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HEINZ STOLTE


Vor fünfzig Jahren
Zeitgenössische Stimmen zum ›Volksschriftsteller‹



Man schrieb den 25. Februar 1936, und dies war der 94. Geburtstag Karl Mays. Kein Grund zum besonderen Feiern nach unseren üblichen Regeln für Jubiläen und Gedenktage. Aber für mich wurde dieser Tag doch zu einem der wichtigsten meines Lebens, der weithin über meine Zukunft entscheiden würde. Denn der Zufall oder ein mysteriöses Schicksal hatte es so gefügt, daß ich ausgerechnet am Geburtstage Karl Mays vor der Prüfungskommission der Philosophischen Fakultät der Universität Jena zur Ablegung meiner mündlichen Prüfung zu erscheinen hatte. Nun, ich nahm es als ein nicht schlechtes Omen für das, was da nun auf mich zukommen würde, und absolvierte denn auch die hochnotpeinliche Befragung in Germanistik, Volkskunde, Philosophie und Kirchengeschichte mit dem Ergebnis, daß ich die Hallen der Alma Mater als der erste Karl-May-Doktor verließ. Meine Kommilitonen, die mich gespannt erwartet hatten, erklärten mir noch dazu, ich hätte wohl auch eine Art Rekord erlangt, indem ich doch mit noch 21 Jahren vermutlich der jüngste deutsche Dr. phil. geworden sei. Also nun doch ein Tag zum Feiern!

   Wenige Zeit später wurde ich dann maßlos überrascht von dem, was da auf mich zukam: es rauschte gar gewaltig im Blätterwald der Presse, und wochenlang verging kein Tag, daß mir nicht Zeitungsnotizen über das offenbar erstaunliche Phänomen einer Dissertation (man denke!) zum Thema Karl May zugeschickt wurden, und besonders nach dem Erscheinen der Arbeit im Radebeuler Karl-May-Verlag schwoll das journalistische Echo noch an, während ich selber schon längst tief ins Studium der mittelhochdeutschen Tristanepen verstrickt war.

   Nun ist dies alles ein rundes halbes Jahrhundert her. Aber der Kalenderzettel, der mir dieser Tage den 25. Februar 1986 anzeigte, hat mich plötzlich darauf gebracht, daß dieses wohl so etwas wie ein Jubiläum wäre. Es hat mich veranlaßt, aus den Tiefen des Kellers ein uralt-verstaubtes Konvolut ans Licht zu befördern, in dem ich dazumal die mir zugegangenen Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte abgeheftet hatte. Vergilbte Blätter, zerfallend fast schon und streckenweis kaum



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noch leserlich. Ich zählte einmal durch: es sind 124 Pressenotizen bzw. Aufsatztexte, die ich da gesammelt hatte. Manches davon wiederholt sich verständlicherweise im Inhalt, aber einige dieser »Stimmen aus der Vergangenheit« scheinen es mir doch wert zu sein, nicht ganz dem Raub der Zeiten überlassen zu werden. Zumal kürzlich Günter Scholdt in seinem Aufsatz ›Hitler, Karl May und die Emigranten‹ (Jb-KMG 1984 S. 60-91) auch die mit meiner Dissertation zusammenhängenden Diskussionen von damals berührt hat.

   So habe ich denn hier sechs dieser Texte ausgewählt, die ich für noch heute lesenswert oder für interessante historische Dokumente halte. Die ersten beiden davon sind dem jungen Karl-May-Doktor wohlgesonnen und haben die Sache mit gutem Humor verkraftet: das ›Mosaik der Woche‹ von Peter Bamm (der besonders nach dem Kriege als Schriftsteller berühmt wurde) und ›Old Shatterhand unter dem Doktorhut‹ von Walter Kiaulehn (einem der bekanntesten Feuilletonisten auch noch in der Nachkriegszeit). In den drei folgenden Beiträgen dokumentiere ich die Stimmen der Gegner, damit auch diese Seite zu ihrem gebührenden Recht komme: Wilhelm Fronemanns, des altbekannten May-Gegners, Aufsatz ›Was ist Volksliteratur?‹, das mit »Salander« pseudonym gezeichnete ›A propos‹ der Basler ›National-Zeitung‹ (ein Beispiel freilich auch, wie man über ein Buch schreibt, das man gar nicht gelesen hat!) und ›Karl May‹ von G. Jetmar aus der ›Prager Presse‹ (eine Stimme aus der Emigration). Schließlich folgt ein Auszug aus einem Vortrag von Prof. Victor von Geramb, Graz, ›Zu den volkskundlichen Grundfragen‹ (ein Urteil der Fachwissenschaft).



I. PETER BAMM: Mosaik der Woche


Wenn in einer Gesellschaft der Name Beethoven fällt, so kann man immer beobachten, wie einige Leute alsbald in einen Zustand gewissermaßen ehrfürchtiger Ergriffenheit verfallen. Der Leser fühle sich nicht allein, wenn er da seinerseits in einen Zustand gewissermaßen ironisch gefärbten Mißtrauens verfällt. Denn man ist sicher nicht weit von der Wahrheit entfernt, wenn man der Meinung ist, daß echte Gefühle viel lieber verborgen als gezeigt werden.

   Nun kann man, wenn der Name Beethoven fällt, an alles Mögliche denken - an den Löwenkopf, die VIII. Symphonie, die Taubheit, den Ruhm. Nicht so leicht dagegen würde man darauf kommen, an das Aussehen seiner Hose zu denken.

   So haben wir davon Kenntnis zu nehmen, daß eine ganze Stadt, die



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ein eigenes Beethovendenkmal hat, vor allem an des großen Mannes Hose Anteil nahm. Das bisherige Denkmal nämlich wurde als unwürdig empfunden, und zwar wegen der grauslichen Kartoffelknolligkeit der Hose. Man nahm sich einen Bildhauer und ließ von ihm ein neues Denkmal hauen mit Löwenkopf und Bügelfalte.

   Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß die in Frage stehende Stadt im Staate Nevada den Namen Eureka hat.

   Es ist gewiß nicht die Schuld der Eurekaner, daß sie eine Bügelfalte für etwas so Verehrungswürdiges halten. Es ist nicht einmal ein Fehler. Es ist eine ausgesprochene Tugend, wenn auch eine puritanische. Daß aber die Eurekaner böse werden, wenn ein von ihnen so verehrter Mann eine Tugend nicht haben soll, die sie sogar selbst besitzen, das ist ein Zug echter Bescheidenheit des Herzens, der in einem so hochmütigen Jahrhundert einen besonderen Wert hat.


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Wenn in einer Gesellschaft der Name Karl May fällt, so gibt es glücklicherweise keine ehrfürchtig Ergriffenen. Dafür kann man etwas anderes beobachten. Die eben noch ehrfürchtig Ergriffenen machen eine wegwerfende Handbewegung. Sie haben das fast immer als voreilig zu bereuen. Denn der große Sanskritforscher wird plötzlich ganz munter und bricht, wie man so sagt, eine Lanze für den bescheidenen Mann. Generalmajor X., der Kommandeur des III. Tankgeschwaders, wird auch ganz lebhaft . . . Als dritter ergreift eilig auch der Chronist die Lanze, denn auf seinen Landsmann ist er nicht wenig stolz. Der Eiskunstläufer F., Bankdirektor Planmann, der Maler Seckenhorn und der vierzehnjährige, so erbaulich hochmütige Sohn des Hauses sind alle mit von der Partie. Und so ziehen auf einmal sieben Männer, alte und junge, wie die sieben wackeren Schwaben mit dem Karl-May-Spieß durch den Salon, bereit, den Drachen zu durchbohren, der das sächsische Lorbeerreis fressen will.

   Freilich, alle Freunde des großen Dichters sind seit einiger Zeit in Sorge. Denn Karl May ist zum Filmautor geworden. Das ist, offen gestanden, eine Sache, die wir, seine Freunde, schon lange befürchteten.

   Das Geheimnis Karl Mays ist, daß er seinen Leser magisch verzaubert. Er läßt ihn selbst den Helden sein. Wer wäre das nicht gern?

   Aber wer sieht sich selber gerne auf der Leinwand, die die Welt nicht bedeutet? Die Ebene dieser magischen Verzauberung ist die Phantasie. Die Realität natürlich zertrümmert diese Ebene. Denn trägt man nicht die Bilder der Phantasie im Herzen? Die Bilder der Realität dagegen trägt man im Gehirn. Und da vergißt man sie.



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   Es wäre also nicht so unwahrscheinlich, daß das Gedächtnis von diesem großen Phantasten, vom Herzen ins Gehirn verpflanzt, über kurz oder lang verloren ginge. Aber das wird darum nicht eintreten, weil die wackeren Schwaben alle nicht in den Film gehen werden.

   Damit allein könnten wir uns begnügen. Aber das Walten der Vorsehung ist groß und gerecht. In derselben Woche, in der der Film seinen Angriff auf den Mann aus Radebeul unternimmt, ersteht ihm in Jena ein neuer Herold seiner Unvergänglichkeit. Der cand. phil. Stolte aus Erfurt, vir egregius doctissimusque - sein Name sei einem breiteren Publiko nicht vorenthalten - hat in der Universität Jena mit einer Arbeit über Karl May sich den Doktorhut erworben. Stellen wir noch fest, daß es seine Spektabilität, der Dekan gerade der philosophischen Fakultät war, der diese Arbeit annahm, und stellen wir ferner noch fest, daß der hoffnungsvolle junge Mann magna cum laude promovierte, so müssen wir zugeben, daß wir keinen Grund zur Klage haben. Dahingegen haben wir einen guten Grund, auf das Gedächtnis des trefflichen sächsischen Mannes, des Freundes unserer jungen und unserer alten Tage, einen Ganzen zu genehmigen. Und das wird uns um so leichter fallen, als der Anstich des Salvators auf dem Nokherberg endlich, endlich erfolgt ist.



II. WALTER KIAULEHN: Old Shatterhand unter dem Doktorhut


Am Lagerfeuer in den ewigen Jagdgründen, wo der dicke alte Sam Hawkens nun schon so lange mit Dick Stone und Will Parker, mit Old Firehand und Sans-Ear zusammensitzt, ist es hoch hergegangen, als die Neuigkeit bekannt wurde, daß Old Shatterhand mit dem Doktorhut ausgezeichnet worden ist.

   Da hatten die alten Waldläufer nun gesessen und ihr Feuer geschürt, und machmal nur war einer von ihnen aufgestanden und hat seinen gewohnten Rundgang durch den Wald gemacht, um zu sehen, ob sich nicht doch ein schuftiger Ogelallah-lndianer in die ewigen Jagdgründe eingeschlichen hat. Einer nach dem anderen von ihnen war so weggegangen und wiedergekommen, und einer hatte es vor den anderen verschwiegen, daß dieser Gang durch den Wald doch nicht so harmlos war, wie die anderen geglaubt hatten. Zwar waren sie niemals auf eine schleichende Rothaut gestoßen. Aber einer nach dem anderen war von einem unbekannten jungen Mann, einem Greenhorn, wie es schien, angesprochen worden, und ehe sie sichs versahen, hatte der junge Mann sie auf zauberische Weise aus den ewigen Jagdgründen entführt,



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hinunter zur alten Erde. Er führte sie alle an einen Ort, wo sie noch nie gewesen waren und den sie, die Weitgereisten, nicht kannten. Es war die grünumlaubte alte Universität zu Jena. Sie standen vor einer Hufeisen-Tafel, hinter der sehr würdige und ehrbare ältere Herren saßen. Jeder von ihnen wurde nach seinem Namen gefragt und nach seinen Abenteuern und mußte Auskunft geben über Old Shatterhand. Wie es denn damals gewesen sei, wurden sie gefragt, als Old Shatterhand unter ihnen aufgetaucht sei, ob er wirklich die Bahnlinie vermessen hätte, von der so viel die Rede war, ob er wirklich einen Bären mit dem Bowie-Messer getötet habe, und ob es wahr sei, daß er einen Mann mit einem einzigen Fausthieb hätte zu Boden schlagen können.

   Das waren alles verdrießliche Fragen, und mancher von den wetterharten Gesellen wollte den Ausfragern übers Maul fahren, aber wenn einer von den alten Herren merkte, daß der Gefragte mürrisch werden wollte, dann setzten sie sofort freundliche Mienen auf und sagten, es handle sich um nichts Böses, und sie wollten beileibe nicht dem honorablen Old Shatterhand zunahe treten. Sie wollten nur wissen, ob er denn das Herz wirklich auf dem rechten Fleck gehabt hätte und ob seinen starken Fäusten wirklich die butterweiche Seele und der edle Sinn verbündet gewesen sei, von dem seine Freunde so viel erzählt hätten. Na, da brach dann das Eis, und die Professoren bekamen es mal zu hören, was es eigentlich mit Old Shatterhand gewesen sei.

   So wunderbar schnell, wie sie nach Jena gekommen waren, so unheimlich fix standen sie wieder auf ihrem Platz im Walde und sahen zwischen den Baumstämmen das Lagerfeuer.

   Dann eines Abends wurde ein Brief für Sam Hawkens abgegeben. Der Alte war etwas verwundert, denn der Poststempel war aus Germany, aus der Heimat von Old Shatterhand.

   Der Brief klärte dann alles auf, was vor sich gegangen war, und hieß:

   »Dear Sir! Kalkuliere, Sie werden sich manchmal Gedanken darüber gemacht haben, warum ich Sie und die Ihnen befreundeten Gentlemen aus den ewigen Jagdgründen nach Jena zitiert habe. Wie Sie schon bemerkt haben werden, handelt es sich um eine Ehrenrettung für Old Shatterhand. An seinem und an Ihrem Schicksal nehme ich schon seit langen Jahren innigen Anteil, nämlich, solange ich lesen kann.

   In meinen Knabenjahren habe ich die drei Bände Winnetou, den Blauroten Methusalem, den Schatz im Silbersee und alle anderen Bücher verschlungen, die von den Schicksalen Old Shatterhands und seiner Freunde berichteten. Alles, was ich gelesen hatte, hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck in mir und richtete in meiner Knabenseele das Ideal der Männlichkeit auf, die Liebe zu Treu und Glauben, zu



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Männerworten, und festigte meinen Willen, in meinem späteren Leben dem Schicksal Trotz zu bieten und der Wahrheit ein Helfer zu sein. Als ich dann ein Jüngling war, hörte ich von vielen klugen Leuten die Meinung aussprechen, daß mein geliebter Karl May ein Schundschriftsteller gewesen sei, ein literarischer Wegelagerer, ein Betrüger.

   Unser Nationaldichter Friedrich Schiller hat das Wort ausgesprochen: Achtung soll der Mann vor den Idealen seiner Jugend haben. Als ich selber ein Mann war, habe ich mich daran gemacht, das Ideal meiner Jugend zu überprüfen und achtungsvoll nach der Wahrheit über Karl May zu forschen. Ich habe mich durch einen Berg von Streitschriften hindurchgefressen und bin zu der Überzeugung gekommen, daß ein Schriftsteller, dessen Bücher allein in Deutschland von über 6 Millionen gekauft worden sind und der nun schon so lange Jahre die gleiche Anziehungskraft auf die Jugend ausübt, ein Anrecht darauf hat, von einem unparteiischen Tribunal gewertet zu werden. Dies Tribunal war die Philosophische Fakultät der Universität Jena. Ihr habe ich meine Überzeugung davon vorgetragen, daß der erzgebirgische Weberssohn Karl May überschätzt wird, wenn man ihn mit Dichtern wie Schiller und Goethe vergleicht, und daß er unterschätzt wird, wenn man ihn einen Schundliteratur-Fabrikanten nennt. Sein Platz ist in der Mitte, er ist ein echter Volksdichter, wie es auch Hans Sachs gewesen ist. In seiner Seele lebten und webten die alten Volksmärchen und die Helden- und Heiligenlegenden. Diesen Märchen hat er eine neue Gestalt gegeben. Er hat die Männer und Frauen der Sage in ein neues Land der Phantasie geführt, in die Steppe von Kurdistan und in den Wilden Westen.

   Wie sich der Mensch Karl May verzweifelt bemühte, aus den Tiefen des Lebens zu einem geläuterten Menschentum aufzusteigen, so war er auch unablässig bemüht, sein Denken und Können aus der Niederung der Geistigkeit auf jene hohe Ebene zu führen, auf der die großen Kunstwerke wachsen. Dieser letzte Erfolg war ihm nicht beschieden. Aber vielleicht gerade darum übt sein Werk so einen unwiderstehlichen Reiz aus. Hinter den bunten und derben Masken seiner Figuren leuchtet der sittliche Ernst, die Idee vom höheren Menschentum. Sein Leben war ein Abenteuer, das er glückhaft zu Ende führte, und darum sind seine abenteuerlichen Bücher glückhaftes Leben, und die Jugend wird sich ihrer immer freuen. Die Philosephen von Jena haben diese meine Erklärung, deren Eideshelfer Sie, verehrter Mr. Hawkens, und ihre Freunde gewesen sind, mit Beifall aufgenommen, und sie haben mir dafür den Doktorhut verliehen. Er gehört auf das Haupt von Old Shatterhand. Seien Sie bedankt, meine Gentlemen, von Ihrem

Dr. Heinz Stolte.«



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   Sam Hawkens reichte diesen Brief am Lagerfeuer herum, und als ihn alle gelesen hatten, schüttelte er lange den Kopf, stieß eine mächtige Wolke aus seiner Pfeife und sprach: »Ganz verstanden habe ich es ja nicht, aber ich kalkuliere, daß es ein Grund zum Trinken ist. Sind putzige Burschen, die Doktors aus Germany, aber ich habe mich ganz wohl da unten bei ihnen gefühlt. Ihr Chef ist ein dicker Mann, der gut zu Pferde sitzt. Sie haben ihn abgemalt mitsamt seiner Stute. Es ist ein sehr schönes Bild, und einer von den Grünschnabels, die ich danach fragte, wollte mich anlügen und sagte, das sei der Begründer der Universität gewesen, Kurfürst Johann der Großmütige, und schon seit vielen hundert Jahren tot. Dachte wohl, er könne den alten Sam Hawkens hinters Licht führen, dieser Junge, hat aber nicht geahnt, daß ich an den großen Silbersporen des dicken Mannes gesehen habe, daß er irgendwo von einer Ranch in Mexiko sein muß. Na, ist ja egal, wo er her ist, kalkuliere nur, daß einer, der anständig zu Pferde sitzt, auch ein anständiger Kerl ist. Wollen wir eins auf den jungen Doktor trinken?«



III. WILHELM FRONEMANN: Was ist Volksliteratur?


»Der Volksschriftsteller Karl May« nennt Dr. Heinz Stolte seinen »Beitrag zur literarischen Volkskunde«, den er als Doktordissertation im Karl-May-Verlag, Dresden-Radebeul, veröffentlicht. »Volksschriftsteller Karl May?« sinnt der Literaturpädagoge; ja, so nannte sich der Radebeuler Massenschriftsteller und meinte damit, er sei der Erzähler für die breiten ungeistigen Volksschichten, die man heute im Gegensatz zur geistigen Oberschicht die geistige Unterschicht nennt. Leider werden diese Ausdrücke heute überall gebraucht, ohne daß feststände, welchen sozialen Schichten sie tatsächlich entsprechen. Die geistige Schichtung des heutigen Volkskörpers der allgemeinen Volksbildung ist außerordentlich entwickelt. Gewiß ist nur, daß unterschichtiges Seelenleben in den handarbeitenden Volkskreisen häufiger angetroffen wird als in der Bildungsschicht, die nach Schulbildung und Erbmasse eine geistige Auslese darstellt, und daß bestimmte Entwicklungsstufen der Jugend, - die magische Seelenhaltung des Märchenkindes, der Abenteuersinn der Vorreifezeit - im unterschichtigen Seelenleben verblüffende Parallelen finden. Es ist schade, daß Dr. Heinz Stolte die soziologische Seite seines Themas nicht einmal streift, und seine Untersuchung darauf beschränkt, in welchem Maß Karl May als Mensch, nach Denken und Wollen und als Schriftsteller zur Unter- oder Oberschicht gehört. Das ist eine Betrachtung der losen Hand-



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lungsfolgen Mays, die manche neue Aussicht eröffnet und auch auf das Wesen des unterschichtigen Seelenlebens neues Licht wirft. Karl May ist für Stolte der Mensch der unterschichtigen Geistesart, der überall, wo er ins Oberschichtige vorstößt, rettungslos zum Stümper wird (Seite 69, 70, 128), der aber für die Unterschicht etwa die gleiche Bedeutung hat wie Friedrich Nietzsche für die Oberschicht. Aber überall da, wo sich der Blick des Forschers zum Leben der Gegenwart öffnen müßte, laufen die Untersuchungen ins Leere aus. Stolte ist erstaunlich weltfremd. Nicht nur, daß er den »Volksschriftsteller« May ständig als Volks d i c h t e r  bezeichnet und nebenher zugibt, daß er ein ausgesprochener Psychopath gewesen sei, hält er es für ausgemacht, daß gehässige Neider Karl Mays Sturz verschuldet hätten, schilt er die wissenschaftlich unanfechtbare Arbeit Kleinbergs über Karl May im Biographischen Jahrbuch von 1927 [muß richtig heißen »1917«. HSt.], die seinerzeit einen öffentlichen Skandal zur Folge hatte, eine Schmähschrift, nennt Ferdinand Avenarius einen volksfernen Ästheten, zeigt überhaupt bei jeder Gelegenheit, daß er sich über seine wissenschaftlichen Feststellungen hinweg zu Person und Werk Karl Mays stark hingezogen fühlt. Diese ganze Volks- und Weltfremdheit seiner Gedankenkonstruktionen wird offenbar, wenn man versucht, darauf eine Volkspädagogik aufzubauen. Selbst wenn es gelänge, diese geistige Unterschicht, also das primitive Seelenleben, sozial und pädagogisch zu erfassen, könnte aus dieser Feststellung der geistigen Lage gefolgert werden, daß sie nur mit losen Handlungsfolgen in der Art der Mayschen Reisekolportage literarisch zu bestreiten sei? Man darf doch nicht vergessen, daß diese Reisekolportage nahe an die sogenannte Schundliteratur grenzt, deren Erzeuger sich auch Volksschriftsteller und Verleger für Volksliteratur nennen, und daß Karl May selbst 15 000 Druckseiten echte Schundliteratur geschrieben hat. Wollen wir die unterschichtige Geistesart den Leuten überlassen, die ihr als lohnendes Gewerbe eine ungestaltete untergeistige Literatur auf den Leib schreiben? Gibt und gab es nicht Volksdichter von hohem Rang, Johann Peter Hebel, Matthias Claudius, Fritz Reuter, Klaus Groth, Peter Rosegger, Hans Sachs nicht zu vergessen? Und wissen wir nicht, daß es auch gewachsene Volksdichtung gibt (Märchen, Sage, Schwank usw.), die, wie die Arbeit der literarischen Volksforscher Wilhelm Wisser, J. Henßen u. a. beweist, auch heute noch im Volk lebendig ist? Man vergleiche nur das außerordentliche aufschlußreiche Werk Henßens »Volk erzählt«, Münster 1935.

   . . . Wer aber den wirklichen Volksdichter, sein Leben und Wirken betrachten will, der lese die feine und verständnisvolle Schrift Theodor



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Bohners »Johann Peter Hebel, des deutschen Volkes Hausfreund« (Berlin 1936, Eckart-Verlag). Hier sieht man nichts von weltfremder Gelehrsamkeit und oberschichtigen Theorien über unterschichtige Geistesart, sondern schaut die Wirklichkeiten des sozialen und geistigen Volkslebens und ihre deckenden literarischen Gestaltungen in den Erzählungen des Rheinischen Hausfreundes, die nicht geistige Klüfte aufreißen, sondern die seelisch Empfänglichen des ganzen deutschen Volkes zu einer unzerstörbaren seelischen Gemeinschaft zusammenfassen.



IV. SALANDER: A propos


Wie die ›Münchner Neuesten Nachrichten‹ melden, hat an der Universität Jena ein Herr Heinz Stolte den akademischen Grad eines Doktors der Philosophie erworben auf Grund einer Untersuchung über den »Volksschriftsteller Karl May«. Es steht zu vermuten, daß zu der Zeit, als an derselben Hochschule von Jena noch der Professor Friedrich Schiller wirkte, die philosophischen Doktorarbeiten andere Gegenstände betrafen, und daß es dem Herrn Staatsminister von Goethe sogar sehr peinlich gewesen wäre, wenn etwa an der Universität seines Landes dem damaligen Vorgänger von Karl May, seinem Schwager Vulpius, und dessen schmalzigstem Räuberroman ›Rinaldo Rinaldini‹ die Ehre einer wissenschaftlichen Würdigung widerfahren wäre. Damals stand zwar die deutsche Literatur in ziemlichem Ansehen, aber das deutsche Volk war dafür noch nicht zum Erlebnis seiner hohen Eigenart aus Blut und Boden »erwacht«, was ihm bekanntlich erst anno 1933 zugestoßen ist. Große Zeiten haben ihre Nebenerscheinungen und man soll die Feste feiern, wie sie fallen.

   Ich stehe nicht an, zu bekennen, daß für mich die Nachricht von der verspäteten akademischen Ehrung des wackeren Old Shatterhand trotz obigen kulturgeschichtlichen Betrachtungen ein richtiges Fest gewesen ist. Ich verdanke dem seligen Karl May unzählige spannungsvolle Stunden und weiß nicht, ob ich die Schulzeit so vergnügt und unverstaubt hätte bestehen können, wenn ich nicht immer wieder meine Einbildungskraft in das edelrauhe Leben der Prärie und ihrer listenreichen Westmänner hätte flüchten können.

   Überhaupt bin ich sehr damit einverstanden, daß die Wissenschaft gelegentlich von ihrer erhabenen Höhe gönnerhaft uns einfaches Schreibevolk mit ihrem leuchtenden Forscherblick beehrt. Eine wissenschaftliche Würdigung von Edgar Wallace wäre zum Beispiel schon



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längst fällig, etwa mit betriebswissenschaftlichen Seitenblicken auf die Produktionsgeschwindigkeit in schriftstellerischen Unternehmungen.

   Die alte Universität Jena stellt sich mit der Dissertation über Karl May in vorderste Reihe jener munteren Fortschrittlichkeit, die bislang erst auf nordamerikanischen Hochschulen gepflegt wurde. Ich sah neulich eine Zusammenstellung solcher neuzeitlicher Doktorarbeiten aus Übersee, die einen recht erfrischenden Eindruck machte. Am tiefsten bewegte mich eine Untersuchung über »Kühlraumlagerung von Hühnerfleisch«. Auch sie trug ihrem Verfasser den Titel eines Doktors der Philosophie ein. Jetzt sollte man nur noch die philosophischen Gedanken der Hühnerwelt über das Thema zu erschürfen suchen. So klafft stets bei der rastlosen Forschung, kaum daß sich eine geschlossen hat, schon eine neue Lücke. Mehr eine Verlegenheitslösung scheint mir dagegen die Doktorwürde zu sein, die von der Amerikanischen Geographischen Gesellschaft dem Südpolforscher Byrd verliehen wurde. Die angesehene Korporation fand vermutlich keine recht passende Fakultät für seine Verdienste, hatte wohl auch gar nicht die formale Befugnis, einen akademischen Grad rechtskräftig zu verleihen. So kam sie auf den Ausweg, Byrd zum »Doktor der Länge und Breite« zu ernennen. Für einen Schriftsteller wäre der Titel schon eher eine zweifelhafte Ehrung. Der selige Karl May hätte sie freilich trotz aller seiner Verdienste um meine zarte Jugend redlich verdient.

   Was mich an der Doktorarbeit des Heinz Stolte aber ernstlich vergrämt, das ist seine Deutung der Gestalt des zauberhaften Indianers Winnetou. Er findet darin einen Gleichklang ausgerechnet mit der Siegfriedsage. Ich betrachte diesen Vergleich als eine Entwertung der höchsten Güter. Mir ist die ganze Geschichte von der Nibelungen Not und vielbesungenen Treue eine Kette von widerwärtigen Unanständigkeiten, Rachetaten und Treulosigkeiten, ganz abgesehen davon, daß man sie in meinem Spezialfall zu dem frevelhaften Versuch mißbraucht hat, mir an ihrer Hand das Mittelhochdeutsche beizubringen. Ein Blick auf den Untertitel des Karl Mayschen Winnetou hätte den Herrn Doktor der Philosophie Stolte davon belehren können, wie ungereimt sein Vergleich ist. Der Zusatz lautet bekanntlich: »der rote Gentleman«.

   Der einzige wahre Gentleman des Nibelungenliedes ist der Hunnenkönig Etzel. Den grimmig geschwollenen Recken aber, die man uns als Vorbilder eines angeblich echt deutschen Heldentums krampfhaft aufreden will, fehlt jeder Zug jenes einfach edeln angelsächsischen, also immerhin auch germanischen Charakterideals, der leisen, selbstverständlichen, zuverlässigen Anständigkeit. Dafür platzen sie vor Rachsucht, geräuschvoller Ehrprotzerei und gewalttätigem Kraftmeiertum.



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Die noble Gestalt des schweigsamen Winnetou, ein einsames Wunschbild innerhalb der reichlich schmalzigen Idealwelt des etwas spießigen Karl May hat nichts mit jenen zeitgemäßen Eigenschaften gemein.



V. G. JETMAR: Karl May


Die Gesammelten Werke Karl Mays umfassem 64 Bände. Sie sind bisher, allein in deutscher Sprache, in einer Auflage von mehr als sechs Millionen Bänden erschienen. Das ist, man muß es zugeben, ein Problem, das der wissenschaftlichen Untersuchung wert erscheint.

   An ein im Jahre 1936 und noch dazu im Karl-May-Verlag in Radebeul bei Dresden erschienenes Buch allerdings, das den Titel ›Der Volksschriftsteller Karl May‹, den Untertitel ›Beitrag zur literarischen Volkskunde‹ trägt, von Dr. Heinz Stolte verfaßt und von der philosophischen Fakultät Jena als Dissertation angenommen wurde (167 Seiten, Preis DM 1,80) geht man ohne die Hoffnung heran, daß es eine objektive Antwort auf die Frage nach den Ursachen der Popularität Karl Mays geben würde. Denn es ist bekannt, daß sich der Verfasser des Winnetou, des Old Shatterhand und des Old Surehand im heutigen Deutschland einer allerhöchsten Gunst erfreut, und dieser Gunst eine höchst seltsame Renaissance verdankt. Um so erstaunter ist man, in diesem Buch eine Karl-May-Analyse zu finden, die nicht nur auf diese Frage, sondern seltsamerweise auch auf die Frage, wo die Ursachen der eben genannten allerhöchsten Gunst liegen, eine Antwort gibt.

   Zunächst: Man erfährt viel Interessantes aus diesem Buche: daß der »Karl-May-Frage« ein fünf Druckseiten umfassendes Schrifttum seine Entstehung verdankt; daß Karl May in seiner Jugend mehrfach wegen krimineller Vergehen bestraft wurde und eine ganze Reihe von Jahren in deutschen Gefängnissen verbrachte; daß Karl May seine Reisen tatsächlich vom Schreibtisch aus machte, sich aber gegen die gegenteilige Annahme, die seinen Ruhm begründete, keineswegs zur Wehr setzte; daß Karl May neben seinen Reiseromanen eine Reihe sittlich nicht einwandfreier Lieferungsromane schrieb, die zuerst unter einem Pseudonym erschienen und dann von einem geschäftstüchtigen Verleger unter seinem vollen Namen neu aufgelegt wurden, wogegen sich May in zahlreichen Prozessen zur Wehr setzte; und schließlich, daß diese Prozesse und schlechte Familienverhältnisse, trotz allen äußeren Erfolgen, Mays letzte Lebensjahre unglücklich gestaltet haben.

   Im übrigen weist Dr. Stolte nach, daß sich May stets in Zwischenstellungen aufgehalten habe, menschlich in einer Zwischenstellung zwi-



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schen Wahrheit und Lüge, sozial in einer Zwischenstellung zwischen »oberschichtlich« und »unterschichtlich«, schriftstellerisch in einer Zwischenstellung zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Primitivität und verfehlter Geistigkeit. Und in dem Schlußkapitel »Deutung und Bedeutung« finden wir folgende Sätze:

   »Dem Primitiven entwachsen, stößt er gewaltsam in die Bereiche oberschichtlicher Geistigkeit vor, vereint so in sich die verschiedensten Bestandteile, ohne sie zu verschmelzen. Seine gedankliche Leistung ist gering und beschränkt sich auf die Grunderkenntnisse seines eigenen Schicksals, die er mit formelhaften Gedanken des Christentums, der Aufklärung und des Idealismus verbindet. . . . Im Grunde dem Mystischen verwandt, lernt er durch sein eigenes Schicksal doch die Möglichkeiten des Tragischen erleben und die Höhen eines heroisch geführten Lebens ersehnen. So erscheint der Gehalt seiner Dichtung in einem seltsamen Zwielicht: Aus dem Zusammenkommen mystischer und heroischer Wesenheiten gestaltet sich die älteste, der Lösung harrende Aufgabe unserer Kultur, die ›Heliand-Frage‹, die Vereinigung des Germanischen mit dem Christlichen, zu jener ihm eigentümlichen Form der heroischen Legende. Hierin ist Karl May, mag in ihm noch so sehr das Ferne und Fremde lebendig sein, ewig-deutsch.«

   Es mag noch so verführerisch sein, angesichts solcher Sätze an ›Winnetou‹, den ›Schatz im Silbersee‹ oder das ›Vermächtnis des Inka‹ zu denken und in ein schallendes Gelächter auszubrechen. Den sechs Millionen Karl-May-Bänden kommt man damit nicht näher. Für sie und für die allerhöchste Gunst, die Karl May zuteil ward, sind vielleicht wirklich diese Sätze die einzige plausible Erklärung. Denn sie besagen, wenn man sie weniger schwungvoll ausdrückt, ja nichts anders, als daß einer, der von unten, aus dem sozial Unterschichtlichen, ja Kriminellen kam, nach oben wollte, den Weg dahin durch eine große Lüge und Scharlatanerie fand und - »zu einer geistigen Großmacht geworden ist, die um so unerschütterlicher feststeht, in je unscheinbareren menschlichen Tiefen sie verankert ist. Dabei besteht diese Bedeutung durchaus nicht etwa in einer überragenden Genialität des Dichters, sondern nur eben in der Tatsache, daß sein Schaffen so sehr dem unmittelbarsten Empfinden und Bedürfnis der Masse entspricht . . .«

   Man kann es auf diese Weise zu einer Auflage von 6 Millionen, aber man kann es auch zu mehr und anderem bringen.



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VI.VIKTOR v. GERAMB: Zu den volkskundlichen Grundfragen
(Auszug)


Das wissenschaftliche Arbeitszentrum der Volkskunde ist theoretisch immer noch umstritten. Ja, es ist dies heute wieder mehr der Fall als vorlängst. (. . .) Es scheint mir aber sehr bezeichnend für den recht abstrakten Charakter aller dieser spekulativen und erkenntniskritischen Meinungsverschiedenheiten zu sein, daß sie in der Tat alle nur in rein theoretischen, an sich gewiß nötigen, zu gesunder Überprüfung zwingenden und daher begrüßenswerten Untersuchungen eine Rolle spielen. In der praktischen Arbeit spürt man von ihnen im volkskundlichen Schrifttum recht wenig. Fast alle - auch die neuesten und größten volkskundlichen Arbeiten wie etwa das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens oder Spamers großes, zweibändiges Handbuch ›Die deutsche Volkskunde‹ oder B. Schier ›Haus- und Kulturlandschaften‹, oder H. v. Freudenthal ›Das Feuer im deutschen Glauben und Brauch‹ oder die Arbeiten von L. Weiser-Aall, O. Höfler, R. Wolfram, R. Stumpfl über Männerbünde und Kultspiele der Germanen, aber auch Harmjanz' Untersuchungen über die Feuersegen usw. - erstrecken sich - wie wir meinen sehr mit Recht - samt und sonders auf jene gegenständlichen (dinglichen und tätigen) wie geistigen Äußerungen des vulgushaften »Volkslebens«, die unsere Sprache seit altersher als Volkstracht, Volkskunst, Volksglaube, Volksbrauch, Volksrecht, Volksdichtung, Volkslied usw. bezeichnet. Ich habe die genannten Arbeiten wahllos herausgegriffen, wüßte aber in der Tat auch sonst kaum eine bedeutendere Arbeit zu nennen, bei der das nicht zutrifft. Die angekündigte Proletarier-Volkskunde von Peuckert läßt in dem mir bekannten, bisher erschienenen 1. Teil nichts anderes sehen als eine Darstellung des alten, noch ganz vulgushaften Lebens der noch halbbäuerlichen Weber, und die mir sehr wertvoll erscheinende Untersuchung von Heinz Stolte über den Volksschriftsteller Karl May als Beitrag zur literarischen Volkskunde ist mir geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie auch hier das absolut Vulgushafte - etwa in der Klarstellung des Wesens der Karl-May-Romane als legendenhafte Heldensagen - der sichere und verläßliche Maßstab der Dinge bleibt. Wir kommen auf diese Arbeit nochmals zurück. (. . .)

   Nach dieser Auffassung sehen wir im vulgus weniger einen Stand als vielmehr einen Zustand. Gewiß erkennen auch wir im einsam hausenden, verkehrsentlegenen Berg- oder Heidebauern den Archetypus des Vulgusmenschen, gewiß wissen auch wir, daß dieser Bauer vor allen anderen der lebende Bewahrer der organisch gewachsenen Siedlungs-,



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Haus-, Kleidungs-, Gerät-, Sprach- (Mundart), Lied-, Tanzformen usw. ist. Allein, während dies längst nicht mehr fürs gesamte deutsche Bauerntum zutrifft, sehen wir Mundarten andererseits auch in Städten, ja sogar in Stadtteilen wachsen, man denke etwa an das »Lerchenfelder Wienerisch«, sehen Formen des vulgushaften Geisteslebens auch in den Kindern aller Stände und Schichten lieblich blühen, erfreuen uns an der Urverbundenheit der Kinderfreude, aber auch über viele echte Volksbräuche, wie z. B. die Sitte des Maizweiges und des Christbaumes auch in weiteren Arbeiterkreisen; wie denn überhaupt das Vulgushafte als Zustand - im Guten wie im Schlechten - bisweilen bei jedem Menschen, zumal im Affekt, oft genug durchschlägt.

   Wenn man daraufhin die bereits erwähnte Arbeit Stoltes über Karl May als Volksschriftsteller gründlich durcharbeitet, so wird einem das völlig klar. Hier haben wir in der Tat einen besonders typischen Fall für das Geistesleben eines Menschen, der aus dem mutterschichtlichen, aus dem vulgus, ins individualisiert oberschichtliche Geistesleben emporstoßen will, aber im Tiefsten immer wieder seiner Herkunft verhaftet bleibt; so daß sich ihm aus vulgushaften, mystischen und oberschichtlichen heroischen Wesenheiten alles zu der ihm eigentümlichen Form der »heroischen Legende« gestaltet. Aber gerade darin ist er ewig deutsch, und gerade dadurch ist er zum meistgelesenen deutschen Volksschriftsteller geworden. Ich habe nicht die Zeit, dies hier näher darzulegen, man muß diese Arbeit Stoltes selber lesen. Aber ich glaube, man sollte ähnliche Arbeiten - mindestens zum Vergleich - über Peter Rosegger oder Jeremias Gotthelf u. a. durchführen. Überall, besonders bei Rosegger würde sich in der Tat die von Harmjanz dargelegte Spannung des Auf und Ab zwischen dem Mutterboden einerseits und der sozialen Verdichtung und dem Erkenntnisdrang andererseits zeigen. Überall würde sich aber - und das ist das Entscheidende! -, überall würde sich ebenso deutlich ergeben wie in Stoltes Untersuchung, daß der volkskundliche Maßstab der Dinge eben doch die primären Erscheinungen des vulgus bleiben müssen.


Q u e l l e n n a c h w e i s


I.Peter Bamm: Mosaik der Woche. In: Deutsche Zukunft. 22. 3. 1936
II.Walter Kiaulehn: Old Shatterhand unter dem Doktorhut. In: Grüne Post. 18. 10. 1936
III.Wilhelm Fronemann: Was ist Volksliteratur? In: Schule und Elternhaus. Jg. 1937 Heft 10 S. 265
IVSalander: A propos. In: National-Zeitung (Basel), 17. 10. 1936
V.G. Jetmar: Karl May. In: Prager Presse 15. 8. 1936
VlViktor v. Geramb: Zu den volkskundlichen Grundfragen. Vortrag, gehalten auf dem Vierten Deutschen Volkskundetag zu Bremen am 13. Okt. 1936. In: Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde. Jg. 14 Heft 3/4 S. 155 - 164.




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