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KURT LANGER


Die Bedeutung der Angstlust in Karl Mays Leben und Werk



Den Karl-May-Kenner und -Liebhaber hat stets das literarische Aufsuchen gefahrvoller Situationen fasziniert, das mit Karl Mays Namen untrennbar verbunden ist. Das Nacherleben spannender Abenteuer läßt bis zum heutigen Tag die Herzen von jung und alt höher schlagen und macht die ungeheuere Popularität des Schriftstellers aus. Das alles ist gewiß nichts Neues, und aus tiefenpsychologischer Sicht kann man auch unschwer plausibel machen, daß die schriftstellerische Leistung des Autors eine Kompensation darstellt, die vortrefflich geeignet war, ihn die traurige Realität seines wirklichen Lebens vergessen zu lassen. Schon Karl-Hans Strobl analysiert z. B. in einem Aufsatz die Beweggründe für Karl Mays Vorliebe für die Darstellung omnipotenter, dabei aber sittlich hochstehender Heldenfiguren überzeugend: Es sind Masken der Eitelkeit, aber mehr noch der Scham.1 Erstaunlich ist auch, daß Karl May die unwahrscheinlichsten und unglaublichsten Ereignisse im Brustton der Überzeugung vortragen konnte und dabei zunächst teilweise Glauben fand. Der Pseudologe bringt es in der Tat fertig, nicht allzu kritische Menschen mit seinen Phantastereien zu täuschen. Dem Meister spannender Erzählkunst war das sicher viel leichter möglich als jedem anderen. Die Wut der so Getäuschten schlug - zumindest im Fall Karl Mays ­ in pharisäerhafte Empörung und in Aggressionen um, die - wie mir scheint - einem kritischer gewordenen Leserpublikum heute gar nicht mehr recht verständlich sind. Die Leute würden höchstens sagen: »Der schneidet halt auf - aber sehr gekonnt ­ und was weiter?«

   Man darf also bei solchen Betrachtungen die Zeit nicht außer acht lassen, in der Karl May seine Romane schrieb: sie war autoritätsgläubig und korrekt, aber auch vergleichsweise unkritisch und neigte zur Heroisierung herausragender Glieder der Gesellschaft. Vermutlich leistete die Isolation der Menschen, denen es aus vielerlei Gründen meist verwehrt war, den Blick teilnehmend über den Zaun zu werfen, einer solchen Beschränkung des Erkenntnishorizonts Vorschub.

   Eine Frage drängt sich aber in diesem Zusammenhang auf: Wie war


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es möglich, daß Karl May als wahrer »Fiedler auf dem Dach«2 die primitive Reaktion der Öffentlichkeit in ihrer ganzen niederträchtigen Gemeinheit so falsch einschätzte und sich der Täuschung hingab, er werde immer ein geachteter Schriftsteller und ein Liebling des Volkes bleiben? Waren es unkritische Selbstüberschätzung und Leichtsinn? War es ­ trotz Kenntnis des Zeitgeistes ­ eine falsche Einschätzung der Publikumsreaktion? Oder war es seelische Notwendigkeit, die Überkompensation so lange wie nur möglich aufrechtzuerhalten, um das darniederliegende Selbstwertgefühl zu stärken und die narzißtische Liebessehnsucht zu stillen? Wenn aber nicht - oder doch nicht allein - was war es sonst?

   Man wird davon ausgehen müssen, daß wohl sämtliche der aufgeworfenen Fragen mit »ja« beantwortet werden können, daß aber ein Rest bleibt, der sich dem Verständnis entzieht. Wie kann man z.B. die unnötige Gleichsetzung des Menschen Karl May mit den Romanfiguren Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi verstehen, die die ungeheuere Beliebtheit des Schriftstellers nicht mehr nennenswert steigern konnte, sondern seine Glaubwürdigkeit und sein Ansehen nur zunehmend untergraben mußte? Es gibt wohl nur eine einleuchtende Antwort: Der halsbrecherische Seiltänzerakt stillte bei Karl May recht primitive Bedürfnisse, wobei das Verlangen nach dieser Triebbefriedigung alle vernunftsmäßigen Einsichten überrannte. Gemeint ist Karl Mays Sehnsucht nach lustvollem Erleben von Angst, die Michael Balint »Angstlust« genannt hat.3

   Es handelt sich bei Angstlust natürlich nicht um eine Triebqualität, die nur von bestimmten Personengruppen ausgelebt wird, oder gar um ein singuläres Phänomen bei Karl May, vielmehr ist das Erlebnis ziemlich ubiquitär. Die Kenntnis dieser erstaunlichen Erscheinung wird vielfach kommerziell genützt: z.B. bei Jahrmarktvergnügungen wie Karussells, Berg- und Talbahnen und dergleichen, d.h. also bei Situationen, die mit Schwindel verbunden sind und irgendwie als gefährlich erlebt werden, wofür dann das Publikum sogar gerne bezahlt. Angstlust spielt auch bei wenig durchdachten privaten Entscheidungen eine Rolle, bei denen auf die ›Gunst des Schicksals‹ spekuliert wird. Weiterhin ist Angstlust bedeutsam bei vielen Formen sportlicher Betätigung (Reiten, Motorrennen, Skilaufen, Tauchen, Bergsteigen usw.) und beim Aufsuchen exponierter Situationen (z.B. Reisen in ferne Länder). Eine andere Gruppe betrifft die ›kitzligen Situationen‹, die jede ungewohnte Aktivität mit sich bringt: hierher gehören bislang unvertraute oder gar neue Objekte oder Betätigungsweisen wie neue Kleider, neue Speisen, neue Sitten bis zu Formen


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abweichender Sexualbetätigung. Beruflich wird mit Angstlust z.B. von den Artisten gerechnet.4

   Nun kann aber unter bestimmten Bedingungen, die noch zu untersuchen sein werden, eine seelische Struktur zustande kommen, bei der die Menschen das Aufgeben der Sicherheit auf der Suche nach Nervenkitzeln geradezu in Form eines neurotischen Wiederholungszwangs lustvoll erleben, unter der stets gemachten Voraussetzung allerdings, daß irgendwie doch alles zu einem guten Ende kommt. Solchen Strukturen ist zweifellos Krankheitswert zuzusprechen. - Die Psychologie des lustvollen Erlebens der Spannungsreize ist wenig erforscht; umso verdienstvoller erscheint das Bestreben, die Phänomene tiefenpsychologisch verständlich zu machen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden von Michael Balint zwei neue Ausdrücke geprägt, nämlich die Bezeichnungen ›Philobatismus‹ und ›Oknophilie‹.

   Bei dem Begriff ›Philobatismus‹ ist das Wort ›Akrobat‹ eingeflossen, so daß also jemand damit bezeichnet werden soll, der es liebt, sich von der sicheren Erde zu entfernen, d. h. »in die Höhe zu springen«. ­ Das Gegenteil wäre eine Haltung, bei der sich jemand am liebsten an etwas Festes anklammert, wenn seine Sicherheit in Gefahr ist (griechisch: okneo = sich scheuen, zögern, sich fürchten, sich anklammern) und der nichts so sehr fürchtet wie Wagnisse.5 Wenngleich diese beiden Haltungen ­ man sollte in ausgeprägten Fällen besser von neurotischen Krankheitsbildern sprechen - das genaue Gegenteil von einander zu sein scheinen, ist doch ein gleichzeitiges Vorkommen bei ein und derselben Person möglich, wie noch zu zeigen sein wird. Jedenfalls handelt es sich um zwei primitive Reaktionsmuster, die beide normalerweise beim Säugling zu beobachten sind, ohne daß man mit absoluter Sicherheit sagen könnte, welche die ältere bzw. primitivere ist: Das Ergreifen der Brustwarze und das Wegstoßen von ihr bzw. das Fortwenden des Kopfes erscheinen beim Säugling etwa zu gleicher Zeit, so daß eine Triebverschränkung angenommen werden kann. Beim Erwachsenen sind philobatische Züge mit oknophilen Handlungen häufig gekoppelt, z. B. hält der Seiltänzer eine Stange, der Löwenbändiger eine Peitsche, der Dirigent einen Stab usw. Das, woran festgehalten wird, ist das sicherheitsgebende Objekt, also die verläßliche, liebende Mutter.6

   Bei ihren waghalsigen Reisen und Abenteuern erscheinen Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi nie ohne die mannigfaltigsten Requisiten, an denen ein Anklammern möglich ist (Henrystutzen, Bärentöter, zwei Revolver, Bowie-Messer, Fernrohr u. dergl.).

   Zunächst allerdings steht bei Karl May das Erleben philobatischer


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Situationen ganz im Vordergrund, d. h. das Genießen von weiten Distanzen und von Fernsicht. Das Aufgehen in den Freiräumen wird lustvoll erlebt: bei Karl May das phantasierte Aufsuchen von Fluchtlandschaften, die die Weite repräsentieren und zugleich Oasen der Geborgenheit umfassen. Wolf-Dieter Bach formuliert so: »Fluchtlandschaften als Gegenwelten zur gesellschaftlichen Realität, in der zu leben er verdammt war, und gleichzeitig Zufluchtlandschaften als Imagines leiblicher Geborgenheit durch die Mutter. Sie sind beides in vielfach verschränkter Weise.«7 Vorzüglich kommt in diesen Sätzen die tatsächliche Verschränkung von Philobatismus und Oknophilie zum Ausdruck: Die Flucht in die ferne Weite ist zugleich eine Suche nach entbehrter Sicherheit.

   Die Illusion des Philobaten, als den man Karl May ­ abgesehen von der erwähnten Triebverschränkung ­ ansprechen muß, ist, daß er außer seiner eigenen Ausrüstung keiner Objekte (im psychoanalytischen Sprachgebrauch sind damit Menschen gemeint) bedürfe, sicherlich nicht eines einzelnen, bestimmten Objekts. Der Philobat hat das Gefühl, die Welt erobern zu können, ohne sich auf die Gunst anderer verlassen zu müssen.8

   In der analytischen Situation gewinnt man manchmal den Eindruck, daß der Philobat die Weite geradezu rauschhaft erlebt, ja nach Art einer ›participation mystique‹ schließlich zu narzißtischen Verschmelzungserlebnissen mit der Welt neigt, was vorübergehend ein Gefühl der Omnipotenz verleihen kann. ­ Literarisch gesehen sind die Haupthelden der Mayschen Erzählungen tatsächlich nahezu allmächtig, sehr im Gegensatz zu ihrem Schöpfer, der sich uns schließlich in der ›Studie‹ ­ und insofern ist sie sicher recht objektiv ­ als wahrer Anti-Held demaskiert. Karl May war denn auch bestrebt, seine glückliche, selige Arbeitswelt und die armselig häßliche, traurige Welt der Pollmerschen Dämonen exakt zu trennen9 und sich nach Möglichkeit unangenehme Dinge vom Leibe zu halten, etwa indem er behauptete, auf Reisen zu sein.

   Trotz aller (bei May ausgiebig phantasierter) Waghalsigkeit besteht aber bei ihm entsprechend seiner philobatischen Struktur das Verlangen nach Distanz von den als gefährlich eingestuften Objekten. Hadschi Halef Omar, Winnetou, der Hobble-Frank, Tante Droll, Old Firehand, Osko, Omar Ben Sadek usw. usw. können nicht als Widerlegung dieser These gelten. Sie sind literarische Fiktionen resp. in Wirklichkeit Teil-Ichs, die nichts über eine tatsächlich mögliche reale Objektbeziehung aussagen. Damit sah es nun so aus, daß ein wirklicher Kinder- und Jugendfreund Karl May nie beschieden war und daß sich auch seine späteren Interaktionen meist recht problematisch gestalteten (z.B.


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zu Emma Pollmer, Frau und Herrn Münchmeyer, dem Verleger Fehsenfeld usw.). Es scheint so zu sein, daß seine persönlichen Beziehungen über bloße Freundlichkeiten nicht wesentlich hinauskamen, obwohl von seiner Seite zweifellos ein ungeheueres ungestilltes Liebesbedürfnis bestand. Jedenfalls hat er nach eigenem Bekenntnis nur zwei Menschen kennengelernt, mit denen er zeitlebens wirklich sprechen konnte: den Katecheten Kochta und Klara Plöhn.10 ­ Man hat den Eindruck, daß er bei seiner Suche nach Partnern als Oasen der Geborgenheit in der Weite des philobatischen Erlebens umso intensiver scheiterte, je mehr er bemüht war, sie zu Hilfs- und Nebenfiguren seiner Welt zu machen. Jäh schlug dabei wahrscheinlich der Philobatismus in oknophile Anklammerung um: der Versuch Karl Mays, das psychologische Rätsel seiner ersten Frau zu lösen, sie zu veredeln und quasi zu sich emporzuziehen, läßt ahnen, wie ungeschickt er, der sich als Psycholog bezeichnete, dabei zu Werke ging. - Tatsächlich sind die ozeanischen Verschmelzungsbestrebungen des Philobaten Ausdruck schwerer Regression und Suche nach der ursprünglichen Einheit mit der liebenden Mutter. Aber nicht mystische Verschmelzungserlebnisse mit Anklammerung, sondern Anerkennung der Tatsache, daß Objektliebe auch aus der Distanz möglich ist, wobei gleichzeitig die Integrität des anderen respektiert wird, ist dem seelisch gesunden Erwachsenen vonnöten.

   Der besondere Unterschied zwischen lustvollem Erleben gefahrvoller Situationen im allgemeinen und dem Philobatismus im strengen Sinn besteht vor allem auch im Vorhandensein einer wirklichen äußeren Gefahr. Allerdings konnte sich Karl May indirekt durch Identifikation mit seinen Lesern das Erlebnis der Angstlust verschaffen, und darüberhinaus verfügte er über die Fähigkeit, sich so in bestimmte Personen und Situationen seiner Romane hineinzuversetzen, daß diese für ihn Realpräsenz annahmen. Damit konnte er seine Minderwertigkeitsgefühle im sozial nützlichen Feld zufriedenstellend kompensieren.

   Aus der Unzahl tollkühner und lebensgefährlicher Abenteuer, die der Ich-Held besteht, greife ich nur eines heraus: Die Rettung des Sendadors von einem steilen Felsen der Pampa de Salinas, von dem er von seinem Widersacher Gomarra hinabgestürzt wurde. Die ganze Episode ist beispielhaft für ein philobatisches Lusterlebnis: Ich hing vor ihm, über der grausigen Tiefe. Bei der geringsten Bewegung, welche ich machte, schaukelte mein leichter Sitz hin und her. Das machte es außerordentlich schwierig, den Verunglückten vom Stumpfe zu lösen. Wollte ich ihn los haben! so mußte ich ihn heben. Das erforderte bei der Schwere dieses Mannes eine Kraftanstrengung, unter welcher die Riemen, an


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denen ich hing, leicht zerreißen konnten, und dann war ich verloren. . . . Freilich, wenn ich ihn los bekommen wollte, mußte ich mich in eine Gefahr begeben, vor welcher es mir graute. Schon der bloße Gedanke an das Wagnis wollte mich schwindeln machen. . . . Dann hielt ich mich an den beiden Seilen fest, stieg auf die Lanzen, auf denen ich gesessen hatte und . . . schwang mich in den Spalt. An diesem Augenblicke hing mein Leben. Gab der Baumstumpf nach, so fuhr ich mit ihm und dem Sendador in die Tiefe.11

   Aber das philobatische Experiment gelingt, und zwar nicht nur, um den Fortgang der Handlung nicht zu gefährden, sondern um ein wichtiges Postulat des philobatischen Lusterlebens zu erfüllen: Alle Gefahr muß glücklich überstanden werden!

   Unwillkürlich fühlt man sich an eine andere Begebenheit erinnert, der auch nicht das Abstürzen des Betroffenen mit Zerschmettern des Körpers folgte, was jedoch einer realistischen Einstellung zu verdanken war: Die Versuchung Jesu durch den Teufel, der unter Berufung auf die Heilige Schrift von Jesus verlangt, er solle sich von den Zinnen des Tempels in der Heiligen Stadt stürzen: »Bist du Gottes Sohn, so stürze dich hinab; denn es steht geschrieben: ›Seinen Engeln wird er deinetwegen befehlen, und sie werden dich auf Händen tragen, damit du nicht an einen Stein deinen Fuß stoßest‹.« Jesus aber sprach zu ihm: »Wiederum steht geschrieben: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen‹.« (Mt 4,6.7) ­ Das will sagen: der von Gott dem Menschen empfohlene Weg sieht nicht solche halsbrecherischen Handlungen vor, die mutwillig ausgeführt werden. ­ Allerdings versucht Karl May eine ethische Rechtfertigung, indem er das Wagnis nur zur Rettung eines anderen Menschen unter ausdrücklicher Erflehung des göttlichen Segens übernimmt: Herr Gott, Dir übergebe ich mich!12 Trotz solcher Begründung bleibt aber im Fall Karl Mays der Eindruck, daß das waghalsige Unternehmen um seiner selbst willen durchgeführt wurde; denn zu häufig werden ähnliche gefährliche Szenen literarisch ausgemalt.

   Für das intensive Erleben von Angstlust fehlte aber doch noch der entscheidende Stimulus: das reale Risiko. - Es erscheint folgerichtig, daß Karl May Gefahren nicht nur phantasierte, sondern sie auch wirklich aufsuchte. Wohl nicht eigentlich, weil er ein besonders kühner, mutiger Mann war, sondern weil das Verlangen zum Erleben von Angstlust sich als neurotischer Wiederholungszwang in seiner krankhaften, zu psychotischen Eskalationen neigenden seelischen Struktur etabliert hatte. Und so war es denn auch: Unbesonnene Wagnisse und existenzbedrohende Risiken findet man nicht nur in Karl Mays Werk, sondern auch (wenngleich natürlich in bescheidener Dimension) in sei-


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nem Leben. Auch hier kann man eine ganze Reihe von Ereignissen aufführen: Die vielleicht zu forsche, aber doch wohl täppische Annäherung an die Ehefrau seines Hauswirts Meinhold, die seiner beruflichen Karriere schadete. Die besonders von Klaus Hoffmann und Hainer Plaul dokumentierten Jugendverfehlungen,13 bei denen Wagnis und erzielter Erfolg oft in einem grotesken Mißverhältnis standen, so daß ein fast komischer Eindruck resultiert. Die Stollberg-Affäre14, die von Karl May mit philobatischem Eifer, aber denkbar ungeschickt, angegangen wurde und mit einem Mißerfolg endete. Es nützte ihm denn auch nichts mehr, daß er auf Reisen ging. Die Schuld an dem Debakel versuchte er allerdings seiner ersten Frau Emma bzw. deren Großvater zuzuschieben: Erstens habe ich bei dem Tode seines vagabundirenden Sohnes eine gerichtliche Blamage, die nur auf ihn zu fallen hatte, ganz allein auf mich genommen, und er war mir großen Dank für dieses schwere Opfer schuldig . . . 15 Die mündliche Vertragsabschließung mit Münchmeyer, die er ohne schriftliche vertragliche Absicherung durchführte, gehört in den ganzen Kontext ebenso, wie sein privater Umgang mit den Münchmeyers und deren Angehörigen, von denen er sich nur ausgenützt fühlte, dies aber stillschweigend duldete, um Gemeinheiten vorzubeugen.16 Das gleiche philobatische Experiment vollführte May mit seinem Doktor-Titel und mit seiner Konfession, indem er zeitweise so schrieb, daß man ihn für einen Katholiken halten mußte. Am gravierendsten war jedoch wohl die überflüssige Gleichsetzung seiner erdachten Heldenfiguren mit seiner eigenen Person. Sie brachte die Lawine ins Rollen, die ihn schließlich unter sich begrub. Der Titel einer neueren Publikation ›Zu Tode gehetzt‹17 weist auf den Ausgang hin.

   Es berührt eigenartig, daß Karl May trotz aller schlechter Erfahrungen den Kitzel der Angstlust suchte; es ist aber psychologisch verständlich, wenn man das bisher Gesagte in Rechnung stellt. Die strenge Determination des Psychischen bewirkt eben auch das vom sogenannten gesunden Menschenverstand als unglaubwürdig und absurd Eingestufte. Nicht ohne Grund wird ja darauf hingewiesen, daß das Leben des Meisters viele romanhafte Züge aufweist.

   Die Ursachen von Philobatismus und Oknophilie reichen, wie bei allen neurotischen Entwicklungen, sehr weit zurück, d. h. bis in die Kindheit. Ursprünglich besteht, wie Fritz Künkel18, ein Schüler Alfred Adlers, formuliert, ein »Ur-Wir«, das jeder einzelne in seinem ersten Lebensjahr unmittelbar erlebt. Der Spannungsbogen, die Tragfähigkeit des Wir, ist nahezu unendlich. Ich und Du ist nicht getrennt, so daß das Kind die kritische Zeit körperlich und seelisch ohne nachteilige Folgen überstehen kann. Verliert aber die Bezugsperson den empathi-


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schen Kontakt, d. h. wird das Kind innerlich im Stich gelassen, so zerbricht das Wir (Wir-Bruch). Der Wir-Bruch bedingt eine narzißtische Charakterstruktur mit einem Defekt im Selbst, was eine Neigung zur Fragmentation des Selbst erzeugen kann (Borderline-Syndrom). Dem Objekt (dem Mitmenschen) kann nicht mehr ein gesundes Vertrauen entgegengebracht werden, vielmehr rettet sich der Philobat in seine ozeanischen Weiten, wo er zumindest zeitweise der Gefahr, verletzt zu werden, entrückt ist. Nur das blinde Vertrauen des Philobaten darauf, daß er mit Risiken fertig werden kann, erklärt die Annäherung an gefährliche Objekte und läßt ihn dabei unbesonnene Handlungen vollführen. Die Nähe des Objektes wird also doch gebraucht und ist ­ wie die der ersten Erziehungsperson - gleichzeitig lustgetönt und angstbesetzt. Hinter dem Prahlen mit Unabhängigkeit steht eben das Bedürfnis nach verläßlichen Objekten.19 Umgekehrt versucht der Oknophile, den Folgen des traumatischen Wir-Bruchs dadurch zu entgehen, daß er sich an Objekte anklammert. Die Objekte werden als mächtig und wohlgesinnt phantasiert, obwohl sie es in Wirklichkeit, zumindest in dem imaginierten Ausmaß, keineswegs sind. Die Angstlust bezieht sich nun auf den vorgestellten Verlust des Objekts. Beides aber ­ Philobatismus und Oknophilie - stellen eine Regression, d. h. ein Zurückfallen auf eine frühkindliche Entwicklungsstufe dar, indem sie die Periode des traumatischen Wir-Bruchs perpetuieren und nach primärprozeßhaften, d.h. kleinkindhaften Lösungsmöglichkeiten suchen. Deshalb ist ein Nebeneinandervorkommen beider Haltungen leicht möglich.

   Den Nachweis des bei Karl May tatsächlich erfolgten Wir-Bruchs zu führen, erscheint an dieser Stelle entbehrlich, da sich bereits viele Publikationen mit Karl Mays Kindheit befaßt haben, und er selbst in seiner Autobiographie ein durchaus trauriges Bild gerade dieser ersten Lebensjahre zeichnet. Ein Ausdruck ist besonders treffend: Er ging wie auf Glassplittern.20

   Auffällig an Karl Mays biographischer Entwicklung und seinem literarischen Schaffen wird stets die ziemlich plötzliche, fast unvermittelt erfolgte Zuwendung zum Schreiben symbolischer Romane bleiben, d. h. der Übergang zum sogenannten Alterswerk. Man könnte mit dem Gedanken spekulieren, daß die bittere Erkenntnis, daß seine Gegner durchaus zu seiner Vernichtung fähig und daß alle gegenteiligen Aussagen und Prognosen Fehleinschätzungen waren, letztlich ein Aufgeben der philobatischen Haltung erzwang und ihm mehr oknophile Tendenzen aufnötigte, etwa das Anklammern an seine zweite Frau Klara, an seine Verleger, seine Rechtsanwälte und Richter, seine Besucher und


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die ganze ihm noch treu gebliebene Öffentlichkeit. Das bedeutete einen Verzicht auf alle philobatischen Experimente und Renommierhaltungen und Bevorzugung passiv-femininer und kontemplativer Figuren, die von der Erzähltechnik her den Gang in die Symbolik vielleicht nahelegten. Unter Berücksichtigung der ganzen psychologischen Entwicklung, insbesondere der Stellung zur Angstlust, läßt sich auch der »Bruch im Werk« verstehen, der soviel Kopfschütteln verursacht hat.



1 Karl-Hans Strobl, Scham und Maske. Zur Psychologie des Karl-May-Problems, in: Karl-May-Jahrbuch 1921, Radebeul 1920, 279

2 Heinz Stolte, Der Fiedler auf dem Dach. Gehalt und Gestalt des Romans ›»Weihnacht!«‹ - Festvortrag am 28. 9. 1985, gehalten anläßlich der 8. Tagung der KMG in Königswinter; s. vorn in diesem Jahrbuch.

3 Michael Balint, Angstlust und Regression. Beitrag zur psychologischen Typenlehre. Mit einer Studie von Enid Balint. (Original: Thrills and Regression, The Hogarth Press, London 1959). Reinbek 1972

4 Michael Balint a.a.O. 21

5 Michael Balint a.a.O. 22f.

6 Michael Balint a.a.O. 24

7 Wolf Dieter Bach, Fluchtlandschaften, Jb-KMG 1971, 41

8 Michael Balint a.a.O. 30

9 Karl May, Frau Pollmer, eine psychologische Studie, Bamberg 1982, 849 des Reprints (bzw. 18)

10 Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg o.J. (1910), Faksimile-Nachdruck, hg. v. Hainer Plaul, Hildesheim-New York 1975, 318

11 Karl May, In den Cordilleren, Freiburg 1894, 551f., 554

12 wie Anm. 11, 554

13 Klaus Hoffmann, Zeitgenössisches über ein »unwürdiges Glied des Lehrerstandes«, Jb-KMG 1971, 110-121; ders., Karl May als »Räuberhauptmann« oder die Verfolgung rund um die sächsische Erde, Jb-KMG 1972/73, 215-247 und Jb-KMG 1975, 243-275; Hainer Plaul, Auf fremden Pfaden?, Jb-KMG 1971, 144-164; ders., Alte Spuren Jb-KMG 1972/73, 195-214

14 dokumentiert bei Fritz Maschke, Karl May und Emma Pollmer, Bamberg 1973, 137-196

15 Karl May Frau Pollmer, eine psychologische Studie, 873/874 des Reprints (bzw.27)

16 wie Anm. 15, 838 des Reprints (bzw. 14)

17 Maximilian Jacta, Zu Tode gehetzt - Der Fall Karl May, Bamberg, 1972

18 Fritz Künkel, Charakter, Einzelmensch und Gruppe, Stuttgart 1976, 8f.

19 Michael Balint a.a.O. 47

20 Karl May, Mein Leben und Streben, 55




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