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BERND STEINBRINK

Literaturbericht II



Karl May sei ein von der Forschung vernachlässigter Schriftsteller! Es ist noch gar nicht so lange her, da gehörte es in den Arbeiten zu diesem Schriftsteller zum guten Ton, diesen Topos zu bemühen – damals sicherlich nicht zu Unrecht. Mittlerweile aber hat sich die Lage der Forschung grundlegend gewandelt, und es ist wohl gerade die gegenteilige Behauptung zutreffend: denn für einen Autor, der jahrzehntelang von der Forschung ziemlich unbeachtet geblieben war, ist Mays Leben und Werk mittlerweile recht gut dokumentiert. Sicherlich ist das auch ein Verdienst der 1969 gegründeten Karl-May-Gesellschaft, zugleich aber dürfte die Öffnung der Literaturwissenschaften auch für Lesestoffe, die durch die üblichen Bewertungskriterien unkritisch übergangen worden waren, eine nicht unerhebliche Rolle dabei gespielt haben, daß May zu einem populären Forschungsobjekt wurde, zu dem die detailliertesten Untersuchungen angestellt wurden; vom Leben der Vorväter bis zu Mays medizinischem Sachverstand entzog sich kaum etwas dem forschenden Spürsinn, ja nach gut 1 1/2 Jahrzehnten wissenschaftlichen Fleißes zeigte sich folgendes Bild: In Jahrbüchern, Aufsatzsammlungen, Mitteilungs- und Sonderheften, Sonderbänden zur Forschung und zahlreichen anderen Publikationen bot sich eine kaum überschaubare Menge von Detailforschungen dar, so daß es selbst für den Interessierten schwer wurde, den Überblick zu behalten. Tatsächliche Standardwerke aber blieben Mangelware. Gewiß, Wollschlägers May-Biographie erschien in weiteren Auflagen und wird – durch die vorzügliche Verbindung von Sachkenntnis und literarischer Qualität – auch fernerhin ihren Platz behaupten können; ebenfalls setzte Plaul mit seinem umfangreichen, ausgezeichneten Anhang zu Mays "Mein Leben und Streben" in der biographischen Forschung Maßstäbe; äußerst hilfreich ist auch Hatzigs Karl-May-Register; nicht vergessen werden sollte ebenso Helmut Schmiedts Arbeit über Karl May, ein Buch, das den Schwerpunkt eher auf die Werkanalyse legte. Insgesamt aber blieben Arbeiten, die all die Detailforschungen konsequent zu einer übersichtlichen Darstellung nutzten, bis zum 75. Todesjahr des sächsischen Schriftstellers aus.

   Im Jahr 1987 änderte sich das allerdings. Gleich zu Beginn erschien Martin Lowskys vorzügliches Karl-May-Buch in der Sammlung Metzler, ein verläßlicher Führer zu Leben und Werk Mays, der zugleich


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knapp und prägnant auf 150 eng bedruckten Seiten einen ausgezeichneten Überblick über die Forschungsliteratur gibt. Dieses Buch ist an anderer Stelle ausführlich besprochen und setzte ohne Zweifel Maßstäbe für die nachfolgenden Untersuchungen.

   Seit einiger Zeit schon waren Helmut Schmiedts 1979 erstmals erschienene Studien zu Karl May vergriffen, im Jahre 1987 nun kam eine Neuausgabe dieses Buches heraus, mit dem Hinweis, es handele sich um eine 2., völlig überarbeitete und ergänzte Auflage.(1) Bei aller Anerkennung von Schmiedts Arbeit: dieser Hinweis ist wohl ein wenig irreführend. Ich habe beide Auflagen miteinander verglichen (gewiß nicht Wort für Wort, aber doch ziemlich eindringlich) und den Eindruck gewonnen, daß die Veränderungen der zweiten Auflage sich in Grenzen halten. Es handelt sich dabei vornehmlich um kleine Kürzungen, stilistische Glättungen und zeitgemäße Anpassungen. Zu Anfang etwa wird auf die veränderte Lage beim Zugang zu den Originaltexten durch die Reprints verwiesen (S. 12f. ), an anderer Stelle wird auf die in jüngster Zeit konstruktive Rolle des Karl-May-Verlags »im Hinblick auf die May-Philologie« (S. 259) aufmerksam gemacht, und schließlich wird auch nicht vergessen, auf die Wandlung des Karl-May-Bildes in der DDR seit Beginn der 80er Jahre zu verweisen (S. 262). Die Kürzungen sind insgesamt nicht sehr gravierend, allerdings wurde die Darstellung von Gert Uedings an Bloch entwickelter Kolportagetheorie ersatzlos gestrichen (S. 263; 1. Aufl.: S. 245f.), wahrscheinlich um die (wohl in jeder Hinsicht) recht unterschiedlichen Interpretationen Ernst Blochs und Gertrud Oel-Willenborgs stärker nebeneinander kontrastieren und einige kurze Zitate der neueren Forschung nachfolgen zu lassen, die – um's salopp zu sagen – die "revolutionäre" oder die "affirmative" May-Interpretation bevorzugen.

   Wenig Neues also in der Neuauflage von Schmiedts May-Studien? Der unbefangene Leser wird allerdings bemerken, daß eine einschneidende Überarbeitung des Buches auch gar nicht nötig war. Denn Schmiedt kommt es in seiner Arbeit, deren Hauptintention die Werkanalyse der Kolportage- und der Abenteuerromane Mays ist (das Spätwerk ist dabei ausgeklammert!), wohl vor allem auf eine textnahe Interpretation an; die zahlreichen Belege aus dem breiten Werk Mays, die seine Argumentation präzis stützen, zeugen dabei von einer ausgezeichneten Belesenheit. Schmiedts Untersuchungen demonstrieren immer wieder die Vielschichtigkeit des Mayschen Werkes, sie zeigen auch Gegensätzlichkeiten und Uneinheitlichkeiten, die davor warnen sollten, das Ouvre über einen vorgezimmerten Interpretationsleisten zu schlagen.

   In der Einleitung seines Buches geht Schmiedt zunächst kurz auf den »erfolgreichsten Autor deutscher Zunge« und die mit ihm verbundene »Karl-May-Industrie« ein, sodann folgen einige grundlegende Bemer-


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kungen [Bemerkungen] zur Karl-May-Philologie; in diesem Kapitel eben gibt es – bedingt durch den Gegenstand und seine Entwicklung – in der neuen Auflage einige Veränderungen. Einige methodische Fragen leiten zu den Hauptteilen über, deren Gliederung Schmiedt zusammen mit den Intentionen seiner Studien erläutert: »Die Entstehung und Wirkung der Romane Mays werden [ . . . ] von verschiedenen Ausgangspunkten her untersucht. Im ersten Teil sind die, im weitesten Sinne, sozialen Tendenzen benannt, unter deren Einfluß May und seine zeitgenössischen Leser standen, ferner die prägenden Ereignisse aus der Biographie des Autors und die wichtigsten literarischen Traditionen. Den größten Teil nimmt sodann die Textanalyse ein: Das Werk selbst gibt seine wichtigsten Konstituenten frei und damit jene Merkmale, die in ständiger Wiederholung dem Leser begegnen und seine Reaktion beeinflussen. Im dritten Hauptteil ist die Verbindung zu ziehen, die Frage zu stellen, welchen historisch gewachsenen Bedürfnissen das Werk entgegenkommt« (S. 23). Es wird also ersichtlich: Biographie, soziale Umstände und die literarische Tradition werden sehr zielgerichtet als Quellen für die Deutung und Wirkung des Mayschen Werkes betrachtet. Die Analyse der Kolportage- und Abenteuerromane ist sodann sehr umfang- und aufschlußreich, wobei gerade im (allerdings nicht sonderlich gut strukturierten) Kolportagekapitel die Übertragung der Biographie ins Werk sehr deutlich wird. Im Streit um Adelstitel und Bürgertugend der Kolportagehelden nimmt Schmiedt eine vermittelnde Position ein: »Im Werk stehen anti-aristokratische Befreiung und pro-aristokratische Affirmation in dauerndem Wechsel miteinander, negieren sich fortgesetzt, ohne daß es bei diesem oder jenem Standpunkt bliebe.« (S. 91) Bemerkenswert und erfreulich bei der Analyse der Abenteuerromane ist, daß Schmiedt sich nicht allein im Werk Mays und der entsprechenden Forschungsliteratur auskennt, sondern auch in der literarischen Tradition des Abenteuerromans. Da werden Belege von Cooper, Sealsfield, Reid, Ferry, Gerstäcker, Retcliffe, Möllhausen und anderen mehr herangezogen, die den Blick auf Mays Werk sicherlich schärfen (Wer mag eigentlich von Chauvinismus bei May sprechen, wenn er die zeitgenössische Abenteuer- und Jugendliteratur kennt?). Schmiedts Analyse geht stark ins Detail, dabei setzt er aus dem Werk geschlagene schillernde Mosaiksteine zusammen, die ein facettenreiches Bild der Abenteuerromane Mays erzeugen und darüber hinaus sicherlich hilfreiche Hinweise zur Charakterisierung der gesamten Gattung geben.

   Der Inhaltsanalyse folgt eine Formanalyse. Obwohl auch Schmiedt Schwächen und Stilblüten im Werk konstatiert, will er gerade die Form nicht von einem Ausgangspunkt betrachten, der sich an der deutschen Klassik orientiert, sondern versuchen, Form, Inhalt und Wirkungsweise in ihrer Abhängigkeit voneinander zu betrachten: »In Mays Werk


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ergänzen sich Form und Inhalt fast nahtlos. [ . . . ] Die selbstgewisse, souveräne Erzählhaltung und die eindeutige, nie von Zweifeln geplagte Sprache unterstreichen den ungebrochenen Optimismus, mit dem May die Abrundung seiner Gegenwelt betreibt. Der Leser spielt bei der Erzeugung der Spannung eine wichtige Rolle, und Mays Versuche, die Zuneigung des Publikums auf sich zu ziehen, finden damit ihre Grundlage.« (S. 227)

   Abgeschlossen werden Schmiedts Studien zu May durch einen Teil, der sich mit der Rezeption des Werkes auseinandersetzt; angefangen mit der Wirkung auf das zeitgenössische Publikum führt er zu Anmerkungen zur Aktualität Mays. Warum wurde May gelesen? Wer las ihn eigentlich? Wie wirkte er auf das jugendliche Publikum? Welchen Einfluß hatten die Werkbearbeitungen auf die anhaltende Wirkung? Einige Fragen, denen Schmiedt sehr differenziert nachgeht! Und war die so unterschiedliche Rezeption Mays nicht letztlich in der Vielschichtigkeit des Werkes begründet, die Schmiedt immer wieder deutlich macht und die sicherlich auch der Grund für das intensive Forschungsinteresse ist?

   Jenes Interesse, verbunden mit dem Augenmerk der Öffentlichkeit im 75. Todesjahr des Schriftstellers, bewirkten wohl auch, daß Heinz Ludwig Arnold ein Buch über Karl May als Sonderband seiner Reihe Text + Kritik erscheinen ließ.(2) Diese Sammlung von Forschungsaufsätzen dokumentiert in besonderem Maße das Interesse, das mittlerweile auch die Germanistik May entgegenbringt, denn alle Autoren sind ausgebildete Germanisten, die meisten sind noch sehr jung, aber viele dürften den Mitgliedern der Karl-May-Gesellschaft schon durch Publikationen in den "Mitteilungen" oder dem "Jahrbuch" bekannt sein. Wesentlich beteiligt an der Herausgabe des Bandes war, wie einem kleinen Vermerk bei den Kurzbiographien der Beiträge zu entnehmen ist, Christoph. F. Lorenz, der für den Band auch einen Aufsatz über die Bildlichkeit und die literarische Tradition von "Ardistan und Dschinnistan" sowie – zusammen mit Jenny Potts – eine detaillierte Zeittafel zum Leben Mays schrieb. Insgesamt ist dem Band das Bemühen anzumerken, möglichst alle Schaffensperioden und verschiedene Interpretationsansätze zu berücksichtigen; die Aufsätze sind freilich meist sehr speziellen Problemen gewidmet.

   Übergreifender ist allerdings Rudi Schweikerts Beitrag, der die Wirkung Karl Mays in literarischen Zeugnissen untersucht, angefangen bei Kandolfs "In Mekka" über Theils "Raubkarawane", Wollschlägers "Herzgewächse", Loests "Swallow", einige Werke Arno Schmidts und viele andere Stationen bis zu Endes "Unendlicher Geschichte"; dieser Aufsatz überzeugt nicht allein durch die Fülle der Spuren, die der Autor verfolgte, er ist zugleich auch recht ansprechend geschrieben (was bei Germanisten ja nicht immer der Fall ist) und bestärkt die Forderung


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Arno Schmidts, daß der Einfluß Mays auf spätere Literaten längst Gegenstand diverser Dissertationen hätte sein sollen.

   Auf die Verwandtschaft vom Abenteuer- und Detektiv- bzw. Kriminalroman ist bereits mehrfach hingewiesen worden, etwa von Riha, Miller, Rutenberg und Ueding. Gleich in zwei Beiträgen wird dieser Faden aufgegriffen und verfolgt. Bei zwei Großmeistern des Scharfsinns, Old Shatterhand und Sherlock Holmes, beleuchtet Volker Neuhaus Parallelen und Unterschiede. Ob aber tatsächlich das, »was Doyle/Watson/Holmes im Einleitungskapitel zu "The Sign of Four" science of deduction nennen« (S. 150), eine literarische Frucht des Nordamerikaromans Coopers und seiner Nachfolger ist? Eine sehr weitgehende These, die weiter verfolgt und überprüft werden sollte! Nicht weniger interessant ist der Beitrag von Andreas Graf: "Winnetou im Criminalroman". Die etwas altertümliche Schreibweise des Titels deutet's schon an. Anknüpfend an Mays Criminalroman "Auf der See gefangen" untersucht Graf, bevor er sich näher der Winnetou-Figur zuwendet, zunächst die Genese des Begriffes; bei Erscheinen des Mayschen Romans offenbar noch eine recht junge Genrebezeichnung. Graf datiert das erste Buch, das im Titel als "Criminalroman" bezeichnet wird, auf das Jahr 1856 und konstatiert für die 70er Jahre eine zunehmende Beliebtheit. Der Aufsatz erscheint sehr gut recherchiert, allerdings sollte bei der Verfolgung der Traditionslinie auch Jodokus Temme berücksichtigt werden, der doch gerade beim Wandel von der "Pitaval-Tradition" zur eher fiktiven Kriminalliteratur in Deutschland eine herausragende Rolle spielte.

   Helmut Schmiedts Beitrag betrachtet den Winnetou-Roman in der Tradition der Abenteuerliteratur, er zieht zum exemplarischen Vergleich einen Roman Möllhausens, "Die Mandanen-Waise", heran und konstatiert recht gegensätzliche Positionen im Werk dieser beiden Schriftsteller. »Mays Roman entzieht sich starrer Rubrizierung, aber seine Lösung ist nicht die Versöhnung, sondern die einer dauerhaft gültigen, schroffen Antithetik. Möllhausen relativiert das eine mit Hilfe des anderen und gelangt zur einvernehmlichen Mischung zweier Welten; May zeichnet eine zutiefst gespaltene Welt, die nur dank dieser Spaltung existiert.« (S. 144) Kein Zweifel, Schmiedt analysiert die beiden Romane sehr genau und sorgsam; eine Verallgemeinerung dieser Positionen müßte sich aber auf mehr als die Untersuchung zweier Romane beziehen. Und ob bei einer breiteren Betrachtungsweise nicht doch die gemeinsamen Genremerkmale bei beiden Schriftstellern überwiegen werden?

   Das Karl-May-Buch der Text + Kritik-Reihe bietet noch weitere lesens- und diskussionswerte neue Aufsätze (etwa Hartmut Vollmers Ausführungen zur Marah-Durimeh-Figur), allein der Beitrag von Volker Klotz über das Waldröschen ist die überarbeitete Fassung eines


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bereits 1971 erstmals erschienenen Essays. Unbedingt erwähnt werden sollten noch Jürgen Wehnerts aufschlußreiche Ausführungen zu Mays "Ein Prairiebrand" (erschienen im März 1887 in der Stuttgarter Jugendzeitschrift "Der Gute Kamerad"). Offenbar handelt es sich bei Mays Text, der »zu über 80 % aus Exzerpten anderer Autoren besteht« (S. 14), um eine sehr frühe Schrift, die in der Schublade liegen geblieben war und die, weil in ihr die Grenze zwischen der Rezeption fremden und der Produktion eigenen Textes deutlich wird, Wehnert zu Schlüssen über Mays literarisches Schaffen führt. So aufschlußreich die philologischen Ausführungen sind, so sehr scheint mir dabei die interpretatorische Seite durch Mißverständnisse geprägt zu sein. Ein Beispiel: Müssen sich eigentlich »Traum- oder Fluchtlandschaften« auf der einen und »Räume strapaziöser Auflehnungen gegen die Gefährdungen des Daseins« (S. 32) auf der anderen Seite widersprechen und ausschließen, wie es Wehnerts Darstellung nahelegt? Da ist doch wohl der Begriff des Traums, besonders des literarischen Tagtraums, recht kurz gefaßt.

   Von Jürgen Wehnert stammt noch eine sehr hilfreiche Bibliographie im Schlußteil des Bandes, die in chronologischer Folge die zu Lebzeiten Mays erschienenen Arbeiten nachweist und zudem noch auf Werkmanuskripte, Nachlaßtexte und moderne Werkausgaben eingeht. Als Pendant dazu folgt eine Auswahlbibliographie der Forschungsliteratur zu Karl May von Nils Christian Hoppe, die übersichtlich nach einsichtigen Kriterien geordnet und darüber hinaus auch sehr aktuell ist. So verzeichnet sie etwa schon die sehr wichtigen Neuerscheinungen des Jahres 87, auch die wohl wichtigste: das von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke herausgegebene Karl-May-Handbuch.(3)

   Dieses Buch »ist in dieser Form wohl der erste großangelegte Versuch, die gesamte umfangreiche und für den Laien kaum noch zu überblickende Einzelforschung zu dem Werk eines Schriftstellers zusammenzufassen, der nach dem gängigen Urteil dem Bereich der Massenliteratur zuzurechnen ist und dessen Wirkung und Verbreitung tatsächlich die üblichen Maßstäbe sprengt« (S. XIII), so erläutert der Herausgeber in seinem Vorwort. Es ist in vier große Teile gegliedert. Der erste stellt die historischen Umstände, die literarische Tradition und den literarischen Markt im 19. Jahrhundert dar, kurz: hier wird das Umfeld zu Leben und Werk Mays beschrieben. Dem folgt ein Abschnitt, der sich der Biographie Mays und der biographischen Forschung widmet. Nun, im dritten Teil – dem Hauptteil des Handbuches –, wird das Werk dargestellt und untersucht; der abschließende vierte Teil befaßt sich mit der Wirkungsgeschichte. Für die Mitarbeit an dem Band konnten Ueding und Tschapke mehr als vierzig Autoren gewinnen; nahezu alle, die in der Karl-May-Forschung Rang und Namen haben, sind vertreten: Hans Wollschläger, Claus Roxin, Martin Lowsky, Klaus Hoff-


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mann [Hoffmann], Helmut Schmiedt und viele andere, die sich durch ihre Veröffentlichungen als exzellente May-Kenner ausgewiesen haben.

   Höchst bemerkenswert im ersten Teil des Bandes ist Rainer Jeglins Beitrag über die literarische Tradition des Mayschen Kolportage- und Abenteuerwerkes. Er verfolgt dabei Traditionen aus der Zeit vor der Aufklärung, den Abenteuerroman und die Reiseliteratur der Aufklärung (mit der zentralen Rolle von Defoes "Robinson"), er untersucht den Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und schließlich den exotisch-ethnographischen sowie den eurozentrischen Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts: ein sehr gelungener Artikel, der einen ausgezeichneten Überblick über die Tradition des Genres gibt. Mit dem literarischen Markt im 19. Jahrhundert, dem Buchhandel und Verlag, den Vertriebs- und Verbreitungsformen, setzt sich sodann Reinhard Tschapke auseinander; ein materialreicher Aufsatz zu einem Gebiet, dessen weitergehende Erforschung sicherlich noch aussteht. Allgemeiner mit der Zeit und Gesellschaft zwischen Vormärz und Erstem Weltkrieg befaßt sich Heinrich Pleticha in seinem einleitenden Beitrag, der gewiß auch sehr kenntnisreich geschrieben ist; im ersten Teil bleibt aber eine unübersehbare Lücke in der Darstellung: Wenn Gert Ueding in seiner Einleitung zu dem Handbuch mit gutem Recht darauf hinweist, daß Mays Werk »die kollektiven Wunschträume des bürgerlichen Publikums der Gründerzeit« (S. XVII) repräsentiere und immer nur Gegenstand »der Kulturkritik, nicht allein der literarischen Kritik sein« (S. XVI) müsse, so sollte dem Rechnung getragen werden. Gewiß, in seiner Einleitung macht Ueding mit seinen Bemerkungen zur Kultur der Gründerzeit vieles gut; im ersten Teil (vielleicht von Pleticha?) sollte der Faden aber aufgegriffen werden.

   Doch zum zweiten Teil, der die Biographie Mays behandelt! Die beiden zentralen Aufsätze dazu schrieb Claus Roxin, der eine befaßt sich mit der Geschichte der biographischen Forschung, der folgende mit dem Leben Mays; es folgt eine übersichtliche biographische Zeittafel von Erwin Müller. Dieser gesamte Teil nun läßt wohl auch beim kritischsten Leser keine Wünsche offen, denn mit seinem Beitrag zu Mays Leben steuerte Claus Roxin ein Glanzstück zum Karl-May-Handbuch bei. Es gibt keine Veröffentlichung zum Leben Mays, die derart prägnant, faktenreich und zugleich komprimiert (auf gut 60 Seiten) umfassend Auskunft gibt – und nicht nur das: Roxins Aufsatz bereitet zudem Lesevergnügen, eine fesselnde Darstellung eines ereignisreichen Lebens.

   Der dritte Teil des Handbuches, der sich mit dem Werk Mays befaßt, wird durch eine kritische Bestandsaufnahme von Jürgen Wehnert zum Textproblem eingeleitet – angefangen beim Bestand und Verbleib der Manuskripte bis zur Erläuterung von Aufgaben und Problemen einer wissenschaftlichen Werkausgabe. Helmut Schmiedt untersucht sodann


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Handlungsführung, Personalkonstruktion, Hauptmotive und die Sprache bei May, bevor mit dem Teil C das Kernstück des Karl-May-Handbuches beginnt: Die Darstellung und Interpretation sämtlicher Schriften (!) Mays. Mehrbändige Werke wurden dabei zumeist zusammenhängend dargestellt, etwa der Orientzyklus, der "Surehand" oder der "Mahdi". Die Schriften sind unter elf Kategorien subsumiert und dort jeweils in Werkartikeln abgehandelt, etwa unter den "Reiseromanen und Reiseerzählungen", den "Jugenderzählungen" den "Lieferungsromanen und frühen Romanen", den "Autobiographischen Schriften", den "Fragmenten, Entwürfen und Plänen" und weiteren mehr. Vielleicht mag man über diese Einteilung streiten und fordern, daß etwa "Ardistan und Dschinnistan" nicht den "Reiseromanen und Reiseerzählungen", sondern einer besonderen Kategorie zugeordnet wird, die das Spätwerk erfaßt; insgesamt ist die Einteilung des Handbuches aber sehr hilfreich, sie erlaubt eine schnelle Orientierung nach Werkgruppen wie auch ein einfaches Nachschlagen durch ein alphabetisches Werkregister, das am Ende des Bandes das Handbuch (und eben natürlich in besonderem Maße den Werkteil) aufschlüsselt. Wer nun nicht gleich den Titel der von ihm gesuchten Schrift in diesem Register findet, der blättert ein paar Seiten zurück und benutzt eine ausgezeichnete, von Karl Serden erstellte Konkordanz, die »alle Titel von Karl Mays Werken [erfaßt und zuweist], auch die von späteren Bearbeitern erfundenen oder veränderten.« (S. 720) Die Titel, zu denen sich im Handbuch Werkartikel finden, sind kursiv hervorgehoben; deshalb ist es sehr einfach, Einzelwerke zu identifizieren und die Beiträge dazu sodann über das Werkregister zu finden. Gewiß eine gut durchdachte Lösung, um der Vielzahl von Titeln Herr zu werden (Serdens Konkordanz benötigt allein mehr als 20 Seiten im Kleindruck)!

   Wer allerdings beim Nachschlagen in der Konkordanz zunächst keinen kursiv gesetzten Titel findet, sollte trotzdem im Werkregister nachsehen, da dort auch beispielsweise die kleineren Erzählungen aufgenommen sind, die unter den Werkartikeln von Sammelbänden abgehandelt sind. Ein Beispiel: Sie möchten etwas über die Erzählung "Ein Abenteuer auf Ceylon" erfahren, schlagen im Werkregister nach, finden dort aber keine Eintragung und schauen sodann einmal in die Konkordanz. Dort finden Sie den Hinweis »Erstfassung von "Der Girl-Robber"«, aber keinen Kursiv-Text. Sie schlagen bei "Der Girl-Robber" nach, finden dort wiederum gute Hinweise, aber immer noch nicht den ersehnten kursiv gesetzten Werkartikelverweis. Trotzdem hilft Ihnen nun das Werkregister weiter! Unter "Der Girl-Robber" wird dort auf die Seiten verwiesen, auf denen die Erzählung unter dem Artikel "Am Stillen Ocean" abgehandelt wird (allerdings dort ohne den Hinweis auf die Erstfassung und Spießens "Preußische Expedition nach Ostasien" als Quelle [S. 223ff.]). Das mag zunächst etwas umständlich


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klingen und vielleicht hätten alle Titel, die im Werkregister weiterführen, in der Konkordanz gekennzeichnet werden können, in der Praxis erweist sich aber der Umgang mit dem lexikonartigen Hauptteil des Handbuches als einfach und gut.

   Dem kommt auch zugute, daß die Artikel – trotz der Vielzahl von Autoren – in ihrer Struktur eher einheitlich sind, was für eine gute Planung durch die Vorgabe editorischer Richtlinien und nicht zuletzt eine konsequente redaktionelle Bearbeitung der Artikel spricht. Die Texte folgen »einem einheitlichen Muster: Editions- und Stoffgeschichte, Inhaltswiedergabe, Analyse und Deutung, schließlich Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte« (S. XIV), so daß der Benutzer des Handbuches sich wirklich umfassend informieren und gezielt die Antwort auf seine Fragen finden kann.

   Ist zum einen die große strukturelle Gleichartigkeit der Artikel zu loben, so zum anderen das Niveau der Beiträge. Gewiß, bei einer solchen Vielzahl von Autoren kann es nicht ganz einheitlich sein, ist es auch bei keinem vergleichbaren Unternehmen; besonders positiv macht sich allerdings bemerkbar, daß sich Ueding und Tschapke offensichtlich sehr große Mühe bei der passenden Auswahl der Beiträger gaben, so daß vom großen Romanzyklus bis zum kleinen Vortrag jeder Artikel seinen sachkundigen und ausgewiesenen Autor gefunden hat.

   Der vierte Teil des Handbuches widmet sich der Wirkungsgeschichte, und auch hier ist die Sorgfalt bei der Themenauswahl beeindruckend. Helmut Schmiedt beginnt mit einem Beitrag über die Kritik und Rezeption Karl Mays, er geht dabei auf biographische Zeugnisse (Grosz, Kisch), die Rezeption von Werk und Person durch andere Schriftsteller, die Wandlungen im May-Bild nach dessen Tode bis heute und die Auseinandersetzungen um May in der Literaturkritik, der Germanistik und der Pädagogik ein. In den folgenden Artikeln wird den Epigonen und den Bearbeitern Mays auf die Finger geschaut, seine Wirkung in Österreich, der Schweiz und der DDR untersucht, weitere Beiträge befassen sich mit Übersetzungen, Dramatisierungen, Verfilmungen, Vertonungen, den May-Illustrationen bis zu den Comics und Bildergeschichten und den Formen der kommerziellen Verwertung (Wer weiß schon, daß Old Shatterhand, Winnetou und Genossen als Wortzeichen in der Warenzeichenrolle beim Deutschen Patentamt eingetragen sind?). Schließlich hat man auch die Museen, Gedenkstätten und Ausstellungen zu May nicht vergessen, die Geschichte des Karl-May-Verlags wird verfolgt und Organe und Perspektiven der Karl-May-Forschung werden beschrieben. Aus der Vielfalt der Themen wird das immense Forschungsspektrum deutlich, das in dem Karl-May-Handbuch erfaßt wird, und über das es zuverlässig und sicher informiert. Abgerundet wird der Band noch durch eine Bibliographie zur Forschungsliteratur.


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   Kein Zweifel, das Jahr 1987 hat sehr wichtige Veröffentlichungen zum Thema Karl May gebracht, die wichtigste ist zweifellos das Karl-May-Handbuch: in ihm zeigen sich in bester Weise die Möglichkeiten einer fruchtbaren Zusammenarbeit von May-Kennern, auch wenn sie ganz unterschiedliche interpretative Zugänge zum Werk haben und unterschiedliche Erkenntnisabsichten verfolgen. Es ist sicherlich ein Verdienst des Herausgebers, diese unterschiedlichen Wege einem Ziel zugeführt zu haben; die Bedeutung dieser Arbeit für die Forschung reicht sicherlich weit über das Jahr 1987 hinaus.



1 Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. 2., völlig überarbeitete und ergänzte Auflage. Frankfurt a. M. 1987. 303 S. (Athenäum-Verlag)

2 Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1987. 299 S. (Sonderband Text + Kritik)

3 Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987. XX, 751 S. (Alfred Kröner Verlag)


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