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HELMUT SCHMIEDT


»Einer der besten deutschen Erzähler . . . «?
Karl Mays ›Winnetou‹-Roman unter dem Aspekt der Form*



»Karl May ist einer der besten deutschen Erzähler, und er wäre vielleicht der beste schlechthin, wäre er kein armer, verwirrter Prolet gewesen.«1 Diese Worte von Ernst Bloch sind den Verehrern des Schriftstellers Karl May natürlich seit jeher als ausgesprochen golden erschienen. Wer es heute unternimmt, sie zu stützen, darf sich auf eine Vielzahl von Studien berufen, die Mays Schriften ein beträchtliches Gewicht unter geistesgeschichtlichen, psychologischen, soziologischen, ideologiekritischen, pädagogischen und anderen Perspektiven zuerkennen. Eindringlicher und gründlicher, als Bloch seinerzeit vermuten konnte, ist die Mehrschichtigkeit, der Facettenreichtum der Erzählungen und Romane Mays mittlerweile analysiert worden.

   Diese Feststellung gilt ganz überwiegend freilich nur im Blick auf deren inhaltlichen Aspekt: Die genannten Betrachtungsweisen haben es ja durchweg mit den Erzählstoffen und -motiven zu tun, sozusagen mit der materiellen Seite der Mayschen Phantasieprodukte, ihrer Herkunft und Entstehung sowie ihrer Wirkung. Was demgegenüber das Element der Form betrifft, so herrschen hier nach wie vor beträchtliche Defizite: Zwar wissen wir heute vieles über das,  w a s  May erzählt, aber  w i e  er das tut, welcher formalen, tektonischen Mittel er sich bedient und wie er sie einsetzt ­ das ist längst noch nicht in gleich intensivem Maße untersucht worden, obwohl doch nicht zuletzt bei diesem Thema über die ästhetische und künstlerische Qualität literarischer Werke entschieden wird. Natürlich wäre der Eindruck falsch, wir hätten es hier mit einer vollständigen Terra incognita zu tun, mit einem von der Forschung ganz und gar übersehenen Bereich: Tatsächlich finden sich schon in den alten Karl-May-Jahrbüchern Abhandlungen über ›Karl Mays Schreibart‹ (Max Finke, 1924), seine ›Mittel der Darstellung‹ (Max Finke, 1927) und seine ›Kunst der Erzählung‹ (Max Fischer, 1921); später hat dann Volker Klotz' Studie ›Durch die Wüste und so


* Vortrag, gehalten auf der Tagung der Karl-May-Gesellschaft am 29. 9. 1985 in Königswinter.


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weiter‹ (1962)2 ähnliche Akzente gesetzt; auch in neuerer Zeit erscheinen gelegentlich Arbeiten, die wesentlich der literarischen Form gelten3, und die meisten größeren Untersuchungen und Überblicksdarstellungen zu May gehen ­ implizit oder explizit ­ zwangsläufig auf sie ein. Generell wird man dennoch sagen müssen, daß das formale Moment relativ wenig beachtet wurde und daß es nötig ist, da Abhilfe zu schaffen. Spötter könnten freilich meinen, das Defizit erkläre sich daraus, daß bei May in dieser Hinsicht einfach nicht viel zu holen sei und Blochs spektakuläres Wort mithin teilweise ins Leere stoße; die folgende Untersuchung wird das an einem Beispiel prüfen.

   Ihr Gegenstand ist Mays dreibändiger ›Winnetou‹-Roman; den vierten Band, der heute unter dem Titel ›Winnetous Erben‹ bekannt ist, schließe ich aus, weil er erst Jahrzehnte später und mit weitreichend veränderten literarischen Ambitionen geschrieben wurde. Der ›Winnetou‹ nimmt in den Wildwest-Geschichten des Autors insofern eine besondere Stellung ein, als er es zu großen Teilen gewissermaßen mit den Eckdaten zu tun hat, in die May seinen nordamerikanischen Kosmos einfügt: Wir erfahren, wie aus dem gerade erst in die USA eingereisten deutschen Jüngling der hochberühmte Westmann Old Shatterhand wird, nehmen teil an seinen ersten und ­ mit kleinen Einschränkungen - letzten Abenteuern, und wir werden informiert über die wesentlichen Ereignisse in der Karriere und Familiengeschichte Winnetous, der zweiten Zentralgestalt der Mayschen Amerikaromane, schließlich auch über das Ende des Mannes, der im ersten Band Winnetous Vater und Schwester ermordet hat. Dazwischen finden sich Episoden, die mit diesen Zusammenhängen wenig zu tun haben und die ›normale‹ Seite im abenteuerlichen Leben unserer Helden repräsentieren; eine davon, die Old-Firehand-Geschichte des zweiten Bandes, stützt sich allerdings auf die sehr persönliche Betroffenheit Winnetous, die aus einer alten Liebesaffäre herrührt, und sie wird insofern doch wieder mit jenem Rahmengeschehen verklammert. Während in Romanen wie ›Der Schatz im Silbersee‹ und ›Old Surehand‹ nur mittlere Abschnitte aus dem Kontinuum der Abenteuer Shatterhands und seines Blutsbruders berichtet werden, geht es also im ›Winnetou‹ vor allem - wenn auch nicht ausschließlich - um die äußeren Voraussetzungen und Grenzen all dieser Erlebnisse. Das Werk verdient deshalb besondere Aufmerksamkeit, und man muß sich um so intensiver auf seine Details einlassen.

   Eine erste, eher oberflächliche Lektüre bestätigt jene Schwächen, die man dem Roman seit langem nachsagt. Als er 1893 unter dem Titel ›Winnetou, der Rote Gentleman‹ erstmals erschien, hatte May be-


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kanntlich nur den ersten Band und kleine Teile des zweiten und dritten neu geschrieben. Für den Rest verwandte er ältere Erzählungen mit einem z. T. noch stark abweichenden Bild des Wilden Westens, und da er diese Texte nur sehr flüchtig überarbeitete, entstand ein in manchem wenig überzeugendes Konglomerat, in dem etwa die Titelfigur außerordentlich uneinheitlich erscheint. Ferner ließen sich manche Vorbehalte gegen Mays Sprache bestätigen; eine Detailanalyse würde da wohl ebenfalls zwischen den neu geschriebenen und den älteren Partien sorgfältig differenzieren müssen.

   Daß der Roman trotzdem nicht völlig inkohärent wirkt, liegt im wesentlichen eben an seiner zentralen Funktion im Gesamt des Mayschen Wildwest-Kosmos. Ich will dieses Element unter formalem Aspekt zunächst genauer untersuchen im Hinblick auf die Laufbahn Old Shatterhands, der ja ­ in seiner Doppelrolle als Held und Ich-Erzähler ­ die im Vergleich zu Winnetou noch deutlich auffälligere Figur ist. Bernd Steinbrink hat die Karriere des Helden unter dem Begriff der Initiation zu erfassen versucht, eines Vorgangs, der in zahlreichen Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts zu beobachten, im ›Winnetou‹ aber besonders klar ausgeprägt sei: »Der Held des Abenteuerromans im Anschluß an Cooper entflieht der Gesellschaft in die Wildnis einer Traumwelt, in der ihm die Probleme der Realität in anderer Weise als Initiationsprüfungen wiederbegegnen. Indem er hier seine unbefriedigende Wirklichkeit korrigiert, die Gefahren und Leiden noch einmal in traumhaft veränderter Weise erlebt und zu einem besseren Ausgang führt, konstituiert er eine neue Persönlichkeit. Ein Initiationsprozeß vollzieht sich, der am deutlichsten ­ im Werk Karl Mays - in Old Shatterhands Weg vom ›Greenhorn‹ zum ›Westmann‹ ausgedrückt ist, aber auch in den Prüfungen, denen der erfahrene Abenteurer sich immer wieder unterziehen muß.«4 Man mag an dem Terminus Initiation in diesem Zusammenhang Kritik üben5, an der Sache selbst kann kein Zweifel bestehen: die Laufbahn zum Helden und die Bestätigung dieser Rolle vollzieht sich über eine Vielzahl von Prüfungen; in ihnen weist der Betreffende überzeugend nach, daß er klug und stark genug ist, allen Widrigkeiten zu trotzen und alle Gefahren zu meistern, daß er dauerhaft mehr zu leisten vermag, als man ihm im Blick auf seine Vergangenheit zutraute. Wenn der werdende Westmann Old Shatterhand im ersten Band mit feindlichen Indianern ebenso erfolgreich umgeht wie mit wilden Tieren, wenn er seine Kraft ebenso eindringlich und unerwartet unter Beweis stellt wie seine Fähigkeiten in der Kunst des Anschleichens, wenn er schließlich dieses Leistungsniveau im weiteren Verlauf der Ereignisse teils hält, teils noch steigert und dabei seine Be-


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gleiter immer wieder überrascht, dann haben wir es in der Tat mit der intensiven »Konstitution einer neuen Persönlichkeit [zu tun], die die Beschränkungen der alten durchbricht«.6

   In formaler Hinsicht ist an diesem Initiationsprozeß vor allem die Wiederholungsstruktur von Belang. Jedem aufmerksamen May-Leser ist ersichtlich, daß die Stärke des Autors nicht im Erfinden ständig neuer, grundlegend unterschiedlicher Ereignisse liegt; vielmehr kehren ein paar zentrale Motive - vom Belauschen der Feinde bis zum permanenten Wechsel von Flucht und Verfolgung, Gefangennahme und Befreiung - immer wieder. Seinen Reiz gewinnt das Verfahren aus der einfallsreichen Variation des Bekannten: Zwar wird ständig wiederholt, aber die Wiederholung vollzieht sich unter im einzelnen stets veränderten Umständen, und in dieser Spannung zwischen einer Bestätigung des Bekannten und dessen Modifizierung und Neugestaltung entwickelt sich überhaupt erst der literarische Kosmos Karl Mays. Der Forschung sind diese Konstellationen natürlich längst aufgefallen, und Harald Fricke hat darin jene »Central-Heizung des Ganzen«7 entdeckt, die Arno Schmidt an ganz anderer Stelle suchte. Auch die Initiation ist also diesem fundamentalen Formprinzip der Wiederholung unterworfen; um Mays Umgang damit genauer durchschauen zu können, werde ich jetzt prüfen, welche Richtung die dabei erkennbaren Variationen nehmen.

   Die ersten Initiationsleistungen bietet der künftige Held auf Anregung Mr. Henrys, seines väterlichen Freundes: Er liefert zunächst eine Probe seiner exzellenten Schießkünste und zähmt den wilden Rotschimmel eines Pferdehändlers. Henry will bei diesen Unternehmungen feststellen, ob sein Zögling sich für das Leben im Wilden Westen eignet. Es handelt sich also um Prüfungen, die einem sehr begrenzten, allein auf den nachmaligen Old Shatterhand bezogenen Zweck dienen, und entsprechend beschränkt ist der Rahmen, in dem sie ablaufen: Im ersten Fall schaut nur Henry zu, im zweiten tun dies Henry, der Pferdehändler und zwei Knechte; ferner ist zu beachten, daß es sich jeweils um wenig spektakuläre Ereignisse handelt, die eher an Schützenfest und Zirkus erinnern als an die blutigen, lebensgefährlichen Auseinandersetzungen, in die der Protagonist wenig später hineingezogen wird. In jeder Hinsicht größere Dimensionen besitzt dann schon jene Tat, mit der unser Held den ersten ernsthaften Konflikt beendet: Er schlägt dem Schurken Rattler die Faust derart heftig an die Schläfe, daß der zusammenbricht und ein Zuschauer spontan auf den Namen Shatterhand verfällt. Bei dem Streit geht es um Kontroversen innerhalb der Gruppe von Bahnvermessern, der das Ich inzwischen angehört, und sie alle sind


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Zeuge der famosen Tat: Diese Bewährungsprobe hat also schon mit einer ganzen Reihe von Personen zu tun, sie vollzieht sich vor einem erheblich größeren Publikum und ist eben auch durchaus ernsterer Natur; das bisherige ›Greenhorn‹ verläßt nun den kleinen, privaten Bereich. Seine Emanzipation setzt sich fort bei den ersten Jagden auf wilde Büffel und Pferde, die Shatterhand gemeinsam mit seinem Lehrmeister Sam Hawkens unternimmt: Zwar sind dabei nur diese beiden anwesend, aber jeweils übertrumpft der junge Westmann den alten ganz beträchtlich, einmal muß er ihm sogar das Leben retten, und so wertet diese indirekte Konfrontation zwischen Schüler und Lehrer, die eindeutig zugunsten des Schülers ausfällt, Shatterhand auf neuem Wege weiter auf.

   Die nächste Stufe wird erreicht, als Shatterhand - nun wieder ins Lager der Bahnvermesser zurückgekehrt - bei einer ähnlichen Unternehmung öffentlich und im allgemeinen Interesse handelt: Ein gefährlicher Bär ist in das Lager eingedrungen, die meisten Anwesenden flüchten, Shatterhand aber erlegt das Untier; hier wird das Motiv der Gefährdung des Menschen durch ein wildes Tier aufgegriffen, aber auf eine größere Gruppe bezogen, die auch Zeuge der heroischen Tat ist. Einige Zeit später - ich nenne jetzt nicht mehr alle einschlägigen Szenen - schließt der Zweikampf mit dem riesigen Kiowa-Krieger Blitzmesser den ersten Teil der Initiationsprüfungen ab: Old Shatterhand tritt zum tödlichen Messerduell an, um sich und seiner Partei, zu der inzwischen auch zahlreiche gefangene Apachen gehören, das Leben zu retten; das Publikum ist so vielköpfig wie nie zuvor, Weiße und Indianer sehen dem Spektakel zu. Wir können mit einem ersten Fazit feststellen, daß die Bewährungsproben konsequent an Gewicht gewonnen, sich also nicht einfach nur vermehrt haben: Die Taten des Ichs werden immer heroischer, sie finden ständig mehr Zuschauer, und ihre Folgen wiegen immer schwerer, da es um ständig ernstere Probleme geht und die Zahl der Betroffenen wächst.

   An dieser Stelle - sie ist schon nach der Hälfte des ersten Bandes erreicht ­ wäre bei einem weniger einfallsreichen Erzähler als May zu befürchten, daß er sich fortan doch in purer Repetition mit allenfalls geringen Veränderungen erschöpft: Größere Triumphe als der gegen Blitzmesser errungene scheinen kaum vorstellbar, Shatterhand steht nunmehr in allem Glanz da, eine substantielle Weiterentwicklung der Initiationsakte bezüglich ihres Ausmaßes, ihrer Ergebnisse und der Zahl der Zuschauer ist nicht zu erwarten. May findet jedoch eine Lösung, die weitere Innovationen ermöglicht und in inhaltlicher Hinsicht die Genialität Shatterhands abermals auf das eindringlichste demonstriert.


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   Exemplarisch ist da bereits das Duell mit Intschu tschuna, Winnetous Vater, bei dem man wiederum auf Leben und Tod kämpft. Im Duell mit Blitzmesser war eine höchst dramatische Zuspitzung nicht zu vermeiden: Vor diesem Kampf gab es kein Entrinnen, der junge Held mußte sich voll konzentrieren und alle List und Stärke aufwenden, um zu bestehen. Das Duell mit Intschu tschuna indessen gestaltet er anders; gleich in mehrfacher Hinsicht inszeniert er es als Spiel: in bezug auf die Voraussetzungen, in bezug auf seine eigene Rolle und in bezug auf den Verlauf des Kampfes selbst. Zu den Voraussetzungen: allen Anwesenden ist unbekannt, daß es Shatterhand war, der seinerzeit den Apachenhäuptling und seinen Sohn aus der Gefangenschaft befreite; er trägt eine Locke, die er bei dieser Gelegenheit von Winnetous Kopf abgeschnitten hat, in der Tasche, könnte sie als Beweis für seine gegenüber den Apachen freundschaftliche Gesinnung ohne weiteres vorzeigen, um sich damit den Kampf zu ersparen ­ er zeigt sie aber erst danach. Zu seiner Rolle: Shatterhand gibt sich vor Beginn des Kampfes als wasserscheuer Feigling aus, eine Finte, die den Gegner in Sicherheit wiegen soll und den späteren Triumph um so grandioser wirken läßt; der Satz Im nächsten Augenblicke aber hatte die Verstellung ein Ende8 benennt pointiert die Verwendung, der die Initiationsthematik an dieser Stelle unterliegt. Was schließlich den Verlauf des Kampfes betrifft, so sorgt der Held, nachdem er ihn eigentlich schon gewonnen hat, durch die Preisgabe seines Vorteils freiwillig für eine Zuspitzung, die ihn wiederum in Lebensgefahr bringt - er weiß, daß er auch jetzt bestehen wird.

   Was geschieht hier? Alle bisherigen Bewährungsproben, vom Kampf mit dem Rotschimmel bis zu jenem mit Blitzmesser, hat Shatterhand ganz ernst nehmen müssen, es ging buchstäblich ums Ganze; der Autor inszenierte Initiationsakte für seinen Helden, um ihn als solchen zu etablieren. Nun aber hat sich Shatterhands Position so weit gefestigt, daß er diese Aufgabe in eigener Verantwortung übernehmen kann: Er inszeniert sich die Initiationsszenen fortan selbst, steht so weit über den Dingen, daß er auf entsprechende Anlässe mit effektvollen, genau kalkulierten Einrichtungen reagieren kann. Für den avancierten Old Shatterhand handelt es sich nicht mehr um gefahrvoll-notwendige Prüfungen, sondern um Spielmaterial, mit dem er nach Belieben manipulieren kann; das Abenteuer gewinnt dadurch, wie Hans-Otto Hügel in anderem Zusammenhang dargelegt hat9, auch die Qualitäten einer Show.

   Auch damit ist der Gipfel noch nicht erreicht. Es gibt eine weitere Steigerungsmöglichkeit: Sie hängt ab vom Ruf und Bekanntheitsgrad


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des Helden. Die im ersten ›Winnetou‹-Band geschilderten Taten tragen ihm in der Folge ein breites öffentliches Echo ein, das weit über den Kreis persönlicher Bekanntschaften hinausreicht. Wann immer das Genie künftig als Old Shatterhand auftritt, spielt es eine wichtige Rolle, daß jedermann von ihm gehört hat und seine Fähigkeiten - je nach dem Stand der eigenen Tugend ­ bewundert oder fürchtet. Initiationsszenen gedeihen unter diesen Umständen am besten, wenn Shatterhand sich verleugnet und ein Pseudonym wählt. In den Bänden II und III gibt er sich vor anderen Westmännern wiederholt als das Greenhorn aus, das er längst nicht mehr ist, und verschafft sich dadurch die Gelegenheit, Initiationsakte unterschiedlicher Beschaffenheit zu simulieren: sei es, daß er den berühmten Scout Old Death tagelang als scheinbar blutiger Anfänger begleitet, der jedoch das ABC des Wilden Westens überraschend schnell lernt, sei es, daß er einen gewiß nicht inkompetenten Gefährten durch sensationell präzises Spurenlesen verwirrt. Mit der Tarnkappe10 verschafft sich der Held ständig neu die Möglichkeit, durch das Bestehen vermeintlicher Initiationsprüfungen seine wirklichen Qualitäten nachzuweisen; aus dieser Doppelbödigkeit resultiert der Rang der späteren Taten. Indem Shatterhand scheinbar immer wieder vom Punkt Null ausgeht und dabei ungeheuer weit gelangt, bestätigt er um so eindringlicher, wo er tatsächlich steht. Daß er bei anderen Gelegenheiten ohne solche Verstellungen reüssiert, versteht sich von selbst.

   Die doppelbödige Inszenierung heroischer Taten ist adäquat auch im Hinblick auf einen Sachverhalt, der bisher nicht zur Sprache kam: Auch schon die ersten, ›echten‹ Initiationsprüfungen - von der Schießprobe vor Mr. Henry bis zum Kampf mit Blitzmesser ­ erscheinen merkwürdig zwiespältig. Schaut man sich diese Szenen nämlich genauer an, so ergibt sich häufig ein erstaunlicher Befund: Der werdende Westmann kann eigentlich immer schon das, von dem man annehmen möchte, daß er es erst lernen muß. Die Schießprüfung besteht er so glänzend, weil er daheim schon viel und gut geschossen (hat)11; den Rotschimmel, den bisher niemand gezähmt hat, zähmt das Greenhorn, das über einschlägige Erfahrungen mit einem halb wilden, ungarischen Pußtenhengst12 verfügt; beim ersten Faustschlag ist bereits eine schier unglaubliche Kraft und Treffsicherheit am Werke; bei der ersten Begegnung mit wilden Tieren übertrifft das Greenhorn seinen Lehrmeister so weit, daß der sich schämen muß; im ersten Duell auf Leben und Tod agiert Shatterhand so kaltblütig und souverän, als sei's für ihn bereits Routine. Ähnliches gilt für manch andere Initiationsszene des Romans: Old Shatterhand beweist mit seiner raschen Karriere vom


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Greenhorn zum omnipotenten Westmann weniger, daß er schnell zu lernen imstande ist, als daß er ­ sei es aufgrund früherer Erfahrungen, sei es ob angeborener Begabung ­ von vornherein über die erforderlichen Fähigkeiten verfügt und sie im geeigneten Moment anzuwenden weiß. Die Initiation betrifft in diesem Fall nicht einen wirklichen, radikalen Entwicklungsprozeß, sondern das unter veränderten äußeren Bedingungen vollzogene Sichtbar-Werden von etwas, das im wesentlichen schon da ist. Ganz entfernt mag man hier an die Gedanken Platons in ›Phaidon‹ denken, nach denen das Lernen nichts anderes als ein Wieder-Erinnern, eine Rückbesinnung auf Gegebenes, aber Verschüttetes ist13; auch unser Held ›lernt‹ ja nur, indem er Fähigkeiten anwendet, die er zum großen Teil insgeheim schon besitzt.

   ›Echt‹ sind die ersten Initiationszenen zweifellos ­ aber eben auch zwiespältig. Für unsere Überlegungen ist nun entscheidend, daß die späteren - inszenierten, gespielten, simulierten ­ Initiationsszenen diese Zwiespältigkeit aufgreifen und expressis verbis formulieren. Der auffällige Kontrast, der Shatterhands Auftreten bis etwa zur Blitzmesser-Szene auszeichnet: ein von sich selbst und anderen als Greenhorn, als blutiger Anfänger apostrophierter junger Mann, der aber stets viel mehr leistet, als von einem Greenhorn zu erwarten ist ­ dieser Kontrast also wird später von Old Shatterhand bewußt reproduziert, gleichsam auf den Begriff gebracht: Der Held setzt im Versteckspiel um seinen Namen gezielt jenen Widerspruch zwischen prätendierter Inkompetenz und faktisch vorhandener Leistungsstärke ein, aus dem sich zuvor sein Ansehen erst entwickelt, sein berühmter Name ergeben hat. In ihrer Struktur gleichen sich die ersten und die späteren Initiationsszenen; aber während sich der Heroismus Shatterhands zunächst wesentlich darin zeigt, daß das mutmaßliche und das latent vorhandene Können weit auseinanderklaffen, bestätigt und steigert er sich späterhin dadurch, daß Shatterhand diese Paradoxie ausdrücklich zum Gegenstand seines Auftretens macht, daß sie also nicht mehr dieses Auftreten ganz unmittelbar prägt: Die scheinhafte Komponente der Initiationsszenen wird auf eine neue Ebene übertragen. Man kann es auch so formulieren: der Held emanzipiert sich vom Autor; was dieser zunächst zur Kennzeichnung der Figur einsetzt, setzt die Figur dann im Umgang mit anderen ein.

   Ich bin ausgegangen von der These, die Entwicklung des Helden sei zu verstehen als ein Initiationsprozeß, der durch stetige Wiederholungen intensiviert und beglaubigt wird. Die genauere Durchleuchtung dieser Wiederholungen hat nun unversehens zu Einsichten über das geführt, was das Werk ­ soweit es sich mit dem Rückgriff auf die Karriere


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seines obersten Helden bestimmen läßt ­ im Innersten zusammenhält: Die Wiederholungen erscheinen nicht als additive Reihung und auch nicht als mehr oder weniger beliebiges Miteinander aus Repetition und Variation, das mal in diese, mal in jene Richtung führte. Wir haben es vielmehr mit konsequent und systematisch ausgearbeiteten Veränderungen zu tun, mit einer gleich in mehrfacher Hinsicht nach bestimmten Regeln gestalteten Fortentwicklung, in die überdies noch die fundamentale Widersprüchlichkeit des anfänglichen ›Greenhorns‹ als konstitutives Element eingezeichnet ist. Am Anfang steht der scheinbar harmlose Hauslehrer in St. Louis, am Ende der geradezu mythische Held: Der Weg vom einen zum anderen führt über eine Vielzahl von Wiederholungen, von denen nahezu eine jede dem bisherigen Bild nach festen Prinzipien etwas Neues hinzufügt.

   Während das Initiationsmotiv schon durch die Extensität seines Vorkommens ein gewisses kompositorisches Gewicht erhält, gibt es auch einige Stoffelemente des Romans, die jeweils nur wenige Male auftauchen und in diesem quantitativ begrenzteren Rahmen für den Zusammenhalt der verschiedenen Teile sorgen. Im ersten Band erleichtert der bei den Apachen gefangene Held seine Lage durch einen kleinen Flirt mit Winnetous Schwester, im dritten halten ihn die Kiowas fest, und wiederum hilft ihm der freundliche Umgang mit einem Mädchen weiter; die Verwandten der beiden Indianerinnen spielen jeweils mit dem Gedanken, eine Ehe in die Wege zu leiten, stoßen damit aber bei Shatterhand nicht auf Wohlwollen. Sowohl in Band I als auch in Band II verbünden sich die Westmannsgruppen vorübergehend mit Indianerstämmen, die den Apachen feindlich gesonnen sind, obwohl die Westmänner es eigentlich eher mit Winnetous Leuten halten. Klekih-petra im ersten und Old Death im zweiten Band leiden an ihrer Vergangenheit, kämpfen mit Schuldgefühlen und versuchen, durch ihr gegenwärtiges Tun einiges wiedergutzumachen; beide sterben an einer Kugel, die eigentlich nicht ihnen gilt. Old Death sucht zudem ganz konkret nach seinem Bruder, dem er vor Jahren schweren Schaden zugefügt hat; ein ähnliches Bemühen kehrt bei anderen Figuren wieder, aber in zweifacher Verschiebung: In Band II suchen Winnetou und Old Firehand einen Mann, der ihnen Böses angetan hat, in Band III tut Sans-ear desgleichen; und jetzt geht es um die umgekehrte Form der Wiedergutmachung, um Rache und Strafe. Im übrigen strukturiert die Jagd nach einem anderen Schurken, Santer, den gesamten Roman. Im ersten Band wird die Trasse einer Eisenbahnlinie vermessen, später werden mehrfach - an anderen Stellen ­ Züge überfallen.

   Das Beispiel der Eisenbahn deutet an, daß wir es auch in diesen Fäl-


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len nicht mit schlichter Repetition oder zufälliger Veränderung zu tun haben, sondern mit systematischer Entwicklung: Es entspricht ja der Chronologie der Karriere Old Shatterhands, wenn bei seinem ersten Auftreten im Wilden Westen die im Motiv Eisenbahn exemplarisch sichtbare Zivilisation noch erheblich weniger weit fortgeschritten ist als bei seinem um viele Jahre späteren; daher eben zunächst die Vermessung einer Bahnlinie, während dann der funktionierende Schienenverkehr den Ausgangspunkt bildet. Ich will den Sinn solcher Doppelungen noch an einem anderen Beispiel erläutern, das teilweise schon erwähnt wurde: an der Beziehung zwischen Old Shatterhand und Nscho-tschi; zu der gibt es nicht nur im dritten Band, sondern auch schon in der unmittelbaren zeitlichen Nachbarschaft des ersten ein Pendant: Kaum hat sich nämlich herausgestellt, daß Nscho-tschi Shatterhand liebt, da erlebt auch Sam Hawkens den Beginn einer solchen Liaison, in diesem Fall heißt die Dame Kliuna-ai.

   Der Text legt es deutlich darauf an, die Verbindungslinien erkennbar zu machen: In beiden Fällen spielen Kleidungsstücke, die die Frauen für die Männer anfertigen, eine wichtige Rolle; eine Seite nach der Feststellung Sam als Ehemann war einfach undenkbar14 betont der Erzähler/Held, daß sein Lebensplan eine Verheiratung ( . . . ) aus(schloß)15; als Intschu tschuna vor Old Shatterhand gezielt die Rede auf Verbindungen zwischen Weißen und Indianerinnen16 bringt, knüpft er ausdrücklich an Sams Abenteuer an. Ferner bleibt beiden Liebesbeziehungen die Erfüllung versagt.

   Diese Formulierung stellt im Falle Nscho-tschis natürlich einen geradezu zynischen Euphemismus dar. Während das Ende von Sams Affäre ausgesprochen groteske Züge trägt ­ die versehentlich vom Kopf entfernte Perücke des Westmanns sorgt hier für klare Verhältnisse -, wird Winnetous Schwester gemeinsam mit ihrem Vater ermordet; als Hawkens und Kliuna-ai nichts mehr miteinander zu tun haben, ist niemand darüber traurig, auch Sam selbst nicht, wohingegen es sich im anderen Fall um eines der tragischsten Vorkommnisse in Mays Romanen überhaupt handelt. Gerade aus dieser Diskrepanz resultiert nun aber die Funktion der motivischen Parallelität. Die abenteuerliche Welt, in der man eine neue Persönlichkeit konstitutieren kann und die überhaupt die Utopie eines besseren, freieren Lebens verheißt, ist nichts, zu dem sich auf Dauer vorrangig Tragik und intensives Leid assoziieren ließen. May muß zwar entsprechende Ereignisse gelegentlich schildern, um die Gefahren wildwestlicher Abenteuer drastisch vor Augen zu führen, muß dann aber auch wieder darüber hinwegkommen. Unter diesem Aspekt hat die komische Liebesgeschichte des Sam Hawkens


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die Aufgabe, das sich anbahnende traurige Geschehen um Nscho-tschi von vornherein zu relativieren: Wenn zu diesem eine eher spaßhafte Parallelhandlung gefügt wird, bleibt zwar die Ernsthaftigkeit des einen Ereignisstrangs erhalten, aber sie wird durch die Analogie abgefangen und gemildert, gleichsam abgefedert. Die Affekte des Lesers können sich bei dem Thema unglücklicher Liebe nicht ausschließlich auf die tragische Seite orientieren, andersartige Geschehnisse schaffen ein Gegengewicht. Zwar findet Nscho-tschis Ermordung erst lange nach dem Abschluß der zweiten Liaison statt, aber das ändert nichts an der Funktion dieser Analogie: Strukturell und wohl auch in der Erinnerung mancher Leser stehen das eine und das andere Ereignis wenigstens teilweise nebeneinander und relativieren einander; daß die Ehe mit Old Shatterhand nicht zustandekommen kann, hat sich im übrigen ja auch schon lange vorher aus den eben zitierten Reflexionen des Weißen ergeben. Abermals haben wir es mit der Wiederholung eines bestimmten stofflichen Teilelements zu tun; und abermals wird in und mit der Wiederholung eine Änderung sichtbar, deren konkrete Ausformung von Belang für das Gesamt des Werkes ist.

   Bei allen bisher besprochenen Beispielen hatten wir es mit Stellen zu tun, die auf der gleichen Ebene des Romans angesiedelt sind: Es ging um die vermeintlich realen Erlebnisse und Abenteuer des Erzähler/ Helden. Nun hat May seinem Roman außer einem Nachwort, das uns hier nicht zu interessieren braucht, auch noch ein Vorwort beigegeben, in dem er abstrahierend mitteilt, unter welchen Voraussetzungen und zu welchem Zweck er das Folgende geschrieben haben will. Wir müssen mithin im ›Winnetou‹ zwei ­ wie der dubios klingende Fachbegriff lautet ­ Textsorten unterscheiden: die theoretisch orientierte Einleitung und den eigentlichen Erzähltext. Das Verhältnis zwischen beiden wird gleichfalls durch die Verfahren der Repetition und Wiederholung bestlmmt.

   Mays sechsseitige Einleitung enthält im wesentlichen eine Klage über den unvermeidlichen Untergang der Indianer, Hinweise zu den näheren Umständen dieses Prozesses und schließlich die Erklärung der Erzähler, ausgewiesen durch umfangreiche eigene Erfahrungen wolle den Roten in der Gestalt ihres großen Vertreters Winnetou ein literarisches Denkmal setzen. Vieles von dem, was in diesem Zusammenhang ­ oft nur mit einer kurzen Bemerkung ­ angeführt wird greift der Roman später auf.

   Das schleichende Gift des ›Feuerwassers‹17 sei, so heißt es in der Einleitung, eine der wichtigsten Ursachen für die indianische Katastrophe. Der Roman demonstriert dies mehrfach auf das anschaulichste: z. B.


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sind die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Kiowas und den Apachen von Weißen angezettelt worden, die den Kiowas Waren und Brandy18 versprachen; eine in der Darstellung gründlicher ausgeführte und individuelle Variante zu diesem kollektiven Geschehen bildet - mit überdies ein wenig vertauschten Rollen - der Schuß, durch den der betrunkene Rattler Klekih-petra tötet. In diesen Fällen korrespondieren Einleitung und Romangeschehen weitgehend über eine wechselseitige Bestätigung. So ist es aber nicht immer. In der Einleitung beklagt May die Ausrottung der wilden Mustang- und Büffelherden, mit der man den Indianern die Existenzgrundlage entziehe; es fügt sich etwas merkwürdig dazu, daß später auch Shatterhand dem Jagdfieber gegenüber diesen Tieren frönt, doch handelt es sich bei ihm natürlich nicht um die Beteiligung an einer massenhaften Tötung. Noch auffälliger ist es im Lichte des Folgenden, daß die Einleitung den skrupellosen Landraub an den Indianern attackiert: Der Rote mußte weichen, Schritt um Schritt, immer weiter zurück. ( . . . ) Man ›kaufte‹ ihm das Land ab, bezahlte ihn aber entweder gar nicht oder mit wertlosen Tauschwaren, welche er nicht gebrauchen konnte.19 Das klingt wie eine für den Helden peinliche Zusammenfassung der Ereignisse zu Beginn des Romans: Auf nichts anderes als eine Vertreibung der Indianer zielt ja die Tätigkeit der Bahnvermesser, mit denen Old Shatterhand im Wilden Westen arbeitet, und von Bezahlung des Landes ist dabei nicht die Rede. Die ersten Kapitel bestätigen also Mays einleitende Diagnose über das Elend der Indianer, zeigen ihren Helden aber noch auf der ›falschen‹ Seite und führen damit zu einer Situation, in der er sich vor den Anklagen der Apachen innerlich beschämt20 fühlt; die Konversion ins Lager der Indianer erscheint dann um so gewichtiger und bestätigt um so eindringlicher die Worte der Einleitung.

   Der Roman schlägt also aus den abstrakten und generalisierenden Vorbemerkungen Kapital: Er übersetzt einige Gedanken aus dem Stadium propädeutischer Rhetorik in Handlung, er macht aus dem Räsonnement Aktionen. Das geschieht teilweise mittels schlichter Bestätigung und Illustration, wie beim Beispiel des Alkohols, teilweise aber auch auf kleineren und größeren Umwegen, bei denen sich die Einheitlichkeit des Urteils erst nach und nach erschließt. Das Prinzip der Wiederholung beherrscht auch hier das Feld, und wiederum handelt es sich nicht um Repetitionen im plansten Sinne.

   Es ist jetzt möglich, ein umfangreicheres Fazit zu formulieren. Bekanntlich hat sich die Kritik an Mays Romanen gerade auf den exzessiven Gebrauch von Wiederholungen immer wieder berufen; Arno Schmidt hat gleich sämtliche Abenteuerromane vor dem Spätwerk


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auch unter diesem Aspekt verworfen: »wer ( . . . ) zwei kennt, kennt alle«.21 Harald Frickes Ehrenrettung der Wiederholungsstruktur dagegen stützte sich ganz überwiegend auf die Radikalität ihres Auftretens und machte insofern lediglich aus der vermeintlichen Not des Erzählers eine Tugend: May biete nicht einfach Wiederholungen, sondern »Wiederholungen, Wiederholungen und nochmals Wiederholungen«.22 In der Tat darf der Verweis auf das Mittel der Repetition an sich kein Anlaß sein, literarische Werke von vornherein gering zu achten. Wir kennen z. B. mit dem Minnesang des Mittelalters eine ganze Gattung, deren stoffliche Substanz sich ohne unzulässige Vergröberung in wenigen Sätzen umreißen ließe; die unbestrittene Qualität dieser Dichtungen resultiert aus ständig neuen Ergänzungen der Substanz, aus perspektivischen Verschiebungen, Akzentverlagerungen usw.

   Nicht anders steht es mit dem ›Winnetou‹. Es gibt darin kaum ein Teilstück, das nicht derartige Korrespondenzen zu anderen Teilstücken aufwiese, handle es sich nun um einmalige oder vielfache Repetitionen. Was sich indessen zusätzlich ergibt, ist die progredierende Systematik: Es wird unter Verwendung des Wiederholungsprinzips jeweils ein einzelner, für das gesamte Werk in irgendeiner Hinsicht wichtiger Gesichtspunkt neu hinzugefügt und hervorgehoben oder gar ein umfangreicher Entwicklungsprozeß gestaltet, der den Gang des Romans zugleich bestimmt und spiegelt (zumindest, diese Einschränkung muß man machen, gilt das für einen beträchtlichen Teil der Wiederholungselemente). Man könnte, wenn man die vielen Wiederholungen entdeckt, zunächst befürchten, die einzelnen Stellen verlören unter solchen Umständen an Gewicht, sie würden von der Masse der Repetitionen erdrückt. Indessen verhält es sich genau umgekehrt: Durch die spezifischen Differenzen zu den korrespondierenden Stellen, durch den jeweils besonderen Ort ihres Auftretens gewinnen sie erst recht Konturen und grenzen sich von der Nachbarschaft ab. Mays Werk erhebt sich weit über jene kumulative Struktur, die man der Trivialliteratur gemeinhin nachsagt, über jene Aneinanderreihung einzelner Teile nach dem alleinigen Prinzip der Addition statt nach den Gesetzen der Verschränkung, Kohärenz und Integration. Sich dies noch einmal zu verdeutlichen, bedarf es nur eines kleinen Gedankenspiels: Könnten beispielsweise die Initiationsszenen des ersten und zweiten Bandes in umgekehrter Reihenfolge auftreten? Sie könnten es natürlich nicht, das Ergebnis wäre unsinnig, und so zeigt sich hinreichend deutlich die Präzision, mit der May die einzelnen Elemente aufeinander folgen läßt und miteinander verknüpft.

   Die bisherigen Beispiele aus dem ›Winnetou‹ waren nun aber alle-


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samt großflächiger Art; sie bezogen sich auf Textstellen, die entweder sehr umfangreich sind oder mehr oder weniger weit auseinander liegen. Entsprechend der auch in Frickes Untersuchung bestätigten Erfahrung, daß sich die Eigenheiten solcher Makrostrukturen zumeist in den Mikrostrukturen des betreffenden Werkes wiederfinden lassen, befasse ich mich jetzt noch mit einem eng begrenzten Textauszug und frage, ob sich die Einsichten in das Gesamt dabei bestätigen lassen. Die gewählte Stelle, gewiß eine der bekanntesten des Romans, findet sich zu Beginn des ersten Kapitels im ersten Band: Es handelt sich um Mays Erläuterungen zum Wesen eines Greenhorns.23

   Ein Greenhorn, so stellt der Erzähler zunächst fest, ist ein Mensch, der neu und unerfahren im Lande ist und seine Fühlhörner behutsam ausstrecken muß, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen will, ausgelacht zu werden. Der Definition folgt die nähere Erläuterung anhand von zahlreichen Beispielen, die sich über nahezu zwei Seiten erstrecken und allesamt nach demselben Schema gebaut sind. Ungefähr in der Mitte dieser Passage heißt es etwa: Ein Greenhorn notiert sich achthundert Indianerausdrücke, und wenn er dem ersten Roten begegnet, so bemerkt er, daß er diese Notizen im letzten Couverte nach Hause geschickt und dafür den Brief aufgehoben hat. Ein Greenhorn kauft Schießpulver, und wenn er den ersten Schuß thun will, erkennt er, daß man ihm gemahlene Holzkohle gegeben hat; usw. Der Absatz schließt mit der Versicherung, auch der Protagonist sei bei seiner Ankunft in Amerika ein solches Greenhorn gewesen.

   Es werden hier also die unterschiedlichsten Situationen genannt, in denen sich das Greenhorn als solches erweist, und manch ein Leser mag das Ganze bei wohlwollender Betrachtung für ein amüsantes, der Ordnung jedoch gänzlich entbehrendes Gebilde halten. Doch der Schein trügt. Zunächst einmal wirken die angeführten Beispiele zunehmend absurder. Die erste Erläuterung bezieht sich auf einen männlichen Menschen, welcher nicht von seinem Stuhle aufsteht, wenn eine Lady sich auf denselben setzen will: das klingt noch durchaus moderat. Die vorhin zitierten Sätze über den vertauschten Brief und die für Pulver ausgegebene Holzkohle nähern sich dagegen schon bedenklich der Albernheit oder ­ freundlicher gesagt ­ dem Bereich des Grotesken, und der letzte Satz führt vollends in den ­ vielleicht nicht einmal höheren ­ Blödsinn: Ein Greenhorn macht im wilden Westen ein so starkes Lagerfeuer, daß es baumhoch emporlodert, und wundert sich dann, wenn er von den Indianern entdeckt und erschossen worden ist, darüber, daß sie ihn haben finden können. An der Steigerung der Absurdität kann also kein Zweifel bestehen - aber auch daran nicht, daß dies


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genau dem folgenden Hinweis entspricht, das Ich des Romans sei seinerzeit selbst ein solches Greenhorn gewesen: Wir haben ja in anderem Zusammenhang gesehen, daß sein Greenhorn-Charakter ausgesprochen widersprüchliche, absurde Züge trägt. Durch den zunehmenden Aberwitz seiner Exempel relativiert der Erzähler die Ernsthaftigkeit seiner Erläuterungen; adäquat erscheint dieses Verfahren, wenn man bedenkt, daß auch die anschließende Feststellung über den jungen Helden einer raschen Relativierung durch den Gang der Handlung ausgesetzt ist. Unter diesem Aspekt machen Aufbau und Abfolge der Greenhorn-Beispiele präzisere Aussagen als das, was der Erzähler danach über seinen Ich-Helden ausdrücklich formuliert.

   Beachtenswert ist ferner der räumliche Bezug der Ausführungen. Der zitierte Satz über die Lady, zu deren Gunsten man aufzustehen habe, läßt keineswegs primär an Wildwestszenen denken, sondern an die Verhältnisse in den zivilisierten Territorien Europas und des Ostens der USA: May führt hier lediglich eine weitverbreitete Regel des guten Benehmens an. Wenn dann etwas später davon die Rede ist, ein richtiger Yankee würde einen rabiaten Kontrahenten einfach niederschießen, statt, wie das Greenhorn, den Friedensrichter zu bemühen, so gilt dieses Exempel schon den etwas rauheren, abenteuerlichen Randgebieten des Wilden Westens, nicht aber diesem selbst, denn dort gibt es - Mays Schilderungen zufolge - keine Friedensrichter. Ein späterer Satz spricht von den überflüssigen Gegenständen, die das Greenhorn in die Prairie (schleppt), führt also endgültig über die Grenzen des zivilisierten Territoriums. Die Begegnung mit den Indianern, bei der das Greenhorn seine sprachlichen Defizite entdeckt, ist dann ohne Zweifel in der Wildnis anzusiedeln, und der zitierte letzte Satz über die tödliche Begegnung mit Roten spricht sogar explizit vom Lagerfeuer im wilden Westen. Mays Erläuterungen, was ein Greenhorn tue und lasse, vollziehen sich also im Rahmen einer räumlichen Veränderung: Sie führt aus den domestizierten, eher friedlichen Regionen in die nordamerikanische Wildnis.

   Eben dies ist auch die Reisebewegung, auf der uns wenig später der werdende Old Shatterhand begegnet: Er kommt aus Deutschland, weilt zunächst als Hauslehrer in St. Louis - wo er gewiß des öfteren Gelegenheit hat, vor einer Lady aufzustehen - und zieht dann immer tiefer in den Wilden Westen. So wie sich in vielen Abenteuern des ›Winnetou‹ das in Aktionen entlädt, was May in der Einleitung abstrahierend dargelegt hat, so kehrt im Reiseweg des vermeintlichen Greenhorns wieder, was May bei der Erläuterung des Begriffs Greenhorn anführt. Andersherum gesehen: in der Mikrostruktur der Greenhorn-Be-


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stimmung auf der theoretischen Ebene deutet sich die Makrostruktur der intensiv an Raumwechsel gebundenen Karriere Old Shatterhands an.

   Es gibt in diesem Absatz noch einige weitere beachtenswerte Besonderheiten. Kurz vor seinem Ende lesen wir: Ein Greenhorn hat zehn Jahre lang Astronomie studiert, kann aber ebenso lang den gestirnten Himmel angucken, ohne zu wissen, wie viel Uhr es ist. Hier scheint das Prinzip durchbrochen: Sternkundliches Wissen, so mag man denken, habe mit wildwestlichen Spezifika nichts zu tun, die Bemerkung gehöre eigentlich an den Anfang. Wer Mays Exotik aber genauer kennt, weiß, daß das ein Irrtum ist: Bei diversen nächtlichen Abenteuern bringt es dem Helden große Vorteile, daß er in den Sternen lesen und danach berechnen kann, wie spät es ist und in welche Richtung er sich bewegt. Das Exempel Astronomie fällt also nur scheinbar aus dem Rahmen; bei genauer Betrachtung verweist es sogar in besonders subtiler Weise auf bestimmte Aspekte des wildwestlichen Lebens. Dieses Beispiel und auch das von den schriftlich festgehaltenen Indianerausdrücken sowie einige andere signalisieren en passant einen weiteren Umstand: Zwischen der Bewährung in der Wildnis und den Kenntnissen und Fähigkeiten, die ein Mann wie Shatterhand in der Zivilisation erwirbt, besteht ein enger, kausaler Zusammenhang; hier wird auf die Verbindung zwischen Exotik und alter Heimat angespielt, die ein Fixpunkt in Mays Konstruktion abenteuerlicher Welten ist. Zu nennen wäre ferner der Betrug, mit welchem dem Greenhorn Holzkohle als Schießpulver verkauft wird: Daß Mays Romane zu großen Teilen von Verbrechen und ihren Folgen handeln, wird hier in karikaturistischer Form vorweggenommen. Zudem korrespondiert der Satz, indem er von unredlichen Manipulationen bei einem Verkauf redet, sehr präzise mit Bemerkungen in der Einleitung24, und daß es ums Schießen geht, verweist voraus auf die erste Initiationsprüfung Old Shatterhands; indessen beziehen sich die entsprechenden Sätze der Einleitung auf betrogene Indianer, die Schießprobe des Helden demonstriert statt der Arglosigkeit unerwartete Kompetenz, und so tauchen in diesen Verbindungen auch gleich wieder die Verfahren der perspektivischen Verzerrung und des Widerspruchs auf, die wir bereits kennen.

   Aus alldem ergibt sich: May hat auch in der kurzen Passage über die Greenhorns ein außerordentlich dichtes Netz von Verbindungslinien geflochten. Vordergründig gesehen, handelt es sich nur um die mehrfache Wiederholung von Szenen, die beispielhaft das Verhalten solcher Neulinge zeigen; bei genauerer Analyse stellt sich indessen heraus, daß auch diese Wiederholungen im mikrostrukturellen Rahmen einen über


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die additive Reihung des Immergleichen weit hinausgreifenden Sinn haben, und zwar in mehr als einer Hinsicht. So findet sich im kleinen wieder, was sich vorher im großen beobachten ließ, und es zeigt sich abermals, daß der Schriftsteller Karl May auch unter formalem Aspekt sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen braucht.



1 Ernst Bloch, Die Silberbüchse Winnetous, in: Karl May, hg. v. Helmut Schmiedt, Frankfurt a. M. 1983, 28f.

2 Wieder abgedruckt ebd. 75 - 100

3 Vgl. z. B. Harald Fricke, Karl May und die literarische Romantik, in: Jb-KMG 1981, 11 - 35, bes. 26ff. In etwas ausführlicherer Form finden sich die für meine Überlegungen relevanten Passagen bei H. F., Wie trivial sind Wiederholungen? Probleme der Gattungszugehörigkeit von Karl Mays Reiseerzählungen, in: Erzählgattungen der Trivialliteratur, hg. v. Zdenko Škreb und Uwe Baur, Innsbruck 1984, 125-48 bes. 136ff.

4 Bernd Steinbrink, Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Studien zu einer vernachlässigten Gattung, Tübingen 1983, 18. Vgl. auch Gunter G. Sehm, Der Erwählte. Die Erzählstrukturen in Karl Mays ›Winnetou‹-Trilogie. in: Jb-KMG 1976, 9-28

5 Vgl. z. B. Jürgen Jacobs, Old Shatterhand als Ideal-lch. Bernd Steinbrinks Studie über Abenteuerliteratur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8.4.1983, 26

6 Bernd Steinbrink, Initiation und Freiheit. Karl May und die Tradition des Abenteuerromans, in: Karl May (wie Anm. 1), 261f.

7 H. Fricke, Wiederholungen (wie Anm. 3), 140

8 VII, 358

9 Vgl. Hans-Otto Hügel, Das inszenierte Abenteuer, in: Marbacher Magazin 21/1982, 10-32, bes. 15ff.

10 Vgl. dazu auch Manfred Karnicks Untersuchung zum »Heldentypus der verdeckten Überlegenheit bei Homer, Karl May und Schiller«, in: M. K., Rollenspiel und Welttheater. Untersuchungen an Dramen Caldérons, Schillers, Strindbergs, Becketts und Brechts, München 1980 (Zitat 25)

11 Vll, 20

12 Ebd. 23

13 Ein ähnlicher Hinweis findet sich bei Arno Schmidt in bezug auf eine Passage in ›Ardistan und Dschinnistan‹ in: Abu Kitai. Vom neuen Großmystiker, in: Karl May (wie Anm. 1), 46

14 Vll, 450

15 Ebd. 451

16 Ebd. 450

17 Ebd. 3

18 Ebd. 189

19 Ebd. 3

20 Ebd. 114

21 A. Schmidt, Abu Kital (wie Anm. 13), 53

22 H. Fricke, Wiederholungen (wie Anm. 3), 141

23 Vll, 7f.

24 Vll, 4: Und werden einem Stamme einmal hundert ›extra fette‹ Ochsen zugesprochen, so haben diese sich unterwegs in zwei oder drei alte, abgemagerte Kühe verwandelt, von welchen kaum ein Aasgeier einen Bissen herunterreißen kann. Auch die vorhin zitierte Äußerung über den betrügerischen Landraub gehört hierher.




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