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GERHARD NEUMANN


Das erschriebene Ich
Erwägungen zum Helden im Roman Karl Mays*


Karl Bertau zugeeignet

quid videat, nescit: sed quod videt, uritur illo,
atque oculos idem, qui decipit, incitat error.
credule, quid frustra simulacra fugacia captas?
quod petis, est nusquam; quod amas, avertere, perdes.
Ovid, Met. III, 430 - 433

»So sieh einmal dein Bild im Wasser hier!«
Ich schaute in den Kürbis und fahr erschrocken
zurück, denn es blickte mir aus dem Wasser
der Kopf eines Gespenstes, eines Skelettes entgegen.
»Welch ein Wunder, daß ich noch lebe!« rief ich aus.

Winnetou I, 217f., 312 t


I


Wie begegnet man seinem Ich? Kann es auf diese Frage eine Antwort geben? Jean Paul, das ›Ich‹ schlechthin unter den deutschen Dichtern, hat versucht, seine Erfahrungen hierüber mitzuteilen. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen - ›Wahrheit aus meinem Leben‹ - schreibt er:


An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustür und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht, ich bin ein Ich, wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr.2


Merkwürdig ist es schon, daß der unersättliche  L e s e r  Jean Paul ausgerechnet angesichts einer Holzlege dieses Gesicht hatte - Natur, und nicht Kultur als Ort seiner Ich-Erfahrung zugesprochen erhielt. Mir jedenfalls wird diese Erfahrung wohl beim  L e s e n  gekommen sein, mit vielleicht elf Jahren, unter der Bettdecke beim Schein der Taschenlampe, den für einen Tag zugeteilten Band 1 der Radebeuler Ausgabe von Karl May, ›Durch die Wüste‹ durchrasend - eine Leseleistung, an die später im Traum nicht mehr zu denken war.


*Vom Autor freundlichst genehmigter Nachdruck seines in ›Germanistik in Erlangen. Hundert Jahre nach der Gründung des Deutschen Seminars‹ (Erlanger Forschungen, Reihe A, Bd. 31) erschienenen Aufsatzes.



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   Ob es ein Zufall ist, daß sich ein ›Ich‹, jene wissenschaftsfremdeste Instanz, in diese Rede mischt? Ich glaube kaum. Dem Leser von Karl Mays Romanen ist sie die einzig denkbare geworden: Sie allein gibt die Gewißheit der Unsterblichkeit des Helden, sie allein gewährt, wenn man sie einmal mit dem Schauer des Beteiligtseins in sich eingelassen hat, die ungetrübte Lust der Lektüre, das reine Ich-Gefühl.

   Wie begegnet Karl May seinem Ich?

   Es scheint fast, als seien für diesen Zusammenhang eigentlich nur Karl Mays »Reiseerzählungen« interessant; nicht die frühen Kolportageromane, die in der ›Er‹-Form erzählt sind; auch nicht die späten Werke, die Arno Schmidt - wie er sich ausdrückt - der »Hochliteratur« zuzählen wollte3, und die, nach Mays eigener Äußerung, das ›Ich‹ des Erzählenden nur noch als Figuration der Menschheitsfrage begreifen.4 In einem Aphorismus, der im Nachlaß aufbewahrt ist, schreibt Karl May: Die Menschheitsfrage


ist das Ich. Sie ist in Amerika Old Shatterhand, und sie ist im Orient Kara Ben Nemsi Effendi. Sie ist das umgekehrte Pseudonym von Karl May, denn die eigentliche Verfasserin der Reiseerzählungen ist sie, das Pseudonym aber ist er . . .


Wenn dies wirklich so wäre, würde kein Hahn mehr nach Karl May krähen. Hier war Goethe ihm weit überlegen. Ich möchte daher lieber versuchen, Karl May anders zu lesen, als er selbst sich verstehen zu müssen glaubte. Ich möchte versuchen, einen der klassischen ›Ich‹-Romane Karl Mays als »Mythos« zu lesen. Unter Mythos verstehe ich dabei die Erzählung einer Geschichte, die, indem sie erzählt wird, zwei Zwecke erfüllt. Sie dient zum einen dazu, die Geburt des Helden zu legitimieren; sie hat zum andern die Aufgabe, eine bestimmte menschliche Verhaltensordnung zu beglaubigen. Das heißt aber, daß der Mythos eine doppelte Rede führt: die Rede vom Ursprung und die Rede vom Menschenverkehr, die Rede von der Herkunft und Geburt des Helden und die Rede von der sozialen Ordnung und ihrer Garanten.

   Als einen solchen Mythos im doppelten Sinne also lese ich Karl Mays Roman ›»Weihnacht!«‹, der 1897 als Band 24 der Freiburger Ausgabe erschien und in den Zusammenhang der ›Winnetou‹-Romane gehört.

   Mythen muß man nacherzählen. Ich tue dies in der gebotenen Kürze.

   Der Schüler Karl May schreibt für ein Preisausschreiben ein Weihnachtsgedicht. Er gewinnt den ersten Preis, die Geldsumme von 30 Talern. Dies verschafft ihm hohes Ansehen bei Lehrern und Schülern. Man gibt ihm den Kneipnamen »Sappho« (nach der antiken Lyrikerin) und kennzeichnet ihn damit als Literatur- und Schriftkundigen. Mit sei-



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nem weltfremden Freund Hermann Lachner, genannt »Carpio« (der stumme Karpfen) macht er eine Weihnachtswanderung

   Sappho, der Sprachmächtige, und Carpio, der Sprachlose, treffen in einem Gasthaus im verschneiten Erzgebirge auf eine Auswandererfamilie: Eine gemeinsame Weihnachtsfeier findet statt. Das Preisgedicht, das Sappho geschrieben hat, wird von Carpio rezitiert: Die Auswanderer sind tief beeindruckt und nehmen eine Abschrift des Gedichts, das sie in die Neue Welt begleiten soll. Sappho schenkt den Mittellosen außerdem noch sein ganzes Geld; Carpio dagegen gibt ihnen ein Empfehlungsschreiben an seinen angeblichen Erbonkel in Amerika mit. Damit wird der Keim des künftigen Geschehens gelegt: eine »Urszene« geschaffen, aus deren Mitte zwei schriftliche Botschaften den Protagonisten in die Neue Welt vorauseilen. Hier bricht zugleich die ››Kindheitsgeschichte« des Helden ab. Ein »blanc« (wie es Proust an Flauberts Romanen rühmte) unterbricht den Strom des Erzählens.

   Jahre später findet man dann den erwachsenen Karl May als Westmann Old Shatterhand in Nordamerika wieder. Die Handlungsfäden, durch die schriftlichen Botschaften aus der heimatlichen »Urszene« in die Neue Welt gespannt, werden wieder angeknüpft: Karl May, als Westmann noch nicht identifiziert, trifft dort die Auswandererfamilie wieder, deren Vater im Indianergebiet verschollen ist; er stößt mit einer Bande von Verbrechern zusammen, die eine Gruppe von Goldsuchern um ihre Goldfunde zu prellen suchen; er findet seinen Jugendfreund Carpio als hilfloses Opfer der Spitzbuben wieder, in deren Gesellschaft sich auch der vermeintliche Erbonkel befindet; er schlichtet einen Konflikt zwischen Indianerstämmen und stellt damit, wenigstens vorläufig, den Frieden im Wilden Westen wieder her.

   Die wichtigsten Beteiligten an den verschiedenen Handlungszusammenhängen sind Deutsche, und zwar mit den Figuren der Einleitung identisch oder doch mit ihnen verknüpft - angenommene fremde Namen oder Spitznamen zögern ihre Identifizierung hinaus.

   Am Schluß des Romans sind alle Beteiligten in einer Art paradiesischer Oase mitten im verschneiten Hochgebirge vereint: einer tropischen Idylle, deren Existenz durch eine warme Quelle wahrscheinlich gemacht wird.

   Hier wird wie seinerzeit im Erzgebirge wieder Weihnachten gefeiert, hier werden die wahren Namen beglaubigt; hier werden die Guten mit Goldgeschenken belohnt und entlassen, die Bösen bestraft, die Unbelehrbaren kommen durch eine Naturkatastrophe zu Tode.

   Carpio stirbt vor Entkräftung, Sappho-Old Shatterhand gibt sich als souveräner Regler des gesamten Geschehens zu erkennen. Die schrift-



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lichen Botschaften, die aus der »Kindheit« des Helden ihm vorausgeeilt sind, werden durch das Geschehen eingelöst: als tote Schrift in Gestalt von Carpios »Empfehlungsbrief«, der seine Wirkung verfehlte, als souveräne Bewahrheitung der Wirklichkeit in Sapphos »Weihnachtsgedicht«.



II


Ich möchte nun einige wichtige Motive des Geschehens hervorheben und auf die Gelenkstellen der Geschichte aufmerksam machen.

   Die Erzählung beginnt als Schul-Geschichte, sie berichtet von der Kindheit des Helden, seinem Mündigwerden im sozialen Institut der Schule. Der Schüler May schreibt ein Weihnachtsgedicht, das - wie sich allmählich herausstellt - den mythischen Rahmen des Geschehens abgibt. Die ersten vier von zweiunddreißig Strophen dieses Gedichtes lauten:


»›lch verkünde große Freude,
Die euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ!‹

Jubelnd tönt es durch die Sphären,
Sonnen künden's jedem Stern
Weihrauch duftet auf Altären
Beter knien nah und fern.

Horch, da schallt vom nahen Dome
Feierlich der Glocken Klang,
Und im majestätschen Strome
Schwingt sich auf der Chorgesang:

›Herr, nun lässest Du in Frieden
Deinen Diener zu Dir gehn,
Denn sein Auge hat hienieden
Deinen Heiland noch gesehn!. - - - «
(Weihnacht 13, 10f.)


Das Gedicht, das der Schüler May schreibt, enthält denn auch die Kernmotive jenes »Mythos«, dessen Regler er zu werden verspricht: die Rede vom »Ursprung«, als der Geburt des Helden, in der Figur des in der Weihnacht geborenen Heilands; die Rede vom »Menschenverkehr«, als der Einbindung des Einzelnen in die Wirklichkeitsordnung als Erlösungsordnung, als der Aufhebung von Leben und Tod im göttlichen Heilsplan.



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   Der durch den Schüler May mit seinem Gedicht begründete (genealogische und eschatologische) Mythos bleibt allerdings den Riten der Schul- als einer Disziplinargesellschaft unterstellt: Das Gedicht wird approbiert, indem erst die Jury, dann der Direktor und schließlich der Kantor seinen Rang beglaubigen, es in den sozialen Rahmen von Leistung und Anerkennung stellen; das Gedicht wird honoriert, indem es den ausgesetzten Preis von 30 Talern zugesprochen bekommt, indem es in den Legitimationszusammenhang von Lohn und Strafe versetzt wird.

   Vorgänge des Approbierens und des Honorierens bestimmen dann auch durchgängig den ersten Teil der Erzählung. Und zwar im Motiv der Identifikation durch den Paß, den Carpio fortwährend verliert (25, 28,), damit aber auch seine Approbation durch Namensidentität verspielt; im Motiv des Geldes, das alle Handlungen der beiden jugendlichen Wanderer begleitet und verbindet: Kurswerte werden berechnet und genutzt, Geld wird geborgt und verloren, Kaufen und Bezahlen spielen eine wesentliche identifikatorische Rolle.

   Allein der Schüler May beginnt sich allmählich aus diesen Bestimmungen zu lösen: Zum einen legitimiert er sich (im Gegensatz zu dem stummen Carpio) nicht durch den Paß, sondern durch das Gedicht und die Autonomie seiner Sprache, Carpio - als Mündel des Helden Sappho - sagt es auswendig auf; die Auswanderer lassen es sich aufschreiben und führen es als Schibboleth mit sich; zum andern verschenkt er sein ganzes Geld an die Auswanderer und lebt von der freien bewundernden Zuwendung seiner Umwelt. Damit ist das Ende des ersten Teils des Romans erreicht.

   Der Neueinsatz des Erzählens bildet zugleich die entscheidende Gelenkstelle des Romans als Übertritt in die »Neue Welt« Amerikas, als Übergang von der »Schule der Kindheit« in die »Schule des Lebens«; es ist der Punkt, wo das Kind Karl May aufhört zu existieren und der Held Old Shatterhand geboren wird.

   Von größter Bedeutung ist hierbei die Leitvorstellung von der »Schule des Lebens«, die das künftige Geschehen bestimmt. Es heißt da:


Eine Reihe von Jahren war nach dem bisher Erzählten vergangen; das Leben hatte mich in seine strenge Schule genommen und aus dem unerfahrenen Knaben einen Mann gemacht. (86, 117)


Wenn bisher die Schule als Lebensform Geltung beansprucht hatte, so wird nun eine neue Handlungsregel eingeführt, scheinbar ein neuer »Mythos« begründet, und zwar durch jene »indianische Lebensform«,



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die Karl May-Old Shatterhand aus der Begegnung mit seinem Freund Winnetou ableitet.

   Auch dieser - wie es scheint - neue Mythos enthält die beiden schon bekannten Aspekte aller mythischen Organisationsmodelle: den Bezug zum Ursprung und die Regelung menschlicher Verkehrsformen. Die Regeln indianischer Selbstkonstitution werden denn auch von Karl May in aller Deutlichkeit als der europäischen Lebensform entgegengesetzte bestimmt: Der Indianer erwirkt seinen Namen weder durch Vererbung5, noch durch den Zeugungsakt des Vaters, noch durch den Sozialvertrag, wie er sich in den Paß einschreiben läßt, sondern durch eine Heldentat, die unter Einsatz des eigenen Körpers errungen werden muß. Die Verkehrsformen des Indianers sind nicht durch Geld als den Exponenten des Tauschwerts und der Kommunikation bestimmt, auch nicht durch die systematische Rede, als das vom Körper getrennte »Zeichen«, sondern durch das Gold6, das als Geschenk, nicht als Tauschwert eingesetzt wird und durch die reine, unmittelbares Verstehen gewährende Körpergebärde, die sich im Blicktausch vollendet.7

   Die beiden Aspekte des »Mythos«, Ursprung und Kommunikation, die in der »alten Welt« in Form von Approbation und Honorierung zutage traten, werden hier also scheinbar neu definiert. Ihre Verwirklichung und Durchsetzung erfolgt nicht mehr durch Rituale der Abstraktion und der Disziplin, sondern allein aus der Eigentümlichkeit des Körpers und seiner »Natur«: die Geburt des Helden aus dem selbstverantworteten Namen, die Ermöglichung von Akten der Kommunikation aus der Körpersprache, der Spontaneität der Gebärden.

   Der Schein von Natur, der durch Karl Mays Umkodierung der Ordnung der europäischen Lebenswelt in die amerikanische erweckt wird, täuscht dann freilich, wenn man es genauer nimmt: Der Mythos der A1ten Welt, als ein Mythos leerer Zeichen, und der Mythos der Neuen Welt, der aus der Unveräußerlichkeit des Körpers sich zu beglaubigen scheint, sind nämlich letztlich immer noch ein und derselbe. Denn die - freilich äußerst konsequente - Paradoxie des Mayschen Romans besteht gerade darin, daß die »Neue Welt«, die scheinbar der »Alten Welt« - »Schule als Lebensform« - entgegengesetzt ist, sich immer noch nach demselben Modell der Schuldisziplin regelt wie jene: Die Schule des Lebens ist, - so, wie sie sich im Wilden Westen präsentiert -, durch dieselben Rituale und Ordnungsformen bestimmt wie die Schule des Kindes in den europäischen Erziehungsanstalten. Dies zeigt sich beim Eintritt Karl Mays in die Neue Welt: Zwar scheint es auf den ersten Blick, als ob diese soziale Geburt des Helden in der neuen Um-



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welt ihn auch zu einem neuen Menschen machte, eine Metamorphose, die sich durch die Verwandlung der Namen des Helden vollzieht; Karl May, der deutsche Schüler mit bürgerlichem Namen, verwandelt sich nämlich - kaum im amerikanischen Osten angelangt - zunächst in einen gewissen »Karl Meier«, ein Pseudonym im Übergangsstadium, hinter dem, im Wilden Westen, alsbald der durch den Körpernamen Old Shatterhand ausgezeichnete Trapper sichtbar wird, der diesen Namen durch seinen berühmten Jagdhieb immer wieder neu zu legitimieren weiß; eine vierte Stufe, die für den Gesamtzusammenhang des Romans von entscheidender Bedeutung ist, wird schließlich durch die Verschmelzung des Helden Old Shatterhand mit dem Autor des Erzählten, Dr. Karl May - dem berühmten Reiseschriftsteller - bezeichnet.

   Diese in der Neuen Welt sich abspielende Verwandlung des Schülers und Gedicht-Autors Karl May in das Pseudonym Karl Meier und die Rückverwandlung über den Helden Old Shatterhand in den Romancier Dr. Karl May wird aber dann - an den Namensverwandlungen ablesbar - genau wie in der Alten Welt nach bestimmten Ritualen vorgenommen. Das Verblüffende daran ist, daß diese Initiationsriten, die zur Neugeburt des Protagonisten führen, derselben Struktur gehorchen wie diejenigen der Aufnahme des Zöglings in die Lehranstalt, des Studenten in die Universität.

   Es sind namentlich drei Zusammenhänge, an denen sich dies unmittelbar verdeutlichen läßt. Der erste ist charakterisiert durch den Zwang zur Legitimation - freilich nun nicht mehr - wie in Europa - durch Paß und Empfehlungsschreiben, dafür aber durch Vorzeigen der legendären Narben, die Old Shatterhand von Winnetou bei der ersten Begegnung empfing und durch die er unwiderruflich identifizierbar wird. (153, 216) Ein zweiter Zusammenhang betrifft die Identifikation des mündig gewordenen Helden durch seine Fähigkeit zur »Lektüre«. Es ist ja die Grunddefinition bürgerlicher Identität seit dem 17. Jahrhundert, daß das Subjekt des Lesens und Schreibens mächtig wird, Kleists ›Findling‹, wie schon der kleine Bastard in Cervantes' ›Macht des Blutes‹, müssen dieser Forderung genügen, bevor sie sozial identifizierbar werden. So auch - merkwürdiger- wie verblüffenderweise - Old Shatterhand im »Wilden Westen«. Es gelingt ihm nämlich, einen Lederbrief der Indianer, den hundert andere vor ihm gar nicht als solchen erkannt haben, zu entziffern. (142, 200) An dieser Stelle der Erzählung schlägt denn auch das Schulritual des »Lesens« unmittelbar in das »Bestehen von Abenteuern« um. Wäre dieser Brief und seine verschlüsselte Botschaft von Old Shatterhand nicht entziffert worden, die



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Abenteuer-Reise in den Westen, die den Roman zu seinem Ziel führt, hätte gar nicht beginnen können! Und ein Drittes ist: Auch Old Shatterhand, wie jeder europäische Mittelschüler, muß Proben seines Könnens als Westmann ablegen: Examina durchlaufen, an deren Ergebnissen seine Identität ableshar wird. Im Grunde sind es vier verschiedene »Fächer«, in denen solche Proben des Könnens, solche Examina abgelegt und bestanden werden müssen: das Beschleichen und Belauschen der Feinde (160ff., 226ff.) mit dem Ziel des Aussperrens renitenter Zöglinge; das Heben und Werfen, nämlich einen, der nicht pariert, vor die Tür zu stellen (138ff., 193ff.); das Schießen und Treffer-Erzielen mit dem Ziel des Notenerwerbs zwischen ein und zwölf Punkten, wie dies beim Scheibenschießen der Fall ist (172ff., 242ff.); das Züchtigen schließlich als »Ohrfeigen geben«, das »Verhauen« (107, 148; 181, 257; 295, 423).

   Überraschenderweise sind - genau besehen - in diesen scheinbar »naturwüchsigen« Tätigkeiten dieselben Grundabläufe wirksam wie in den Prüfungsriten und Ordnungsmechanismen der europäischen Schule: das Überwachen und Kontrollieren der Schüler nämlich; das Ausschließen und Einsperren der Unbotmäßigen; das Klassifizieren der Leistungen, das heißt das Noten- und Zensurengeben, das »Treffer«-Zählen; schließlich das Strafen-Zumessen und das Züchtigen, ritualisierte Körperoperationen, die nach strengem Zeremoniell ablaufen. Sogar das Kernritual aller identifikatorischen Akte im Wilden Westen, der tödliche Zweikampf, organisiert sich nach dem streng abgemessenen Modell der europäischen Identitätsprüfung an Schulen und Universitäten jener Zeit (350, 505), Old Shatterhand erinnert sich nämlich vor seinem Kampf mit dem berühmten Indianerhäuptling Peteh - gewiß nicht zufällig - der »Studentenmensur« (334, 482), er weist in einer prekären Duell-Situation darauf hin, was es für einen ehemaligen Gymnasiasten heißt, . . . mit diesem herkulisch gebauten Häuptling der Blutindianer auf Tod und Leben loszugehen! (335, 484)

   Eines freilich hat sich in dieser Neuen Welt, deren Rituale denjenigen der Alten auf so verräterische Weise ähneln, dann doch geändert: Der europäische Mittelschüler, wie er in der »Kindheitsgeschichte« des Helden erscheint, ist letztlich doch noch das Opfer dieser Riten; Old Shatterhand dagegen ist zu ihrem Regler und Verwalter geworden. Er ist in den Rang des Lehrers aufgestiegen.8 Diese Rolle übernimmt er denn auch - nach Ablegung der Prüfungen - beim Eintritt in den ›Wilden Westen‹ wie selbstverständlich. Denn auch hier ist die erste und wichtigste Tätigkeit natürlich wiederum die Kunst des »Lesens«, und zwar diejenige des Spurenlesens im



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Gras der Prärie. Hier beweist der ehemalige Schüler seine inzwischen erlangte Hochschulreife:


". . . das richtige Spurenlesen in Wildwest ist eine Wissenschaft« - heißt es im Text - »gradezu eine Wissenschaft, über die es freilich keine Lehrbücher und auch keine Lehrstühle gibt. Nicht jeder Mensch besitzt die Gabe, es in diesem Studium zu guten Erfolgen zu bringen. . . (218f., 312)


Old Shatterhand übernimmt die Lehrerrolle gewissermaßen aus der Natur der Sache: Aufgrund seiner maßlosen Überlegenheit, begründet durch das Wunder seiner Körperkraft, werden alle andern Figuren des Romans zu seinen Schülern. Die Neulinge ohnehin,


. . . ein Neuling, der Rost doch war, muß unterrichtet werden - der Zwang, in der Schule noch eine pure Marotte der Disziplin, nun nicht mehr als kulturelle Schikane verstanden, sondern als Form der Natur, als Notwendigkeit des Überlebens - und da die Rolle des Belehrenden nun einmal mir zugefallen war, konnte ich mich derselben nicht entziehen . . . (223, 318),


freilich dann auch die erfahrenen Westmänner, die wieder zu Schülern Old Shatterhands werden9, die beiden Toasts, Tante Droll, Old Wabble, der Hobble Frank, Sam Hawkens. Sie alle tragen denn auch deutliche Züge schülerhaften Verhaltens, wie sie aus der Identitätskrise der Adoleszenz bekannt sind10: Albernheit, Kichern, falsch gebrauchte Redewendungen und Bildungsklischees, privatsprachliche Elemente, Unsicherheit der Geschlechterrolle (Tragen von Frauenkleidern oder Damenhüten); sie verhalten sich vorlaut, unüberlegt, eigensinnig, dickköpfig, trotzig und unfolgsam. Da gibt es denn auch nur eine Maßnahme der Erziehung: »Und wenn du nicht gehorchen willst, so wirst du gehauen . . .« (385, 557).

   Der berühmte Jagdhieb, als eine Form natürlicher Selbsterhaltung propagiert und als pädagogische Maßnahme gegenüber Feinden eingesetzt, ist ja - so gesehen - schließlich doch auch bloß eine nobilierte Ohrfeige.

   Zwar versucht Winnetou, der »gute Wilde«, hier eine Antinomie von europäischen Bildungssystemen und freier Wildbahn zu statuieren, nimmt dabei freilich eher die Stimme Karl Mays, des Autors, als diejenige Old Shatterhands, des Helden an:


»Eure Väter haben das Recht, das Gehirn ihrer Kinder durch den Zwang, etwas werden zu sollen, was sie nicht werden können, zu morden . . . « (267, 382)


Aber: die Schule des Wilden Westens verfährt um keine Spur anders als die vom »guten Wilden« getadelte europäische. Wer die »Prüfun-



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gen« nicht besteht, wird auch hier streng bestraft, er wird getötet (meist durch die Natur selbst oder - wenn er unbelehrbar ist - durch den Feind); er wird ausgestoßen, wird zum »Verschollenen« wie der verbrecherische Erbonkel Carpios, der alte Lachner; er verkümmert und stirbt aus Ermattung, wie der Gegen-Old Shatterhand Carpio, der den Bei- und Nicknamen Old Jumble, der »Wirrkopf«, trägt - er war schon zuhause in Europa ein schlechter Schüler und bleibt es nun auch hier.

   Was für die Initiationsriten der europäischen Schule und die des Wilden Westens gilt, nämlich ihre absolute strukturelle Entsprechung, gilt - nun vielleicht nicht mehr ganz so überraschend -  a u c h  für die Verhaltensordnung beider Welten. Zwar kontrastiert Old Shatterhand unermüdlich die von der Schrift geregelte Welt Europas - samt ihren Fehlurteilen der Justiz, die die Betroffenen nach Amerika treiben, samt ihren bürokratischen Ungerechtigkeiten und sinnlosen Disziplinen - mit der Welt der Natur und dem »individuellen«, ungeschriebenen Gesetz der Prärie, aber Generalregler der gesamten Abenteuerwelt des Romans ist und bleibt schließlich nichts anderes als die Schrift; und zwar in Form von Sapphos Weihnachtsgedicht, das in alle Handlungszusammenhänge eingespielt wird und sie im Sinne der heilsgeschichtlichen Ordnung zu regeln beginnt.

   Es ist das aus den beschriebenen Zusammenhängen hervortretende Paradox dieses »Wildwest«-Romans, daß sein wichtigstes, geradezu universelles Motiv die Regelung der Handlung durch Schrift ist, und zwar im doppelten Sinne: zum einen positiv in dem Gedicht Sapphos, das vom Augenblick seiner Niederschrift an in alle Handlungsstränge des Romans einsickert. Es wird in die Rede aller Figuren eingeflochten, es durchsetzt als Zitat die Äußerungen der Guten und Bösen, manchmal in großer Ausführlichkeit, zuweilen nur in Anspielungen. Es wird abgeschrieben und nachgedruckt. Entscheidend ist dabei, daß Autorschaft und magische Wirkung der Worte sich wechselseitig tragen und beglaubigen. Old Shatterhand-Sappho überwacht die Wirkungen seines Textes, sorgt dafür, daß er gewissermaßen nur in die richtige Hand und das richtige Gehirn gerät, und bestraft seine unrechtmäßige Usurpation - notfalls durch Ohrfeigen und Verbrennen der Gedichte, so wie im Fall des Prayerman11, der das Gedicht, ohne das Copyright zu besitzen, im Wilden Westen vertreibt und zu illegitimen Wirkungen zu benutzen sucht. Das Gedicht wird mindestens 25 mal innerhalb des Romans erwähnt oder zitiert. Es fungiert als Regler des Verkehrs aller Protagonisten, es wird zum Schibboleth der Kommunikation, es erscheint als Legitimationsinstrument des Helden, als Talisman und Erkennungszeichen in den verschiedensten Situationen.



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   Die Schrift gewinnt im Roman freilich zugleich auch eine Reglerrolle im negativen Sinne. Sie wird zum Inzitament des Handlungsablaufs durch Infamie. Denn wesentliche Momente und Auslöser der Handlungskomplikationen sind ausgestellte Wechsel, Schulderklärungen, fälschlich ergangene Gerichtsurteile und Justizirrtümer, die der Gewalt, dem Betrug und der Erpressung dienen, der falschen und angemaßten Macht der Bösen.

   Wenn im Roman in einer grandiosen Schlußszene die Löschung aller Wechselschulden durch das Gedicht, die Vertauschung des kassierten Urteils gegen das Gedicht Old Shatterhands erfolgt, so ist dies nichts anderes als die Ersetzung der apokryphen Texte der Bibel durch die kanonischen Schriften. Es sind letztlich Verhältnisse, die durch das Beispiel der Heiligen Schrift und ihrer illegitimen Anmaßung präfiguriert werden.

   Durch diese souveräne Säkularisierung des Schrift-Prinzips als handlungsorientierendes Element, durch diesen gewissermaßen bibliologischen Kunstgriff - das Gedicht des ›Helden‹  u n d  ›Autors‹ als Regler der Handlung einzusetzen - vollzieht sich jene einzigartige Perspektivierung des Erzählens, die in dieser Perfektion vielleicht nur bei Karl May vorkommt. Denn durch die gewissermaßen »natürliche« Verwandlung von Schrift in Handlung werden Autor und Held zu »umgekehrten« Pseudonymen ein- und derselben Person: Dr. Karl May alias OId Shatterhand. Die Leseregel, die hier aufgestellt wird, lautet: Das im Gedicht des Schülers Karl May Vor-Geschriebene wird von der Handlung des Romans, die Old Shatterhand verwaltet, nur nach-geschrieben. Die Schrift des Gedichts wird zum Faustpfand des Geschehens, das der berühmte Jagdhieb Old Shatterhands beherrscht und zu gutem Ende führt. Karl May war sich dieser Grundstruktur sehr genau bewußt; er formuliert sie als alles beherrschende Lese-  u n d  Handlungsregel im Roman selbst unter der Vorstellung des »zurückgreifenden Grundes«. Die Handlung - heißt es - werde vom Auge Gottes überwacht: Für denjenigen, der sich diesem Blick anvertraut,


sinken die in sein Leben eingreifenden Ereignisse nicht zu unmotivierten Vorgängen herab, welche sich auch ganz anders hätten gestalten können, sondern alles, was geschieht, trägt einen zurückgreifenden Grund in sich . . . (366, 528)


Das hier formulierte Lesegesetz ist das der biblischen Hermeneutik: die Struktur von Verheißung und Erfüllung, die im Figuralprinzip ihre Vollendung erfährt - die Erfüllung dessen, was die Schrift vorschreibt, durch den Körper des Handelnden, sich ihr gewissermaßen lebendig Nachschreibenden: eine »Realprophetie«.12



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   Jetzt wird deutlich, warum Karl May als Mythos für die Geburt seines Helden den Mythos von Bethlehem, die »Weihnacht« beschwört: Es ist die Doppelung von Geburt aus der Schrift und Geburt aus dem Körper, die geistige wie die materielle (die »figurale« wie die »reale«) Verankerung der Identität des Helden in der Vorstellung seines »Geborenwerdens«. Es ist die Konstruktion eines Helden, der - weil eine Verheißung, nämlich die im Gedicht Sapphos selbstgegebene Lebensregel, ihn legitimiert - seinen Körper einsetzt, um die Schrift zu beglaubigen. »Fürchte dich nicht . . . « (256, 367) sagt Christus-Old Shatterhand, wenn Carpio das Bangen beschleicht.

   So gestaltet sich die Schlußszene des Romans ganz und gar als »Jüngstes Gericht«, als definitive Festschreibung der Ordnung der Welt, aus der heraus jedem Handelnden seine Rolle aus der Begründung des Heilsplans zugeschrieben werden kann - eine Struktur der Wirklichkeitsdarstellung, die in nicht überbietbarer Weise Dantes ›Göttliche Komödie‹ repräsentiert, von Hegel in zwei wundervollen Seiten seiner ›Ästhetik‹ gerühmt13, von Auerbach in seinem oft zitierten Kapitel über »Farinata und Cavalcante« rekonstruiert.14

   Die Schlußszene des Romans am »Pa-ware«, dem »heißen Wasser«, zeigt einen »paradiesischen« Ort (401, 581) mitten im Schnee, sie zeigt zugleich die Erfüllung jener Verheißung, die im domestizierten Paradies des Wirtshauses im verschneiten Erzgebirge ausgesprochen worden war und sich nun in geradezu heilsgeschichtlichen Dimensionen bewahrheitet. Nun ist das Gedicht tatsächlich in aller Munde, die Guten werden beschert, die Bösen sind tot, werden bekehrt oder verstoßen. Das Gedicht des Schülers ist zur Welt-Regel des Lehrers, des Meisters aller Meister geworden. Die Wirklichkeit hat nur nachgeschrieben, was die Vor-Schrift des Autors enthielt.



III


Aus dieser merkwürdigen Bestimmung der Wirklichkeit als Vor-Schrift und Nach-Schrift, der Bestimmung des Helden zugleich als Autor, ergeben sich gravierende poetologische Konsequenzen. Die klassische Muse, als Verwalterin der poetischen Welt im Gegensatz zur alltäglichen und realen, kann der Personalunion von Autor und Held nicht mehr gerecht werden. Sie versagt als Legitimationsinstanz. Karl May muß also - um dem poetologischen Prinzip seiner Schreib- und Lebensregel gerecht zu werden - auch sie verdoppeln: er muß - poetologisch gesehen - der Personalunion von Autor und Held die Verdoppelung der Muse durch den Schutzengel folgen lassen.



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   Als die Auswandererfrau - durch Vermittlung des Weihnachtsgedichts - in Karl Meier zugleich Old Shatterhand und den Schüler Karl May erkennt, erklärt sie:


». . . Iassen Sie mir diesen wohltuenden Glauben, daß mein Vater von Gott die Erlaubnis hat, unsichtbar bei mir zu weilen, um mich zu leiten und meinen Fuß vor Anstoß zu bewahren! Wenn Gott seine Engel sendet, die uns zu beschützen haben, können wohl auch unsere Abgeschiedenen . . . solche Engel sein!« (118f., 165)


Einem solchen Schutzengel, als der Muse der Wirklichkeit und der Kunst, stellt auch Karl May die Erschreibung seines Ich anheim; in ›Old Surehand III‹ heißt es an einer prekären Stelle, wo Old Shatterhand mit knapper Not dem Tode entgangen ist:


Schüttelt vielleicht jemand lächelnd den Kopf darüber, daß ich von meinem Schatzengel rede? Lieber Zweifler, ich schmeichle mir ganz und gar nicht, dich zu meiner Ansicht, zu meinem Glauben zu bekehren, aber du magst sagen, was du willst, den Schutzengel disputierst du mir doch nicht hinweg. Ich bin sogar felsenfest überzeugt, daß ich nicht nur einen, sondern mehrere habe, ja daß es Menschen gibt, welche sich im Schatz sehr vieler solcher himmlischer Hüter befinden . . . Mag man mich immerhin auslachen; ich habe den Mut, es ruhig hinzunehmen; aber indem ich hier an meinem Tisch sitze und diese Zeilen niederschreibe, bin ich vollständig überzeugt, daß meine Unsichtbaren mich umschweben und mir, schriftstellerisch ausgedrückt, die Feder in die Tinte tauchen. Und wenn, was sehr häufig der Fall ist, ein Leser, der in die Irre ging, durch eines meiner Bücher auf den richtigen Weg gewiesen wird, so kommt sein Schutzengel zu dem meinigen, und beide freuen sich über die glücklichen Erfolge ihres Einflusses, unter welchem ich schrieb und der andere las. (Old Surehand III, 119f., 150f.)


Diese Erfindung der Muse als Schutzengel möchte ich fast einzigartig nennen: Es ist die Statuierung einer Legitimationsinstanz, die die Beglaubigung des Autors durch den Körper seines Helden allererst möglich macht. Die Form, in die Karl May die Personalunion von Autor und Held, von Muse und Schutzengel gießt, ist freilich sehr alt. Ihr Model heißt: »Das Wort ist Fleisch geworden«. (Joh. 1, 14)



IV


Aus meinem Leseversuch - der in Karl Mays Ich-Roman ›»Weihnacht!«‹ die Erscheinung der Autor-Identität des Helden rekonstruieren wollte - möchte ich noch einige Folgerungen ziehen.

   Der von Karl May-Old Shatterhand immer wieder reklamierte Gegensatz von disziplinierender Kultur des Abendlands und freier Natur



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des Wilden Westens ist nur ein scheinbarer. Die Lebensform beider Welten - bestimmt durch Initiationsrituale - bleibt letztlich die gleiche. Merksätze europäischer Erziehungstradition, die Disziplin als Verheißung von Freiheit definieren - »das Leben als Schule«, »Non scholae sed vitae discimus«, »Freiheit ist der Zweck des Zwanges«, wie Friedrich Wilhelm Weber in seinem Epos ›Dreizehnlinden‹ schreibt gelten hier wie dort.

   Die Lebensordnung der Neuen Welt ist nämlich ganz und gar den gleichen Gesetzen unterworfen wie die der Alten. Wenn sich das Ich, der Kern der Persönlichkeit, in der Alten Welt in Akten der Definition, der Inklusion und Exklusion, der Approbation herausbildet, so gilt dies zuletzt auch für die Welt des Wilden Westens. War dort nämlich die Identifizierung des Subjekts durch Pässe, Impfscheine und Hundemarken erfolgt - wie Old Shatterhand höhnisch vermerkt -; war die Stabilisierung des Selbstgefühls durch Akte der Normierung und Normalisierung bestimmt, durch Einsperrung oder Aussperrung, also durch Festschreibung der Grenzen des Subjekts, seiner Abgrenzung gegen andere in Gefängnissen, Schulen und psychiatrischen Kliniken; war schließlich Approbation als Identifizierung des Einzelnen durch Messung der Leistungen ins Spiel gekommen, also durch Klassifikation, durch geregelte Zwei- und Mehrkämpfe im Dienste der Selbstbehauptung: So ist die Neue Welt letztlich durch genau dieselben Strukturen geprägt wie die europäische. Nur daß Old Shatterhand seine lieben Examina15, wie er sich einmal ausdrückt, jetzt nicht mehr »von unten« sieht, sondern »von oben«, als Oberschiedsrichter und unbestrittener Meisterschüler, der die anderen zu unterrichten hat.

   Auch hier, in der Neuen Welt Amerikas, gilt jene Trias von Initiationsritualen. Die Definition des Ich erfolgt nun nicht mehr durch Paß und Impfzeugnis als Formen der fremden Schrift und des zugeschriebenen Namens, sondern durch die eigene, selbstverantwortete Schrift und den selbsterworbenen Namen, die beide durch den eigenen Körper beglaubigt werden, als Schreibhand Karl Mays, des Autors, und als Faust Old Shatterhands, des Helden, die ein und dieselbe ist.16 Exklusion und Inklusion werden nicht mehr sozial verordnet, wie in den Institutionen der Schule, des Gefängnisses und der Klinik, sondern frei beherrscht und als Kunst betrieben. Zahllose Belauschungen werden abgelöst von ebenso zahllosen Entfesselungen, das Wechselspiel beider wird geradezu als eigentliche Form der Freiheit definiert. Eine Szene in ›»Weihnacht!«‹ ist hierfür symptomatisch. Old Shatterhand wird gefesselt in das Lager geführt. Er sprengt als Gefesselter aus dem von tausend Indianern bewachten Lager hinaus, ohne daß er aufgehalten



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werden kann, er reitet einen Umweg und kehrt wieder in die Gefangenschaft zurück Das souveräne Spiel mit Exklusions- und Inklusionsvorgängen könnte nicht weiter getrieben werden: Es ist das Spiel der Freiheit schlechthin. Approbation schließlich wird nun im Wilden Westen nicht mehr in Unterwerfungsgesten von andern erbeten, wie im Falle der europäischen Preisausschreiben und der Examina von der Jury, sondern vom Helden selbst verwaltet, und zwar durch Übernahme und Universalisierung der Lehrerrolle.



V


An diesem Punkt der Argumentation möchte ich einen biographischen Seitenblick wagen: Er offenbart schlagartig die für das Verständnis von Karl Mays Schriften wichtige strukturelle Analogie zwischen Leben und Werk. Im Lebensgang Karl Mays vollzieht sich nämlich dieselbe Umwälzung der Ausgeliefertheit des Helden an die Zwänge der Gesellschaft in die Übernahme der Rolle des autonomen Reglers der Rituale einer spielerisch beherrschten Lebenswelt, wie dies die Werke unermüdlich vorspielen.

   Diese Umdeutung läßt sich am genauesten in den Konflikten Karl Mays mit der bürgerlichen Rechtsordnung beobachten: Wenn man - ob zu Recht oder zu Unrecht, ist hier nicht von Bedeutung - von der Definition der Polizeiberichte ausgeht - denn diese stellen ja die von der Gesetzesschrift gegebene Definition des Subjekts dar - , hat May sich sukzessive dreier verschiedener Delikte schuldig gemacht: des Diebstahls zunächst, der Hochstapelei sodann, und schließlich der Amtsanmaßung; es sind dies drei Arten von Delikten wesentlich verschiedener Struktur, was ihr Verhältnis zur beherrschenden Rechtsordnung angeht. Zunächst, bei seinem Diebstahl, wird Karl May eines Rechtsbruchs überführt; auf der zweiten Station seines Weges, im Vorwurf der Hochstapelei, erscheint er nicht mehr als gewöhnlicher Rechtsbrecher, sondern definiert sich selbst als im Dienste einer »höheren Gerechtigkeit« stehend, eines subjektiv (und aus der Selbstverantwortung des Einzelnen heraus) vorgenommenen »Ausgleichs« der - wie May meinte - zu Unrecht ergangenen Schädigung eben dieses Subjekts durch die Haftstrafe; auf der dritten Stufe seiner Auseinandersetzung mit der Justiz schließlich, im Vorwurf der Amtsanmaßung, unternimmt der längst bürgerlich rehabilitierte May den Versuch, einen Kriminalfall innerhalb der eigenen Familie durch Übernahme der Rolle eines Untersuchungsbeamten zu klären.



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   Was Karl May in diesen drei Formen des Rechtsbruchs durchläuft, sind drei Stadien des Inkognito, sie bezeichnen mit großer Genauigkeit den tendenziellen Übergang von der Delinquenz zur Justiz, vom Rechtsbrecher zum Rechtsverwalter, vom den Disziplinen der Gesellschaft unterworfenen Subjekt zum freien und autonomen Regler der Lebenswelt.

   Was May also gewissermaßen biographisch inszeniert und vorgelebt hatte, schreibt der Roman ›»Weihnacht!«‹, als Geschichte von der Geburt des Helden und seiner Sozialisation, in der Form des Abenteuerromans nach. Es ist der Weg aus der »Schule« Europas in die freie Luft des »Wilden Westens«, es ist die Umwälzung der Formen der Disziplinierung in solche der Freiheit und autonomen Setzung. Nur daß der Roman, in sehr viel genauerer Konsequenz als die biographische Situation, die Schrift als eigentliches Vermittlungsorgan beider Welten in den Mittelpunkt stellt: die Schrift der Justiz als Form der Disziplin, die Schrift der Poesie als Form der Freiheit.



VI


Erst der Roman macht in aller Schärfe deutlich, welche sozialisierende, das heißt aber auch identifizierende Kraft Karl May der Schrift anzuvertrauen sucht. Ziel der im Roman entfalteten Sprachstrategie ist es, die Verwandlung der Schrift des Schreibschülers in die des Autors plausibel zu machen, die Verwandlung des Zöglings in den Autodidakten und Lehrer zu beglaubigen, die Verwandlung des ohnmächtigen Schreibers in den allmächtigen Helden als sozialen Vorgang zu rekonstruieren. Diese Verwandlung wird am Schriftkörper des Gedichts sichtbar, das bis zum Überdruß immer wieder in die Handlung eingeflochten wird: notwendigerweise, da nur so seine wirkende, handlungsbildende Kraft glaubhaft werden kann. Schlüsselfigur dieser Allmachtsphantasie ist der Autodidakt. Er ist Schüler und Lehrer zugleich, Opfer der Disziplin und Regler der Freiheit; seine Ohnmacht verwandelt sich in Allmacht, weil er sich als Inbegriff der Gesetze phantasiert, denen er unterworfen ist. Es ist die Tragik von Karl Mays Autorschaft, daß er in ihr das Stümperhafte als Meisterschaft deuten muß, um seine Identität zu etablieren, daß er aus der Schülerarbeit unversehens das Weltgesetz entwickeln muß, aus der Hausaufgabe einen »Codex Juris Canonici Occidentalis«, wie ich das »ungeschriebene Gesetz des Wilden Westens« (252ff., 360ff.) einmal nennen möchte. Es ist die Verwandlung von Nicht-Kunst in Kunst durch Prätention ihrer Lebenswahrheit.17



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   Der eigentliche Kunstgriff, der diese Umwälzung von Kunst und Leben, von Autoridentität in Heldenidentität legimiert, besteht darin, daß die Vorstellung des Pseudonyms in ihren Gegensinn verkehrt wird. Autorname und Körpername werden aufeinander zugeschrieben, die Maske wird im Prozeß des Schreibens zum wahren Gesicht.

   Das Pseudonym, wie Karl May es sich in einem schmerzhaften Prozeß der Selbststilisierung erarbeitet18, fungiert nicht mehr als Instrument der Dissoziation und Selbstspaltung, einer Dissimulation bis in Bereiche der Rechtsordnung hinein, wie sie bei der Verwandlung eines Karl Postl in den Autor Charles Sealsfield eine Rolle spielt, sondern als Instrument der Selbstvereinigung, der Identifikation. Im Pseudonym, als einem bewahrheitenden Namensspiel, wird der erzählende Autor mit dem erzählten Helden zu einer einzigen Person zusammengezwungen. Das Paradoxon von Karl Mays Autorschaft besteht darin, daß sich ihm erst im Pseudonym die »Erschreibung des Ich« vollendet.

   Was ich damit zu beschreiben versuche, hat eine schmerzliche und eine lustvolle Seite. Eine schmerzliche zunächst: Denn was Karl May hier unternimmt ist der verzweifelte Versuch, Disziplinierungsrituale der Adoleszenz in Formen der Freiheit umzuerzählen Dieser Versuch, als ein letzlich nicht lösbarer, kann auch nie zu einem Ende finden. Er unterliegt dem Wiederholungszwang. Jeder Leser kennt diese unabsehbaren Iterationen von Zweikämpfen, von Gefangennahmen und Befreiungen, von Inkognito und Namensnennung, die alle Endgültigkeit der erlangten Freiheit bis ins Unendliche suspendieren.

   Eine lustvolle Seite sodann: Denn eben diese endlosen Wiederholungen sind es wohl auch, die den Schreiber wie den Leser Mayscher Texte an seinem Platz festhalten. Es ist die Lust, Verhaltensformen der Schule - andere lernt das Kind zunächst nicht - , die als zwanghaft erfahren werden, als Formen der Freiheit erleben zu dürfen - und wenn auch bloß in der Phantasie. Denn nur die Lust der Phantasie ist es, die Ewigkeit will, weil nur dort ihr Erfüllung winkt. Es ist die Lust am Schule-Spielen, die nie erlöschen wird, solange es Schulen gibt; es ist die Lust am Rollentausch im grausamen Spiel von Erzieher und Zögling; die merkwürdige menschliche Lust, Disziplin als Abenteuer zu erleben.



VII


Vielleicht sind noch einige Sätze zur Einordnung der Ich-Problematik, wie sie sich im Werk Karl Mays abzeichnet, in den literaturgeschichtlichen Zusammenhang zu sagen. Ich habe mehrfach von der Einzigartig-



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keit gesprochen, die die Texte Karl Mays in dieser Hinsicht auszeichnet. Das Einzigartige an Karl May habe ich genannt, daß er seine Identität als Autor durch den Körper des geschriebenen Helden, seine Taten und seine Leiden, beglaubigt, daß das ausschließliche Ziel seines Schreibens die »Erschreibung seines Ich« ist. Es ist das Modell der Geburt des Helden aus der Autorschaft, der sozialen Selbstzeugung durch einen Akt des Schreibens, der als ein Akt der Bewahrheitung von Leben verstanden wird. Ein Ziel von solcher Vermessenheit und Anfechtbarkeit zugleich hat sich kein anderer Autor des 19. Jahrhunderts zu stecken gewagt. Hier werden Gelingen, tragisches oder lächerliches Scheitern ununterscheidbar. Der Abstand, der Karl May von anderen Autoren trennt, ist nur von daher zu begreifen.

   Es ist zwar unbezweifelt, daß es viele Romane und Erzählungen im 19. Jahrhundert gibt, die Schrift als dasjenige kulturelle Ritual begreifen, aus dem heraus die Identität des Helden sich entwickeln läßt; aber sie alle erblicken in der Schrift letztlich nur ein Mittel zum Zweck der Identifikation, nie deren Beglaubigungsakt selbst. Zwei Beispiele sind hier besonders erhellend: Stifters ›Narrenburg‹ und Heinrich von Kleists ›Findling‹.

   Stifters ›Narrenburg‹ erzählt folgende Geschichte: Durch die Rechtsklausel des Stammvaters seines Geschlechts wird der Held, um Erbe und Namen zu erhalten, gezwungen, die Lebensbeschreibungen seiner Vorfahren zu lesen und selbst, ununterbrochen bis zum Augenblick seines Todes, seine Lebensgeschichte zu schreiben. Der Titel von Stifters Erzählung deutet darauf hin, daß hinter diesen verordneten Verfahren der Wahnsinn lauert. Das Mittel seiner Sanierung liegt in der heilenden Kraft der Schrift der Natur, in der die Schrift der Kultur aufgehoben erscheint.

   Kleists ›Findling‹ stellt Schrift in den entgegengesetzten Zusammenhang: Ein Kaufmann verliert seinen Sohn, den Erben und Träger seines Namens. Er ersetzt ihn, indem er einen Findling adoptiert. Der Findling zerstört die Familie und usurpiert ihren Besitz. Der Kaufmann zerschellt sein Gehirn und stopft ihm das Dokument, das ihm Namen und Besitz des Familienvermögens garantiert, in den Mund. Der Versuch, durch die Schrift des Gesetzes Identität zu garantieren und zu erschreiben, mündet in den Tod. Beide Protagonisten setzen ihren Identitätsstreit in der Hölle fort: als verewigten Rechtsstreit um die Identität aus der Schrift des Gesetzes und aus der Perversion der Natur.

   In beiden Geschichten geht es - wie bei Karl May - um die Erschreibung des Ich. Beide stützen sich auf die Schrift, aber in verschiedener Weise. Beide beziehen die Legitimation für ihre identifikatori-



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schen Schreibakte aus verschiedenen, entgegengesetzten Sphären: der Natur im einen, der Kultur im andern Fall. Während Stifters Geschichte den identifikatorischen Schreibakt aus dem Blutstrom der Familie entwickelt, leitet Kleists Geschichte ihn aus dem contrat social, dem Bezeugungsritual der Adoption ab. Ziel des Stifterschen Helden ist die Einschreibung in die Genealogie, Ziel des Kleistschen Helden die Einschreibung in den Gesellschaftsvertrag. Beide Legitimationszusammenhänge besitzen indes einen wunden Punkt; beide Autoren siedeln sie an den Grenzen menschlicher Identitätsbemühungen an, in der Nachbarschaft des Wahnsinns und in der Nachbarschaft des Todes. Denn gegen die Legitimität des Blutstroms, der das Ich begründet, zeugt der alte Rechtssatz »pater semper incertus«, gegen die Legitimität des contrat social, der das Ich garantiert, daß er allemal nur in menschlicher Rede »auf Treu und Glauben«, nie durch den Herrn über Leben und Tod bewahrheitet wird.

   Karl Mays Konstruktion dagegen bedarf dieser unsicheren Legitimationsfelder nicht; sein Held kennt weder den Wahnsinn noch den Tod. Er beruft sich weder auf die Legitimität der Geburt als eine genealogisch gesicherte Situation; noch auf die Legitimität der Adoption, als eine im Gesellschaftsvertrag begründete Selbstkonstitution. Familie und Gesellschaft kommen im Werk Karl Mays gar nicht vor.19 Er begründet sein Ich, den Autor, der zugleich Held ist, allein durch den eigenhändigen Schreibakt, die Faust, die den Jagdhieb  u n d  die Feder führt. Es ist also ausschließlich die Eigentümlichkeit des eigenen Körpers, die die Wahrheit der Schrift beglaubigt:


». . . wer in dieser Art mit den Fäusten spricht, wie du,« sagt der Häuptling der Krähenindianer zu Old Shatterhand, »der braucht keine Worte zu machen!« (348, 502)


Freilich bleibt auch der kühne Legitimationsakt Karl Mays letztlich eine Konstruktion, deren Tragfähigkeit bricht, sobald sie sozialen Belastungen ausgesetzt wird. Daß aber überhaupt eine solche Konstruktion versucht wurde, gehört wohl zu den Denkwürdigkeiten der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die verzweifelten Kämpfe des späten Karl May um sein Urheberrecht auf der einen Seite, und die Bezeugung seiner Körperidentität als Löwen- und Bärenjäger andererseits legen ein beredtes Zeugnis von der Schwierigkeit und lebensbedrohenden Zwiespältigkeit dieser Konstruktion ab.20 Es ist der Zug tragischer Ironie im Schicksal dieses außerordentlichen Mannes, daß der wachsende Erfolg seiner Strategie der Ich-Erschreibung ihm letztlich die



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bürgerliche Identität, die er schon gewonnen glaubte, wieder raubte. Denn gerade seine soziale Anerkennung als Held und Autor ruft die Journalisten auf den Plan, die »Dr. Karl May« als Hochstapler und ehemaligen Delinquenten entlarven und seine soziale Identität wieder zerstören. Es ist der Augenblick, in dem das erschriebene Ich auseinanderbricht. Das verzweifelte Rückzugsgefecht Mays, wenigstens den Autor zu retten, wenn schon der Held nicht zu halten war, führte zum eingangs genannten Versuch Mays, sich der »Hochliteratur« einzuschreiben, sich in einen Autor symbolischer Literatur umzuinterpretieren. Das heißt aber: seinen einmaligen Versuch der Identifikation von »Körper« und »Schrift« im Wechselpseudonym von Autor und Held zu widerrufen und sich in die konventionelle literarische Tradition symbolischer Ich-Erschreibung zurückzudefinieren, den Helden wieder in den bloßen Dichter zurückzuverwandeln. Es ist der paradoxe Versuch, Identität als schizoide Struktur zu beglaubigen, um das Ich zu retten, die selbstzerstörerische Spaltung in Fiktion und Realität als Rettung des Ich zu akzeptieren.

   Es gibt freilich noch einen andern Autor, der einen solchen Versuch der Konstruktion einer autoreigenen Schrift aus der Eigentümlichkeit seiner Körpererfahrung machte. Er erfindet eine Kolonie, in der, durch eine sinnreiche Hinrichtungsmaschine, dem Körper des Delinquenten das Geständnis seiner Eigentümlichkeit abgepreßt werden soll - freilich vergeblich; er erfindet einen Traum, in dem der Körper des Träumers schließlich im Grab versinkt, sein Name aber - durch dieses Opfer des Körpers erzwungen - in goldenen Lettern, mit mächtigen Zierraten über den Grabstein jagt - vergeblich auch hier, denn der Träumer erwacht. Derselbe Autor erfindet einen Roman, dessen Held  a u c h  Karl heißt, der nach Amerika verstoßen wird, einen Schreibtisch zum Geschenk bekommt, diesen Schreibtisch in einem merkwürdigen Akt der Phantasie der Krippe von Bethlehem anverwandelt, dann auszieht, um sich im Wilden Westen einen Namen zu machen - und auf der Reise nach Oklahoma unter dem Pseudonym »Negro« im Wilden Westen verschwindet.

   Der Roman, von dem hier die Rede ist, sollte ›Der Verschollene‹ heißen, er sollte die Geschichte eines verschollenen Namens und eines verschollenen Körpers enthalten und wurde von Franz Kafka als unveröffentlichtes Fragment hinterlassen.

   Wäre der Roman vollendet worden, man hätte ihn vielleicht als einen paradiesischen Widerruf von Karl Mays verzweifeltem Namenerwerb durch den Körper Old Shatterhands und durch die Schrift des Autors May lesen können.


Aber das ist dann doch eine ganz andere Geschichte.



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Anhang


Zu dem Problem der Legitimation von Subjektivität durch die Schrift und aus der Schrift in der erzählenden Literatur des 19. Jahrhunderts ließen sich noch einige systematische Erwägungen anstellen. Ich habe angedeutet, daß Kleists, Stifters und Karl Mays Texte drei verschiedene Strukturen einer solchen Ich-Legitimation repräsentieren: Kleists Identitäts-Konstruktion könnte man eine  t r a n s l a t o r i s c h e  nennen, Stifters Identitäts-Phantasie eine  g e n e a l o g i s c h e,  Mays Ich-Erwerb einen  a u t o g r a p h i s c h e n.

   Es scheint mir, als bildeten sich in den Schriften der drei Autoren drei wesentliche Formen der Selbstbegründung des Subjekts im 19. Jahrhundert ab. In Stifter die Begründung des Ich durch Natur und Geschichte; in Kleist die Begründung des Ich durch die Rechtsordnung; in Karl May die Begründung des Ich durch die Phantasie des schreibenden und handelnden ›Helden‹. Das Mittel solchen Selbsterwerbs ist allemal die Schrift; aber in verschiedener Weise: bei Stifter als Einschreibung in die Geschlechterkette, als Erwerbung des ererbtes Namens durch den Schreibakt, als Legitimation des Blutes durch kulturelle Zeichen; bei Kleist als Beurkundung des Gesellschaftsvertrags durch Verschreibung des Namens im Rechtsakt, wie ihn die Adoption des Körpers durch den Gesetzes-Code ermöglicht; bei May als die Selbstbezeugung des Ich im Abenteuer der Phantasie durch Beglaubigung der bürgerlichen Identität im verkehrten Pseudonym: Schreiber und geschriebener Held haben zwar zwei Namen, sind aber im Körper identisch.

   Genaugenommen ist das, was Karl May versucht, vielleicht die kühnste Version des Problems, der erklärte Wille nämlich, seine eigene Zeugung zu erfinden, allein aus der Phantasie jene Beglaubigung des Ich zu erreichen, die andere nur aus dem Bestehenden abzuleiten vermögen: der Natur und ihren Ordnungen und dem Gesellschaftsvertrag und seiner Schrift. Es ist das bis zuletzt nicht erlahmende Bestreben Karl Mays, die Formel »Ich bin das Andere« durch jene andere zu ersetzen, die den Schein der Freiheit verbürgt und die von Jean Paul geprägt wurde: »Ich bin ein Ich«.

   Die beigegebenen Schemata sind Versuche, diese drei Formen bürgerlicher Ich-Konstitution aus der Schrift modellhaft zu vergegenwärtigen.


KLEISTS ›Findling‹ ist das Experiment auf die Ersetzung zufällig-natürlicher Bestimmungsmerkmale des Ich, wie sie der Blut- und Zeugungszusammenhang der Familie darstellt, durch die autonome, »vernünfti-



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ge« Setzung des Gesellschaftsvertrags, nicht die »Zeugung«, sondern die »Erwählung« eines Familienverbandes. Das Prinzip, das sich hier realisiert, ist das der Vernunft der Aufklärung21 gegen die »Blindheit« der Leidenschaften und Wünsche: also Legitimität nicht aus den Zufällen und Unbeweisbarkeiten der Vaterschaft und dem blinden Trieb abzuleiten, sondern aus der freien, rational begründbaren Adoption der Lebenspartner und einer verantwortungsvollen Regelung der Kommunikation zwischen ihnen. Es ist die versuchte Ersetzung des »biologischen« Dreiecks der Familie durch das ethisch, ökonomisch und juristisch legitimierte Dreieck des »contrat social«.

   Das Schema 1 zeigt, wie konsequent Kleist diese Ersetzung des »natürlichen« durch den »künstlich« erworbenen Partner betreibt, die Ersetzung des blinden Zufalls durch die bewußte Wahl, und zwar aus  a l l e n  Perspektiven der Familienkonstellation: vom Vater aus gesehen (1.), vom Sohn aus gesehen (2.), vom Sohn  a l s  Vater aus gesehen (3.), von der Frau aus gesehen (4.).

   Daß dieses Experiment am Ende auf katastrophale Weise mißlingt, ist ein Symptom für Kleists gebrochenes, letztlich nie eindeutig sich gestaltendes Verhältnis zu den entgegengesetzten Legitimationsfeldern von natürlicher Empfindung und diktatorischer Vernunft, von traumwandlerischer Sicherheit des Gefühls und rationalem Lebensplan.

   Diese Ambivalenz von Kleists Experiment auf die soziale Geburt des Ich wird im Motiv der Schrift unmittelbar evident: Das Dokument des Gesellschaftsvertrags, das dem Subjekt zur Mündigkeit und zu einem vom körperlichen Trieb befreiten Leben in der Zeichenordnung verhelfen soll, wird diesem schließlich in den Körper zurückgestoßen. Das Subjekt, als atmender Körper, erstickt an eben jenen Zeichen, die seine Freiheit zu garantieren schienen.


STIFTERS Konzeption der Ich-Erschreibung ist eine gänzlich andere. Sie beruht auf dem Prinzip der Genealogie, wie sie im Blutstrom der Familie und ihrer Geschlechterfolgen gedacht werden kann.

   Eine solche »Geschlechter«-Phantasie als Legitimationsrahmen des bürgerlichen Ich hat Stifter beinahe zeitlebens beschäftigt. Sie wurde in den verschiedenen Gestaltungsversuchen immer wieder belebt, die ›Rothenstein‹-Geschichte als Geschichte eines Geschlechts und seiner kulturellen Sanierung zu schreiben: in den zwei Fassungen der ›Narrenburg‹ von 1843 und 1844 (die den Kern des Geschehens, seine »Urszene« - den Fideikommiß - und seine genealogische Entfaltung enthalten), in den vier Fassungen der ›Mappe meines Urgroßvaters‹ von 1841/42, von 1847 und den (ineinandergearbeiteten) Versionen von



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1864 und 1867 (die die sanierende Gegen-Geschichte erzählen), in der ›Prokopus‹-Novelle (die den Sündenfall des Geschlechts als novellistische Krise heraushebt und darstellt) und schließlich im großen historischen Roman ›Witiko‹ (1865-1867), der die partikulare Geschichte des Geschlechts in den Blutstrom des Volkes einzubetten sucht.

   Wichtig ist, daß am Anfang dieser Phantasie einer »genealogischen Identität« ein Doppeltes, Parallelgesetztes steht: der Zeugungsakt des Ahnen  u n d  seine Setzung der Schrift, das Strömen des Blutes  u n d  der Verwaltungsakt des Fideikommiß. Das Schema 2 zeigt die Grundstruktur des Geschehens, die Entwicklung der Genealogie als »Identitätsrahmen« aus der Doppelung von Zeugung aus dem Blut und Zeugung aus der Schrift, als die gewissermaßen »ursprüngliche« Einheit von Natur und Kultur, die durch die problematische Figur des Prokopus zum Zerfallen gebracht wird. Die ›Prokopus‹-Novelle expliziert diesen Zerfall als Auseinanderbrechen von mütterlichen Wünschen und väterlichem Gesetz und die fatale Auswirkung dieses Bruchs auf die Identität der Kinder: In den Zwillingen Julius und Julianus werden die »falschen« Namen den »falschen« Körpern zugeordnet, es ist der Augenblick des »Sündenfalls«, in dem natürliche und kulturelle Seite der Identität, Liebe und Erbfolge, Körper und Schrift sich trennen.

   Entscheidend ist, daß an diesem kritischen Punkt des Auseinanderbrechens der genealogischen Identität Stifter einen Seitentrieb des Problems sich entwicklen läßt: in den vier Fassungen der ›Mappe meines Urgroßvaters‹. Der vertriebene Bruder Julius (der auf Namen und Erbe verzichtet) begründet eine »Genealogie« der  S c h r i f t,  fernab vom Blutstrom der Familie. Er gehorcht nicht mehr dem verordneten »Fideikommiß« des Urahns und seinem Schreibzwang, sondern einem selbsterfundenen Prinzip biographischer Identifizierung. Er beschreibt sein Leben in freier Selbstbestimmung in jeweils zu versiegelnden Mappen, die nach Jahren zum Zweck der autonomen Identitätsprüfung eröffnet werden. Erst sein Enkel Heinrich, der die Zugehörigkeit zum Geschlecht der »Rothensteine« vergessen hat und Naturforscher geworden ist, kehrt aus dem ›Mappen‹-Zusammenhang in das Tal der ›Narrenburg‹ zurück und »heilt« (im siebenten Glied, in einer Art säkularisierter Figuralstruktur) das »kranke« Geschlecht, indem er das durch den Sündenfall »abgetriebene« Glied der Geschlechterkette (Pia) durch Adoption wieder in sie zurückführt. Es ist die «Geschichte« (Natur- und Kulturgeschichte) als identitätsbildende Kraft, welche die im Sündenfall beschädigte Natur durch autonome kulturelle Setzung heilt.

   Das Interessanteste freilich an Stifters Konstruktion der Ich-Bildung



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ist dann vielleicht die allmähliche Verwandlung der Figur jenes »freien« Enkels, der, aus der genealogischen Kette durch den Sündenfall der feindlichen Brüder herausgetrieben, nun als Geschichts- und Naturforscher in diese zurückzukehren scheint. In der ersten ›Mappen‹-Fassung (Schema 3) bleibt das Schicksal dieser »Erzähler«-Figur offen; in der zweiten Fassung (Schema 4) verläßt er den genealogischen (Natur-) Zusammenhang definitiv und geht als »Schriftsteller« nach Wien (in die kulturelle Szene der städtischen Welt); die Letzte Mappe (Schema 5) verwandelt den Erzähler, der eine Analog-Figur zu jenem »Heinrich« bleibt, der in der ›Narrenburg‹ ins Tal seiner Väter zurückkehrt, in den »Autor« Stifter selbst: und zwar durch Nachbildung von dessen Familienkonstellation. Stifter hatte vier Geschwister, drei Brüder und eine Schwester, ebenso wie jener Erzähler, und auch seine Frau hieß, wie dessen Frau, Amalia. Aus dem Natur- und Geschichtsforscher Heinrich, der durch Rückkehr in die Genealogie sein Geschlecht heilt, ist nun in einer Art apokrypher, nur durch die analoge Familien-Konstellation erkennbarer »Überblendung«, der »Autor« Stifter geworden, der sich in die selbsterfundene Geschichte einschreibt, wie jener Urgroßvater - mit dem Namen Augustinus »Fundator« - ein »Stifter« seiner selbst.

   Stifters Versuch einer Sanierung des genealogischen Identifikationsfeldes ist vielleicht deshalb so bedeutsam, weil in ihm ein Modell, das »feudalistische« Züge trägt, in ein »bürgerliches« transponiert wird, in welchem das »Allianz«-Prinzip sich mit dem »Sexualitäts«-Prinzip verbindet22: das bürgerliche Prinzip der Sexualität als ein Prinzip der Identifikation durch die Wünsche des Subjekts sich unvermerkt in das Schrift-Prinzip der Selbstzeugung aus dem Schreibakt und der Autorschaft hinüberspielt. Es ist in jenem Augenblick erreicht, in dem Stifter seinem Leben ein Ende setzte. (»Hier ist der Dichter gestorben« schrieb der erste Editor Stifters an den Rand des Manuskripts in Anspielung auf jene Formel, die in der »Narrenburg« das Ende der Lebensmanuskripte der Vorfahren kennzeichnet.)


KARL MKAY macht dieses bei Stifter nur undeutlich aufleuchtende Prinzip identifikatorischer Autorschaft dann zum Generalregler seines Romans. Das Schema 6 verdeutlicht, wie die Handlung in Analogie zum Mythos von der Geburt des Helden und in der Projektion auf die Topographie, die das Prinzip der Provinzialität in kosmische Totalität verwandelt (Mays Phantasie von der Universalität der »Deutschen«), sich allein aus der selbsterzeugten, das Geschohen hervorbringenden Schrift entwickelt und damit gleichzeitig die Identität von Held und



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Autor »herausschreibt«: Pseudonym und Körpername als ein- und dasselbe erweist. Zwischen der Zeugung des Gedichts am Anfang, die den Mythos der künftigen Handlung entwirft, und seiner rituellen Erfüllung am Schluß werden zahlreiche Handlungskreise entfaltet, die aber ausnahmslos (es bleiben keine blinden Motive) in die Schrift des Anfangs zurückgeführt werden: nur freilich nicht mehr als Projektion, sondern als definitive Bewahrheitung der Realprophetie des Anfangs.


Die Thesen dieses Aufsatzes wurden verschiedentlich zur Diskussion gestellt: In Freiburg i. Br. im Rahmen einer Vortragsreihe des Studiums generale mit dem Titel »Begegnung mit dem Ich« am 7. Juli 1980; auf Einladung Karl Bertaus bei einem Mediävistischen Kolloquium in Kinsale, Irland, im September 1980; während einer Ferienakademie der Studienstiftung in Alpbach in Tirol im September 1981; während einer Vortragsreise in Rumanien im Juni 1982 an der Universität Jasi.


1Zitiert wird, wenn nicht anders vermerkt, nach der gebundenen Pawlak-Ausgabe. Herrsching; die kursiven Zahlen verweisen auf die entsprechenden Stellen im Faksimile-Nachdruck der Fehsenfeld-Ausgabe (1892- 1910), von denen die Pawlak-Texte abweichen. Bamberg 1982-1984.
2Vgl. hierzu Max Kommerell: Jean Paul. Frankfurt a. M. 1966, S. 304f.
3Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Frankfurt a. M. 1969 (= Fischer Taschenbuch 968), z. B. S. 245f.
4Ich zitiere ein unveröffentlichtes Manuskript nach Hans Wollschlägers Buch: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 130. - Vgl. auch Karl May: Aphorismen über Karl May (Jb-KMG 1983, S. 63).
5Man muß nämlich wissen, daß der Sinn für Familienangehörigkeit, also der Stolz auf eine ungewöhnliche Abkunft, dem Indianer nicht etwa etwas Unbekanntes ist. Dieser Sinn wird ihnen allerdings sehr häufig abgesprochen; aber wer das tut, verrät dadurch nur seine Unkenntnis und plappert gedankenlos Behauptungen nach, welche von den Unterdrückern der roten Rasse vorgebracht worden sind, um ihr grausames Vergehen in einem weniger verwerflichen Lichte erscheinen zu lassen. Es gibt unter den roten Stämmen berühmte Familien, denen anzugehören eine große Ehre ist. Daran kann der Umstand, daß die Indianer sonst keine Familiennamen besitzen, gar nichts ändern. Es ist da bei ihnen genauso wie z. B. bei gewissen Völkern des Altertums und des heutigen Orients, die auch keine Familiennamen kannten oder kennen und doch Familien aufzuweisen haben, welche sogar weltgeschichtlich berühmt geworden sind. (Weihnacht 88, 120f.) Vgl. auch S. 146, 206f., wo der Namenerwerb durch eine große Tat erwähnt wird.
6Vgl. Weihnacht S. 86ff., 118; 89f., 121; 381, 550f
7Man konnte jedes Wort, welches wir sprachen, drin hören; darum zog ich den einen Augenwinkel in Falten, ein Zeichen, welches Winnetou sofort verstand, und antwortete. . . (Weihnacht 193, 275) Vgl. auch S. 249, 356 und S. 200, 284.
8Ich will, erklärt Old Shatterhand, »der Lehrer meiner Leser« sein, denn »ein Lehrer zu sein, ist ein hochwichtiger, ein heiliger Beruf!« (Winnetou I S.109f, 153) Vgl. hierzu das grundlegende Buch von Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Königstein/Ts. 1979, (Diskurs. Forschungen zur deutschen Literatur Bd. 2) S. 90. Neben dem Werk Schmiedts sind vor allem die Veröffentlichungen in den Jahrbüchern der Karl-May-Gesellschaft herangezogen worden.
9»Der Westmann eignet sich nämlich nach und nach einen, ich will sagen, sechsten Sinn an, auf den er sich ebenso wie auf die fünf eigentlichen Sinne verlassen kann. Es ist das eine Art geistigen Sehens oder Hörens, eine geheimnisvolle Art der Wahrnehmung, welche nicht von Licht- oder Schallwellen abhängig ist. Man mochte ihn den Ahnungs- oder den Vermutungssinn nennen, wenn Vermutungen und Ahnungen nicht etwas so



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Unbestimmtes wären, denn dieser sechste Sinn trifft das Richtige mit ganz derselben Sicherheit, wie das Auge einen vor ihm stehenden Gegenstand erfaßt. Der Westmann hat sich diesen Sinn ganz in derselben Weise nach und nach anzuüben, wie das Kind auch erst durch lange Übungen die Fertigkeit gewinnt, sich seiner Sinne zu bedienen; dann aber, wenn man ihn einmal besitzt, kann man sich auf ihn ebenso fest wie auf das Auge oder das Ohr verlassen; ja, es kommt sogar nicht selten vor, daß er den Ausschlag gibt, wenn die Ergebnisse von Gesicht und Gehör einander widersprechen.« (Weihnacht 221, 315)
10Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt a. M. 1973 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 16), passim.
11Vgl. hierzu die Szene im Wirtshaus, Weihnacht, S. 103ff., 142ff.
12Dieser Begriff, wie derjenige der »figura« im Hinblick auf die Mimesis-Tradition des Abendlandes, ist Erich Auerbach zu verdanken. Er entwickelt die Zusammenhänge systematisch in seinem wegweisenden Aufsatz »Figura« von 1939. Dieser ist wieder abgedruckt in Erich Auerbach: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern und München 1967, S. 55-92.
13Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke 15. Vorlesungen über die Ästhetik III. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970, S. 358f., vor allem aber 406f.
14Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Literatur. Bern 1959, S. 167-194
15Vgl. Schmiedt, Anm. 8, S. 93 - Satan und Ischariot II, S. 290, 360.
16Die von Karl May erfundenen Namen bezeugen fast durchweg die Beglaubigung der Identität aus dem Körper,  n i c h t  aus der Genealogie, dem Ursprung, dem Vaternamen, dem Gesellschaftsvertrag: Old Shatterhand, Old Surehand, Old Death, Old Firehand . . .
17Es ist ein Begriff von Autorschaft, der sich im Werk Franz Kaflkas auf durchaus analoge Weise entfaltet - im ›Hungerkünstler‹, dessen Kunst sich als Nicht-Tun bestimmt, in ›Josefine, der Sängerin‹, deren Piepsen sich gerade durch die Schwäche gegenüber seiner lebensweltlichen »Naturform« auszeichnet.
18Im Roman wird dies verdeutlicht durch die stufenweise Metamorphose der »Pseudonyme« der beiden Protagonisten (des positiven wie des negativen »Helden«): durch den »erschriebenen« Namen Karl May, der am Anfang als bürgerlicher Name des Schülers erscheint, dann in den Pauknamen Sappho, das bürgerliche Pseudonym Karl Meier, den Wildnisnamen Old Shatterhand verwandelt wird, um wieder in den bürgerlichen Namen des Schriftstellers Dr. May zu münden, durch den »verschollenen« Namen des Mitschülers, der zwar auch den Spitznamen (Carpio) und den Wildnisnamen (Old Jumble) erwirbt, aber letztlich in einem namenlosen Grab endet. Held und Verschollener sind die beiden Spielformen bürgerlicher Selbsterwerbung des Subjekts, wie sie der Bildungsroman phantasiert, von Goethes ›Wilhelm Meister‹ zu Kafkas ›Amerika‹-Roman, zwischen freier Autorität (als Autorschaft) und dem Verloschen des Subjekts schwankend. Eine Analyse des ›»Weihnacht!«‹-Romans, die aus der Gegenposition argumentiert, nicht den Helden Old Shatterhand, sondern die Jammergestalt Carpios als Leidens-Ich Karl Mays ins Zentrum stellt, gibt Schmiedt (s. o. Anm. 8) S. 159-163.
19Karl Mays Identitatsphantasien sind solche der Selbstzeugung. Wie Hölderlins Hyperion beschleichen auch Mays Helden gelegentlich Vorstellungen pflanzenhafter Ichbildung: die Jugend nicht als Familienkonstellation, sondern als Nährboden einer autotrophen Konstitution: Der Mensch ist eine gehende Pflanze, deren Wurzeln doch nirgends anders als in der Jugendzeit ruhen. Aus ihr holt er sich noch im spätesten Alter, vielleicht ohne es zuzugeben oder es auch nur zu wissen, eine Menge geistiger Nahrungsstoffe, ohne welche sein Gemut verdorren müßte! (Weihnacht 249, 357)
20Die Gewinnung der Identität aus der Autorschaft, dem Recht am eigenen Wort, ist ja zugleich ein kulturgeschichtliches Phänomen des 19. Jahrhunderts, das im Kampf Lachmanns um die Urheberschaft am »Werk Lessings« vielleicht zum erstenmal in aller Schärfe hervortritt und in philosophischen und ökonomischen Erwägungen zum Urheberrecht soziale Bedeutung annimmt. Vgl. hierzu Heinrich Bosse: Autorschaft



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ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn-München-Wien-Zürich 1981 (UTB 1147).
21Vgl. hierzu Peter Horst Neumann: Der Preis der Mündigkeit. Über Lessings Dramen. Anhang: Über Fanny Hill. Stuttgart 1977
22Diese Begriffe werden von Michel Foncault entwickelt: Histoire de la sexualite 1. La volonté de savoir. Paris 1976


Für die Reinzeichnung der Schemata auf den Seiten 96-100 ist Gabriele Ewald herzlich zu danken.



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* Analog-Figur zu Heinrich (II.) aus der "Narrenburg", dieser Erzähler integriert sich nicht in die Genealogie, sondern verläßt sie: nach Wien; er nimmt nur den Schreibschrein mit



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