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HEINZ STOLTE


Das siebzehnte Jahrbuch


Vor nunmehr 75 Jahren, am 30. März 1912, ist der Schriftsteller Karl May zu Radebeul bei Dresden verstorben, eine Woche, nachdem es ihm noch vergönnt gewesen war, in Wien anläßlich seines Vortrages ›Empor ins Reich der Edelmenschen‹ einen nahezu triumphalen Erfolg bei einem nach Tausenden zählenden Publikum zu erleben. Die 75. Wiederkehr seines Todestages ist in diesem Jahre Anlaß geworden, in vielen Würdigungen der Presse und des Fernsehens, ja sogar durch amtlich-offizielle Akte - und zwar einvernehmlich in  b e i d e n  deutschen Staaten - seiner zu gedenken. Die feierliche Kranzniederlegung an seinem Grabmal zu Radebeul war ein besonders beachtliches Zeichen der Rehabilitierung eines lange verpönten Autors, und die in einer Feier zu Bamberg durch den Bundespostminister persönlich ausgegebene und begründete Karl-May-Sonderbriefmarke dokumentierte den gleichen Respekt vor einer ungewöhnlichen literarischen Lebensleistung.

   Das hier vorgelegte siebzehnte Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft dürfte man daher wohl auch als eine ›Jubiläums‹-Publikation ansehen, auch wenn wir, dem Gegenstand unserer wissenschaftlichen Forschungsziele angemessen, es sorgsam vermieden haben, hier einen Jubelchor erschallen zu lassen. Im Gegenteil: Der 75. Todestag Karl Mays ist uns Anlaß gewesen, noch einmal manches ins Gedächtnis zu rufen, was die schier unglaubliche Spannweite an Schicksal zeigt, die in seinem Falle zwischen tiefster Erniedrigung und Verfemung damals und den ehrenden Bezeugungen von heute liegt.

   So haben wir denn nicht ohne Grund zur gleichen Zeit, da Millionen Briefmarken den Ruhm des Jubilars bekunden, an den Beginn unseres Jahrbuchs den Beitrag von Roland Schmid gestellt, der einen Fund aus dem Verlagsarchiv erstmals veröffentlicht und kommentiert; Karl Mays (lange Zeit rätselhaft gebliebene) Notierungen, die er während seiner vierten Haftzeit geschrieben hat (»Leckerbissen«. Karl Mays Atzung im September 1879 - von ihm selbst überliefert). Ihn muß man sich zunächst einmal vor Augen halten, den armen Kerl in der Zelle, und diesmal sogar durch ein Fehlurteil hineingeraten. Hiervon wird sich um so wirkungsvoller abheben, was Hartmut Vollmer (Ins Rosen-



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rote. Zur Rosensymbolik bei Karl May) in einem schönen und ins Geistesgeschichtliche ausgreifenden Essay, aber genau anknüpfend an letzte Worte Mays vor seinem Sterben, ausgebreitet hat: ein spezifisch  p o e t i s c h e s  Kernmotiv seines Œuvres.

   Die folgenden drei Beiträge enthalten Interpretationen zu Werken Karl Mays. Ingmar Winter (»Bin doch ein dummer Kerl«) betrachtet das so vielfach verwendete Motiv vom Spurenlesen und die damit allemal verknüpften quasididaktischen Dialoge und zieht Verbindungen zwischen ihnen und der damals zeitgenössischen Schulpädagogik und ihren Wandlungen. Die in unserem Jahrbuch 1986 veröffentlichte Abhandlung über Mays Roman ›»Weihnacht!«‹ (Der Fiedler auf dem Dach) hat den Wunsch erweckt, dieses Thema, das eine entscheidende Grenzsituation im Leben des Schriftstellers bezeugt, noch des näheren und weiteren zu vertiefen. Hierzu hat uns Gerhard Neumann (Das erschriebene Ich) seinen schon an anderer Stelle veröffentlichten und von uns diskutierten Aufsatz über ›»Weihnacht!«‹ zum Wiederabdruck zur Verfügung gestellt und damit zweifellos Anregungen zu ähnlichen Untersuchungen gegeben; z. B. indem er zeigt, wie sich soziale Strukturen der heimatlichen Gesellschaft (1. Kapitel) im weiteren exotischen Teil des Romans verfremdet wiederholen. Auch Walther Ilmer (Karl Mays Weihnachten in Karl Mays ›»Weihnacht!«‹) hat sich dieses Themas angenommen in einer Abhandlung, von der wir hier nur den ersten Teil haben aufnehmen können und in der er insbesondere die Hypothese vertritt, daß sich die biographische Episode vom Kerzendiebstahl im Seminar gewissermaßen prismenartig in seinem Weihnachtsroman vielfältig niederschlägt.

   Es hängt mit dem schon erwähnten understatement zusammen, das wir, wie schon erwähnt, in diesem Buche wahren wollten, daß mehr als die Hälfte des Bandes dem Bereich der Kritik und Polemik eingeräumt ist, dem also, was Helmut Schmiedt im Literaturbericht dieses Jahrbuchs so trefflich die Sekundär-, Tertiär- und Quartärliteratur nennt. Es sind die schlimmen Zeiten von Karl Mays letztem Lebensjahrzehnt, die anschaulich wiederaufleben in Dokumenten wie von Paul Rentschka (Karl Mays Selbstenthüllung) und Mays erstmals hier veröffentlichten Briefen an Rentschka, welche beide Ernst Seybold ausführlich eingeleitet und mit Anmerkungen versehen hat; oder auch von Hermann Cardauns (›Herr Karl May von der anderen Seite‹ und ›Die »Rettung« des Herrn Karl May‹), denen Christoph F. Lorenz kritische Bemerkungen über diesen Autor (»Nachforscher in historischen Dingen«) vorausgeschickt hat. In einer Retrospektive (Vor fünfzig Jahren. Zeitgenössische Stimmen zum ›Volksschriftsteller‹) hat der Verfasser der



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ersten Dissertation über Karl May (Jena 1936) eine exemplarische Auswahl aus der ihm damals zugegangenen Flut von Rezensionen an sechs Beispielen, zustimmenden und verreißenden, wieder aus der Vergessenheit heraufgeholt. Es war immerhin der Beginn der akademischen Karl-May-Philologie. Auch diesmal hat Helmut Schmiedt in seinem Literaturbericht eindrucksvoll verdeutlicht, welch weite Kreise die Beschäftigung mit dem Thema Karl May heute bereits umgreift, sei es, daß Texte neu ediert worden sind, sei es, daß Philologen ihr methodisches Instrumentarium an dem Phänomen Karl May in mehr oder weniger ergiebigen Analysen erprobt haben. Daß hierbei neben klugen Erkenntnissen und erstaunlichen Entdeckungen gelegentlich auch Torheiten und Binsenwahrheiten herauskommen, hat uns unser scharfäugiger Referent auf eine Weise vorgeführt, die uns außer einer Fülle von Informationen auch ein besonderes Lesevergnügen bietet.

   Der kritische Teil dieses Jahrbuchs wäre den Herausgebern nicht vollständig erschienen, wäre darin nicht auch ein gehöriges Stück  S e l b s t k r i t i k  enthalten gewesen. Günter Scholdt (Karl-May-Forschung und Karl-May-Gesellschaft) hat es uns in einer weit ausholenden Darstellung geliefert und dabei manches Positive lobenswert gefunden, aber vor allem mit Tadel und Forderungen nicht gespart. Die Herausgeber sind keineswegs mit allen Meinungen Scholdts einverstanden, wie mir beispielsweise seine Forderung, die Karl-May-Gesellschaft möge negative Urteile über May nicht unterschlagen, angesichts der gerade in diesem Jahrbuchband gehäuften Kritik fehl am Platz zu sein scheint, fürchteten wir doch vielmehr, diesmal des Guten (bzw. Bösen) zuviel getan zu haben.

   Wie in jedem Jahre schließt auch diesmal Erich Heinemann unser Jahrbuch mit einem Bericht über die Tätigkeit der Karl-May-Gesellschaft: ›Arbeit, Pläne, Perspektiven‹.





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