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GERHARD NEUMANN

Karl Mays "Winnetou" – ein Bildungsroman?*



. . . das steht in einem Buche gedruckt,
welches ich noch nicht gelesen habe.

Winnetou II, 272(1)

I

Im Bildungsroman verdichtet sich das Identitätskonzept des 19. Jahrhunderts auf exemplarische Weise. Grundpfeiler dieses Identitätskonzepts sind die Begriffe des Pädagogischen und des Ästhetischen, bezogen auf das Ausdrucksfeld des menschlichen Körpers. Der Bildungsroman zeigt das bürgerliche Selbst auf seinem Weg durch die Welt, den Wahrnehmungsordnungen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit sich überantwortend – »Formen der Anschauung« hatte Kant sie genannt.

   Im Hinblick auf die Zeit bedeutet dies, daß die Erfahrung von Lebensgeschichte sich auf die glückende Vermittlung von Augenblick und Lebensganzem auszurichten hat; im Hinblick auf den Raum meint dies, daß Lebensgeschichte sich im Spannungsfeld von Heimat und Fremde zu entfalten vermag. Temporalität und Territorium werden zu Erfahrungsbereichen, in denen das neuzeitliche Subjekt sich selbst pädagogisch wie ästhetisch zu inszenieren weiß. Goethe, in seiner über vierzigjährigen Auseinandersetzung mit dem "Wilhelm Meister"-Stoff, hatte die Regeln dieses Identifikationsspiels aufgestellt: Der "Wilhelm Meister" ist die erste umfassende Verwirklichung des neuen, auf die Selbstvollendung im zeitlichen und räumlichen Kontinuum gestellten Paradigmas – und der Aufweis von dessen Aporien zugleich. Aporien, die sich aus dem Selbstbild des Menschen, das die französische Revolution aufgestellt hatte, ableiten: daß nämlich um 1780 auf besondere Weise und zum ersten Mal der emphatische Begriff von der Autonomie des schöpferischen Subjekts entsteht – und daß gleichzeitig dieses Subjekt den Normen sich verfestigender Wissensordnungen ausgesetzt erscheint, die es einschränken und disziplinieren: den Diskursen der Justiz, der Medizin und der Pädagogik.

   Schöpfertum tritt fortan mit der Normenanpassung in Auseinandersetzung, prätendierte Autonomie mit der Dominanz der Systeme, das phantasierende Genie mit dem systemorientierten Wissenschaftler. Man könnte auch sagen: Ästhetisches Spiel, als Inbegriff der Freiheit, und disziplinierende Pädagogik, als Organon menschenbildenden Regelwerks, rivalisieren in ihrem Anspruch auf den menschlichen Kör-

* Vortrag, gehalten am 21.11.1987 auf der 9. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Wien.


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per [Körper]. Identität, als das faszinierendste und schillerndste Phantasma des 19. Jahrhunderts, etabliert sich auf prekäre Weise gerade in der Mitte zwischen beiden Ansprüchen des Spiels und der Disziplin, als Grenzerfahrung. Und der Bildungsroman trägt dem Rechnung: Seine Helden stehen im doppelten Zeichen von Künstlerfigur und Sozialfunktionär, von schöpferischer Persönlichkeit und diszipliniertem Subjekt. Goethes "Wilhelm Meister", der als Schauspieler seinen Weg beginnt, findet seine soziale Rolle schließlich als Arzt in einer streng funktionalisierten Gesellschaft, dem Auswandererbund. Aus dem improvisierenden Schauspieler, der Wirklichkeit erzeugt, indem er seine Körperwahrheit inszeniert, wird ein Diagnostiker, der die pathologischen Symptome menschlicher Körper entziffert und in Zeichen eines sozialen Codes verwandelt, des medizinischen Diskurses. Aus dem Erfinder von Wirklichkeit wird deren Leser; aus dem phantasierenden Künstler wird der Entzifferer von Spuren.


II

Der so verstandene Bildungsroman scheint mir durch fünf Merkmale gekennzeichnet.

   Ein erstes Merkmal zunächst: Im Zentrum der Gedanken, die sich auf das neu entstehende Subjekt richten, steht die Frage nach dem Besitz und seiner identifizierenden Kraft. Liebe, als eine Beziehungserfahrung, und Bildung, als eine Gestaltungserfahrung, treten mit dieser bürgerlichen Kernkategorie des Besitzes in Auseinandersetzung; beide Erfahrungen entfalten ihre gesellschaftsbildende Kraft dann freilich erst in genealogischen Zusammenhängen: und zwar im Helden, der im Spielfeld seiner Herkunft kulturelle wie erotische Erfahrungen macht und damit selbst wieder – im ökonomischen wie im erotischen Sinne – zum Garanten des künftigen Geschlechts wird; der dem väterlichen wie dem mütterlichen Erbe verpflichtet bleibt und dieses sich im Wort der Bildung und im Blick der Liebe erwirbt. Wilhelm Meisters Lebensweg ist für diese Grunderfahrungen beispielhaft; er ist Kaufmannssohn und Schauspieler; er tritt in Auseinandersetzung mit dem ökonomisch orientierten Vater; er macht, durch das Geschenk der Mutter geleitet, Erfahrungen mit der Frau und tritt in Berührung mit der Adelswelt; er sucht den Übergang aus der Familie in die Gesellschaft; seine Geschichte ist die exemplarische Inszenierung eines "Sozialisationsspiels".(2)

   Ein zweites Merkmal des Bildungsromans bestimmt sich durch den Umstand, daß der Held seine Identität als Wanderer durch die Welt findet. Er erfährt die Idee seines Selbst in der Dialektik von Heimat und Fremde. Auch diese Grundfigur lösen auf schlüssige Weise Goethes "Wilhelm Meister"-Romane ein. In den "Wanderjahren" exemplarisch inszeniert, dient sie künftigen Texten als Leitbild der Gestaltung,


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von Mörikes "Maler Nolten" über Kellers "Grünen Heinrich" bis hin zu Franz Kafkas "Verschollenem", in dem sich das Identifikationsspiel des Helden aus der Differenz zwischen alter und neuer Welt entwickelt, und dem "Schloß"-Roman, in dem ein Landvermesser sich des Territoriums zwischen Heimat und Fremde – als Vermessung der Distanz zu sich selbst und zur Welt – zu versichern sucht.

   Ferner ist ein drittes Moment zu nennen: Im Bildungsroman erscheint die Selbstwerdung des Helden im Zeichen eines Lernprozesses; sie wird als pädagogische Inszenierung des Ich vergegenwärtigt. Das Leben erscheint als Schule, ein Stationenweg von Krisen, Prüfungen bestimmen seinen Gang. Der Held muß in kritischen Situationen Proben seines Könnens ablegen – wie Wilhelm Meister in der Aufführung seines "Belsazar" –, die sein Selbstbewußtsein kräftigen oder erschüttern. So ist es Wilhelm »Meister«, der den Weg vom »Schüler« über den »Gesellen« bis zum Erwerb des ererbten Namens – nomen est omen – zurücklegt.

   Ein viertes Moment als auszeichnendes Merkmal des Bildungsromans tritt hinzu: Das Leben des Helden wird in anderen, gleichfalls im Kontext des Romans erzählten Lebensgängen gespiegelt und gewinnt erst dadurch seine Bedeutung, seine Eigentümlichkeit und Kontur; in Lebensgängen nämlich, die als Parallelhandlungen erzählt oder als eingelegte Novellen zur Kenntnis gebracht werden. Lebensgeschichte erscheint als soziales Paradigma, als Simulakrum der Selbstfindung im sozialen Kontext. In Goethes "Lehrjahren" ist es der Lebensweg des Ehepaars Melina, der der Konfiguration von Wilhelm und Mariane zugesellt wird, in den "Wanderjahren" ist es die Parallelgeschichte Lenardos, die der Suche Wilhelms nach Natalie beigeschaltet erscheint. Auch die in die "Wanderjahre" eingeschobenen Novellen setzen antithetische Akzente zum Geschehen der Haupthandlung oder werden gleichsam parallelisierend – mit den Ereignissen des Romans durch Figurenidentität verflochten.

   Schließlich noch ein letztes charakteristisches Merkmal des Bildungsromans: Lebensgeschichte wird – im Bild des schmalen, oft auf Abwege führenden Pfades – zwischen dem freien Spiel der Wünsche und den Einschränkungen sozialer Gesetze angesiedelt. Die "Wilhelm Meister"-Romane berufen den Schlüsselbegriff der »Entsagung«, der im Doppeltitel der "Wanderjahre" bedeutsam aufscheint. Freud wird später von der Differenz zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip sprechen, in deren Konflikt das Lebensgefühl des bürgerlichen Subjekts, durch Triebverzicht und Sublimation bestimmt, hervortritt.

   Nimmt man diese fünf Momente zum Maßstab der Gattung, so ist auch Karl Mays "Winnetou"-Trilogie durchaus als ein »Bildungsroman« zu lesen.

   Da ist zunächst die Trias von Liebe, Bildung und Besitz, die im "Win-


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netou [Winnetou]" wie in Goethes "Wilhelm Meister" eine zentrale Rolle spielt. Ich erinnere an das wichtige Gespräch Old Shatterhands mit Winnetou im Kapitel Schöner Tag des ersten Bandes, wo es um Gold und Zufallsglück und deren Ummünzung in Liebe und Weisheit geht – der deadly dust und seine Liebe wie Bildung bedrohende Gewalt erweisen sich ohnehin als Orgelpunkt des Bildungsgeschehens des Romans.(3)

» . . . Warum hat mein Bruder sein Vaterland verlassen?«

   Es ist bei den Roten nicht Sitte, solche Fragen auszusprechen. Winnetou konnte es aber thun, weil er jetzt mein Bruder war, der mich kennen lernen mußte. Doch wurde seine Frage nicht nur aus teilnehmender Neugierde ausgesprochen; er hatte noch einen andern Grund dabei.

   »Um hier hüben das Glück zu suchen,« antwortete ich.

   »Das Glück! Was ist das Glück?«

   »Reichtum!«

   Er ließ, als ich dies sagte, meine Hand los, die er bis jetzt festgehalten hatte, und es trat wieder eine Pause ein. Ich wußte, er hatte jetzt das Gefühl, sich doch in mir getäuscht zu haben.

   »Reichtum!« flüsterte er dann.

   »Ja, Reichtum!«, wiederholte ich.

   »Also darum – darum – darum!«

   »Was?«

   »Darum haben wir dich bei – bei ––– «

   Es that ihm doch wehe, das Wort aussprechen zu sollen. Ich vollendete es:

   »Bei den Länderdieben gesehen?«

   »Du sagst es. Du thatest es also, um reich zu werden. Meinst du denn wirklich, daß Reichtum glücklich macht?«

   »Ja.«

   »Da irrst du dich. Das Gold hat die roten Männer nur unglücklich gemacht; des Goldes wegen drängen uns noch heut die Weißen von Land zu Land, von Ort zu Ort, so daß wir langsam aber sicher untergehen werden. Das Gold ist die Ursache unsers Todes. Mein Bruder mag ja nicht danach trachten. «

   »Das thu ich auch nicht.«

   »Nicht? Und doch sagtest du, daß du das Glück im Reichtume suchest.«

   »Ja, das ist wahr. Aber es gibt Reichtum verschiedener Art, Reichtum an Gold, an Weisheit und Erfahrung, an Gesundheit, an Ehre und Ruhm, an Gnade bei Gott und den Menschen.« (I, 423f.)

Auch das zweite Grundproblem des Bildungsromans – die Identifikation des Helden im Spannungsfeld von Heimat und Fremde – realisiert das Handlungsgerüst von Karl Mays "Winnetou" auf exemplarische Weise: Europa und Amerika werden (wie in Goethes "Wanderjahren", wie noch in Kafkas "Verschollenem") zu Schauplätzen der Selbsterfahrung des Helden, wobei der Weg Old Shatterhands vom Hauslehrer über den Landvermesser und den Detektiv bis zur Körper wie Schrift beherrschenden Position des Schriftstellers führt. Dabei wird die Erfahrung des Abstandes zwischen alter und neuer Welt zum eigentlichen Medium der Selbstfindung; vielleicht am überzeugendsten verdichtet


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in der Doppelfigur von Old Shatterhand und Winnetou, dem Europäer und dem Amerikaner, der als »das andere Ich« des ersteren erscheint, Spiegel und Selbstvergewisserung zugleich. (I, 612f.)

   Auch das dritte identifikatorische Begründungsmuster des Bildungsromans, das pädagogische Paradigma, die Vorstellung des Lebens als Schule, erscheint in Karl Mays Roman geradezu obsessiv realisiert. Es werden unablässig Proben abgelegt, in denen der als »Schüler«, als Greenhorn (I, 8; II, 72, 142, 334, 340) verkannte Held seine »Meisterschaft« beweist, und durch sie die Stationen seines Lernprozesses zu akzentuieren und zu legitimieren sucht: Im Reiten, Schießen und Schwimmen, im Lassowerfen und Streitaxtschleudern, im Bärentöten, Mustangfangen und im Zweikampf, in der Belauschung und im Befreien von Gefangenen legt Old Shatterhand unermüdlich neue Identitätsproben ab – vor allem aber natürlich im Anschleichen und im Spurenlesen. Es sind Augenblicke der Bewährung, durchaus jenen Prüfungen zu vergleichen, die Wilhelm Meister in seiner Selbstinszenierung auf dem Theater auferlegt werden: als dem Autor, Regisseur und Helden seines Stückes zugleich.

   Auch das vierte identifikatorische Desiderat und Gestaltungsprinzip des Bildungsromans, die Spiegelung des Lebensweges des Helden in anderen Lebensgängen, wird vom "Winnetou"-Roman musterhaft eingelöst. Fünf lebensgeschichtliche Intarsien, die Simulakren bürgerlicher Identität exemplarisch entfalten, werden in den Handlungsverlauf eingeschoben. Sie stehen im Zeichen verschiedener Problemstellungen.

   So wird das Thema bürgerlicher Identität zwischen Politik und Kriminalität im Lebensweg des Revolutionärs und Büßers Klekih-petra dargestellt, so erscheint die Bewährung von Identität im Geschwisterkonflikt (durch das Motiv der »feindlichen Brüder«) repräsentiert: und zwar in der Kain-Abel-Geschichte von Old Death und seinem Bruder nämlich, die aus der Spannung zwischen Ökonomie und Familienliebe erwächst; so wird bürgerliche Identität aus der für das 19. Jahrhundert vielleicht bedeutsamsten Konfiguration heraus entwickelt, dem Vater-Sohn-Verhältnis und seiner problematischen Situierung zwischen Zeugung und Adoption – und zwar in der Geschichte der Sohnschaft Harrys (eines Glückskindes und zweiten David) (II, 406) zwischen Old Shatterhand und Old Firehand; so zeichnet sich ein viertes Identitätsphantasma des 19. Jahrhunderts im klassischen Dreiecksverhältnis der einen Frau zwischen zwei Männern ab – und zwar in der Geschichte von Winnetou, Old Firehand und Ribanna, der Mutter Harrys; so entpuppt sich schließlich ein letztes begründendes Identitätskonstrukt als Beglaubigung des Mannes durch seine Familie, des Mannes, der zum Garanten ihrer Einheit und Rächer ihrer Zerstörung wird – etwa in der Geschichte von Sans-ear, die im dritten Band der Trilogie erzählt wird.


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   Und schließlich noch das fünfte Merkmal des Bildungsromans: die Entfaltung der Entsagungsethik als Verwirklichungsrahmen der Selbstfindung des Helden – ein Thema, das im christlichen Grundkonzept Karl Mays ohnehin verankert ist.

   Mit diesem Befund, daß Karl Mays "Winnetou" wichtige Merkmale des Bildungsromans enthält, wie er durch "Wilhelm Meister und seine Brüder"(4) zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert repräsentiert ist, könnte man sich bescheiden. Ich möchte aber doch noch einen Schritt weitergehen.


III

Denn genaugenommen ist es ja so, daß Goethe mit dem "Wilhelm Meister" als Prototyp der Gattung nicht  e i n e n ,  sondern  z w e i  Bildungsromane geschrieben hat, die geradezu konträre Modelle vorstellen: zunächst die (1777 begonnene) "Theatralische Sendung" (die 1791–96 in die "Lehrjahre" umgeschrieben wird); sodann aber die "Wanderjahre" (die in zwei Fassungen von 1821 und 1829 vorliegen).

   Die "Theatralische Sendung" beginnt mit der Kindheitsgeschichte Wilhelms und erzählt seinen Lebensweg als Schauspieler; die "Wanderjahre" beginnen mit der Kindheit von Felix, dem Sohn Wilhelms, und erzählen noch dessen Jünglingsjahre als Zögling der Pädagogischen Provinz.

   In der Gegenüberstellung der Lebensgeschichten von Wilhelm und Felix, von Vater und Sohn, werden nun aber von Goethe zwei gänzlich entgegengesetzte Identitätsmuster entwickelt.

   Auf der einen Seite ist es die Geschichte Wilhelms, die in der "Theatralischen Sendung" erzählt wird. Das Kind bekommt von seiner Großmutter ein Puppentheater geschenkt; es wird dazu geführt, in Akten der Phantasie Elemente seines künftigen Lebensspiels in Szene zu setzen und in immer neuen Verwandlungen und Umschöpfungen zu erproben; in diesem Kontext lernt das Kind die Liebe als schöpferische Kraft erkennen, die Welt bildet sich ihm zum Theater, zur Bühne von Selbstinszenierungen, in denen die zeichenbildende Kraft des Körpers – repräsentiert im Schauspieler – sich bewährt und das Selbstbewußtsein des Helden immer von neuem beglaubigt.

   Ganz anders stellt sich das Problem in der Geschichte von Felix, dem Sohn Wilhelms, dar, die in den "Wanderjahren" erzählt wird. Am Beginn  d i e s e s  Bildungsromans (der etwa 30 Jahre später konzipiert wird als die "Theatralische Sendung") zeichnet sich ein dem ersten Roman gänzlich entgegengesetztes Entwicklungsmodell ab. Felix durchwandert mit Wilhelm, seinem Vater, das Gebirge; er nimmt Spuren wahr, die die Natur gelegt hat – Spuren von Mineralien, von Pflanzen, von Tieren und von Menschen:


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Im Schatten eines mächtigen Felsen saß Wilhelm an grauser, bedeutender Stelle, wo sich der steile Gebirgsweg um eine Ecke herum schnell nach der Tiefe wendete. Die Sonne stand noch hoch und erleuchtete die Gipfel der Fichten in den Felsengründen zu seinen Füßen. Er bemerkte eben etwas in seine Schreibtafel, als Felix, der umhergeklettert war, mit einem Stein in der Hand zu ihm kam. »Wie nennt man diesen Stein, Vater?« sagte der Knabe.

   »Ich weiß nicht«, versetzte Wilhelm.

   »Ist das wohl Gold, was darin so glänzt?« sagte jener.

   »Es ist keins!« versetzte dieser, »und ich erinnere mich, daß es die Leute Katzengold nennen.«

   »Katzengold!« sagte der Knabe lächelnd, »und warum?« »Wahrscheinlich weil es falsch ist und man die Katzen auch für falsch hält.«

   »Das will ich mir merken«, sagte der Sohn und steckte den Stein in die lederne Reisetasche, brachte jedoch sogleich etwas anders hervor und fragte: »Was ist das?« – »Eine Frucht«, versetzte der Vater, »und nach den Schuppen zu urteilen, sollte sie mit den Tannenzapfen verwandt sein.« – »Das sieht nicht aus wie ein Zapfen, es ist ja rund.« – »Wir wollen den Jäger fragen; die kennen den ganzen Wald und alle Früchte, wissen zu säen, zu pflanzen und zu warten, dann lassen sie die Stämme wachsen und groß werden, wie sie können. « – »Die Jäger wissen alles; gestern zeigte mir der Bote, wie ein Hirsch über den Weg gegangen sei, er rief mich zurück und ließ mich die Fährte bemerken, wie er es nannte; ich war darüber weggesprungen, nun aber sah ich deutlich ein paar Klauen eingedrückt; es mag ein großer Hirsch gewesen sein. « – »Ich hörte wohl, wie du den Boten ausfragtest.« – »Der wußte viel und ist doch kein Jäger. Ich aber will ein Jäger werden. Es ist gar zu schön, den ganzen Tag im Walde zu sein und die Vögel zu hören, zu wissen, wie sie heißen, wo ihre Nester sind, wie man die Eier aushebt oder die Jungen, wie man sie füttert und wenn man die Alten fängt: das ist gar zu lustig. «

   Kaum war dieses gesprochen, so zeigte sich den schroffen Weg herab eine sonderbare Erscheinung. Zwei Knaben, schön wie der Tag, in farbigen Jäckchen, die man eher für aufgebundene Hemdchen gehalten hätte, sprangen einer nach dem andern herunter, und Wilhelm fand Gelegenheit, sie näher zu betrachten, als sie vor ihm stutzten und einen Augenblick stillhielten. Um des ältesten Haupt bewegten sich reiche blonde Locken, auf welche man zuerst blicken mußte, wenn man ihn sah, und dann zogen seine klarblauen Augen den Blick an sich, der sich mit Gefallen über seine schöne Gestalt verlor. Der zweite, mehr einen Freund als einen Bruder vorstellend, war mit braunen und schlichten Haaren geziert, die ihm über die Schultern herabhingen und wovon der Widerschein sich in seinen Augen zu spiegeln schien.

   Wilhelm hatte nicht Zeit, diese beiden sonderbaren und in der Wildnis ganz unerwarteten Wesen näher zu betrachten, indem er eine männliche Stimme vernahm, welche um die Felsecke herum ernst, aber freundlich herabrief: »Warum steht ihr stille? versperrt uns den Weg nicht!«(5)

Felix versucht, die von der Natur gelegten Spuren zu entziffern; der Vater, mit schriftlichen Aufzeichnungen beschäftigt, unterstützt ihn dabei, so gut er kann. Er hilft ihm, aus den Symptomen, die die Natur zeigt, Zeichen zu entwickeln, die ihre Stelle in einem sozialen Code haben: vorbildlich in jenem "Systema naturae" repräsentiert, wie Linné es


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entwickelt hatte. Dieser Übergang vom Symptom zum Zeichen(6) ist von wesentlicher Bedeutung. Naturmerkmale werden zu Elementen eines sozial vereinbarten Zeichensystems, die Natur erscheint als ein großes Buch, dessen Lettern nach einem kulturellen Organon lesbar werden. In diese Semiotechnik – die Fähigkeit der Entzifferung der Natur zum Zweck ihrer Beherrschung – wird Felix eingeführt. Er lernt Faktisches »diagnostizieren«, Zeichen für das Gelesene entwickeln und sozialtechnisch nutzen.

   Der Roman "Die Wanderjahre" entfaltet und bekräftigt dieses zu Beginn aufgestellte Paradigma der Identitätsbildung durch Lektüre von Spuren dann in aller Konsequenz – und zwar, wie mir scheint, in vier Zusammenhängen:

   Da ist zunächst die Urszene am Beginn des Romans. Sie zeigt Felix, den Spurenleser, der »Jäger« werden will und sich bildet, indem er die Lektüre der Naturzeichen erlernt.

   Da ist sodann die pädagogische Provinz; sie institutionalisiert, was die Urszene exponiert hatte. Die Erzieher in der Provinz richten ihr Augenmerk auf die Einübung einer Semiotik, die Symptome und Zeichen konvergieren läßt. Die Schüler lernen eben jene Körperzeichen (Gebärden, Kleidungsstücke) als Ausdruckscode gebrauchen, die dann gerade durch diesen Lernakt – als einen Prägeakt – für die Erzieher wiederum eindeutig entzifferbar werden.

   Als drittes gewinnt das Archiv der Turmgesellschaft zusammen mit demjenigen Makaries Bedeutung. Es garantiert (und »bildet« gewissermaßen) die Registratur jener Symptome – der Lebensgeschichten der handelnden Personen wie des Wissens, das ihr Verhalten lenkt –, die durch eben diese Registratur zu einem System der Zeichen, damit aber zu Elementen kulturellen Wissens werden: dem System einer ethischen Weltordnung, deren Schlüsselwort Entsagung heißt.

   Endlich gewinnt noch der Arzt als Schlüsselfigur im Roman zentrale Funktion. Er ist der soziale Garant für jene Methode, mit der Symptome zu Zeichen werden: die Diagnostik und die sie begleitenden Institutionen, Semiotechnik und Archiv. Wilhelm ist ja inzwischen, da Felix heranwächst, selbst Arzt geworden. Der Arzt aber ist der Spurenleser schlechthin, wie denn ja auch die Semiotik – wissenschaftshistorisch gesehen – ihre Wurzeln in der Medizin hat:(7)

   Die Gegenüberstellung von Wilhelm in der "Theatralischen Sendung" und Felix in den "Wanderjahren" und ihrer verschiedenen Bildungsbedingungen macht deutlich, daß Goethe zwei Modelle des Bildungsromans konzipiert und (im Übergang vom Vater zum Sohn) gewissermaßen auch ineinander umschlagen läßt: das Modell des Schöpfertums zunächst, beispielhaft gegenwärtig im Improvisator, der sich selbst, seine Welt und seine Konfigurationen im spontanen und souveränen Spiel der Phantasie inszeniert; einem Spiel, dessen Garant eine


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Frau ist, die Großmutter, die, im Blick der Liebe, das Kind in aller Freiheit mit den Elementen seiner künftigen Selbsterfahrung in der Lebenswelt beschenkt; sodann aber, auf der anderen Seite, das Modell der die Natur dechiffrierenden Wissenschaft, exemplarisch vergegenwärtigt im Spurenleser, der gerade nicht seinen eigenen Körper in Szene setzt, sondern ein Buch entziffert: das Buch der Natur; er lernt, vom Detail aufs unsichtbare Ganze zu schließen, ein Adept der Konjektur; Garant seines Verfahrens ist der Vater, der ihm die Logozentrik des Systems und seiner Diskurse erschließt.

   Es sind zwei verschiedene Konzepte der Selbstbildung, die aufeinanderstoßen, entbunden aus der Phantasie und aus der Wissenschaft; aus zwei entgegengesetzten »Urszenen« kindlicher Sozialisation entwickelt, der Selbstinszenierung aus der Einbildungskraft zum einen, im Bild des Theaters aufgefangen; der Selbstlektüre aus der Entzifferung der Spuren der Natur zum anderen, im Bild des universellen »Buchs« vergegenwärtigt.

   Man könnte nun mit einigem Recht behaupten, daß diese beiden Modelle des Bildungsromans – mit dem phantasievollen Improvisator und dem aufmerksamen Spurenleser als Helden – dann auch zwei Traditionsstränge der Gattung begründet haben. Die erste Reihe, vom Künstler und Schauspieler Wilhelm ausgehend, führt zu Hans Christian Andersens "Improvisator", zu Mörikes "Maler Nolten", zu Kellers "Grünem Heinrich" und zu den ironisch gebrochenen Selbstinszenierungen der beiden Hochstapler Felix Krull und Joseph bei Thomas Mann – vielleicht den letzten virtuosen Erfindern ihres Selbst aus der trügerischen oder mythischen Einbildungskraft heraus; die zweite Reihe, vom Spurenleser und »Detektiv« (dem »Kästchenfinder« und »Labyrintherforscher«) Felix ausgehend, führt zu Stifters "Nachsommer" (Sammler wie der Freiherr von Risach und sein Adoptivsohn Heinrich sind Spurenleser schlechthin), zu Freytags "Verlorener Handschrift" und zu Kafkas "Verschollenem"; sie führt aber auch zu den Lesern von Düften und Buchstaben im 20. Jahrhundert: zu Patrick Süskinds Grenouille zunächst, der in dem Roman "Das Parfum" den in die Welt gelegten Duftfährten folgt, um aus ihnen die abwesende Identität des anderen zu rekonstruieren;(8) zu Umberto Ecos Adson von Melk, der in dem Roman "Der Name der Rose" die Geschichte eines Verbrechens als Geschichte seiner Selbstwerdung erzählt – als Rekonstruktion der Welt aus der Bibliothek, als Lektüre kulturellen Wissens aus dem Buch, als Durchschreitung des Labyrinths: ein Spurenleser. Vor allem aber führt diese zweite Reihe von Bildungsromanen zu Karl May, dem Autor der "Winnetou"-Trilogie(9) und zu Old Shatterhand, ihrem Helden: dem Spurenleser, wie er im Buche steht.


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IV

Diesem zweiten Typus des Bildungsromans, dessen Held der »Spurenleser« ist, möchte ich mich nun im folgenden zuwenden.

   Es zeigt sich bei genauerer Betrachtung, daß in ihm eigentlich zwei Lektüre-Strukturen konvergieren: das Lesen von Spuren zur Entdeckung des Selbst; das Lesen von Spuren zur Entdeckung des Anderen. Denn es ist ja tatsächlich so, daß auf der einen Seite ein Lernprozeß dargestellt wird, der zur Entdeckung des Selbst, der zur Ich-Werdung führt: Es ist der Lebensgang des durch Bildung, d. h. aber durch Lesen-Lernen von Zeichen, vom Schüler zum Meister gewordenen Helden. Im Roman Karl Mays könnte man die Krise, die diesen Lernprozeß auszeichnet, und die Lösung, der sie zugeführt wird, als das »Greenhorn«-Syndrom und seine Sanierung kennzeichnen; der immer als Schüler verkannte und sich immer erneut in seiner Vollkommenheit offenbarende Meister; die Entdeckung des Selbst also als Offenbarung verborgener Meisterschaft – eine zuletzt charismatische Identitätslegitimation, alle Normen, Einschränkungen und Bedingungen überstrahlend.

   Aber dann, auf der andern Seite, eine zweite, entgegengesetzte Struktur, die den Lernprozeß des Helden kennzeichnet: nämlich die der Entbergung nicht des eigenen Selbst, sondern des fremden und feindlichen, welches das des »Anderen« ist, des Kontrahenten und gejagten Wildes – ich meine: die Struktur des Detektivromans. In ihm geht es um die Entlarvung des Verbrechers als Ziel einer Bildungs- als Lerngeschichte: der Held als Diagnostiker und Spurenleser, der sich und seine Selbst-Bildung an der Ergreifung des Gejagten bewährt – ein Grundmodell des Erkennens, das dem Selbst-Erkennen komplementär zugeordnet ist: in der Wahrnehmung des  A n d e r e n  erfolgt die Beglaubigung des  e i g e n e n  Selbst. Letztlich also praktiziert der zweite Typus des Bildungsromans ein Spuren-Lesen in einer doppelten Richtung: auf das Selbst  u n d  auf den Anderen hin. Der "Winnetou"-Roman ist hierfür ein glänzendes Zeugnis. Die Entwicklung des Doppel-Helden Winnetou-Old Shatterhand – als Lern- und Belehrungsprozeß sich enthüllend, der der Namen-Gewinnung des Helden dient – läuft ja der Entzifferung der Anonymität (oder Polynymität) des Verbrechers Santer parallel (übrigens durchaus dem Entzifferungsprozeß in den Parallelgeschichten von Tim Finnetey – im Zusammenhang der Old Firehand-Geschichte – und Gibson – im Zusammenhang des Falles Ohlert – entsprechend) .(10)


V

Wenn ich im vorangehenden versucht habe, Karl Mays Roman "Winnetou" in eine Reihe von Identitätsexperimenten zu stellen, die sich um


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die Figur des »Spurenlesers« gruppieren, so ist damit freilich mehr noch benannt als ein  l i t e r a r historisches – nämlich ein  k u l t u r historisches Faktum. In Karl Mays "Winnetou" prägt sich, wie ich meine, nicht nur ein Literaturmodell, sondern auch ein Erkenntnismodell ein »epistemologisches Paradigma« – ab, das mit dem Heraufkommen des 19. Jahrhunderts an Geltung und Interesse gewinnt. Der Kulturhistoriker Carlo Ginzburg hat über dieses Erkenntnismodell des »Spurenlesers« einen Aufsatz mit dem Titel "Indizien: Morelli, Freud und Sherlock Holmes" geschrieben, der in seiner Bedeutung für den hier in Frage stehenden Zusammenhang kaum zu überschätzen ist.(11) Ginzburg zeigt darin, wie der Kunsthistoriker Morelli, der Psychoanalytiker Freud und der Detektiv Sherlock Holmes einem Erkenntnismodell der »Spurenlektüre« zur Geltung verhelfen, in dem »Einzelheiten, die allgemein als trivial und unwesentlich gelten [ . . . ] den Schlüssel zu den höchsten Errungenschaften des menschlichen Geistes liefern.«(12)

   Die Geburt dieses Paradigmas, das eine neue Lesart der Welt begründet, indem es die Verwandlung natürlicher Symptome in künstliche Zeichen nicht nur ermöglicht, sondern auch theoretisch legitimiert,(13) meint Ginzburg in den Schriften des Semiotikers Charles Sanders Peirce beobachten zu können, der für den in ihm beschriebenen Denkschritt den Begriff der »Abduktion« einführt. Es handelt sich hierbei gewissermaßen um eine dritte Form des Schließens zwischen Induktion und Deduktion; im Grunde sucht Peirce's Theorie eine Erklärung dafür zu liefern, »warum« – wie er sich ausdrückt – »man so oft zutreffend  r ä t «.(14) »Abduktion« meint das Schließen vom beobachteten Faktum (dem Symptom) auf eine mögliche Theorie, die als »Konjektur«, als »Hypothese« begriffen werden kann. Peirce sagt wörtlich:

Die Abduktion ist eine Theorie, die zur Erklärung eines vorher existierenden Sachverhalts entwickelt wird.(15)

Mit anderen Worten: Das von Peirce beschriebene epistemologische Paradigma begründet die Kunst, Spuren zu lesen und aus diesen wahrscheinliche Schlüsse zu ziehen.

   Ginzburg nennt dieses für das 19. Jahrhundert zentrale Erkenntnismodell der projektiven Hypothesenbildung, welches das Entziffern von Spuren zugleich als Zuschreibung von Identität an den Spurenleser begreift, »konjekturales Paradigma« und sucht plausibel zu machen, wie dieses »offene« Verfahren, Schlüsse zu ziehen, gerade im Zeitalter zunehmender Kontrolle – in einer Gesellschaft, in der »Überwachen und Strafen« (Michel Foucault) zu Leitkategorien des sozialen Verhaltens werden – Geltung gewinnen und in einen Wertkonflikt geraten mußte. Denn der Schluß vom »Einzelnen« auf das »Ganze«, vom sichtbaren »Detail« auf das unsichtbare »Ensemble« hat


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zwei Stoßrichtungen: eine projektive und eine definitorische. Wenn Ginzburg schreibt:

Die Realität selbst ist undurchsichtig, doch gibt es gewisse Punkte – Indizien, Symptome –, die es uns ermöglichen, sie zu erfahren,(16)

so drückt er damit eben diese aporetische Einschätzung aus. Utopische und repressive Tendenzen halten einander die Waage. Das konjekturale Paradigma stellt zwar ein Erkenntnisinstrument dar, gleichzeitig aber liefert es einen Beitrag zur Entwicklung einer differenzierten Kontrolle und Festschreibung des Individuums durch die Registratur des symptomatischen Details. Erkennen und Kontrollieren erscheinen als zwei kontroverse Aspekte ein und desselben Vorgangs. Als Musterbeispiel für diese doppelte Bestimmung kann die Nutzung des Fingerabdrucks als Identifikationsmittel dienen, wie sie Galton (durch Übernahme eines Erkennungsverfahrens der Bengalen) in Europa einführte.(17) Sie zeigt, wie die Hervorhebung und Beglaubigung der unverwechselbaren Eigentümlichkeit des Subjekts zugleich dessen Kontrollierbarkeit und Disziplinierung, dessen Klassifikation und Archivierung dienen; emanzipatorische und disziplinierende Tendenzen fließen ununterscheidbar ineinander – eine Einsicht, die in ihren Grundzügen dem Goethe der "Wanderjahre" nicht mehr fremd war, wie seine Archivphantasien in diesem Roman – die Niederlegung der Schriftrollen der Lebensgänge aller beteiligten Personen in der Registratur der Turmgesellschaft – bezeugen.(18)

   Diese Erkenntnis, daß präzisere Beschreibung und verstehende Auffassung von Individualität zugleich deren Registratur und Normierung ermöglichen, scheint mir hierbei von zentraler Bedeutung zu sein; wenn Goethe sie in den "Wilhelm Meister"-Romanen in der Dialektik von Improvisation und Archiv, von Harfnergeschichte und Turmgesellschaft zum ersten Mal darstellerisch nutzt, so reproduzieren Karl Mays Texte sie im fortwährenden Alternieren von Gefangenschaft und Befreiung, von Inklusion und Exklusion unermüdlich und immer von neuem(19) Dabei ist nicht zu übersehen, daß die disziplinarische Phantasie der untrüglichen Spurensicherung im Grunde auf ein geradezu prähistorisches Paradigma rekurriert, auf das sich auch Karl May wie vielleicht kein anderer beruft und das er mit nie erlahmender Insistenz wiederholt: »Am Boden kauernd liest der Jäger in der Fährte des Wildes.«(20) Es ist die Szene, mit der schon Goethes "Wanderjahre" beginnen: Felix, der Sohn Wilhelms, der sich über eine Tierspur beugt. Und es ist eine Geschichte, die – urzeitliche Züge tragend – in immer neuen kulturellen Kontexten zitiert wurde. Die bekannteste Nacherzählung dieses Paradigmas findet sich bei Voltaire, im dritten Kapitel des "Zadig": Jemand erkennt aus den Spuren die Gestalt eines Tieres, das


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er nie gesehen hat.(21) Die jüngste Zitation dieser Geschichte erfolgt dann zu Beginn von Umberto Ecos Roman "Der Name der Rose". William von Baskerville beschreibt nach den Spuren allein ein Tier, das er nie zu Gesicht bekam:

»Ich danke Euch, Herr Cellerar«, erwiderte freundlich mein Meister, »und Eure Höflichkeit schätze ich um so mehr, als Ihr, um mich zu begrüßen, Eure Suche unterbrochen habt. Aber macht Euch keine Sorgen, das Pferd ist hier vorbeigelaufen und auf den rechten Seitenpfad abgebogen. Es kann nicht weit gekommen sein, denn bei der Müllhalde wird es stehenbleiben. Es ist zu klug, um sich auf den Steilhang zu wagen.«

   »Wann habt ihr es gesehen?« fragte der Cellerar.

   »Wir haben es gar nicht gesehen, nicht wahr, Adson?« erwiderte William zu mir gewandt mit heiterer Miene. »Aber wenn Ihr Brunellus sucht, so werdet Ihr das edle Tier dort finden, wo ich es Euch gesagt habe.«

   Der Cellerar zögerte, schaute William verblüfft ins Gesicht, warf einen Blick in den Seitenpfad und fragte schließlich: »Brunellus? Woher wißt Ihr?«

   »Nun«, antwortete William, »es liegt doch auf der Hand, daß Ihr Brunellus sucht, das Lieblingspferd Eures Abtes, den besten Renner in Eurem Stall; einen Rappen, fünf Fuß hoch, mit prächtigem Schweif; kleine runde Hufe, aber sehr regelmäßiger Galopp; schmaler Kopf, feine Ohren, aber große Augen. Er ist nach rechts gelaufen, ich sage es Euch, und auf jeden Fall solltet Ihr Euch beeilen. «

   Der Cellerar verharrte noch einen Augenblick unschlüssig, gab dann den Seinen ein Zeichen und stürzte sich ihnen voran in den Pfad zur Rechten, indes unsere Mulis sich wieder in Bewegung setzten. Von Neugier gedrängt hob ich an, William mit Fragen zu überschütten, doch er bedeutete mir zu schweigen und die Ohren zu spitzen. . . .

   »Nun sagt mir aber«, konnte ich schließlich nicht an mich halten, »wie habt Ihr es angestellt, das alles zu wissen?«

   »Mein lieber Adson«, antwortete er, »schon während unserer ganzen Reise lehre ich dich, die Zeichen zu lesen, mit denen die Welt zu uns spricht wie ein großes Buch. Meister Alanus ab Insulis sagte:

omnis mundi creatura
quasi liber et pictura
nobis est et speculum

und dabei dachte er an den unerschöpflichen Schatz von Symbolen, mit welchen Gott durch seine Geschöpfe zu uns vom ewigen Leben spricht. Aber das Universum ist noch viel gesprächiger, als Meister Alanus ahnte, es spricht nicht nur von den letzten Dingen (und dann stets sehr dunkel), sondern auch von den nächstliegenden, und dann überaus deutlich. Ich schäme mich fast, dir zu wiederholen, was du doch wissen müßtest: . . . «

    . . . Er vermochte nicht nur im großen Buch der Natur zu lesen, sondern auch in der Art und Weise, wie die Mönche gemeinhin die Bücher der Schrift zu lesen und durch sie zu denken pflegten – und wie wir sehen werden, sollte ihm diese Fähigkeit in den folgenden Tagen noch überaus nützlich werden.(22)


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Aber der eigentliche, geradezu obsessive Gestalter dieser Szene in zahllosen Variationen und Lesarten ist dann doch – daran besteht gar kein Zweifel – Karl May. Seine Helden praktizieren die Kunst, vorauszuahnen, was Leute thun werden, die man noch nicht einmal gesehen hat! (III, 399) Ein Musterbeispiel solcher Kunst, unter vielen hundert, ist jene Szene im zweiten Buch des "Winnetou"-Romans im Kapitel Über die Grenze, wo der Neger Sam aus den Spuren eines Pferdes eine ganze Verhaltenssequenz von Pferd und Reiter rekonstruiert:

Eben als sein Pferd die Hufe in das Wasser setzen wollte, hielt er es an, stieg ab und bückte sich nieder, um den Grund des Flusses aufmerksam zu betrachten.

   »Well!« nickte er. »Dachte es doch! Hier stoßen wir auf eine Fährte, welche wir nicht eher bemerken konnten, weil das trockene Ufer aus starkem Kies besteht, welcher keine Spur aufnimmt. Betrachtet euch einmal den Boden des Flusses!«

   Auch wir stiegen ab und bemerkten runde, etwas mehr als handgroße Vertiefungen, welche in den Fluß hineinführten.

   »Das ist eine Fährte?« fragte Lange. »Ihr habt jedenfalls recht, Sir. Vielleicht ist's ein Pferd gewesen, also ein Reiter.«

   »Nun, Sam mag sich die Spur betrachten. Will sehen, was der von ihr meint. «

   Der Neger hatte bescheiden hinter uns gestanden. Jetzt trat er vor, sah in das Wasser und meinte dann:

   »Da sein gewesen zwei Reiter, welche hinüber über den Fluß. «

   »Warum meinst du, daß es Reiter und nicht herrenlose Pferde gewesen sind?«

   »Weil Pferd, welches Eisen haben, nicht wilder Mustang sein, sondern zahmes Pferd, und darauf doch allemal sitzen Reiter. Auch seine Spuren tief. Pferde haben tragen müssen Last, und diese Last sein Reiter. Pferde nicht gehen nebeneinander in Wasser, sondern hintereinander. Auch bleiben stehen am Ufer, um zu saufen, bevor laufen hinüber. Hier aber nicht sind stehen bleiben, sondern stracks hinüber. Sind auch laufen nebeneinander. Das nur thun, wenn so müssen, wenn gehorchen dem Zügel. Und wo ein Zügel sein, da auch ein Sattel, worauf sitzen Reiter.«

   »Das hast du gut gemacht!« lobte der Alte. »Ich selbst hätte es nicht besser erklären können. Ihr seht, Mesch'schurs, daß es Fälle giebt, in welchen ein Weißer noch genug von einem Schwarzen lernen kann.« (II, 196f.)

Aber das für den hier beleuchteten Zusammenhang Wichtigste bleibt schließlich, daß es bei Karl May Augenblicke solcher Dechiffrierungskunst gibt, wo im Akt des Spurenlesens in der Natur zugleich das Entziffern von Schrift evoziert wird: in jenen Fällen etwa, wo Old Shatterhand eine Fährte aufs Papier zeichnet und diese dann mit den Spuren im Boden vergleicht, z. B. im ersten Band des "Winnetou"-Romans im Kapitel Schöner Tag (I, 510).

   Zu diesem kulturhistorisch fundamentalen Wechselbezug zwischen Spur und Schrift, zwischen natürlichem Symptom und kulturellem Zeichen möchte ich ein letztes Mal Carlo Ginzburg zu Wort kommen lassen:


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Der Jäger war somit vielleicht der erste, der »eine Geschichte erzählte«, da es nur ihm gegeben war, aus den stummen (kaum wahrnehmbaren) Zeichen, die seine Beute hinterließ, eine kohärente Ereignisfolge herauszulesen.

   Dieses »Entziffern« und »Lesen« von Tierspuren ist metaphorisch zu sehen. Dennoch lohnt es sich, es einmal wörtlich aufzufassen, nämlich als die verbale Quintessenz eines geschichtlichen Prozesses, der über eine sehr lange Zeitspanne zur Erfindung des Schreibens führte.(23)

Das Entziffern von Spuren hatte demnach ein letztes, systemorientiertes Ziel: die Benennung, die Nomenklatur; das heißt aber die Verwandlung von Symptomen in Zeichen. Wenn schon Felix, der Sohn Wilhelms, beim Entziffern von Spuren den Dingen und Wesen Namen zu verschaffen sucht, so tun dies auf ausgiebigste Weise dann auch die Helden Karl Mays. Es sind  D i n g e ,  die Namen bekommen: der Henry-Stutzen; die Büchse Liddy des Sam Hawkens; es sind  T i e r e ,  die durch Benennung ins Licht der Lektüre rücken: das Maultier Mary; der Rappe Rih; die Stute Victory des Fred Walker; es sind schließlich die  M e n s c h e n  s e l b s t ,  deren Körper im Namen entzifferbar wird: Sans-ear, Old Death, Old Shatterhand, Old Firehand.

   Sie alle gewinnen erst Identität, wenn der Spurenleser Details ihres Naturkörpers, die »Symptome« nämlich, ins soziale Universum der Zeichen überführt: den Klang der Büchse; das lange Ohr des Maultiers; die Ohrlosigkeit des Trappers. Es sind die Namen, die, auf Indizien fußend, der Wesenserkenntnis des betroffenen Gegenstandes dienen: Der Spurenleser und der Schriftsteller sind identisch geworden. Diese postmoderne Lehre verkündet im 19. Jahrhundert Old Shatterhand/Karl May – und ihr getreuester literarischer Vollstrecker im 20. Jahrhundert ist Umberto Eco.


VI

Wollte man nun eine Lektüre der "Winnetou"-Romane auf dem so bestimmten kulturhistorischen Hintergrund versuchen, so würde sich zeigen, daß diese Romane im Grunde nur zwei »Bildungs«-Regeln – im Doppelsinn des Wortes als Bildung des Körpers und als Produktion der Schrift – gehorchen. Die erste Regel heißt:  d a s  L e b e n  a l s  S c h u l e (24)  oder  d i e  E n t z i f f e r u n g  d e r  W e l t ;  die zweite Regel lautet:  d i e  V e r w a n d l u n g  v o n  S y m p t o m e n  i n  Z e i c h e n ,  v o n  S p u r  i n  S c h r i f t  oder  d ie  L e k t ü r e  a l s  I d e n t i f i k a t i o n s a k t  d e s  S u b j e k t s .  Mit anderen Worten: Die "Winnetou"-Romane stellen zwei Bildungsregeln auf, die sich allenthalben im Geschehen ausprägen. Bildung soll als »Leseschule« begriffen werden und dient der Entzifferung der Welt; Bildung muß aber zugleich als »Schreibschule« verstanden werden und dient der Hervorbringung von Schrift. Dieser Vorgang der


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Verwandlung von Spuren in Schrift hat – so verstanden – zwei entgegengesetzte Aspekte: einen reproduktiven, den Leseakt, der sich als Entzifferung von Natur bestimmt; einen produktiven, den Schreibakt, der sich als Herstellung von Kultur, somit als Erzeugung von Text wahrnehmen läßt. Old Shatterhand, der »Leser von Spuren«, wird zu Karl May, dem »Schreiber von Texten«. Das ist die doppelte Botschaft, die "Winnetou" als Bildungsroman seinen Lesern zuspricht.

   Diesen Doppelvorgang der Lektüre von Spuren als Hervorbringung von Text möchte ich durch Erläuterung einiger Beispiele verdeutlichen. Es ist der Vorgang der Erfahrung von  D i n g e n ,  von  M e n s c h e n  und von  B e z i e h u n g e n :  somit aber letztlich der Gewinn von »Verstehen« von Welt aus dem Vorgang der Spuren-Lese-Kunst.

   Zunächst möchte ich einige Beobachtungen zur ersten Bildungsregel des Romans rekapitulieren, zu dem Grundsatz »Bildung als Leseschule« nämlich. Das dominierende Motiv des Romans ist ganz zweifellos das des Buches.(25) Es begleitet das Geschehen, es bestimmt die Redeakte. Wenn Old Shatterhand die Zeichen, die der wilde Westen ihm liefert, zu entziffern vermag, so eigentlich nur deshalb, weil er alles, was ihm begegnet, schon vorher gelesen hat (I, 70). Er hat Bücher über Mustangs und ihr Fluchtverhalten (I, 78) so gut wie über die Handhabung des Gewehrs gelesen (I, 82), über die Bärenjagd (I, 94) wie über den Späherritt (I, 150) und über die Kriegführung der Indianer, über Bärentatzen und Fußspuren (I, 150 u. 163f. ), über Kinnikinnik (I, 185) und Pueblos (I, 324), über das Anschleichen und die Lebensart des Westmanns. Wesentlich aber und alle Welterfahrung bestimmend ist dabei die Zirkulationsstruktur der Schrift, ein ewiger Kreislauf von Produktion und Reproduktion der Buchstaben: Old Shatterhand hat Bücher gelesen, die ihm die Entzifferung des Buches der Natur ermöglichen, und eben diese Entzifferung, das Erleben des Abenteuers, des Fährtenlesers nämlich, wird wieder in Bücher verwandelt: die Reiseromane des Autors Karl May.

   Die Erfahrung von Welt wie die Steuerung des Verhaltens in ihr erfolgen immer wieder nach dem gleichen Modell, das in zahllosen Variationen wiederkehrt, so z. B. im ersten Band des "Winnetou"-Romans im Kapitel Winnetou in Fesseln:

   »Sir, wollt Ihr mir einmal die Wahrheit sagen?«

   »Ja. Glaubt Ihr vielleicht, daß ich Euch einmal belogen habe?«

   »Hm, Ihr scheint ein wahrheitsliebender und ehrlicher Kerl zu sein; aber in diesem Falle traue ich Euch doch nicht. Ihr seid noch nie in der Prairie gewesen?«

   »Nein.«

   »Ueberhaupt im wilden Westen nicht?«

   »Nein.«

   »Auch nicht in den Vereinigten Staaten?«

   »Nie.«


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   »Oder giebt es ein anderes Land, wo es auch Prairien und Savannen giebt und so etwas wie hier der Westen, und dort seid Ihr gewesen?«

   »Nein. Ich bin nie aus meiner Heimat weggekommen.«

   »So hole Euch der Teufel, Ihr ganz und gar unbegreifliches Menschenkind!« (I, 171f.)

Old Shatterhands Orientierung in der Welt erfolgt nicht nach dem Prinzip erworbener Realerfahrung, sondern nach einem Schlußverfahren, das demjenigen der Peirceschen »Abduktion« erstaunlich nahe kommt. Er gewahrt Spuren und rekonstruiert daraus erwartbare Sachverhalte. Und Old Shatterhand selbst liefert denn auch kurz nach der zitierten Szene die Rechtfertigung für den Einsatz dieses »konjekturalen Paradigmas« zur Erkenntnis der Welt:

[Sam Hawkens] » . . . Ich muß gestehen, daß Ihr recht gehabt habt. Woher kommt das nur?«

   »Daher, daß ich logisch richtig gedacht und geschlossen habe. Das richtige Schließen ist sehr wichtig.«

   »Schließen? Was ist das? Mit einem Schlüssel?«

   »Nein. Schlüsse ziehen, meine ich. «

   »Das verstehe ich nicht; ist mir zu hoch. «

   »Nun ich habe folgenden Schluß gezogen: Wenn Indianer hintereinander reiten, wollen sie ihre Spur verdecken; die beiden Apachen sind hintereinandergeritten, folglich wollen sie ihre Spur verdecken. Das versteht Ihr doch?«

   »Selbstverständlich. «

   »Durch diesen richtigen Schluß bin ich zu der richtigen Entdeckung gekommen. Der richtige Westmann muß vor allem richtig denken können. . . . « (I, 172f.)

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Entzifferung von Spuren, deren Verursacher der Spurenleser nie zu Gesicht bekam, liefert dann das vierte Kapitel des ersten Bandes. Old Shatterhand hat noch keinen Büffel gesehen, er schießt aber den stärksten der Herde; er hat noch keinen Grizzly gesehen, aber er sticht ihn mit dem Messer nieder; er ist noch keinem Mustang begegnet, und doch holt er den schönsten und ausdauerndsten mit dem Lasso aus der Herde. Dies ist denn auch – zu diesem Schluß kommen die Gefährten – nicht das Werk eines »Lehrlings«, auch nicht das Werk eines »Gesellen«, sondern das eines »Meisters« (I, 287) – die Lebensentwicklung Wilhelms in Goethes "Meister"-Romanen vom »Schüler« zum »Meister«, der den angeborenen Namen endlich erfüllt, klingt im Ohr des Lesers nach.

   Dieses eben beschriebene Modell der Abduktion nun, das für die Beobachtung von Objekten und lebensweltlichen Vorgängen gilt, prägt aber auch die »Urszenen« menschlichen Verkehrs, die Wechselerkennung zweier einander in der Wildnis der Natur begegnenden Subjekte: als eine »Inszenierung« von Kultur aus der Identifikation des menschlichen Gegenüber. Auch Physiognomik wird als Spurenlese-


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kunst [Spurenlesekunst] betrieben, als eine Schule der Entzifferung des menschlichen Gesichts und der menschlichen Gestalt. Ich erinnere an zwei Musterszenen: die Begegnung Old Shatterhands mit Sans-ear (III, 3ff.) und die ähnlich strukturierte Begegnung mit Fred Walker (III, 360ff.). Beide Erkennungsszenen laufen nach dem gleichen strengen Schema ab.

   Das Gewahrwerden des Anderen beginnt mit der Lektüre widersprüchlicher Symptome, die im Ausdrucksfeld seines Körpers erscheinen: das skurrile, unbedeutende oder komische Aussehen, das schließlich zu der unerwarteten Einsicht führt, das Außen entspreche dem Inneren nicht.(26)

   Eine zweite Stufe dieses Erkennungsprozesses wird durch das Moment der Verkennung charakterisiert; es ist die Verkennung Old Shatterhands durch sein Gegenüber; seine »Physiognomie« wird gleichsam falsch entziffert, er erscheint dem erfahrenen Trapper als Greenhorn.

   Aus dieser Verkennung ergibt sich die Ablehnung des sich als solchen zu erkennen gebenden »Bücherschreibers« Old Shatterhand durch den Westmann – damit zugleich aber die folgenschwere Verkennung des Spurenlesermodells »Old Shatterhand« und seiner dialektischen Verklammerung mit der Schreiberexistenz »Karl Mays«.

   Die ahnungslosen Westmänner mißkennen den Zirkulationsprozeß menschlicher Weltwahrnehmung durch Lektüre und verweigern dem »Spurenleser« die Überführung des eben Erlebten in die Schrift. Sam Hawkens so gut wie Sans-ear oder Old Death versagen dem noch unerkannten »Herrn der Schrift« Old Shatterhand alias Karl May die Zustimmung zu ihrer Literarisierung, bis sie dann doch zuletzt eines Besseren belehrt werden und ihre Einwilligung zur Transformation der Spur in die Schrift geben: zu ihrer Wiederauferstehung als literarische Figur.

   Diese Einwilligung fällt in eins mit der Selbstbeglaubigung des Spurenlesers durch Wort und Tat: Er gibt sich ihnen zu erkennen, indem er, der »Schreiber«, seinen »Namen« (den »Kriegsnamen«) nennt, und er legt eine Probe seines Könnens ab: »Old Shatterhand« legitimiert sich durch die Hand, die das Bowieknife so gut wie die Feder zu führen versteht.

   Der Prozeß der Anagnorisis als Wechselerkennung wird durch das Erzählen der Lebensgeschichte des jeweils »Identifizierten« abgeschlossen: Es ist der Übergang der Spur in die Schrift, die Verwandlung des erlebten Abenteuers in ein Kapitel des künftigen Romans. Der Mensch kommt zu sich selbst, indem er das »Entzifferungsexamen« besteht. Wollt Ihr mich etwa examinieren? (III, 376)(27) ist die stereotype Frage Old Shatterhands selbst, wie auch der von ihm der Wahrnehmung für wert gehaltenen »Westmänner«.

   Für den solcherart als »abduktive« Lektüre von Körperzeichen be-


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stimmten [bestimmten] Akt des Erkennens ist aber noch ein drittes wesentlich: Das Entziffern von Spuren betrifft nicht nur  D i n g e  und Verhältnisse, auch nicht nur  P e r s o n e n ,  die dem Helden begegnen, es richtet sich zuletzt auf  B e z i e h u n g e n  zwischen den Menschen selbst. Diese Beziehungen sind in dem durch Karl Mays Texte repräsentierten Typus des Bildungsromans durch pädagogische Abhängigkeiten gekennzeichnet, nicht durch freie und autonome Wechselerkennung der Partner. Es ist zuletzt immer der Lehrer, der dem Schüler das Lesen beibringt, der ihn die Entzifferung von Zeichen lehrt und ihn dadurch in den Bildungsprozeß einführt, dessen Ziel die Gewinnung des Selbst ist.

   Es ist denn auch nicht das gemeinsame Erfinden einer Lebensgeschichte, an der zwei gleichberechtigte Partner beteiligt sind, das die Beziehungen zwischen Personen bestimmt,(28) sondern die Belehrung, die durch gleichsam versetzte Elternfiguren einem Abhängigen gegenüber erfolgt. So fühlt sich der Büchsenmacher Henry als Ersatzvater Old Shatterhands (I, 14 u. 26); so verstehen sich Sam Hawkens oder Old Death als Elementarlehrer, die dem verkannten Old Shatterhand Lehrer und Onkel, Vater, Mutter und Tante zugleich sind (I, 40f., 92, 158, 429, 605; II, 199, 203); so nimmt Winnetou Old Shatterhand in die »hohe Schule«, hält mit ihm "Felddienstübungen" (I, 432) ab, und erweist sich gar als "Professor" (I, 441), der seinem Zögling ein Privatissimum gewährt.

   In diesem Erziehungsrahmen wird das »Spurenleser«-Konzept (als eigentliches Lernprogramm) in zwei verschiedene Richtungen hin entwickelt: als Lektüre der Natur zum einen; hier sind die Westmänner die eigentlichen Lehrer des Helden, an erster Stelle Sam Hawkens (I, 30f., 164, 339); als Lektüre der Seele zum anderen; hier ist es vor allem der bucklige Lehrer Klekih-petra (I, 105f., 316), der den Adepten Old Shatterhand in der Lesekunst des Physiognomen unterrichtet – nicht zufällig durch seine Körperlichkeit das Beispiel des Sokrates suggerierend, der – selbst mißgestaltet – aus anderen als den sichtbaren Symptomen auf die Seele des Gegenüber zu schließen sucht, somit aber als erster in der Geschichte der Physiognomik eine Art physiognomischer Abduktion betreibt.(29)

   Am auffälligsten innerhalb dieses Argumentationsfeldes aber bleibt, daß selbst Liebesbeziehungen, jene beiden tatsächlich das Innerste berührenden Verhältnisse, die der Roman schildert, gleichfalls nur in der Struktur des Spurenlesens greifbar werden: die Beziehung Old Shatterhands zu Winnetou einerseits, zu dessen Schwester Nscho-tschi andererseits.

   Winnetou wird einmal von Old Shatterhand als Teil meines eigenen Ich (I, 618) bezeichnet; in bezug auf den roten Bruder wird im Roman die innigste Beziehung gezeigt, deren der Held und der Erzähler (in ihrer seltsamen Personalunion) fähig sind; die Darstellung dieser Bru-


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derliebe [Bruderliebe] erfolgt denn auch zunächst mit Merkmalen des traditionellen »Codes der Intimität«:(30) als »Liebe auf den ersten Blick« (I, 384), die im auratischen Augen-Blick zwei[er] dunkle[r], sammetne[r] Augen (I, 300) zu Bewußtsein kommt (– wie Wilhelm Meister, aus dem Wundfieber erwachend, die strahlende Erscheinung der Amazone Natalie gewahrt), und durch Besiegelung dieses Bundes durch das Blut auch dies in Goethes "Meister"-Romanen exemplarisch zur Darstellung gebracht.(31) Aber diese vordergründige Motivkonstellation im Roman Karl Mays täuscht – im wesentlichen realisiert sich auch die innige Beziehung zwischen Old Shatterhand und Winnetou eben doch als "Felddienstübung", von einem "Professor" mit dem Ziel der Wechselidentifikation im Erwerb der Spuren-Lese-Kunst abgehalten.

   Und dann die Beziehung Old Shatterhands zu Nscho-tschi, der Schwester Winnetous, die ja ihrerseits ganz und gar im Rahmen dieser "Felddienstübungen" des Bruders erfolgt. Es ist keine aus der Einbildungskraft geborene auratische Ganzheitswahrnehmung, wie sie in der Beziehung zwischen Wilhelm und Natalie so unvergeßlich erfolgt,(32) sondern die Rekonstruktion des begegnenden Gegenüber aus den Spuren, die es im Boden hinterlassen hat. Hier ist jene Szene im Kapitel Schöner Tag des ersten Bandes von Bedeutung, wo Winnetou, der Lehrer, seinen Schüler Old Shatterhand auf die schwierigste Erkennungsprobe stellt, indem er seine Schwester nicht mehr über den Boden schreiten läßt, sondern sie in seinen Armen trägt, um deren Fußspuren unsichtbar zu machen. Der Meisterschüler Old Shatterhand, der sie zu suchen hat, liest ihre Anwesenheit an den tiefer eingedrückten Stapfen des Bruders ab. Old Shatterhand belauscht ein Gespräch der Geschwister im Gebüsch:

Schon wollte ich den Arm ausstrecken und Winnetou von hinten fassen, da wurde ich durch ein Wort, welches er sagte, abgehalten, dies zu thun.

   »Soll ich ihn holen?« fragte er flüsternd.

   »Nein«, antwortete Nscho-tschi. »Er kommt selbst. «

   »Er kommt nicht. «

   »Er kommt!«

   »Meine Schwester irrt sich. Er hat alles sehr schnell gelernt; aber deine Spur geht durch die Luft. Wie will er sie finden?«

   »Er findet sie. Mein Bruder Winnetou hat mir gesagt, daß Old Shatterhand schon jetzt nicht mehr irre zu führen sei. Warum spricht er jetzt das Gegenteil?«

   »Weil es heut die schwierigste Aufgabe ist, die es geben kann. Sein Auge wird jede Fährte finden; die deinige ist aber nur mit den Gedanken zu lesen, und das hat er noch nicht gelernt.«

   »Er wird dennoch kommen, denn er kann alles, alles, was er will.« (I, 436f.)

Ich sehe das Außergewöhnliche und vielleicht Einmalige dieser Szene darin, daß es Karl May gelingt, auch das tiefste, was an Beziehung in


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einem Roman dargestellt werden kann, die Liebe, als »Spurenlesen« zu codieren.

   Nun sind noch einige Bemerkungen zur zweiten Bildungsregel des Karl Mayschen Textes zu machen, als deren Merkmal ich die Überführung von Symptomen in Zeichen ansehe; »Bildung«, die als Verwandlung von Spur in Schrift begriffen werden kann. Es ist die Herstellung von Text als Begründung von Autorschaft und als gleichzeitige Beglaubigung von Identität. Denn Karl Mays Roman erfüllt das »konjekturale Paradigma« des 19. Jahrhunderts – wie Ginzburg gesagt hat – wie vielleicht kein anderer Erzähler: Indem er die Entzifferung von Spuren als Zuschreibung von Identität in Szene setzt, betreibt er die Konstitution des Bildungsromans als Kriminalroman – und zwar durch die prätendierte Personalunion von Schreiber und Detektiv. Man könnte auch sagen: Was Karl Mays »Bildungsroman« leistet, ist die Verwandlung von Naturzeichen in Schrift; es ist die Metamorphose des Detektivs und Westmanns in den Schriftsteller. Indem der Detektiv seine Lebensgeschichte als Entzifferer von Spuren schreibt, wird der von ihm erzählte Kriminalroman zum Bildungsroman. Er selbst reift in diesem Prozeß der Dechiffrierung von Spuren vom Schüler zum Meister.

   Auch dieser Prozeß wird von Karl May mit Nachdruck legitimiert, und zwar durch Abgrenzung der wahren von der falschen Autorschaft, wie sie durch die Gegenüberstellung zweier Dichter im Handlungsraum des Textes erfolgt: eines wahren Dichters, dessen Schreibakte selbst Legungen und Entzifferungen von Spuren sind, Old Shatterhands/Karl Mays nämlich, der mit dem von ihm gedichteten Ave Maria (III, 415) eine Erkenntnis- und Erkennungsspur durch den Roman legt und dadurch seinem alter ego Winnetou zuletzt die Entzifferung der Bibel als Welt- und Naturordnung ermöglicht;(33) und eines falschen Dichters sodann, des wahnsinnigen William Ohlert nämlich, dessen Poem Die fürchterlichste Nacht zum Symptom seiner seelischen Zerrüttung wird und ihm selbst auch als deren Zeichen erscheint. Denn die in diesem Gedicht gesetzten Zeichen sind nicht aus gelesenen Spuren entwickelt, sondern pures Phantasma. Ohlert wird erst geheilt, als er freiwillig und in vollem Bewußtsein von dessen Untauglichkeit auf seinen weltfremden Entzifferungswahn verzichtet.

   Aber das Problem der Schrift als identifikatorischer Spur führt noch weiter, über diese eher schematische Gegenüberstellung zweier Autorentypen (des Spurenlesers und des Phantasten als »Dichters«) im Text hinaus: und zwar in eine Konfrontation von Old Shatterhand und Winnetou als Schreibenden, die ja, in ihrer gedoppelten Existenz, die  b e i d e n  Aspekte des Helden-Ich im Roman verkörpern. Denn dieser Bildungsroman konstruiert seine Helden tatsächlich als kulturhistorisches Zwillingsparadigma:(34) als Konfiguration von »Wildem« und »Zivilisiertem« (um eine Formel Urs Bitterlis aufzunehmen(35)). Was


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Goethes Altersroman als Utopie entwirft, der Weg aus Europa in die Neue Welt, wird hier, von Karl May, gewissermaßen beim Wort genommen. Old Shatterhand, auf der einen Seite, repräsentiert das »konjekturale Paradigma« der Alten Welt. Er beherrscht, als der aus der europäischen Zivilisation kommende, das Lesen von Spuren als einen Prozeß der Verwandlung von Natur in Schrift; in eben diesem »Bildungs«-Akt gewinnt er seine doppelte und komplementäre Identität als Held und Autor, als Spurenleser und Schreiber zugleich, der die Faust und die Feder zu führen versteht. Ganz anders Winnetou, auf der anderen Seite. Ihm, dem »Wilden«, bleibt der Weg in die historische Identifikation verwehrt. Auch er ist zwar gebildet, liest z. B. Longfellows Epos "The Song of Hiawatha" (I, 304), aber ihm fehlen, im Gegensatz zu dem europäischen Subjekt, Zeit und Raum, um seine historische und territoriale Identität zu beglaubigen und in sie »einzuschreiben« – dies ist ja der Tenor der berühmten »Einleitung« zum "Winnetou"-Roman, in der Karl May die Formel vom »kranken Mann im wilden Westen« bemüht und damit ein kulturhistorisches Modell zum Argumentationshintergrund seines Bildungsromans macht. Obwohl Winnetou die Schrift (wenn auch nur wie ein Schulknabe) beherrscht, gelingt ihm doch die Verwandlung von Symptomen in Zeichen nicht. Sein Testament, als letzte kulturelle Beglaubigung von Identität, verfehlt sein Ziel. Zwar beschreibt er in seinem letzten Willen die »Spur« zu dem Versteck des Goldes, das ja, als Kardinalmotiv des »Besitzes«, zum Schlüssel bürgerlicher Identität erhoben wird, aber dessen Schrift-Spur wird zuletzt zerstückelt, löst sich im Wasser auf und bleibt nur in wenigen, nicht mehr entzifferbaren Hieroglyphen erhalten, die, als Papierfetzen und »Fragmente«, aus der Nässe geborgen werden. Winnetous Schrift kehrt ungelesen in die Natur zurück.

   So bleibt Winnetou, der edle Wilde, ein Kind der Wildnis, dem Tod verfallen. Nur sein Zwillings-Ich Old Shatterhand, das Spuren als Schrift zu lesen und zu schreiben versteht, und zwar geschützt durch Autorschaft, wie sie nur die abendländische Zivilisation, nicht der Westen, garantiert, schenkt ihm das Leben im Identifikationsraum der Lektüre, die der Bildungsroman "Winnetou" gewährt.

   Karl May, der Autor, ist sich dieses Umstands sehr genau bewußt und legt seine Einsicht Winnetou, seinem anderen Ich, in den Mund:

»Mein Bruder Old Shatterhand kennt mich und weiß, daß ich nach dem Wasser der Erkenntnis, des Wissens gedürstet habe. Du hast es mir gereicht, und ich trank davon in vollen Zügen. Ich habe viel gelernt, so viel wie keiner von meinen Brüdern, bin aber dennoch ein roter Mann geblieben. Der Weiße gleicht dem gelehrigen Haustiere, dessen Instinkt sich verändert hat, der Indianer aber dem Wilde, welches nicht nur seine scharfen Sinne behalten hat, sondern auch mit der Seele hört und riecht. Das Wild weiß ganz genau, wenn der Tod sich ihm naht; es ahnt ihn nicht nur, sondern es fühlt sein Kommen und verkriecht sich im tiefsten


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Dickicht des Waldes, um ruhig und einsam zu verenden. Diese Ahnung, dieses Gefühl, welches niemals täuscht, empfindet Winnetou in diesem Augenblicke.« (III, 463)

Mit der Seele hören und riechen; das heißt nichts anderes als: selbst Symptom sein – aber die Fähigkeit zu dessen Verzeichnung in der Schrift nicht besitzen.


VII

Ich versuche ein Fazit:

1. Goethes "Wilhelm Meister"-Romane entwerfen zwei Paradigmen der Bildungsgeschichte des neuzeitlichen Subjekts, die sich auf gegensätzliche Weise artikulieren: als Begründung des Selbst in der schöpferischen Phantasie auf der einen Seite, als dessen Begründung in der Lektüre von Spuren auf der anderen; das erste scheint mir – nach der Unterscheidung von Deleuze-Guattari – eher durch schizoide, das zweite durch paranoide Züge gekennzeichnet zu sein.(36) Es sind kulturgeschichtlich konträre Paradigmen.

2. Karl May wählt für sein Bildungskonzept mit sicherer Hand jenes Modell, das der Normengesellschaft des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts angemessen ist: das der Spurenlektüre als Identifikations-Charta des modernen Subjekts. Die Bildungsgeschichte des Subjekts wird damit zum »semiologischen Roman«.(37) Patrick Süskind und Umberto Eco in der Nachfolge, aber vielleicht schon Goethes "Wahlverwandtschaften"-Roman vorwegnehmend, bezeugen die Aktualität von Karl Mays Entscheidung für das Modell der »Moderne«; Thomas Mann, der, mit der Figur des Improvisators, noch das Gegenmodell des Bildungsromans in Anspruch nimmt, vermag »Phantasie« als Organon der Bildung lediglich parodistisch, als Mythentravestie oder als Hochstaplergeschichte, zu nutzen: im "Josephsroman" und in den "Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull".

3. Besonderes Interesse verdient hierbei, daß dieses Modell der »Spurenlektüre« als Bildungsroman von zwei entgegengesetzten Seiten her legitimierbar ist; beide Legitimationszusammenhänge hat Karl May für sich als Bildungskonzepte in Anspruch genommen. Ich meine die theologische Fundierung des Romangeschehens auf der einen Seite, die Beglaubigung der Vorgänge des Romans aus der Idee der Aufklärung der Menschen andererseits.

   In das theologische Modell fügt sich die Vorstellung der Spurenlektüre zwanglos ein; es ist die Entzifferung des Buches der Natur, das sich


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als Buch Gottes erweist und in dem jedes Symptom, jedes Indiz sich als Zeichen des Heilsplans entpuppt, wenn nur der richtige Leser gefunden wird. Es ist die Verwandlung von Zufall in göttliche Vorsehung eine der großen Lieblingsideen Karl Mays.(38)

   Aber auch dem Aufklärungsmodell ordnet sich das Motiv der »Spurenlektüre« umstandslos ein. Denn in ihm kann glückende Entzifferung auf doppelte gegensätzliche Weise (im Sinne der Dialektik der Aufklärung(39)) verstanden werden. Es ist, auf der einen Seite, die Freude über die »Ordnung der Dinge«, über die »Lesbarkeit der Welt«.(40) Es ist aber, auf der anderen Seite, auch das Wissen von der Ausgeliefertheit des einzelnen an diese Normen und Redeordnungen, an die Spuren, die er lesen  m u ß ,  und die ihm die Normen der Wissenssysteme aufprägen, ihm seine schöpferische Kraft ersticken oder doch »domestizieren« – und ihn dadurch zum gesichtslosen Norm-Fall werden lassen:

Der Weiße gleicht dem gelehrigen Haustiere, dessen Instinkt sich verändert hat, der Indianer aber dem Wilde, welches nicht nur seine scharfen Sinne behalten hat, sondern auch mit der Seele hört und riecht. (III, 463)

Damit wird Karl May geradezu zum Autor der Postmoderne: mit der Einsicht nämlich, daß  n u n  Aufklärung nur noch durch Lesen von Spuren, durch Entziffern des schon Geschriebenen, durch »Allegorien des Lesens« möglich ist; und daß die einzige schöpferische Kraft des Subjekts darin besteht, das Zitat noch einmal als Schöpfungsakt zu inszenieren; die gelesene Spur als autonome Schrift des phantasierten Textes erscheinen zu lassen.(41)

   Genau das tut Karl May, wenn er Erlebnis und Phantasie durch die Verschmelzung von Held und Autor noch einmal versöhnt und dieser Versöhnung durch die Personalunion von Schutzengel und Muse den Segen erteilt:(42) ironisch oder nicht – es ist die Differenz, die das Frühwerk des Spurenlesers und Schriftstellers aus Radebeul bei Dresden von seinem symbolistischen Spätwerk trennt.



1 Zitiert wird nach Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII, VIII, IX: Winnetou der Rote Gentleman I, II, III. Freiburg 1893, die Seitenangaben werden mit der Bandnummer jeweils in Klammern den Zitaten oder Angaben nachgestellt.

2 Gerhard Kaiser / Friedrich A. Kittler: Dichtung als Sozialisationsspiel. Göttingen 1978 – Zum Problem des Bildungsromans vgl. auch meine Studien: Der Wanderer und der Verschollene: Zum Problem der Identität in Goethes "Wilhelm Meister" und in Kafkas "Amerika"-Roman. In: Paths and Labyrinths. Nine Papers read at the Franz Kafka Symposium held at the Institute of Germanic Studies on 20 and 21 October 1983. Edited by J. P. Stern and J. J. White. Institute of Germanic Studies, University of London 1985 S. 43–65 – ferner: »Ich bin gebildet genug, um zu lieben und zu trauern«. Die Erziehung zur Liebe in Goethes "Wilhelm Meister". In: Liebesroman – Liebe im Roman. Eine Erlanger Ringvorlesung. In Verbindung mit Egert Pöhlmann


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herausgegeben von Titus Heydenreich. Erlangen 1987 S. 41–82 (Erlanger Forschungen. Reihe A Geisteswissenschaften. 41).

3 Im Bildungsroman erscheint das Besitz-Motiv nicht selten gekoppelt an das Motiv des Fetischs und seiner magischen Kraft; so hier, bei Karl May, so auch bei Goethe, der das Kästchen-Motiv in mannigfachen Verflechtungen durch seinen Roman führt. Karl May verbindet auch die indianische »Medizin« mit der identitätsbildenden Kraft des »Besitzes«:

Der Häuptling schäumte förmlich vor Wut. Er schlug dem unaufmerksamen Wächter mit der Faust in das Gesicht und riß ihm den Medizinbeutel vom Halse, um denselben unter die Füße zu treten. Damit war der arme Teufel für ehrlos erklärt.

   Man darf nämlich nicht etwa auf Grund des Wortes Medizin annehmen, daß es sich dabei um ein Arznei- oder Heilmittel handle. Das Wort Medizin ist bei den Indianern erst nach dem Auftreten der Weißen in Gebrauch gekommen. Die Heilmittel der Bleichgesichter waren ihnen unbekannt und sie hielten die Wirkungen derselben für die Folgen eines Zaubers, eines mit dem Uebersinnlichen in Verbindung stehenden Geheimnisses. Seitdem bezeichnen sie alles, was sie für Zauberei halten oder was ihnen nicht erklärlich ist, was sie für die Folgen eines höheren Einflusses, einer höheren Eingebung halten, mit dem Worte Medizin. . . .

   Jeder erwachsene Mann, jeder Krieger hat eine Medizin. Der Jüngling, welcher unter die Männer, die Krieger aufgenommen werden will, verschwindet plötzlich und sucht die Einsamkeit auf. Dort fastet und hungert er und versagt sich sogar den Genuß des Wassers. Er denkt über seine Hoffnungen, Wünsche und Pläne nach. Die Anstrengung des Geistes, verbunden mit solchen körperlichen Entbehrungen, versetzt ihn in einen fieberhaften Zustand, in welchem er den Schein von der Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden weiß. Er glaubt, höhere Eingebungen zu empfangen; der Traum ist ihm dann eine überirdische Offenbarung. Hat er dieses Stadium erreicht, so wartet er auf den ersten Gegenstand, der ihm vom Traume oder sonstwie vorgegaukelt wird, und dieser ist ihm dann fürs ganze Leben heilig, ist seine "Medizin". . . . Sie findet ihren Platz in dem verschieden-, jedoch stets eigenartig ausgestatteten Medizinbeutel, welcher stets getragen werden muß, und ist das kostbarste Eigentum eines jeden Indianers. Medizin verloren, Ehre verloren. So ein Unglücklicher kann sich nur dadurch rehabilitieren, daß er einen berühmten Feind tötet und dann dessen Medizin vorzeigt; sie wird die seinige. (I, 255f.)

Im Gegensatz zu Goethes Bildungsroman ist für Karl May das Doppelmotiv der Genealogie repräsentiert durch die väterliche und mütterliche Gabe, nicht relevant; von der Mutter, als Garant der Phantasie des Kindes, ist so gut wie nie die Rede. Vgl. II, 507, 532f.; III, 83.

4 Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München 1972

5 Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. Band 8: Romane und Novellen III. Hrsg. von Erich Trunz. München 101981 S. 7f.

6 Mit der Unterscheidung von »Symptom« und »Zeichen« beziehe ich mich auf Umberto Eco / Thomas A. Sebeok (Hrsg.): Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce. München 1985 S.206 (Supplemente. 1.):

»Die traditionelle Unterscheidung zwischen  Z e i c h e n  und  S y m p t o m ,  die Künstlichkeit, Willkür und Konvention mit dem ersten und Natürlichkeit, Unwillkürlichkeit und Motiviertheit mit dem zweiten verbindet«.

7 Eco: Der Zirkel wie Anm. 6 S. 51ff.

8 Patrick Süskind: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Zürich 1985 S. 44:

»Tausende und Abertausende von Gerüchen bildeten einen unsichtbaren Brei, der die Schluchten der Gassen anfüllte, sich über den Dächern nur selten, unten am Boden niemals verflüchtigte. Die Menschen, die dort lebten, rochen in diesem Brei nichts Besonderes mehr, er war ja aus ihnen entstanden und hatte sie wieder und wieder durchtränkt, er war ja die Luft, die sie atmeten und von der sie lebten, er war wie eine langgetragene warme Kleidung, die man nicht mehr riecht und nicht mehr auf der Haut spürt. Grenouille aber roch alles wie zum ersten Mal. Und er roch nicht nur


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die Gesamtheit dieses Duftgemenges, sondern er spaltete es analytisch auf in seine kleinsten und entferntesten Teile und Teilchen. Seine feine Nase entwirrte das Knäuel aus Dunst und Gestank zu einzelnen Fäden von Grundgerüchen, die nicht mehr weiter zerlegbar waren. Es machte ihm unsagliches Vergnügen, diese Fäden aufzudröseln und aufzuspinnen.«

9 Es wäre durchaus auch möglich, die vier "Winnetou"-Bände als Bildungsroman zu lesen, ich beschränke mich im Hinblick auf die Absicht meiner Darstellung auf die drei zuerst erschienenen Bände des "Winnetou". Der vierte Band dient ja auf komplizierte Weise einer Strategie der Beglaubigung der Identität von Held und Autor; wiederum nicht unähnlich zu Goethes Versuch, durch die vorangestellten Widmungsgedichte seine "Wanderjahre" autobiographisch zu legitimieren.

10 Das Problem der Namengebung im Werk Karl Mays verdiente eine eigene Darstellung; von Bedeutung scheint mir, daß Verbrecher bei Karl May immer viele Namen tragen, somit durch eine Identitätsdiffusion gekennzeichnet sind. Dieses Faktum wirft jedoch ein Licht auch auf die, freilich anders geartete »Polynymie« Old Shatterhand / Karl May / Kara Ben Nemsi des Erzähler-Helden. Wenn der Bildungsroman als Kriminalroman geschrieben wird, so dient das Spurenlesen und Probe-Bestehen der charismatischen Offenbarung von Identität, gleichsam der Selbstinszenierung des »Kriegsnamens«. In ihm werden literarischer Ruhm und Beherrschung der Lebenswelt eins.

11 Carlo Ginzburg: Indizien: Morelli, Freud und Sherlock Holmes. In: Eco: Der Zirkel wie Anm. 6 S. 125–179. Ginzburg gibt selbst einen Hinweis auf den Bildungsroman: S. 154, Anm. 52. – Volker Neuhaus hat auf die analoge Detektionsstruktur bei Sherlock Holmes und Old Shatterhand hingewiesen, diese mit dem Peirceschen Abduktionsbegriff in Verbindung gebracht und als Quelle dieses Verfahrens Coopers "Leatherstocking Tales" ausgemacht. Volker Neuhaus: Old Shatterhand und Sherlock Holmes. In: Karl May. Hrsg. von Heinz-Ludwig Arnold. München 1987 S. 146–157 (Sonderband Text + Kritik)

12 Eco: Der Zirkel wie Anm. 6 S. 132f.

13 Vgl. Anm. 6.

14 Eco: Der Zirkel wie Anm. 6 S. 35

15 Ebd. S. 266

16 Ebd. S. 165

17 Ebd. S. 164 – Zum Zusammenhang von Schrift, Kriminologie und Archiv vgl. Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München 1986, v. a. S. 16–48.

18 Vgl. hierzu v. a. den Aufsatz von Volker Neuhaus: Die Archivfiktion in "Wilhelm Meisters Wanderjahren". Euphorion 62 (1968) S. 13–27.

19 Ich habe diese Zusammenhänge in meinem Aufsatz "Das erschriebene Ich". In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1987. Husum 1987 S. 69–100, zu verdeutlichen gesucht.

20 Eco: Der Zirkel wie Anm. 6 S. 139

21 Voltaire: Romans et Contes. Texte établi sur l'édition de 1775, avec une présentation et des notes par Henri Benac. Paris 1958 (Classiques Garnier) S. 6–9, »le chien et le cheval«

22 Umberto Eco: Der Name der Rose. München 91982 S. 33f.

23 Eco: Der Zirkel wie Anm. 6 S. 136

24 Ich glaubte ganz im Gegenteile, ein außerordentlich kluger und erfahrener Mensch zu sein; hatte ich doch, so was man zu sagen pflegt, studiert und nie vor einem Examen Angst gehabt! Daß dann das Leben die eigentliche und richtige Hochschule ist, deren Schüler täglich und stündlich geprüft werden und vor der Vorsehung zu bestehen haben, daran wollte mein jugendlicher Sinn damals nicht denken. (I, 9)

25 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1981 – von Karl May ist freilich in diesem Buch nicht die Rede.

26 Das Problem der Unvereinbarkeit von Außen und Innen ist seit Sokrates ein Problem in der Geschichte der Physiognomik; der Gegensatz von schönem Körper und schöner Seele spielt in Platons "Charmides" eine wesentliche Rolle; Lichtenberg hat das


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Problem wieder aufgegriffen und in seinem Streit mit Lavater zur Geltung gebracht. Vgl. hierzu meinen Aufsatz »Rede, damit ich Dich sehe«. Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick. In: Ulrich Fülleborn / Manfred Engel (Hrsg.): Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne. Ein internationales Symposion. München 1988 S. 71–108.

27 Sogar die Tiere scheinen bei Karl May zu merken, wenn sie examiniert werden: Swallow folgte mit Leichtigkeit, obgleich wir vom grauenden Morgen an unterwegs gewesen waren. Ja, das brave Tier schien zu bemerken, daß es sich hier um eine kleine Probe handle, und griff ganz freiwillig in einer Weise aus, daß der Knabe zuletzt nicht mehr zu folgen vermochte und mit einem Ausrufe der Bewunderung sein Pferd parierte. (II, 402f.)

28 Wie dies in den durch Phantasie bestimmten Bildungsromanen der Fall ist.

29 Neumann: »Rede, damit ich Dich sehe« wie Anm. 26, v. a. S. 94ff.

30 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982

31 Vgl. hierzu: Neumann: »Ich bin gebildet genug« wie Anm. 2, passim.

32 Immerhin sucht Nscho-tschi, der Schöne Tag, sich dem europäischen Bildungsideal der »Schönen Seele« zuzuordnen, wo die Frau nicht durch Spurenlesen, sondern durch identifikatorische Phantasie gewonnen wird:

   »Meine Schwester mag sich nicht täuschen! Old Shatterhand denkt und empfindet anders, als du meinst. Wenn er sich eine Squaw erwählt, so muß sie unter den Frauen das sein, was er unter den Männern ist.«

   »Bin ich das nicht?«

   »Unter den roten Mädchen, ja; da kommt meiner schönen Schwester keines gleich. Aber was hast du gesehen und gehört? Was hast du gelernt? Du kennst das Frauenleben der roten Völker, aber nichts von dem, was eine weiße Squaw gelernt haben und wissen muß. Old Shatterhand sieht nicht auf den Glanz des Goldes und auf die Schönheit des Angesichtes; er trachtet nach andern Dingen, die er bei einem roten Mädchen nicht finden kann.«

   Sie senkte den Kopf und schwieg. Da strich er ihr mit der Hand liebkosend über die Wange und sagte:

   »Es schmerzt mich, daß ich dem Herzen meiner guten Schwester wehe thue, aber Winnetou ist gewöhnt, stets die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie keine frohe ist. Vielleicht kennt er einen Weg, auf welchem Nscho-tschi zu dem Ziele, nach welchem sie strebt, gelangen kann.«

   Da hob sie rasch den Kopf wieder und fragte:

   »Welcher Weg ist dies?«

   »Der nach den Städten der Bleichgesichter.«

   »Dorthin soll ich, meinst du?«

   »Ja.«

   »Warum?«

   »Um zu lernen, was du wissen und können mußt, wenn Old Shatterhand dich lieben soll.« (I, 438)

33 Das gleiche Motiv des eine Spur legenden Gedichts findet sich auch in Karl Mays Roman "»Weihnacht!«".

34 Wie übrigens nicht unähnlich Mörike in seinem Bildungsroman "Maler Nolten" durch Konstruktion des Paares Larkens-Nolten.

35 Urs Bitterli: Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München 1976

36 Ich verweise auf die Studie von Gilles Delenze/Felix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophronie I. Frankfurt a. M. 1974, ferner dies.: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a. M. 1976 (edition suhrkamp. 807).

37 Diese Bestimmung des Bildungsromans als eines semiologischen Romans wird deutlich, wenn man die Entwicklung Old Shatterhands vom Hauslehrer über den Landvermesser und Detektiv bis zum Westmann ins Auge faßt; er erweist sich zunächst als Leser von Büchern, dann als Vermesser eines Territoriums und Kartograph, hierauf


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als ein Spurenleser im Zivilisationsbereich der Stadt, zuletzt als ein Spurenleser in der Wildnis; sein Bildungsgang dokumentiert das Spiel der Zeichen zwischen der Schrift der Kultur und der Schrift der Natur, zwischen Buch und Territorium, zwischen Stadt und Prärie.

38 Mein Aufsatz "Das erschriebene Ich" (s. Anm. 19) beschreibt Karl Mays eigenwillige Umdeutung des Schutzengels in die Muse, wodurch lebensweltlicher Zufall und dichterische Erfindung zusammengeführt werden.

39 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam – Lichtenstein 1955

40 Zu der kontroversen Auffassung dieses Motivs zwischen Geistesgeschichte, Poststrukturalismus und Dekonstruktion vgl. das bereits genannte Werk Blumenbergs "Die Lesbarkeit der Welt" (s. Anm. 25) mit Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 1971, und Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt a. M. 1988 (edition suhrkamp. 1357).

41 Umberto Eco: Nachschrift zum "Namen der Rose". München 1986: »Es kommt jedoch der Moment, da die Avantgarde (also die Moderne) nicht mehr weitergehen kann, weil sie inzwischen eine Metasprache hervorgebracht hat, die von ihren unmöglichen Texten spricht (die Concept Art). Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld. Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: »Ich liebe dich inniglich«, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: »Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich.« In diesem Moment, nachdem er die falsche Unschuld vermieden hat, nachdem er klar zum Ausdruck gebracht hat, daß man nicht mehr unschuldig reden kann, hat er gleichwohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich daß er sie liebe, aber daß er sie in einer Zeit der verlorenen Unschuld liebe. Wenn sie das Spiel mitmacht, hat sie in gleicher Weise eine Liebeserklärung entgegengenommen. Keiner der beiden Gesprächspartner braucht sich naiv zu fühlen, beide akzeptieren die Herausforderung der Vergangenheit, des längst schon Gesagten, das man nicht einfach wegwischen kann, beide spielen bewußt und mit Vergnügen das Spiel der Ironie . . . Aber beiden ist es gelungen, noch einmal von Liebe zu reden.

   Ironie, metasprachliches Spiel, Maskerade hoch zwei.« (78f.)

Übrigens verweist Eco ausdrücklich auf den Winnetou: »Der Idealleser von "Finnegans Wake" soll sich am Ende genausogut unterhalten wie der Leser von "Winnetou". Zumindest genausogut. Allerdings auf andere Weise.« (69)

42 Vgl. Anm. 38.


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