zeit zu leben gegeben hatten), war auch in Johannisthal der Publikumsliebling; für beträchtliches Aufsehen sorgte dieser andere Old Shatterhand, als er am 27. 9. ­ außer Programm ­ mit seinem graziösen ›Antoinette‹-Monoplan die 10 km lange Strecke vom Tempelhofer Exerzierplatz nach Johannisthal zurücklegte. Die damalige Rückständigkeit Deutschlands in der Aviatik - sichtbar auch daran, daß Hermann Dorner einziger (erfolgloser) deutscher Teilnehmer war und am geringen Zuschauer-


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andrang - belegt das Kuriosum, daß Latham für diesen ersten überlandflug auf deutschem Boden nicht nur begeisterten Beifall, sondern auch ein polizeiliches Strafmandat wegen »groben Unfugs« erntete. Ob May am 27. noch in Berlin war oder überhaupt einen Flug Lathams erlebte, ist allerdings fraglich. Aber auch wenn er nur mit ihm gesprochen hat, dürfte ihn die Persönlichkeit Lathams - als er beim ersten vergeblichen Kanalflug notwassern mußte, soll er gelassen Zigaretten geraucht haben, bis er aufgefischt wurde - so beeindruckt haben, daß Latham neben Blériot zu einem zweiten Vorbild für den »jungen Adler« wurde. Für solchen Vorbild-Charakter spricht auch, daß Latham auf dem Berliner Werbeplakat als »Vogel-Mensch« angekündigt wurde28 und seine Flüge beim Meeting von Reims von der deutschen Presse in mythischer Überhöhung als Leistungen eines anthropomorphen »Riesenvogels« beschrieben wurden: »Wenn er in den Strahlen der Sonne von dort ganz hinten über Dörfer und Chausseen hoch, hoch in den Lüften angesegelt kam und in majestätischer Ruhe in 150 m Höhe vor den Tribünen vorüberzog und brausender Jubel zu ihm emporstieg, dann hörte man kein Motorrasseln mehr - sah keinen Propeller, - dann schwand alles Mechanische, alles das Menschenauge noch Störende, dann zog dort im klaren Äther ein Riesenvogel vorüber. . . . Und stärker als je kommt die von den Vätern ererbte Sehnsucht über einen nach Freiheit, nach Unabhängigkeit. Gewiß, in der Luft konnten sich auch die Farmans, Voisins, Curtiss' u. a. m. behaupten, allein da sah man den Menschen, wie er in einer Maschine, seiner unvollkommenen Schöpfung, den Kampf mit den Elementen aufnahm. ­ Nur bei Latham schwand dies alles, da zog immer und immer wieder der Riesenvogel an mir vorüber ein Bild, wie man es sich in seinen harmonischen Formen nicht schöner denken kann.«29 Die Übereinstimmung solch mythischer Sicht mit Mays zoomorphen Schilderungen des Flugapparates (»Adler«) und der Flüge des »jungen Adlers« in ›Winnetou IV‹ sind unverkennbar, auch wenn der Aeroplan dort wenig Ähnlichkeit mit der Technik des ›Antoinette‹-Eindeckers hat. Mit Sicherheit konnte May am 26. 9. in Johannisthal den Preisflug Blériots (der sich wenig später vom aktiven Flugsport zurückzog) bestaunen und den eher kläglichen Flug Henry Farmans, den gescheiterten Versuch des belgischen Barons de Caters wie den Bruch des Franzosen Leblanc erleben.30 Zuversicht in die aviatische Zukunft konnten ihm da nur Latham und Blériot geben. Mit ihnen vor allem, vielleicht noch mit Farman, wird er in Johannisthal gesprochen haben, ihre Maschinen vor allem sich angesehen haben (also Lathams ›Antoinette‹, den ›Blériot‹-Monoplan und


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Farmans Biplan). Und ihr Vorbild nahm er mit nach Radebeul, für den Fortgang seines Romans ›Winnetou IV‹.31


Ich trage dich fort ( . . . )
ein Flieger der Tinte
                  ich
und dies sind meine Loopings
und meine Höhenrekorde
V.Jean Cocteau, Das Kap der Guten Hoffnung (1919)

Als Karl May am 26. 9. 1909 nach Berlin-Johannisthal fuhr, war er in seinem Roman ›Winnetou IV‹, den er Ende August begonnen hatte, bereits bis ins armselige Trinidad gelangt, nachdem er zuvor ­ halbwegs der Wirklichkeit angelehnt - den Etappen seiner Amerikareise von 1908 erinnernd nachgeschritten war. Nach der Johannisthaler Flugwoche erhielt Mays Stuttgarter Drucker Felix Krais am 3. 10. die Handschriftseiten 151-200, danach verzögerte sich die Manuskriptlieferung etwas, weil May krank wurde.32 Erste Anzeichen dieser Erkrankung ­ über die zwar nichts weiter bekannt ist, die ihre psychische Ursache aber im peinigenden Verlauf der Prozesse und in den Presseattacken haben dürfte ­ traten vermutlich gleich nach der Berlinreise auf, jedenfalls legt der Inhalt der 50 Manuskriptseiten vom 3. 10. dies nahe.33 May und Frau Klara, auch Max Pappermann (hier als flüchtige Spiegelung Max Dittrichs) lassen es sich da gefallen, von angeblichen »Künstlern« zur Karikatur gemacht zu werden - im wirklichen Leben waren diese ganz ordinären Schmierereien34 gerade in allen Zeitungen zu lesen -, als von weit draußen her jemand nach dem Einödplatz kommt. Er war indianisch gekleidet und trug auf dem Rücken eine in Leder gebundene Last, die nicht leicht zu sein schien. Er ging gebückt und langsamen Schrittes. Er war außerordentlich ermüdet.35 War vor Johannisthal im Manuskript nicht einmal am Rande die Rede vom Fliegen, betritt nun leibhaftig ein Flieger die Szene, der »junge Adler«, der seine ikarische Berufung schon im Namen trägt (von welcher der Leser aber noch nichts weiß). Aber er scheint mit den Blériots und Lathams (noch) so gar keine Ähnlichkeit zu besitzen: weither aus dem Osten kommend, ausgeraubt und ausgehungert36, »matt und angegriffen«, »ganz erschöpft«37 wankt er als Projektion momentaner Befindlichkeit (Krankheit) und eines Teil-Ichs (aviatische Sehnsucht) des Autors in den Roman hinein, sinkt auf einen Stuhl und schließt die Augen. Er war so ermüdet, daß er gar nicht daran gedacht hatte, die Last, die er trug, erst abzulegen. . . . Es war ein langer, schwerer, in festes Leder gebundener Pack, dessen Gewicht wohl zwischen dreißig und vierzig


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Kilo betrug. Das mußte Eisen sein!38 Nicht zufällig klingt hier die Trivialerkenntnis an, daß »jeder sein Päckchen zu tragen habe«39: es war Mays Hoffnung und christliche Überzeugung, daß ihm gerade sein (von Gott) auferlegtes Leiden in und an der Welt zur Erfüllung seiner Ideale diene, den Sinn habe, der Menschheit exemplarisch den Weg von der dunklen Tiefe in die lichten Höhen zeigen zu können. So birgt das Lederpaket des »jungen Adlers« zugleich gegenwärtiges Leiden und zukünftige Erlösung: die Last ist ein Motor, genauer ein Flugzeugmotor, zur Menschheitserlösung hergeschleppt aus den Städten des Ostens, wo der »junge Adler« ­ es läßt sich denken ­ bei den Brüdern Wright in die Schule ging, um die »Lehre von der Luft«, die »Aerostatik und Aeronautik zu studieren«.40 Er tat es im Auftrag Tatellah-Satahs, des »Bewahrers der großen Medizin« (= Menschheitsseele), der ihn einst erzog und zum ersten »Winnetou« (= Christ der Tat, der Nächstenliebe) bestimmte: »Ich erzog ihn. Er war ein Verwandter meines Winnetou. Ich legte ihm die Sehnsucht, fliegen zu lernen, in das Herz. Als ich hörte, daß drüben in Kalifornien die ersten Flugversuche gemacht worden seien41, beschloß ich, ihn zu den Bleichgesichtern zu senden, damit er das Fliegen von ihnen lerne.«42 War das Flugmotiv im Werk Mays bislang am ehesten als Fluchtmotiv zu begreifen, so ist es nun in ›Winnetou IV‹, nachdem der Mensch wirklich gelernt hat, körperlich zu fliegen, für ihn zum utopischen Begriff geworden. Deutlich reflektiert May später nach einem Gespräch mit dem »jungen Adler«: Er sprach vom Fliegen. Er versicherte, es zu können, und zwar mit einer Stimme und in einem Tone, der jeden Zweifel ausschloß! Er meinte körperliches Fliegen. Ich aber dachte ebenso sehr auch an den seelischen, an den geistigen Flug, den er, der Typus seiner verjüngten Nation (= der Menschheit des neuen, fortschrittlichen Jahrhunderts), zu nehmen hatte, wenn er ihr die im Verlaufe der Jahrtausende verloren gegangenen »Medizinen« (= Seelen) zurückbringen wollte. Aber ich hatte ein großes, ein warmes und ich möchte sagen, ein heiliges Vertrauen zu ihm.43 Die Divergenz zwischen Wirklichkeit und Traum bleibt erhalten, aber die Qualität des Traums ist eine andere als in den früheren Reiseerzählungen geworden. May verstand sich nach seiner Wandlung als Protagonist geistig-seelischen Fluges, als führender literarischer Aviatiker, das Motiv erhält so seine biographische Dimension. Ähnlich wie zuvor im ›Mir von Dschinnistan‹, wo Kara Ben Nemsi/May von der Menschheitsseele Marah Durimeh den Auftrag erhält, die Welt zu befrieden, spiegelt sich im Auftrag Tatellah-Satahs an den »jungen Adler« Mays Idee, von der Menschheitsseele auserkoren zu sein, dem »Volke das Fliegen (zu) lehren«.44 Berechtigung und Fähigkeit dazu glaubte er


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durch sein Leidensleben erworben zu haben, vor allem dadurch, daß er den Abgrund überwand, in ›Winnetou IV‹ literarisch umgesetzt durch den archaischen Kampf des zwölfjährigen »jungen Adlers« mit einem Adlerweibchen, das er als neuer, anderer Promethens zwingt, ihn aus verzweifelter Ausweglosigkeit zu retten.45 Der Adler symbolisiert die eigene innere Dämonie und den ganzen Schrecken in der Zeit der Straftaten und Haftstrafen, deren Sinn May nun im Nachhinein darin sieht, ihm die Umkehr und den Weg zum Flug, zur Literatur gewiesen zu haben: »Der Vogel stank nach Wild und Blut. Seine großen, runden Augen glühten vor Haß und Wut. Und doch konnte nur er allein der Retter sein, weiter niemand, weiter nichts! Das sind Rätsel, die nur Einer lösen kann, ein Einziger, und dieser Einzige ist gut, ist ewig gut!«46 Durch den Sieg über seine inneren Dämonen konnte May sich vor dem tödlichen Sturz »in die grausige Tiefe«47, »in das gähnende Nichts«48, retten, seine (verlorene) Seele (= »Medizin«) gewinnen, und fand dabei zur Menschheitsseele (Der »junge Adler« landet gerade vor den Füßen Tatellah-Satahs.). Seit dieser Zeit (also seit Waldheim) - so suggeriert es sich May im verklärten Blick zurück ­ war sein Ideal der geistig-seelische Flug. Der Weg zu solchem Höhenflug ist weit und braucht ein ganzes Menschenleben: als der »junge Adler« uns in Trinidad begegnet, das auf weltanschaulich-abstrakter Ebene Ardistan meint, autobiographisch den Ort schriftstellerischen Anfangs49, hat er wohl die nötige Erkenntnis gewonnen, besitzt aber noch nicht die zum Fliegen nötige Kraft; der Flugzeugmotor ­ seine Berufung ­ ist ihm noch Last. Und er trägt noch einen alten Anzug ­ sprich: May schreibt noch im alten Gewand der Humoresken und Dorfgeschichten, dann der frühen Reiseerzählungen. Erst Klara, die ihm barmherzig kräftigende Hühnerbrühe einflößt - wohl nicht nur symbolisch gemeint, sondern daneben ganz konkret (Mays Erkrankung!) -, gibt dem kraftlosen Idealisten in May (der es sich wie die anderen gefallen lassen muß, karikiert zu werden) wieder Lebensfarbe50 und befähigt ihn, zusammen mit dem Schriftsteller (Old Shatterhand) und dem Menschen (Pappermann) zum Mount Winnetou zu reiten, die Höhe des Menschentums51 zu erreichen, sein Spätwerk zu schreiben und damit die selbstgestellte »schwere, sehr schwere Aufgabe«52 zu lösen. Im neuen, besseren Gewand (symbolisch-allegorischer Romane), das schon lange für ihn (beim Menschen May = Pappermann) bereitlag, wird ihm dort der geistig-seelische Flug, der literarische Höhenflug gelingen.

   Die Etappen von Trinidad zum Mount Winnetou spiegeln in doppelt symbolischer Sinngebung die Entwicklung von Ardistan nach Dschinnistan und den Lebensweg Mays. Mit aller Sorgfalt hütet der »junge


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Adler« auf diesem Weg das Lederpaket mit seinem wertvollen Inhalt53 ­ May bewahrte über alle Zeiten hin sein aviatisches Ideal. Die Verwirklichung des eigenen Höhenflugs, die weithin sichtbare Elevation, gelang ihm jedoch erst im Alter: da wähnte er sich am Fuß des Mount Winnetou angekommen, und auch die nun körperlich fliegende Menschheit dem Ziele nah. Die Flugmeetings seiner Zeit ließen May glauben, so wie dort im Kleinen könne der körperliche und der damit zusammenhängende geistig-seelische Flug (Körper, Geist und Seele bilden für May eine Einheit) die Menschheit auch im Großen endlich aus ihrer Zersplitterung befreien und zur Einheit in christlicher Nächstenliebe (»Winnetou-Clan«) schmieden: »Dann (nach dem Flug des »jungen Adlers«) wird die Seele der roten Rasse (= Menschheit) aus ihrem tausendjährigen Schlaf erwachen, und was getrennt war, wird zur geeinigten Nation und zum großen Volke werden!«54 Höhenflug und Christlichkeit sind für May untrennbar: der »junge Adler« ist nicht nur der erste Aviatiker seines Volkes, er ist auch der erste Apostel Winnetous, des roten Heilands. Sein geistig-seelischer Flug soll die Menschen, die durch Unglauben und Materialismus ihre einst gottgeschenkten Seelen verloren, aus ihrer ardistanischen Niedrigkeit erheben, sie lehren, zu fliegen und sich so die Seelen wiederzugewinnen. May selbst glaubte, der Menschheit als christlicher Höhenflieger das nötige Aufwärtsstreben vorführen zu können. Wie er sollten alle zum Himmel streben, in die freie, gesunde Luft, nach Licht und Tageshelle55, empor ins Reich der Edelmenschen. In diesem Höhendenken ist May deutlich von Nietzsche beeinflußt, grenzt sich aber zugleich von ihm ab, indem er an die Stelle elitären Übermenschentums sein christliches Ideal der Edelmenschlichkeit setzt. Und während Nietzsches Übermensch dem technischen Fortschritt polemisch entgegensteht, den Höhenflug als Ausdruck des Willens zur Macht, zur Gottwerdung, aus eigener Kraft wagt, läßt May seinen »jungen Adler« den technischen Fortschritt, die selbstgebaute Maschine, souverän zum Diener seines christlichen Willens machen. Die in den Reiseerzählungen vorhandene Tendenz, der technischen Umwelt durch die Flucht in Prärien und Wüsten zu entkommen, ist im Spätwerk der Hoffnung gewichen, die Technik idealen christlich-humanen Zielen dienstbar machen zu können; aus der Flucht vor der Wirklichkeit ist die Utopie geworden, sie nach christlichem Modell gestalten zu können. Nur wenn dies gelingt, so May, kann die Menschheit davor bewahrt werden, am Boden kriechend in Nichtigkeit zu verschwinden: Die Indianer haben keine Türme, keine Minareh. Sie haben die Winke ihrer Riesenbäume nicht verstanden; sie haben keine Dome gebaut. So sind sie auch geistig an der


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Erde geblieben. Sie sahen den Vogel fliegen. Der Adler stand ihnen hoch. Ihr stolzester Schmuck bestand aus seinen Federn. Aber es ihm nachzutun und sich über den Boden zu erheben, dieser Gedanke bewegte sie nicht. Fliegen lernen! Fliegen lernen! Wer das nicht will, bleibt unten, sei er Volk oder sei er Person. Die andern überholen ihn. Er aber kriecht auf der Erde weiter und wird in ihr so ganz und gar verschwinden, daß von ihm kaum ein Gedächtnis übrig bleibt. Das ist das Schicksal des Indianers (des Materialisten), wenn er nicht im letzten Augenblick noch fliegen lernt.56

   Die Aufgabe des neuen Jahrhunderts ist nach May die Vereinigung der Völker und Menschen im Zeichen der Nächstenliebe, ist Dschinnistan auf Erden. Zu lösen ist sie nur, wenn die Menschheit das Wissen um die paradiesische Vergangenheit vor dem Sündenfall des Materialismus zurückgewinnt, im Roman symbolisiert durch die Schätze des »Bergs der Königsgräber«. Der Zugang hierzu ist zerstört, doch gibt es einen Schlüssel, der an der Spitze des »Medizinen-Berges« liegt, von wo er im Flug erreicht werden kann. Den gleichen Berg soll nach alter Prophezeiung »ein Held . . . , den man den ›jungen Adler‹ nennt«, dreimal (eine rituelle Zahl) umfliegen und den Menschen von dort ihre Seelen (Handlungsebene: Medizinen) zurückbringen.57 Nach langem »Lebens-Weg« am Mount Winnetou angelangt, rüstet sich der »junge Adler« für diese Erlösungsaufgaben. Es ist denkbar, daß May den jungen Indianer - und damit auch zu Teilen sich selbst ­ hier zu einem neuen Messias stilisieren wollte, beeinflußt von der Gedankenwelt Nietzsches; etwas relativiert wird dies aber durch die völlige Unterwerfung des »jungen Adlers« unter Winnetou/Christus und sein Vermächtnis/ Das Neue Testament (das seit der Nugget-tsil-Episode, wo es entdeckt wurde, unter seinem besonderen Schutz steht)58 wie durch seinen Gehorsam gegenüber Tatellah-Satah/der Menschheitsseele. So kommt es nicht eigentlich zur blasphemischen Selbstüberhebung (wie bei Nietzsche)59, sondern nur zur Elevation im Namen Christi und der Menschheitsseele. Indem der »junge Adler« als fliegender Mensch gleichsam die Aufwärtsbewegung Christi bei der Himmelfahrt symbolisch wiederholt ­ in Analogie zu Sascha Schneiders aufstrebendem Winnetou - gibt er ein sichtbares Vorbild menschlichen Strebens zu Gott hin.60 Dabei bleibt dem Flugmotiv die immanente Semantik von Befreiung und Erlösung erhalten.61 Durch den geistig-seelischen Flug aus der Niedrigkeit zu den lichten Höhen, aus der materialistischen Gegenwart in eine idealistische Zukunft befreit sich der Mensch von Zwängen und erlangt seine Seele zurück. Einen Anfang sah May gemacht: »So weit die Erde reicht, ist jetzt eine große Zeit. Doch ist diese Zeit nicht voll-


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endet; sie steht nur erst im Werden. Sie ist noch jung; sie hat sich zu entwickeln, und wir mit ihr. Die Menschheit steigt zu ihren Idealen auf. Steigen auch wir! Bleiben wir nicht unten, wie bisher! Schon regt der ›junge Adler‹ seine Schwingen. Fliegt er dreimal um den Berg, so fährt der rote Mann aus dem Scheintode auf, und der Tag, der ihm gehört, bricht heran!«62

   Der bewußte Symbolcharakter des Flugmotivs in ›Winnetou IV‹ hinderte May nicht, konkret den Flugapparat des »jungen Adlers« zu beschreiben. Abgesehen von seinem Großwerk ›Ardistan und Dschinnistan‹, wo er die Grenzen des Wahrscheinlichen weithin ignorierte, kam es ihm auch im Spätwerk nicht nur auf die innere Wahrheit des Geschehens an, sondern ebenso auf den scheinbaren Realitätscharakter der äußeren Handlung. Offenbar fürchtete er, eine Durchsichtigkeit der Fiktion könne auch den weltanschaulichen Gehalt in Zweifel ziehen. Nicht zuletzt, um dies zu verhindern und einen glaubhaften Aeroplan beschreiben zu können, hatte er sich in Johannisthal über die jüngste Entwicklung aviatischer Technik informieren wollen. Zweierlei mußte ihn da enttäuschen und warf ihn auf die eigene Phantasie zurück: das wenig organische Erscheinungsbild der Maschinen (selbst Lathams leichter Monoplan, der »Riesenvogel« im Flug, bildet am Boden besehen hier keine Ausnahme) und ihre beschränkten Bewegungsleistungen. Der Aeroplan, der May vorschwebte, mußte den Gegebenheiten am Mount Winnetou angepaßt sein; vor allem aber wollte er sich das Vehikel des Edelmenschen als Adler denken - unter dem Einfluß Nietzsches stehend, der seinen Übermenschen zum einsam-pathetischen Adler-Heros erhoben hatte, und in Kenntnis der Bedeutung als Symbol-Tier: der Adler assoziiert seit altersher Kraft und Ausdauer, sein dem Himmel zustrebender Flug gilt seit dem Physiologus auch als Symbol der Himmelfahrt Christi, die Mystiker verglichen den auffliegenden Adler mit dem Gebet. Auch als Attribut des Evangelisten Johannes wird May den Adler gekannt haben, in der Bedeutung spirituellen Höhenflugs. In der zeitgenössischen Aviatik fand May hier kein Vorbild - Inspirationen könnten allenfalls von Lilienthals Seglern und von Arnold Böcklins Flugapparaten aus den 90er Jahren ausgegangen sein (beide experimentierten auch mit Hilfsmotoren); vielleicht hatte May auch von der 1909 entwickelten ›Etrich-Taube‹ gehört, die - 1910 von Edmund Rumpler zur ›Etrich-Rumpler-Taube‹ weiterentwickelt - später zum populärsten deutschen Flugzeug vor dem Weltkrieg wurde. Schwingenflugzeuge wie das dann von May beschriebene wurden zwar immer wieder erprobt (u. a. von Gustav Lilienthal), scheiterten aber natürlich stets.63 In dieser Situation sah May sich gezwungen, in


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die Phantasie auszuweichen. Um dennoch den Realitätsanspruch aufrechtzuerhalten, orientierte er sich in technischen Details (Material, Motor, Steuerungsmechanismus . . . ) möglichst an der Wirklichkeit, hob hervor, daß es sich bei dem Flugapparat des »jungen Adlers« um keine der bis jetzt bekannten Konstruktionen64 handele, und gab vor, ein technisches Geheimnis hüten zu müssen: Es ist mir nicht erlaubt, eine Beschreibung des Apparates zu geben65. Trotz dieser Bekundung beschreibt er recht ausführlich Entstehung, Erscheinung und Flug des Aeroplans: Ich sah . . . zwei eigenartige flordünne Flügel im Entstehen und zwei hohle Körper, oder sagen wir, zwei eng anliegende Gewänder, welche außerordentlich kunstreich aus stahlharten aber federleichten Binsen geflochten waren. Es gab hierzu einen kleinen, nicht sehr schweren aber sehr wirkungsvollen Motor.66 Auffallend betont May, daß die jüngere Aschta diese beiden Körper fertigstellen will. Sie wird sich später im Flug mit dem »jungen Adler« verbinden, Bild des gemeinsamen Höhenflugs von Geist und Seele. Die Körper-Duplizität ­ ein Doppelrumpfflugzeug gab es in der Realität noch nicht67 - und die Mitarbeit Aschtas kündigen diese Gemeinschaft bereits an. Als der »junge Adler« seinen fertigen Aeroplan später der Menschheitsseele (Tatellah-Satah) und der Menschheitsfrage (Old Shatterhand) vorstellt, wird die Duplizität noch deutlicher, ebenso das zoomorphe Wesen der Maschine, das zuvor nur durch die federleichten Binsen anklang: Da stand auf vier Beinen ein großes, vogelähnliches Gebilde mit zwei Leibern, zwei ausgebreiteten, mächtigen Flügeln und zwei Schwänzen. Die beiden Leiber vereinigten sich vorn durch ihre Hälse zu einem einzigen Kopfe, zu einem Adlerkopfe. Sie waren aus federleichten, aber außerordentlich festen Binsen geflochten. Was sie enthielten, sah man nicht, höchst wahrscheinlich den Motor. Im übrigen bestand der Apparat aus fast gewichtslosen Stoffen, die aber unzerreißbar waren und große Tragfähigkeit besaßen. Die Schwänze waren höchst eigenartig gestaltet. Zwischen den Leibern war ein bequemer Sitz angebracht, welcher Platz für zwei Personen gewährte. Es gab verschiedene Drähte, deren Bestimmung nicht gleich beim ersten Blick zu erkennen war, doch konnte man sich denken, daß sie zur Beherrschung und Lenkung des großen Vogels dienten.68 Versteht man den »Adler« autobiographisch als Symbol des Höhenflugs im Spätwerk69, könnte die Duplizität zusätzlich auf dessen Doppelbödigkeit deuten. Die Vereinigung der Leiber erlaubt eine Reihe gültiger Assoziationen: Bild künftiger Einheit der getrennten Menschheit; die Notwendigkeit des Zusammengehens von Seele und Geist; als Sexualmetapher Hinweis auf das nötige Miteinander von Mann und Frau bei der Gestaltung der Welt; schließlich die Amalga-


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mation der Werkebenen. Den ersten Probeflug des »jungen Adlers« mit seinem Aeroplan läßt May nur im Nachhinein von Pappermann berichten und bewahrt die unmittelbaren Flugschilderungen den symbolträchtigen Höhenflügen. Der Bericht soll einen ersten Eindruck des zoomorphen Fluges und der aviatischen Leistung geben; ganz ohne Symbolik ist aber auch er nicht, »die erste Spur des Morgengrauens« begleitete den Flug: »Da stieg der ›junge Adler‹ auf den Sitz und zog an einem Drahte. Sofort wurde es in den beiden Leibern lebendig. Der Vogel begann, zu atmen. Noch ein Draht, und die Schwänze breiteten sich aus. Die Flügel bewegten sich. Zwei, drei Schläge, und der Vogel stieg auf, verließ das Dach des Turmes und flog ein Stück hinaus, hoch über die Ebene. Er stieg höher und höher, schlug einen Bogen, kehrte wieder zurück und ließ sich langsam, ohne daß es einen Stoß gab, wieder auf das Dach herab.«70 Der Probeflug gibt der Menschheitsseele (Tatellah-Satah) die Hoffnung, die Menschheit könne nun die Erkenntnisse der Vergangenheit und damit die paradiesische Zukunft gewinnen. Diese allgemeine Deutung läßt sich biographisch spezifizieren: aus der Idee heraus, »erster und oberster Winnetou« (erster predigender Apostel) der Menschheitsseele zu sein, hatte May zuvor im ›Mir von Dschinnistan‹ verschiedene Entwicklungsstadien der Menschheit nachgezeichnet; ähnliche Vergangenheitsbewältigung als Wegweisung für die Zukunft wollte er auch in ›Winnetous Testament‹ wie in den Zyklen ›Im fernen Westen‹ und ›Im fernen Osten‹ geben. Er war überzeugt, »daß er einen eigenen Adler erfunden habe, auf dessen Flügel er sich verlassen könne«71, daß seine neuen Werke geeignete Vehikel des Höhenfluges würden: »Du sollst von mir sehen, wie leicht und wie sicher und ungefährlich das Fliegen ist, wenn man den richtigen Apparat besitzt«, läßt er den »jungen Adler« beteuern, als der im Auftrag der Menschheitsfrage (Old Shatterhand) zum »Tal der Höhle« fliegen will, um Bericht über das Elend der dort Verschütteten - über das Elend gegenwärtiger menschlicher Niedrigkeit ­ zu geben. Auch dieser zweite Flug des »Adlers« geschieht während der Morgendämmerung (Die unter uns liegende Landschaft wurde sichtbar und schaute erwachend . . . herauf.), Zeichen des Neubeginns, der »Menschheitsdämmerung«. Bei der Flugbeschreibung fällt wieder das zoomorphe Wesen des »Vogels« auf: Der Vogel erschien. Er tat wie einen Sprung. Von der Plattform des Turmes in das Luftmeer hinaus. Er schlug einige Male die Flügel. Dann begann er, zu gleiten, zu schweben, abwärts und aufwärts, nach rechts und nach links, ganz wie der »junge Adler« es wollte. Dieser saß zwischen den beiden Körpern auf bequemem Sitze und lenkte seinen Flieger wie ein sicher gehendes, äußerst gehorsames Pferd.72 Er glitt einige Male in


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Bogen- oder Schlingenform vor mir hin und her. . . . Er . . . stieg mehrere hundert Fuß höher und entfernte sich so schnell, daß er schon nach kurzer Zeit meinem Auge als kleiner Punkt entschwand. Das versetzte mich in eine ganz eigenartige Stimmung. Ich fühlte mich als Mensch so stolz, und doch auch wieder so klein, so außerordentlich klein! Es lag in mir wie ein Sieg über alles Hemmende und Niedrige und doch auch zugleich wie eine Angst, ob das Große, was wir uns vorgenommen hatten, wohl auch gelingen werde.73 Eben diese widersprüchlichen Empfindungen werden May bewegt haben, als er in Johannisthal zum ersten Male fliegende Menschen in ihren Aeroplanen sah und dabei die geistig-seelische Dimension des Höhenflugs assoziierte. Davon, daß ihn aber nicht nur die abstrakte Überhöhung des Flugs faszinierte, zeugt in ›Winnetou IV‹, daß er den »jungen Adler« immer wieder aufs neue ins Luftmeer steigen und das Ich wünschen läßt, sich des Flugapparats recht bald einmal bedienen zu dürfen.74 Anders als d'Annunzio blieb ihm diese Wunscherfüllung versagt. Wäre May in Johannisthal einmal (mit)geflogen, gäbe es darüber nicht nur mit Sicherheit in der zeitgenössischen Presse Sensationsberichte, die Flugschilderungen in ›Winnetou IV‹ hätten dies Erleben auch verarbeitet. Die Möglichkeit, die Flüge des »jungen Adlers« aus dessen Sicht, also aus der Vogelperspektive wiederzugeben - was auch symbolisch sinnträchtig wäre - läßt May dort ungenutzt und versetzt den Leser stattdessen in die Froschperspektive, macht ihn durch die Autorposition zu dem außen- und untenstehenden Beobachter, der er selbst in Johannisthal war. Die Beschreibungen verlieren dadurch zwangsläufig an Eindringlichkeit. Das gilt auch für den wichtigsten Flug des »jungen Adlers«, den er gemeinsam mit der jüngeren Aschta zum »Berg der Medizinen« unternimmt, um dort den Schlüssel zum »Berg der Königsgräber« zu suchen. Aschta wird durch diesen gemeinsamen Flug zur Braut des jungen Apatschen75: nur Mann und Frau, Geist und Seele gemeinsam können der Menschheit eine neue Zukunft eröffnen. Vom Boden aus gesehen, erstarrt der Höhenflug der beiden zum symbolischen Ritual: Grad und genau zur Mittagszeit erschien er wieder, mit Aschta, seiner Braut, neben sich auf dem Sitze. Tausende standen rundum und schauten erwartungsvoll zu ihm auf. Die Herzen bebten über die Kühnheit des jungen, schönen, wagemutigen Paares. Er flog in weitem Kreise und ruhiger, sicherer Haltung erst die vorgeschriebenen drei Male um den Berg. Dann stieg er steil und hoch zur Spitze empor, um am Fuße der Felsennadel zu landen. Er selbst blieb sitzen, um den Apparat in eigener Gewalt zu behalten. Aschta aber stieg aus. Das sahen wir trotz der sehr bedeutenden Höhe. Sie verschwand. Nach einiger Zeit kehrte sie zurück und stieg wie-


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der ein. Der Riesenvogel trennte sich vom Felsen, schwebte vom Berge ab und in Bogenlinien tiefer, immer tiefer, flog abermals dreimal um unsern Platz und ließ sich dann genau auf denselben Punkt der Fahrstraße, wo er schon einmal gestanden hatte, nieder.76 Obwohl in der Symbolik von großem Gewicht, bleibt die Szene literarisch blaß.

   Der im geistig-seelischen Höhenflug gewonnene Schlüssel besteht aus einer genauen Wegweisung vom »Berg der Medizinen« bis auf die Spitze des »Bergs der Königsgräber«, mit anderen Worten: der Weg zu dschinnistanischer Vergangenheit und Zukunft hat von seelischen Höhen auszugehen. Hierin sollen die Menschen, die ideal denken, dem »jungen Adler«/May folgen ­ die Menschheitsseele (Tatellah-Satah) kündigt »einen Entdeckungszug nach den hochgelegenen ›Königsgräbern‹« an, den »großen Aufstieg nach den Höhen der Menschheit«.77 Flug- und Bergsymbolik korrespondieren miteinander. Am Aufstieg werden sich auch die bisher feindlichen Häuptlinge, Shatterhands Erzfeinde (und Mays münchmeyersche Widersacher) beteiligen: durch ihre Läuterung haben sie sich ihre Medizinen/Seelen zurückverdient, ohne die der Weg nicht zu beschreiten wäre. Ganz wie es die alte Prophezeiung sagt, werden sie vom fliegenden »jungen Adler« gebracht, der eben in dem Moment wieder am morgendämmernden Himmel erscheint, als der aufstrebende Winnetou/Christus Sascha Schneiders vom Schleierfall verschwindet78 - deutlicher konnte May sein messianisches Selbstbewußtsein kaum ins Bild bringen. Daß er mit seinen späten Hochgedanken von edelmenschlichem Aufstieg und menschheitlicher Verbrüderung anders als der »junge Adler« nur wenig Jünger fand, mußte er sich tiefinnerst bald eingestehen - die bittere Erkenntnis tat ihr Teil, eine Fortführung von ›Winnetou IV‹ zu hindern. Der Roman ›Winnetous Testament‹ wäre mit einer Beschreibung des Aufstiegs zu den »Höhen der Menschheit« weit in eine Utopie vorgestoßen, an deren Verwirklichung May selbst zunehmend zweifeln mußte. Die Notizen aus der Mappe ›Winnetou‹ (um 1911) lesen sich nurmehr als Fragmente einstiger Hoffnung: Wir müssen über die Mittelmäpigkeit hinaus. Wir müssen hoch steigen. Wir müssen groß werden. Nicht nur Einer, und nicht nur 100, 1000 oder 10,000, sondern wir alle alle, die wir auf Erden sind, die wir uns Menschen nennen, noch ohne es wirklich zu sein!79


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Wie kannst du fliegen und Kreise ziehn
Ohne Liebe, ohne Seele, ohne Gesicht?
VI.Alexander Block, Aeroplan (1910)

›Winnetou IV‹ ist, wie betont, eine der frühesten literarischen Antworten auf die moderne Aviatik überhaupt. Kulturhistorisch ordnet der Roman sich damit bei allen Unterschieden in der Formgebung neben Franz Kafkas Bericht ›Die Aeroplane in Brescia‹ (1909) und Gabriele d'Annunzios Roman ›Vielleicht, vielleicht auch nicht‹ (1910) ein, wie auch neben die ersten futuristischen Manifeste Filippo Tommaso Marinettis (1909). Abgesehen von Marinetti, der im uneingestandenen Einfluß d'Annunzios stand, sind direkte Abhängigkeiten nicht zu konzedieren; jeder reagierte ohne Seitenblicke auf die technische Revolution und das »beflügelnde Fieber«, das sich in ganz Europa erhoben hatte.80 Unterschiedliche Denkhaltungen, Geistestraditionen und Wertvorstellungen führten teils zu extrem gegensätzlichen Stellungnahmen; vor allem zwischen Kafka und d'Annunzio (oder Marinetti) gibt es kaum eine denkerische Brücke. Wo Kafka, schon die maschinelle Hölle der ›Strafkolonie‹ (1914) und die schreckliche Isolation der ›Verwandlung‹ (1912) andeutend, den Menschen als Gefangenen im Gestell des Aeroplans sieht und seine Verlorenheit am weiten Himmel betont, verklärt sich für d'Annunzio der Flugapparat zum biotechnischen Organ, das dem Übermenschen zur Elevation und zu heroischer Einsamkeit verhilft, und feiert Marinetti in seinen präfaschistischen Dithyramben den mechanischen Menschenflug als Metapher rauschhaft aggressiv-egotistischer Existenz. Scheint der in den Himmel aufsteigende Mensch sich bei Kafka zu miniaturisieren, im Nichts zu verschwinden, erlangt der Übermensch bei d'Annunzio und Marinetti erst im Geschwindigkeitsrausch und im Höhenflug seine grandiose Menschwerdung. Im hier kürzest skizzierten Spannungsfeld zwischen Kafka und d'Annunzio/Marinetti81 ist Karl May mit ›Winnetou IV‹ einzuordnen, und unsere vorstehende Deutung des Flugmotivs in diesem Roman legt es zunächst nahe, ihn näher bei d'Annunzio und Marinetti zu sehen. Die einstige Flucht vor der technischen Industriegesellschaft ist dort einem Fortschrittsdenken gewichen, das die Maschine als Instrument im göttlichen Heilsplan preist; der motorisierte Höhenflug gilt auch ihm als Symbol geistig-seelischen Aufstiegs und eigener Elevation über die bisherigen menschlichen Grenzen hinaus. Diese grundsätzlichen Übereinstimmungen ­ die sich im Blick auf einzelne Phänomene leicht komplex erweitern ließen ­ sind einmal Symptom einer allgemeinen Zeitstimmung, der die technische Revolution zu Beginn des neuen


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Jahrhunderts Signal auch geistiger Revolution war; darüber hinaus belegen sie die denkerische Abhängigkeit von Nietzsches Philosophie des Übermenschen und seiner Höhen-Ideologie. Die Fliegerheroen d'Annunzios, die futuristischen Himmelsstürmer Marinettis und Mays »junger Adler« ­ sie alle gehen letztlich zurück auf den zarathustrischen Übermenschen, den pathetisch-einsamen Adler-Menschen (›Also sprach Zarathustra‹, 1883-85), und auf die »Luft-Schiffahrer des Geistes« aus dem hymnischen Finale der ›Morgenröte‹ (1881). Mays Nähe zu d'Annunzio und Marinetti definiert sich neben dem gemeinsamen Fortschrittsdenken aus seiner Nähe zu Nietzsche; andererseits entfernt er sich da, wo er in Distanz zu Nietzsche geht, von den Italienern und nähert sich den Positionen Kafkas. Während d'Annunzio und Marinetti von Nietzsche aus zu aggressivem Nationalismus, zur Verherrlichung der Gewalt und des Krieges fanden und in ihrem Elitedenken den Faschismus vorwegnahmen, stand Mays Nietzsche-Rezeption von Anfang an in Konflikt zu seinen christlich-humanistischen Grundüberzeugungen. Zwar adaptierte er den Übermenschen und den Höhen-Gnostizismus, aber er wandelte diese Vorstellungen in humanistischem Geist um zur Idee vom Edelmenschen und von Dschinnistan. Der »junge Adler« ist als erster Höhenflieger ganz gewiß eine heroische Idealgestalt, die sich über die am Boden kriechende Menschenmehrheit erhebt ­ und in der Identifikation mit ihm wird May elitäres Selbstbewußtsein genossen haben ­, aber letztlich steht seine Elevation doch ganz und gar im Dienst der Menschheit, die wie er zum Edlen erhoben werden soll, zu den Idealen der Nächstenliebe, Verbrüderung und des Friedens, erhoben nach Dschinnistan, das nur im geistig-seelischen Höhenflug erreichbar ist. In seinem Humanismus steht May so gesehen Kafka weit näher als d'Annunzio und Marinetti; was ihn wesentlich von Kafka unterscheidet, ist sein Beharren auf der Utopie, wo der Prager ­ mit weit größerer Hellsichtigkeit ­ die Katastrophe ahnt. Hatte sich bei May der Flug von einem Motiv der Flucht (in den Reiseerzählungen) zu einem Motor der Utopie entwickelt, wurde Kafka das Erlebnis von Brescia Anlaß zur Resignation und auch zum Endpunkt der Illusion, in archetypischem Flug der bedrohlichen Wirklichkeit entkommen zu können. In der ›Beschreibung eines Kampfes‹, entstanden etwa 1903/1904, hatte er sich hier noch mit dem frühen May getroffen und den Flug (wie auch den Ritt) als Metaphern der Befreiung gesehen: »Ich mußte mich nicht erstechen lassen, ich mußte nicht weglaufen, ich konnte mich einfach in die Luft werfen.«82 May gab den Traum vom Fliegen nicht auf, er gab ihm nur eine andere, »höhere« Dimension.


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Nur die flugbereite Seele vermag den Widerspruch zwischen dem äußeren Leben und dem höheren, dem unser Verlangen gilt, zu überbrücken . . . 
VII.Emmy Ball-Hennings, Das flüchtige Spiel (1940)

Nicht nur in der Fiktion des Romans wurde ab 1909 das Fliegen für May zu einer zentralen Metapher, auch in den eher programmatischen Schriften nutzte er das Motiv zur Veranschaulichung seines Denkens und Trachtens, besonders im zweiten Artikel der gegen Pater Ansgar Pöllmann gerichteten Aufsatzfolge ›Auch »über den Wassern«‹ (1910) und in der Wiener Rede ›Empor ins Reich der Edelmenschen‹ (1912). (Schon in den Titeln klingt das aviatische Thema an.) Eindeutiger als im Roman erhob er dort sich selbst zum geistig-seelischen Aviatiker, ist mit Flug literarischer Flug gemeint.


   Die sechsteilige Artikelserie ›Auch »über den Wassern«‹ erschien vom 9.4. bis 11.6.1910 in der Wiener ›Freistatt‹ als polemische Replik auf Pöllmanns Angriffe, die vom 25.2. bis 10.5. des Jahres unter dem Titel ›Ein Abenteurer und sein Werk‹ in der Halbmonatsschrift ›Über den Wassern‹ (Münster) zu finden waren.83 Die uns hier interessierende zweite Folge brachte die ›Freistatt‹ am 30.4., sie dürfte im Laufe des April geschrieben worden sein, also gleich nach dem Abschluß des Romans ›Winnetou IV‹ am 27.3.1910.84 Diese zeitliche Nähe erklärt vermutlich, weshalb May dort im Gegensatz zu den übrigen Artikeln nur wenig polemisiert und stattdessen in sechs Abschnitten eine bündige Charakteristik seines Spätwerks gibt; sie erklärt in jedem Fall, weshalb er dort den Flug als Ich-Parabel verwendet. Es konnte kaum ausbleiben, daß das eben erst literarisch gestaltete Motiv in den autobiographischen Schriften nachhallte.

   Im sechsten und letzten Abschnitt des Aufsatzes heißt es:

   Und endlich sechstens ist zu bedenken, daß ich in einer ganz andern Gedankenwelt lebe, als in derjenigen, aus welcher mir nur Feindseligkeiten erwachsen. Ich klebe nicht an der literarischen Scholle, sondern ich habe mich von ihr losgelöst. lch bewege mich; ich bin frei. Und selbst als Freier bewege ich mich weder im veralteten Karren oder Wagen, noch auf der längst überwundenen Draisine. Ich fahre nicht Rad und nicht Automobil, sondern ich bin Aviatiker. Ich bitte, nicht zu lächeln oder gar zu lachen. Es ist mir heilig ernst! Jedermann weiß, daß sich unser materielles Leben konform mit unserem Geistesleben entwickelt. Das eine ist die Abbildung oder die Materialisation des andern. Nachdem Kunst und Literatur es gewagt hatten, sich zeitweilig vom Erdboden zu


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trennen, wurden Montgolfieren und Charlieren gebaut. Schiller und Göthe stiegen in ihren gewaltigen Aeröstaten zum reinsten Aether empor, um, der Eine in imposanter Kühnheit, der Andere in majestätischer Ruhe über alles Niedrige und Häßliche hinwegzuschweben. So gleiten nun Zeppelin, Parseval usw. mit ihren »wirklichen« Ballonen von Ort zu Ort, von Land zu Land. Andere, die keine Goethes und keine Schillers waren, befreiten sich zwar auch vom Boden, wagten es aber nicht, sich von ihm zu entfernen. Sie erfanden die Draisine, das Zwei- und Dreirad, das Motorrad, das Automobil. Wer kennt sie nicht, die Draisinenpoesie, die mit eigenen Händen hebelt, von keiner höheren Kraft getrieben wird und, fest auf ihrem Sitz und Standpunkt klebend, so gern vergißt, daß sich nur Schwache und Kranke dieses Vehikels zu bedienen pflegen. Wer kennt sie nicht, die Zwei- und Dreiradfahrer unserer Literatur, die Motorradler und Automobilisten, die, kaum gesehen, schon wieder verschwunden sind und nichts hinterlassen als Benzin- und anderen Geruch. Das sind die Folgen des Verharrens in der Tiefe. Hinauf, hinauf! Lernt fliegen! Gibt es keine Wrights, keine Lathams, keine Farmans, keine Bleriots in Kunst und Literatur?

   O doch! Es gab sie schon längst. Aber wie die Brüder Wilbur und Orville Wright erst jahrelang im Stillen rechneten, prüften und übten, so taten und tun das auch sie, die auf dem Gebiete der Kunst und Literatur von der ausgelaugten Scholle und aus dem toten Wust des längst Überlebten emporstreben, um dem Aufgange eines neuen, unendlich schönen Tages entgegenfliegen zu können. Wir sind unser nur wenige; unsere Zahl ist gering. Ich war unter uns der Erste, der es wagte, abseits zu gehen und zu versuchen, ob es nicht vielleicht möglich sei, trotz der angeborenen Schwere emporzukommen, wie ja auch der Vogel, obgleich er schwerer ist als die Luft, es fertig bringt, sich in den Aether aufzuschwingen. Ich versuchte, übte und baute. Als ich ihn fertig hatte, meinen ersten Aeroplan, und ich ihn prüfte, bewährte er sich sofort. Ich nannte ihn »Reiseerzählung« und flog mit ihm über Länder und Meere, über Wüsten, über Sümpfe, über alles, was Andere, die nicht zu fliegen wagen, hindert, dem Entwicklungsgesetz und dem Zuge der Zeit zu folgen. Wieviel Seelen meiner Leser im Laufe der Zeit mit mir fahren, das weiß ich nicht. Seelen sind nicht zu zählen. Und ebenso wenig achte ich auf die abfälligen, zornigen Rufe, die von da unten herauf ertönen, wo die alten Draisinen, Fahrräder und Benzingerüchler allen möglichen Staub und Schmutz aufwirbeln, ohne sich aus ihm erheben zu können.

   Wir befinden uns über Allem, was uns kränkt und hindert. Unser Blick ist frei geworden. Wir erkennen die großen, die herrlichen Zusammenhänge der irdischen Existenz. Die Systeme der Gebirge, der Flüsse


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entdeckten sich uns. Alles, was da unten verborgen ist, wird hier oben offenbar. Der Sonnenstrahl erleuchtet die Erde. Vor ihm fliehen alle Geheimnisse, alle Zweifel. Und da, wo die höchsten Berge ragen, ist es, als ob hinter ihnen in rosigem Schein die Zukunft des Menschengeschlechtes aufsteige, um uns, die ihr Entgegeneilenden, zu begrüßen. Was ich da sehe und höre, was ich da denke und fühle, das sage und schreibe ich meinen Lesern. Sie glauben es mir. Wenn aber von da unten Einer, der sich mit allem, was er kann und weiß, auf seinem kleinen, niedrigen Draisinelchen bewegt, sich über diesen Glauben ärgert und in seinem Ärger öffentlich behauptet, es sei nicht wahr, was ich erzähle, so kann ich ihm nicht zürnen, sondern ihn nur bedauern. Wer das, was er nicht weiß, nur deshalb für unwahr hält, weil er es eben nicht weiß, der ist schlimmer daran als ein Blinder, welcher das, was er nicht sieht, doch wenigstens hört und fühlt.

   Übrigens steht für mich schon seit längerer Zeit ein neuer, noch besserer Aeroplan fertig. Sollte sich der alte nicht mehr bewähren, so bedeutet das noch keineswegs einen vernichtenden Sturz für mich, sondern, ich stelle ihn zur Seite, steige auf dem neuen empor und bleibe derselbe, der ich war und der ich bin. Kein Mensch, und sei er noch so mächtig, ist im Stande, mich zu zwingen, das hochgelegene, herrliche Land der Menschheitsseele, welches ich meinen Lesern entdeckt und geöffnet habe, ihnen wieder zu verschließen. Nur wer diese Seele in sich fühlt und mit ihr emporzusteigen pflegt aus des Tages schmutzigem Tun zu des Abends andächtiger Stille, ist im Stande, über mich und meine Reiseerzählungen zu urteilen. Von jedem Anderen ist es ein selbstüberhebendes, fruchtloses Beginnen, die Gedankenflüge eines Wright oder Latham mit den Augen eines Draisinisten verfolgen zu wollen. Ich sage nicht, daß ich mir dies verbitte, denn es kann mich ja weder stören noch gar erreichen; aber es wäre besser und heilsamer für ihn selbst, wenn er es unterließe! - - - 85

   Claus Roxin hat in seinem Kommentar zu Mays »auf den ersten Blick naiver Aeroplan-Parabel« mit allem Recht die These vertreten, was sich hier in Wahrheit ausspreche, sei die »Quintessenz seines Dichtertums: daß dieser Mann die Wirklichkeit nie annehmen konnte, sondern sie zeitlebens überfliegen mußte.« Schon Roxin weist aber auch auf die Ambivalenz solch »existenzieller Verweigerung gegenüber der Realität« hin: sie hat »nicht nur regressive Züge . . . , sondern sie weist Wege ins Zukünftige, indem sie einer schlechten Realität den Dienst verweigert und fliegend (das heißt: mit sehnsüchtiger Phantasie) andere, bessere Formen des Lebens antizipiert.«86 Unser bisheriger Verfolg des Flugmotivs belegt dies und beschreibt die Ambivalenz der Verweige-


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rung in der Entwicklung des eskapistischen Flugtraums (in den frühen Reiseerzählungen) - nach einer Zeit der Anpassung mit dem Ziel sozialen Aufstiegs (›Wanda‹) ­ hin zur Idee utopischen Höhenflugs (in ›Winnetou IV‹). Man täte May sicher unrecht, reduzierte man seine aviatischen Ausführungen auf die in ihnen geborgenen unbewußten Strebungen (was auch Roxin nicht tut). Das Selbstverständnis, das May in seinem Artikel treffend und mit aller Bewußtheit ins Bild bringt, ist es wert, über seine psychologischen Determinanten hinaus ernstgenommen zu werden, als Zeugnis eines Schriftstellers, dem es im Alter wichtig wurde, mit seiner Literatur der menschlichen Gesellschaft einen Weg aus der materialistisch-egoistischen Misere aufzuzeigen. Daß er sich selbst dabei erheben konnte (und mußte), nimmt seiner Utopie nicht die humanistische Dimension.

   Ausgehend vom Grundgedanken, daß sich unser materielles Leben konform mit unserem Geistesleben entwickelt ­ einer durchaus falschen Idee, die dem zur Abstraktion unfähigen Visualisten aber immer selbstverständlich war -, identifiziert May die eigene und menschheitliche Entwicklung auf dem geistigen Gebiet der Kunst und Literatur mit der technischen Entwicklung der Fortbewegungsmittel. Wesentliche Kategorien sind ihm dabei »Unten« und »Oben«, »Stillstand« und »Dynamik«, für die Literatur definierbar als Festschreibung des Niedrigen und Hinschreibung zur realisierten Utopie. Mit Hilfe dieser Kategorien wertet er literarisch sich selbst, die Autoren, in deren Tradition er sich wähnt, seine aktuellen Gegner und seine literarischen Antipoden. Er tut dies in vier Schritten, die in vager Ordnung seine eigene literarische Entwicklung beschreiben:

   Schritt 1: May distanziert sich von der niederen Gedankenwelt seiner literarischen Feinde (Pöllmann, Cardauns, Fischer . . . ) und Antipoden (Schundschriftsteller, Naturalisten, Impressionisten), zugleich stellt er sich in eine Tradition geistigen Höhenflugs.

Mays Formulierung, er habe sich - im Gegensatz zu den Asphaltliteraten ­ von der literarischen Scholle  l o s g e l ö s t, verrät insgeheim, daß in seiner Vorstellung auch er anfangs unbeweglich, unfrei war und erst später zu dynamischen Hochgedanken, zu seinen Idealen fand. Die Scholle evoziert autobiographisch über den allgemeinen Begriff des Niedrigen hinaus Erinnerungen an die proletarische Herkunft, an den Abgrund, an Frühwerke wie ›Wanda‹. May konnte sich befreien. Andere, in seinen Augen niedere Autoren und Literaten, blieben hingegen auf ihrem Sitz und Standpunkt kleben, bewegen sich, wenn überhaupt, nur in niedrigen, veralteten Anschauungen, sind von keinen (oder anderen, May unverständlichen) Idealen getrieben und daher


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schnell vergessene Modeschriftsteller, die nichts als unguten Geruch (man könnte ihn drastischer benennen) hinterlassen: letztlich sind es ihm Schwache und Kranke. Abbildung oder Materialisation solchen Verharrens in der Tiefe sind die Draisine, das Zwei- und Dreirad, das Motorrad, das Automobil. Wäre es nicht allzu absurd gewesen, May hätte in ›Winnetou IV‹ die Häuptlinge und die Mitglieder des Komitees sicher im Automobil fahren lassen. Die Protagonisten literarischen/künstlerischen Höhenflugs, die den Klassikern und ihm selbst vorausgingen, nennt May nicht. Da er als Materialisation ihrer zeitweiligen Hochgedanken die Montgolfièren und Charlièren wählt, muß er an Autoren (und Künstler) gedacht haben, die  v o r  1783 (Joseph Montgolfiers Warmluftballon, Jacques Charles' Wasserstoffballon) ihr Wirken begannen, in Frankreich etwa an Rousseau oder Voltaire, im deutschen Raum an Klopstock, Lessing und Wieland (von denen er Werksammlungen besaß). Ihnen folgten dann die Ausnahmeerscheinungen Goethe und Schiller, die in ihren gewaltigen Aeröstaten . . . über alles Niedrige und Häßliche (hinwegschwebten), zum reinsten Aether der Ideale empor, ganz wie später in der materiellen Welt Zeppelin und Parseval. Aber sie besiegten nicht die Schwerkraft.

   Schritt 2: May setzt seine Reiseerzählungen in Analogie zu den Leistungen der modernen Aviatik.

   Wie die Brüder Wright lange Jahre vorbereitender Arbeit brauchten, um sich endlich in die Lüfte heben zu können, brauchte auch May die Skizzen, Vorübungen, Etuden87, ehe er mit seinen Reiseerzählungen dem Aufgange eines neuen, unendlich schönen Tages entgegenfliegen konnte. Als »junger Adler« war er der Erste, der aus der Niedrigkeit nach dem hohen Ideal dschinnistanischer Zukunft strebte, gefolgt vorerst nur von wenigen (der ›Gral‹-Bewegung?), aber sicher im Bewußtsein, Lehrmeister seiner Leser, Bildner ihrer Seelen sein zu können. In der Metapher des Flugs über Länder und Meere, über Wüsten, über Sümpfe klingt noch einmal unbewußt die Fluchttendenz seiner früheren Werke an. Auffallend ist, daß May nicht ­ wie an manch anderer Stelle ­ zwischen diesen frühen und den späten Reiseerzählungen (dem Spätwerk) differenziert, vielmehr behauptet, gleich sein erster Aeroplan habe sich sofort bewährt: ähnlich wie in der gleichzeitig begonnenen Selbstbiographie behauptet er damit wider eigene Überzeugung die Kontinuität des Gesamtwerks.

   Schritt 3: May beschreibt das Wesen seiner Reiseerzählungen von der Imagination des Flugs her.

   Der mystische Gedankenflieger kann sich über alles Kränkende und Hindernde der Gegenwart erheben, weil ihm in der Vogelperspektive


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die großen, die herrlichen Zusammenhänge der irdischen Existenz erkennbar werden. Im Angesicht der höchsten Berge, der Utopie von Dschinnistan (Zukunft des Menschengeschlechtes), verlieren die gegenwärtigen Kläglichkeiten ihren Schrecken, in göttlichem Sonnenstrahl werden sie durchschaubar als Teile eines sinnvollen Planes. Ähnliches Erleben hatte schon Robert Walser in seinem Aufsatz ›Ballonfahrt‹ (1908) beschrieben: »Bekanntes und unbekanntes Menschenleid scheint von unten heraufzumurmeln. Die Einsamkeit verlorener Gegenden hat ihren besonderen Ton, und man meint, dieses Besondere, dieses Unverständliche verstehen, ja sogar sehen zu sollen. . . . Wie groß und wie unbekannt uns die Erde ist! . . . Ja, das eigene Vaterland wird hier oben, Blicke hinunterwerfend, endlich zum Teil verständlich.«88 Solch überschauendes Verstehen wollte May seine Leser lehren, indem er einen neuen Mythos schuf, im Dualismus von Ardistan und Dschinnistan, der alles Sein umgriff. Wäre er deswegen von Pöllmann und Konsorten auf ihren kleinen, niedrigen Draisinelchen angefeindet worden, er hätte ihnen vielleicht wirklich nicht gezürnt. Aber sie warfen ihm ja vor, selber noch im Sumpf zu waten.

   Schritt 4: Mays neuer, noch besserer Aeroplan.

   Das Desinteresse seiner Leser und die negative literarische Kritik, nicht zuletzt auch das eigene Gefühl des Ungenügens, sorgten dafür, daß May die ikarische Dialektik von Aufstieg und Fall auch gegenüber seinem Schreiben bewußt blieb. Um den vernichtenden Sturz zu verhindern, verschob er sein eigentliches Werk, auch hier utopisch denkend, immer weiter ins Zukünftige, plante zuletzt in grenzenloser Selbstüberschätzung große Menschheits-Dramen, weitgespannte Zyklen mit den Protagonisten Winnetou resp. Kara Ben Halef. Scheiterte er mit den Reiseerzählungen, wollte er seinen Lesern auf andere Weise das hochgelegene, herrliche Land der Menschheitsseele, seine Utopie von Dschinnistan offenhalten, sie anders aus des Tages schmutzigem Tun zu des Abends andächtiger Stille emporheben (eine Entwicklung, für die ihm sein Leben Sinnbild war). Daß die Widersacher, seine Gedankenflüge eines Wright oder Latham mit den Augen eines Draisinisten (verfolgend), ihn in Wahrheit nicht nur stören und erreichen, sondern seinen hochfliegenden Aeroplan gar zum Fall bringen konnten, bleibt eine unsagbare Tragik. Nietzsche immerhin mag trösten: »Wir Luft-Schiffahrer des Geistes! - Alle diese kühnen Vögel, die ins Weite, Weiteste hinausfliegen - gewiß! Irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken - und noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft! Aber wer dürfte daraus schließen, daß es vor ihnen keine ungeheure


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freie Bahn mehr gebe, daß sie so weit geflogen sind, als man fliegen könne! Alle unsere großen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmutigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! Andre Vögel werden weiter fliegen! Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserm Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Scharen viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden, wohin wir strebten, und wo alles noch Meer, Meer, Meer ist!«89


Empor.
Herr, gieb mir Schwingen, aufzusteigen
Aus dunkler Nacht zum hellen Licht!
Du willst mir deinen Himmel zeigen,
Und ich, ich komm und komme nicht.
Es halten mich die Eigenschaften
Des Staubes an der Erde hier;
Ich aber will nicht unten haften;
Hilf mir hinauf, hinauf zu dir!

Herr, gieb mir Schwingen, aufzusteigen
Aus dunkler Nacht zum hellen Tag!
Wie lange Zeit soll noch verstreichen
Bis zu dem ersten Flügelschlag?
Soll bei der starren, irdschen Schwere
Dies mein Gebet vergeblich sein,
So sende deiner Engel Heere,
Daß sie mir ihre Flügel leihn!

Ja, gieb mir Schwingen, aufzusteigen - - - 
O Herr, ich steig, ich steige schon!
Ich seh die Nacht dem Tage weichen
Und nähere mich deinem Thron.
Hinweg mit allen meinen Klagen,
Denn was ich bat, das ist geschehn:
Ich fühle mich emporgetragen
Und werde deinen Himmel sehn!

VIII.Karl May, Himmelsgedanken (1900)90

Den letzten und vielleicht größten Triumph seines Lebens durfte Karl May bekanntlich in Wien erleben, wo er auf Einladung des ›Akademischen Verbandes für Literatur und Musik‹ am 22. März 1912, acht Tage vor seinem Tod, im Sofiensaal vor großem Publikum einen Vortrag über das Thema ›Empor ins Reich der Edelmenschen‹ hielt.91 Nach langer Zeit maßloser Verfolgung, die ihn physisch beinahe zerstört


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hatte, bot sich ihm durch Vermittlung Robert Müllers die späte Gelegenheit öffentlicher Rehabilitation und persönlicher Beweisführung seines literarischen Ranges. Nicht weil er keine neuen literarischen Perspektiven mehr gesehen hätte (wie vermutet wurde), sondern dieser Beweisführung wegen gab er den Wienern im wesentlichen ein »Resümee aller dichterischen und biographischen Bekenntnisschriften seines Alters«92, und griff dazu auch auf die aviatische Selbstinterpretation des zweiten ›Freistatt‹-Artikels zurück: die Parabel des Flugs blieb bis zum Tod gültig (auch wenn er sich in Wien ­ amüsant in unserem Zusammenhang ­ dagegen verwahrte, ein Luftikus zu sein).93 Im Nukleus seines Vortrags wie des Spätwerks überhaupt stand das ›Märchen von Sitara‹, das der Selbstbiographie ›Mein Leben und Streben‹ vorangestellt ist. Dort hatte es in der Erstfassung von 1910 geheißen: Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne  g e h t  (Hervorhebung von mir. D. S.) und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara heißt.94 In der gekürzten und bearbeiteten Zweitfassung der Biographie, die erst nach Mays Tod erschien, ist das Bewegungsverb geht sachlich richtiger und symbolisch treffender durch fliegt ersetzt, aller Wahrscheinlichkeit nach von May selbst95, denn in dieser Form gab er das Zitat auch in Wien. Sitara ist das moralische Abbild unserer Erde ­ die Erkenntnis des Dualismus von Ardistan und Dschinnistan, die Entwicklung überhaupt erst denkbar macht, ist aber nur im geistig-seelischen Flug zu erlangen. In einem Exkurs, angelehnt an den ›Freistatt‹-Artikel, führte May dies aus: Nicht  g e h t, sondern  f l i e g t. Ja, können wir denn fliegen? Endlich, ja, endlich! Aber wir  k ö n n e n  nicht nur, sondern wir  s o l l e n, ja, wir  m ü s s e n  fliegen, wenn wir die Aufgaben dieses Jahrhunderts erfüllen, die Räthsel der Zukunft lösen wollen. Der Versuch des Menschen, zu fliegen, ist uralt. Aber ich meine hier weniger den körperlichen als den seelischen Flug, obwohl beide enger zusammenhängen, als man gewöhnlich meint. Das Volk, welches nach einem Corps von leiblichen Fliegern strebt, muß schon vorher kühne und erprobte geistige Flieger haben. Als in Frankreich die Montgolfièren und Charlièren zu steigen begannen, hatte sich vorher schon eine ganze Reihe berühmter geistiger Aeronauten in die freien Lüfte gewagt. Dann kamen die beiden großen deutschen Ballons: Göthe, Schiller, einige kleinere hinterher, doch mit geringem Erfolg. Man blieb darum noch an der Erde, aber man vervielfältigte die bisherigen Bewegungsweisen: Man erfand die Draisine, das Einrad, Drei- und Zweirad, das Motorrad, das Auto. Vor allen Dingen die Lokomotive. Auch in der Dichtkunst wird Rad- Auto- und Bahngefahren (Beispie-


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le).96 Da kommt plötzlich ein Graf Zeppelin, ein Major Parsival. Sie bauen Luftschiffe. Das Volk jubelt ihnen zu. Hierauf folgen die verwegenen Ein- und Zweidecker, die Aviatiker. Ihnen jubelt man noch mehr zu. Aber jubelt man auch den geistigen Aviatikern zu, die sich mit wenigstens ebenso großer Kühnheit hoch über die alt hergebrachten Mauern, Zäune und Schranken, der Wissenschaft und Kunst erhoben? Oder spricht man da vielleicht von Lüge, von Schwindel, von Phantasterei, von literarischer Hochstapelei? Ich lasse diese Frage fallen und bitte Sie, sich getrost meinem Aeroplane anzuvertrauen und mit mir den alten, staubigen Boden, auf dem wir stehen zu verlassen.97 Die Metaphorik dieser Stelle folgt bis ins Detail dem ›Freistatt‹-Artikel, eine erneute Deutung erübrigt sich daher für uns. Auffällig ist aber, daß May nun weniger vehement gegen die Draisinenpoesie wettert, tatsächlich einen freieren, »aviatischen« Blick gewonnen hat: das Moabiter Urteil vom 18.12.1911 gegen den ärgsten Feind Rudolf Lebius und die Wiener Einladung hatte er als erste Zeichen endlicher Befreiung und Erlösung empfunden; neu beflügelt, im Gefühl, die hemmenden Schranken von Zeit und Raum überwunden zu haben, meinte er, nun endlich an die Lösung der eigentlichen Aufgabe, ans eigentliche Werk gehen zu können. In Wien mochte er beglückt ahnen, daß die Zeit der Verfolgung vorbei sei und auch seinen Höhenflügen bald wie denen der verwegenen Aviatiker zugejubelt werde. Mag sein, er dachte dabei sogar konkret an Blériots triumphal bejubelte Schauflüge vom Oktober 1909 (auf der Simmeringer Heide), die verspätet auch die Wiener ins »Luftschiffer-Fieber« gestürzt hatten: »Zu Flugversuchen sind die Wiener . . . niemals eingeladen worden; die Stadien des Vorbereitens, des Tastens blieben ihnen fremd, der erste Flieger, der in Wien erschien, war darüber hinaus, Versuche ankündigen zu müssen, war seiner Sache sicher, er konnte fliegen. Man sah das neue, buchstäblich himmelstürmende Werk des Menschengeistes unvermittelt vor sich und genoß seine Großartigkeit wie den Anblick eines Berges, der unmittelbar aus der Ebene emporragt; und vollkommen wie seine Leistung war denn auch der Triumph des Mannes, der sie vollbrachte.«98 Solchen Triumph zu erleben, war nicht das geringste Ziel Karl Mays, blieb ein Motor seiner Aeroplane. Ein anderer war, seinen Lesern und zuletzt der ganzen Menschheit Glück und Sonnenschein zu geben, die bekanntlich »von oben« kommen: Ich mußte also hinauf, mußte fliegen. Ich that es. Um Sonnenschein zu geben, schrieb ich zunächst Humoresken. Ich hatte Glück damit. Ich baute mir den Aeroplan »E r z g e b i r g i s c h e  D o r f g e s c h i c h t e n«. Die Zahl meiner Leser wuchs. Von diesem Aeroplan sah ich weiter. Ich baute mir also einen zweiten: »Reiseerzählun-


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gen«. Als ich nun von diesen Höhen aus die Wege nach Dschinnistan betrachtete (Wissenschaft, Kunst, Religion) sah ich, daß alle drei nach der Geisterschmiede führten. Auf ihnen war also das Menschheitsleid nicht zu umgehen. Aber ich sah auch, daß man diesen Ort vermeiden kann nämlich wenn man ­ - -  f l i e g t. Der Ort, an dem der Flug zu beginnen hat, ist ein hoher Berg. 2 Namen. Mount Winnetou. Dschebel M. Dur. . . . Schüler v. Winnetou.99 Anders als in der ›Freistatt‹ bezieht May nun auch die Humoresken und Erzgebirgischen Dorfgeschichten in sein aviatisches Bild ein, als habe er schon mit ihnen nach geistig-seelischen Höhen gestrebt. (»Erzgebirgischen« Höhenflug gab es erst 1903 mit ›Sonnenscheinchen‹ und ›Geldmännle‹.) Immerhin deutet er literarische Entwicklung an, eine von Mal zu Mal gehobene Perspektive. Die Elevation gipfelt in der Vogelschau auf Wissenschaft, Kunst und Religion, denen es gegenwärtig noch nicht gelungen ist, das Menschheitsleid, die Geisterschmiede fliegend zu überwinden. Sie sind noch allzu befangen vom Irdischen, bewegen sich noch auf niedrigen Bahnen nach dem hohen Ziel, wo Karl May längst als Schüler des aufstrebenden Winnetou/Christus, als »junger Adler« von der Höhe seines Spätwerks aus (Mount Winnetou/Dschebel Marah Durimeh) den Menschen ungeheure Gebiete (= »Berg der Königsgräber« in ›Winnetou IV‹) entdeckt, auf denen die bisherigen Bahnen und Verhältnisse vollständig andere werden.100 In Deutschland steht er als Höhenflieger allein (Wer hat bei uns gesagt, daß wir fliegen sollen? Meines Wissens noch Niemand.)101, in Österreich hat der »junge Adler« hingegen eine mitfliegende Gefährtin, eine gleichgesinnte »Aschta« gefunden. Am 13.3.1912 hatte die Nobelpreisträgerin Bertha von Suttner ihrem »Gesinnungsgenossen in Friedenssachen und anderen Fragen« (»›empor!‹ ist unser beider Devise«) ihren jüngsten, aviatisch betitelten Roman ›Der Menschheit Hochgedanken‹ (1911) zukommen lassen, mit der Bitte, in Wien darauf hinzuweisen. (»Nicht wahr, wir Geistesarbeiter, die wir die Leiter halten, auf der die Menschheit ›die  E d e l menschheit‹ emporsteigen soll, müssen einander behilflich sein.«)102 Darin fand May mehr als nur »Anklänge« ans eigene Streben: die Sätze, die er sich in seinem Exemplar anstrich, mit den Stichworten Aeroplan, Aviatik, Herzen empor! versah, und den Wienern gegen Ende seines Vortrags las103, könnten - obwohl ganz unabhängig entstanden - leicht seine eigenen sein, vom »Impuls« durch das erste lenkbare Luftschiff über die Idee messianischer Wiederkehr bis zur irrealen - Alfred Nobel entlehnten - Hoffnung, gerade die »Vernichtungsmöglichkeiten« zwängen die Menschheit zur Verbrüderung: »Sie wissen, daß mir der Impuls zu Ihren vereinten Höhenflügen durch die Flüge gegeben wurde, wel-


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che damals dem ersten lenkbaren Luftschiff im Aethermeer gelungen sind. Jetzt gilt es, auch mit Flügen ins blaue Reich des Ideals sieghafte Rekords zu schlagen. Vehikel dazu sind die Gedanken; Gedanken, die bis über Wolken schweben ­ über die Dunstkreise der kleinlichen Privatinteressen, über die Niederungen der nationalen Streitigkeiten ­ menschliche Hochgedanken mit einem Wort. Und so schließe ich mit dem Ruf, der der Schlachtruf der neuen, höhenbewältigenden Zeit zu werden hat, dem Ruf: ›Empor!‹ . . . «104 »Vor zweitausend Jahren hat ein Großer, Gütiger, Weiser einem solchen Hochgedanken Worte geliehen: ›Liebet euch untereinander!‹ Vergebens! Aber vor Tausenden von Jahren hat ein Ikarus versucht, sich fliegend zur Sonne zu erheben - vergebens. Und doch kann man heute fliegen. Und so wird auch jenes andere Höhenreich zu erobern sein, in das nicht unser Körper, sondern unsere Seelen sich schwingen sollen. Wehe, wenn man noch viel länger säumt, sich zu diesem Eroberungswerke aufzuraffen. Verfolgung, Knechtung, Entrechtung und Vernichtung dürfen nicht länger als legitimes Mittel zur Erreichung sozialer und politischer Zwecke gelten. Denn zu gewaltig sind die Vernichtungsmöglichkeiten herangewachsen.  V o r  d e m  f l i e g e n d e n  M e n s c h e n  k a n n  m a n  s i c h  n i c h t  a n d e r s  s c h ü t z e n,  a l s  d a ß  m a n  i h n  z u m  B r u d e r  m a c h t.«105

   Die bittere Erkenntnis, daß sie Luftschlösser gebaut hatten, blieb Bertha von Suttner und Karl May erspart: May starb am 30.3.1912, die Suttner am 21.6.1914. Das Grauen der Luftkriege bis zum Bombenkrieg auf Coventry oder Dresden, zu schweigen von Hiroshima und Nagasaki, zu schweigen von Mittelstreckenraketen in 0st und West oder dem »Krieg der Sterne«, mußte ihnen, die ans potentiell Gute im Menschen glaubten, unvorstellbar sein. Es ist nicht ihr Fehler, daß die Perversion menschlichen Denkens ihre Höhenflüge überholte.



IX.


Es wäre gewiß unverfroren, zu meinen, alle Aspekte des Flugmotivs bei Karl May wären im begrenzten Rahmen eines Aufsatzes auszuloten. Manche hier vorgebrachte These konnte nur die Richtung für spätere Untersuchungen geben, zwei Topoi waren ganz auszuklammern, denn sie berühren unser Thema nur marginal und sind ihrerseits gewichtig genug, eigene Arbeiten zu konstituieren: a) das Motiv des Sturzes in den Abgrund, das Assoziationen an Mays kriminelle Phase weckt und im Spätwerk (z. B. im ›Großen Traum‹ aus ›Silberlöwe IV‹)


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zugleich ein Bild der Befreiung zu neuem Leben gibt, dem also die ikarische Dialektik von Aufstieg und Fall immanent ist; b) das Motiv der Engel, die zwar den Titel unserer Arbeit - ›Der beflügelte Mensch‹­ am getreuesten personifizieren, von May aber kaum einmal als Flugwesen begriffen werden, allenfalls implizit durch ihre Unabhängigkeit von Zeit und Raum und ihre Mittlerrolle zwischen Gott und den Menschen - Mays Engel breiten ihre Flügel weniger ins Gebiet der Aviatik als in archaischen, christlichen und spiritistischen Angelismus hinein.



X. Zusammenfassend:


Das Flugmotiv gibt ein geeignetes Paradigma für das Verständnis Karl Mays. Wo immer es im Werk erscheint, schenkt es der Diskrepanz zwischen äußerer Wirklichkeit und innerer Imagination Ausdruck: zeitlebens war es May unmöglich, die Realität anzunehmen, zeitlebens trachtete er, sie mit den Schwingen der Phantasie zu überfliegen. Der Inhalt seiner Gedankenflüge wandelte sich jedoch im Laufe der Jahrzehnte entscheidend. Ging es in den schriftstellerischen Anfangsjahren nach der Entlassung aus Waldheim noch darum, den sozialen Makel proletarischer Herkunft und die kriminelle Vergangenheit vergessen zu machen und in die sozialen Höhen arrivierter Kreise aufzusteigen, drängte ihn in den späteren Reiseerzählungen, als der soziale Aufstieg gelungen war, das Bedürfnis nach psychischer Entlastung zu dynamischen Fluchtträumen, in denen er sich selbst entkommen wollte. Die letzte und wichtigste Wandlung fällt zusammen mit der Manifestation der modernen Aviatik zu Beginn unseres Jahrhunderts. Aus der Nichtakzeptanz eigener und menschheitlicher Begrenztheit und beflügelt durch die endliche Verwirklichung des uralten Traums vom Fliegen, schuf May eklektisch seine Utopie einer besseren Welt, machte Dschinnistan zum Ideal, nach dem er alle Menschen guten Willens in geistig-seelischem Höhenflug leiten wollte. Im Bewußtsein, von der Menschheitsseele zu messianischem Tun berufen zu sein, gelang ihm dabei in Graden die eigene Erlösung, indem er sein konkretes Erleiden der Wirklichkeit ­ Prozesse und Pressehetze ­ als Teil eines göttlichen Heilsplans annehmen konnte. Diese Idee machte ihm das Erdulden der Geisterschmiede leicht, und besänftigte zuletzt wohl auch seine Enttäuschung über die fehlende Menschlichkeit der Menschen, von der er in einer seiner letzten Aufzeichnungen schrieb: Ich habe Aviatiker sein und Märdistan mit seiner Geisterschmiede überfliegen wollen. Meine Phantasie gab mir den Mut und die Kraft dazu. Aber ich rechnete auf die Menschlichkeit der Menschen, und das war - - falsch!106


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1 Karl May, Old Surehand I, Freiburg 1894, 396

2 Karl May, Durch Wüste und Harem, Freiburg 1892, 433

3 Karl May, Durch das Land der Skipetaren, Freiburg 1892, 375

4 Karl May, Am Jenseits, Freiburg 1899, 473

5 Karl May, Old Surehand I, a.a.O. 397

6 Karl May, Im Reiche des silbernen Löwen III, Freiburg 1902, 217

7 Vgl. Arno Schmidt, Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays, Frankfurt a. M. 1974, 118-120. Zitat 119

8 Vgl. etwa Karl May, Am Jenseits, a.a.O. 476 - 478

9 Karl May, In den Schluchten des Balkan, Freiburg 1892, 177f.

10 Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg 1910. Reprint Hildesheim-New York 1975, hg. v. Hainer Plaul, 106f.

11 Ebd. 109

12 May selbst gibt zwar als Entstehungszeit Anfang der sechziger Jahre an, verschiedene biographische Spiegelungen schließen dies aber aus. Vgl. Karl May, Ein Schundverlag, Dresden 1905, 279. Als Reprint in: Ein Schundverlag. Ein Schundverlag und sei ne Helfershelfer. Zwei fragmentarische Texte aus den Jahren 1905 und 1909. Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß, Bamberg 1982. Da auch eine Entstehung während der Waldheimer Haft kaum in Frage kommt, dürfte May die Novelle irgendwann zwischen Mai 1874 und März 1875 begonnen haben.

Anregend könnten auch literarische Quellen gewesen sein, etwa Jules Vernes ›Reise um die Erde in 80 Tagen‹ (1873) oder Adalbert Stifters ›Condor‹ (1840).

13 Karl May, Wanda, in: Der Beobachter an der Elbe, Dresden. 2.Jg. (1874-75). Reprint: Erstdrucke Karl Mays in Faksimile-Ausgaben, Serie II, Privatdruck der Karl-May-Gesellschaft, Hamburg 1974, 606

14 Obwohl Laie auf dem Gebiet des Ballonfliegens, bringt er in unnachahmlicher Bravour den angeschlagenen Ballon zur Landung, indem er außen an der Hülle kletternd das Gasventil kontrolliert: Er stieg wieder empor und zog das Ventil. Der Ballon sank und strich im Sinken über die Wipfel der Bäume hin. Winter griff fester zu, um bei einem Rucke nicht herabzustürzen und ließ die Klappe sich schließen. Da - ein Ruck, als solle der Ballon in den Erdboden hineingezogen werden, ein Rascheln und Brechen in den Aesten unter ihnen, und dann drehte sich die halb zusammen geschrumpfte Taffetmasse um ihre eigene Axe. Das Seil hatte sich in den Bäumen verwickelt, einen festen Halt gefunden, und so wurde der Ballon gehalten. Aber die Axendrehung konnte gefährlich werden. Winter zog leise das Ventil auf und gewährte dem Gase einen langsamen und spärlichen Abfluß. Ebenso langsam sank der Ballon vollends nieder, legte sich auf die Seite und ward von den Zweigen, in welche sich das Netzwerk verfitzte, fest gehalten. Mit einem kräftigen Zuge riß er das Ventil weit auf, so daß der Taffet zusammenfiel und sich wie eine Decke auf die Wipfel legte und so eine Unterlage bildete, auf welcher Emil ohne alle Verletzung zu liegen kam. Karl May, Wanda, a.a.O. 685. Die Beschreibung zeigt, daß May sich mit der Technik des Ballonflugs befaßt haben muß, aber auch ebenso, daß ihm dann der reißerische Effekt wichtiger war als technische Realistik.

15 Vgl. etwa Hugo von Hofmannsthal, Zeppelin (1908), in: Prosa. Band II, Frankfurt a. M. 1959, 355-357

16 Vgl. für die Zeit bis 1909 Helene Jacobius, Luftschiff und Pegasus. Der Widerhall der Erfindung des Luftballons in der zeitgenössischen Literatur, Halle 1909. Einen hervorragenden Überblick über das Motiv der Ballonfahrt in der Literatur überhaupt gibt eine neuere Anthologie: Reisen im Luftmeer. Ein Lesebuch zur Geschichte der Ballonfahrt von 1783 (und früher) bis zur Gegenwart. Unter Mitarbeit von Ursula Tesch und Dieter H. Stündel, hg. v. Karl Riha, München-Wien 1983. Vgl. auch: J. Minor, Die Luftfahrten in der deutschen Literatur. Ein bibliographischer Versuch, in: Zeitschrift für Bücherfreunde, NF/1 (1909-10), 64-73; C. v. Klinckowstroem, Luftfahrten in der Literatur, in: Zeitschrift für Bücherfreunde, NF/3,2 (1912), 250-264

17 Als Faksimile und transkribiert im Anhang zu: Winnetou Band IV. Reiseerzählung


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von Karl May (Reprint des Vorabdrucks der ›Augsburger Postzeitung‹ 1909/10), hg. v. Dieter Sudhoff im Auftrag der Karl-May-Gesellschaft, Gelsenkirchen 1984, 305

18 Felix Philipp Ingold, Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909-1927, Frankfurt a. M. 1980, 87. Ingolds Arbeit ist zweifellos die wichtigste zum aviatischen Thema. Vgl. aber auch Klaus Günther Just, Über Luftfahrt und Literatur, in: ders., Marginalien. Probleme und Gestalten der Literatur, Bern u. München 1976, 79-97.

19 N. Stern, Die Flugzeuge, in: Die Eroberung der Luft. Ein Handbuch der Luftschiffahrt und Flugtechnik, Stuttgart 1909, 390

20 Zum Verhältnis Kafka - May vgl. vorerst Ulf Abraham, Die Angst vor der Entdeckung und die Entdeckung der Angst. Ein Motiv bei Franz Kafka und Karl May, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Stuttgart, 59.Jg., H.2 Juni 1985, 313-340

21 Redaktionell gekürzt am 29.9.1909 in der Prager ›Bohemia‹ erschienen; vollständig abgedruckt bei Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt a. M. 1974, 359-367

22 Franz Kafka, Die Aeroplane in Brescia, a.a.O. 365

23 Felix Philipp Ingold, Literatur und Aviatik, a.a.O. 30

24 Gabriele d'Annunzio, Vielleicht, vielleicht auch nicht, Leipzig 1910, 77

25 Am ehesten wäre neben May noch Paul Scheerbart zu nennen, mit seinem 1906 entworfenen, 1913 erschienenen ›Asteroiden-Roman‹ ›Lesabéndio‹, der sich als groteske Parodie der Wirklichkeit liest, und mit seiner hellsichtigen pazifistischen Flugschrift ›Die Entwicklung des Luftmilitarismus‹ von 1909.

26 Vgl. Hartmut Schmidt, Anmerkungen zu einer Tagebucheintragung Klara Mays, in: M-KMG 56 (1983), 25-29

27 Klara May, Tagebuch 1902-1916. Archiv Karl-May-Verlag Bamberg. Zit. nach: Karl May in Berlin, Sonderheft der KMG 33, Hamburg 1981, 17

28 Das von Gipkens entworfene Plakat zeigt den Kopf Lathams mit Adler-Körper. Abb. z. B. bei C. C. Bergius, Die Straße der Piloten in Wort und Bild. Die abenteuerliche Geschichte der Luft- und Raumfahrt, Ascona 1983, 204

29 Illustrierte Aeronautische Mitteilungen (Deutsche Zeitschrift für Luftschiffahrt), Berlin 1909, 862f.

30 Vgl. Günter Schmitt, Als in Johannisthal der Motorflug begann . . . Berlin o.J. (1980), 7f. Zit. bei Hartmut Schmidt, Anmerkungen zu einer Tagebucheintragung Klara Mays, a.a.O. 26

31 Übrigens reagierte auch die ›Augsburger Postzeitung‹, in deren Beilage ›Lueginsland‹ vom 6.10. an ›Winnetou IV‹ erschien, mit Textbeiträgen und Abbildungen auf die Berliner Flugwoche, von May natürlich aufmerksam verfolgt. In der ›Lueginsland‹-Ausgabe vom 23.10. informierte sie über Lathams »Flugmaschine«, die »namhaftesten Teilnehmer« (Latham, Blériot Baron de Caters) und Lathams Überlandflug. Vgl. Winnetou Band IV, a.a.O. 41 (Inhaltsangabe). Eine weitere Abbildung zeigt das Luftschiff ›Parseval III‹ in Augsburg, ebd. 42. Auch sonst finden sich in der ›Augsburger Postzeitung‹, wie in allen damaligen Blättern, zahlreiche Beiträge zur modernen Aviatik, vgl. etwa ebd. 56, 60, 101 und 157.

32 Vgl. Mays Briefe an Felix Krais vom 3., 20. und 25.10.1909 im Anhang zu:Winnetou Band IV, a.a.O. 294, 295 und 296

33 Die folgenden Deutungen ergänzen die Ausführungen in meiner Monographie (Karl Mays »Winnetou IV«. Studien zur Thematik und Struktur, Ubstadt 1981, 134-136 und passim), modifizieren sie auch gelegentlich.

34 Karl May, Winnetou IV, Freiburg 1910, 105

35 Ebd. 102

36 Vgl. ebd. 131. Dem »jungen Adler« wurde das Pferd gestohlen und der Inhalt der Satteltaschen; unterwegs gab es zu seiner Nahrung nur einige eßbare Wurzeln oder Beeren, weiter nichts. Hier könnten sich unbewußt auch Ereignisse aus Mays Abgrund-Zeit spiegeln, der Pferdediebstahl etwa in Umkehrung des Bräunsdorf-Erlebnisses.

37 Ebd. 103

38 Ebd. 103f.

39 In diesem Sinne deutlich gleich im Anschluß an den Kurzbericht über die Vorge-


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schichte des »jungen Adlers«: Er hatte sein schweres Paket nun selbst zu tragen . . . Ebd. 131

40 Vgl. ebd. 218. Möglich, daß May hier auch seinen Studienbesuch in Johannisthal assoziierte.

41 In Wahrheit war es Kitty Hawk in North Carolina. wo den Brüdern Wright am 17.12.1903 der erste kontinuierliche Flug in einem motorisierten Aeroplan gelang. Systematische Flugversuche ­ geradeaus, im Kreise, in Schlangenlinien . . . ­ führten sie ab 1904 in Dayton, Ohio durch. Der Irrtum Mays ist erstaunlich, besaß er doch in seiner Bibliothek ein halbwegs informatives Werk über die Arbeit der Wrights: Heinrich Adams, Flug & ›Unser Flieger‹ (von Wilbur und Orville Wright), Leipzig 1909.

42 Karl May, Winnetou IV, a.a.O. 580

43 Ebd. 374

44 Ebd. 608

45 Vgl. ebd. 451-458

46 Ebd. 456

47 Ebd. 455

48 Ebd. 456

49 Vgl. dazu Dieter Sudhoff, Karl Mays »Winnetou IV«, a.a.O. 28-37

50 Karl May, Winnetou IV, a.a.O. 131

51 May in einem Interview mit Paul Wilhelm. Neues Wiener Journal vom 2.4.1912. Zit. nach Jb-KMG 1970, Hamburg 1970, 90

52 Karl May, Winnetou IV, a.a.O. 159

53 Vgl. ebd. 137

54 Ebd. 372

55 Ebd. 416

56 Ebd. 417

57 Vgl. ebd. 369

58 Vgl. ebd. 267

59 In der Gefahr solcher Überhebung stand aber auch May: ganz wie Nietzsche identifizierte er sich bisweilen so sehr mit Christus als dem »Schmerzensmann«, daß er sich »gekreuzigt« wähnte. Vgl. etwa Karl May, Mein Leben und Streben, a.a.O. 169 oder Mays Brief an Prinzessin Wiltrud von Bayern vom 9.8.1902, in: Jb-KMG 1983, Husum 1983, 81-83

60 Einige zeitgenössische Autoren der französischen und russischen Literatur-Avantgarde gingen im Vergleich der Himmelfahrt Christi mit der modernen Aviatik noch weiter als May. So stilisiert Guillaume Apollinaire in seiner polythematischen Versdichtung ›Zone‹ (1912) Christus zum Rekordflieger, der, umringt von mythologischen und biblischen Fluggestalten, von »Priestern, welche mit erhobener Hostie ewig aufwärts steigen« (bei May wäre an den »Winnetou-Clan« und an alle, die dem »jungen Adler« folgen sollen, zu denken), zum Himmel fährt: »Es ist Christus der besser als alle Piloten zum Himmel fährt / Er hält den Weltrekord im Höhenflug / . . . Die Engel umflattern den anmutigen Flatterer / Ikaros Henoch Elias Apollonios von Tyana / Sie umschweben den ersten Aeroplan«. Zit. nach der Übersetzung von Felix Philipp Ingold, in: ders., Literatur und Aviatik, a.a.O. 350

61 Vgl. Karl May, Winnetou IV, a.a.O. 500

62 Ebd. 426

63 Vgl. Hartmut Schmidt, Anmerkungen zu einer Tagebucheintragung Klara Mays, a.a.O. 26-28

64 Karl May, Winnetou IV, a.a.O. 520

65 Ebd. 577

66 Ebd. 520

67 Vgl. Hartmut Schmidt, Anmerkungen zu einer Tagebucheintragung Klara Mays, a.a.O. 28 und ders., »Die Naturkraft ist ihm unterthan«. Technische Fragen im Werk Karl Mays, Sonderheft der KMG 57, Hamburg 1985, 34. Schmidts Vermutung, May habe in Johannisthal von den Plänen des Konstrukteurs Otto Trinks erfahren der 1910 das erste Doppelrumpfflugzeug baute, hat wenig für sich. Es kam May nicht auf technische Wahrscheinlichkeit, sondern auf treffende Symbolik an.


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68 Karl May, Winnetou IV, a.a.O. 577

69 Im Manuskript hat May einmal »Winnetou« in »Adler« verbessern

müssen. Auf der Handschriftseite 933 (Buchausgabe S. 576) hatte er ursprünglich den »jungen Adler« rufen lassen: »Kommt herauf! Es ist alles bereit. Mein ›Winnetou‹ ist fertig!« Indiz dafür, daß May mit dem »Adler« konkret den entstehenden Roman ›Winnetou IV‹ meinte? Oder den geplanten Winnetou Zyklus?

70 Karl May, Winnetou IV, a.a.O. 577f.

71 Ebd. 580

72 Der verunglückte Vergleich ­ er läuft der Adler-Metaphorik zuwider ­ weist zurück auf die Flugritte der frühen Reiseerzählungen.

73 Karl May, Winnetou IV, a.a.O. 604f.

74 Vgl. ebd. 577

75 Aschtas Verwegenheit (ebd. 607) erinnert an Wandas Kühnheit in der frühen Novelle; in beiden Texten wird der Flugapparat zum indirekten Ehestifter. Solche Gemeinsamkeiten zwischen ansonsten sehr andersartigen Motivverwendungen sprechen von der heimlichen Sexualsymbolik des Fliegens.

76 Karl May, Winnetou IV. a.a.O. 609

77 Ebd. 610

78 Vgl. ebd. 621

79 Karl May, Texte der Nachlaßmappe ›Winnetou‹. Im Anhang zu: Winnetou Band IV, a.a.O. 305

80 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1978, 55

81 Ausführlich dargestellt bei Felix Philipp Ingold, Literatur und Aviatik. a.a.O. 19-37 und passim.

82 Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen. Aphorismen aus dem Nachlaß, hg. v. Max Brod, Frankfurt a. M. 1980, 18

83 Mays Artikelserie ist wiederveröffentlicht im Jb-KMG 1976, Hamburg 1976, 230-272. Vgl. zum ›Freistatt‹-Komplex: Claus Roxin, Karl Mays ›Freistatt‹-Artikel. Eine literarische Fehde, in: Jb-KMG 1976, 215-229; Hansotto Hatzig, Streiflichter zur Kontroverse May ­ Pöllmann. Eine Materialiensammlung, in: Jb-KMG 1976, 273-286

84 Vgl. Dieter Sudhoff, Einführung zu ›Winnetou Band IV‹, a.a.O. 4

85 Karl May, Auch »über den Wassern«. Mit Anmerkungen von Hansotto Hatzig und Ekkehard Bartsch, in: Jb-KMG 1976, Hamburg 1976, 240-242

86 Vgl. Claus Roxin, Karl Mays ›Freistatt‹-Artikel. a.a.O. 225f.

87 Karl May, Mein Leben und Streben, a.a.O. 151

88 Robert Walser, Ballonfahrt, in: Das Gesamtwerk. Band I. Zürich und Frankfurt a. M. 1978, 305f. Walser hatte 1908 tatsächlich eine Freiballonfahrt unternommen die ihn (zusammen mit den Brüdern Paul und Alfred Cassirer) von Berlin aus bis in die Nähe der Ostsee brachte.

89 Friedrich Nietzsche, Morgenröte, in: Werke in drei Bänden. Band I, München 21960,

90 Karl May, Himmelsgedanken, Freiburg 1900, 67f. May las das Gedicht während seines Wiener Vortrags vor. Vgl. Jb-KMG 1970, 63

91 Vgl. zur Wiener Rede: Ekkehard Bartsch, Karl Mays Wiener Rede. Eine Dokumentation, in: Jb-KMG 1970, Hamburg 1970, 47-80; Adolf Gerber/Wilhelm Nhil/Paul Wilhelm, Karl May in Wien. Letzte Interviews (1912), in: Jb-KMG 1970, 81-91; Hans Wollschläger, Sieg ­ Großer Sieg ­ ­ Karl May und der Akademische Verband für Literatur und Musik, in: Jb-KMG 1970, 92-97

92 Claus Roxin, Karl Mays ›Freistatt‹-Artikel. a.a.O. 216

93 Vgl. Ekkehard Bartsch, Karl Mays Wiener Rede, a.a.O. 52

94 Karl May, Mein Leben und Streben, a.a.O. 1

95 Vgl. hierzu Martin Lowsky: »Ja, können wir denn fliegen?«, in: M-KMG 33 (1977), 27f.

96 Weder Mays Redekonzept noch den zeitgenössischen Presseberichten ist zu entnehmen, welche Beispiele er ­ wenn überhaupt ­ anführte. Zu denken ist wie schon beim ›Freistatt‹-Artikel an Kolportage, Naturalismus und Impressionismus.


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97 Ekkehard Bartsch, Karl Mays Wiener Rede, a.a.O. 54f.

98 (Red., Victor Silberer:) Blériot in Wien. Wiener Luftschiffer-Zeitung, 1909, XXI. Zit. nach Felix Philipp Ingold, Literatur und Aviatik, a.a.O. 127

99 Ekkehard Bartsch, Karl Mays Wiener Rede, a.a.O. 57f.

100 Ebd. 68

101 Ebd. 59

102 Vgl. Hansotto Hatzig, Bertha von Suttner und Karl May, in: Jb-KMG 1971, Hamburg 1971, 252

103 Vgl. ebd. 253f.

104 Bertha von Suttner, Der Menschheit Hochgedanken, Berlin 1911, 152

105 Ebd. 254

106 Zit. nach Hansotto Hatzig, Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft, Bamberg 1967, 168




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