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ULRICH SCHMID

Textkritik des Abenteuers – Abenteuer der Textkritik
Ein Versuch über Leben und Schreiben,
über Kleben und Streichen
*



Für Prof. Dr. Klaus Kanzog


1

Vor dem Fenster die Nacht. Einer schreibt. Allein am Tisch. Seine rechte Hand ergreift soeben ein vollgeschriebenes Blatt, legt es nach links auf einen flachen Stapel anderer, ebenfalls eng mit schwarzen Schriftlinien überzogener Seiten. Von einem Stapel zur Rechten holt die Hand ein neues, noch leeres, allerdings in der rechten oberen Ecke bereits mit einer Seitenzahl vorpaginiertes Papier. Nun greift die Hand nach dem Federhalter, taucht seine Spitze ins Tintenfaß; und die Feder nimmt ihre leise kratzende Wanderung über das Papier erneut auf. Plötzlich stockt sie. Streicht Geschriebenes durch. Fährt fort. Stockt erneut. Streicht. Schreibt. Bricht ab. Wird schließlich weggelegt.

   Die Rechte greift nach dem Federmesser: das eben noch auf einer Seite beschriebene Blatt wird gefaltet und zugeschnitten, um zwei Zeilen des bereits Geschriebenen zu überdecken. Klebstoff tritt in Aktion und fügt die beiden beschriebenen Teile – Schrift an Schrift – eng aufeinander.

   Erneut taucht die Feder in die Tinte, und die aufgeklebte, unbeschriebene Fläche überzieht sich mit Zeilen.


2

Meine Rede geht – wie sollte es vor diesem Auditorium und bei diesem Anlaß anders sein – über Karl May, dem wir hier, kraft der Imagination des Worts, beim Schreiben für einen Augenblick über die Schulter geschaut haben. Und vielleicht hat der eine oder andere zunächst mit der Zuschreibung gezögert, weil das beschriebene Verfahren doch eher untypisch erscheint für einen Autor, der von sich selbst – in reichlich nichtsnutzigem Stolz – verkündete:

* Vortrag, gehalten am 20.11.1987 auf der 9. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Wien.


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Ich habe keine Zeit, zu entwerfen, ein Konzept anzufertigen, zu feilen, zu streichen, zu verbessern und dann eine Reinschrift anzufertigen. Ich setze mich des Abends an den Tisch und schreibe, schreibe in einem fort, lege Blatt zu Blatt und stecke am andern Tage die Blätter, ohne sie wieder anzusehen, in ein Kouvert, welches mit der nächsten Post fortgeht.(1)

Blicken wir ihm, um diese seine Sätze zu prüfen, die nun, zum Zeitpunkt unserer eben geschilderten Nacht, schon einige Jahre zurückliegen, noch ein Weilchen über die Schulter. Gelang es eingangs schon, uns auf mystisch-kiebitzhafte Weise an den Schreibtisch Mays zu versetzen, so wollen wir nun unsere spiritistische Geisterbeschwörung noch fortsetzen und steigern: wir durchleuchten (der Autor hätte gesagt: mit unseren "Astralaugen") das Geschriebene, das Gestrichene und das Überklebte. Die zuletzt beschriebene Seite enthält einen Text, der Ihnen allen wohlvertraut ist, wenn auch wohl in unterschiedlichem Ausmaß, und der beginnt:

Das war das Roß der Himmelsphantasie, der treue Rappe mit der Funkenmähne, der keinen andern Menschen trug als seinen Herrn, den

Ich breche ab, weil nun ursprünglich ein Ausdruck folgte, der dann später – vom Autor gestrichen und ersetzt wurde:

der keinen andern Menschen trug als seinen Herrn, den Reiter für die wahre Bruderliebe.(2)

Daß die Korrektur erst erfolgte, nachdem May zunächst weitergeschrieben hatte, ergibt sich eindeutig aus der Position der Änderung: sie steht nicht – wie bei einer Sofortkorrektur(3) – auf gleicher Zeile mit dem bisher Geschriebenen, sondern über dem Gestrichenen.

   Worin besteht nun der Unterschied zwischen der ersten Formulierung – den Reiter für die wahre Bruderliebe – und der endgültigen: den nach der fernen Heimath suchenden? Schakara hat in der Szene einleitend ein Gleichnis angekündigt von jenem fremden Dichter, der seine Poesie, die er verloren hatte, an diesem Knistern [der Haare], als sie dann wiederkam, sofort erkannte; die stilisierte Selbstcharakteristik Mays als Reiter für die wahre Bruderliebe deckt sich zwar mit seinem schriftstellerischen Idealbild als pazifistischer Aussöhner zwischen Völkern und Rassen, wie es spätestens in "Et in terra pax" dezidiert zutage getreten war, paßt aber nicht in eine poetologisch bestimmte Pegasus-Phantasie. Der Ausdruck dagegen, den er nun stattdessen einsetzt – den nach der fernen Heimath suchenden – fügt sich in mehrfacher Weise wesentlich besser in den Zusammenhang: zum einen kündigt er das später benannte Ziel des Ritts, das klare Sternenland als ferne Heimath an, zum anderen bleibt der Begriff genügend mehrdeutig, um


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zwar vordergründig auf den unmittelbaren Kontext des Himmelsritts bezogen zu bleiben, um aber auch dem tieferen Verständnis mehrere Deutungsfacetten des Begriffs Heimath zu ermöglichen, seien diese nun biographisch, religiös, psychologisch oder literarisch akzentuiert.

   Überfliegen wir nun noch einmal unser Manuskriptblatt; auf ihm steht jetzt, während die Feder im Schreiben fortfährt:

Das war das Roß der Himmelsphantasie, der treue Rappe mit der Funkenmähne, der keinen andern Menschen trug als seinen Herrn, den nach der fernen Heimath suchenden. Sobald sich dieser in den Sattel schwang, gab es für Beide nur vereinten Willen. Die Hufe warfen Zeit und Raum zurück; der dunkle Schweif strich die Vergangenheiten. Des Laufes Eile hob den Pfad nach oben. Dem harten Felsen gleich ward Wolke, Dunst und Nebel, und durch den Aether donnerte das Rennen hinauf, hinauf ins klare Sternenland. Dort flog die Mähne durch Kometenbahnen, und jedes Haar klang knisternd nach der Kraft die von den höchsten aller Sonnen stammt und drum auch nur dem höchsten Können dient. Und thaten sich die Thore wieder auf, die tief hinab zur Erdenstunde führen, so wieherte der Rappe zornig auf

Wieder stocken wir mit dem Autor, der hier offenbar bereits beim Schreiben stutzte, denn er strich den wiehernden Rappen sogleich, nachdem er ihn niedergeschrieben hatte, und korrigierte, indem er auf der gleichen Zeile fortfuhr und das einleitende  s o  stehenließ:

(so) tranken Roß und Reiter von dem Bronnen, der aus der Tiefe jenes Lebens quillt, und kehrten dann im Schein der Sterne wieder.

Das zuerst niedergeschriebene zornige Aufwiehern des Rappen wird sofort, in einem Schreibvorgang, ersetzt durch einen Ausdruck, der mehrdeutig ist wie der Begriff Heimath in der vorangegangenen Korrektur: das Trinken von dem Bronnen, der aus der Tiefe jenes Lebens quillt, erinnert ebenso an die Märchen und Mythen von der Lebenskraft des Wassers wie es den kastalischen Quell in Delphi, am Sitz des Gottes Apoll und der Musen, dem Berg Parnaß, als Quelle der Inspiration, der Poesie und der Kunst überhaupt evoziert.

   Eine weitere Änderung bleibt noch zu vermerken: auch die Charakterisierung der Thore des Sternenlandes, die, wie es ursprünglich hieß, tief hinab zur Erdenstunde führen, wurde durch Streichen und Darüberschreiben korrigiert, so daß die Stelle nunmehr lautet: die niederwärts zur Erdenstunde führen. Zweifelsohne ist das niederwärts, das eine Richtung, keinen Endpunkt angibt, sprachlich weit besser als das ursprüngliche tief hinab zur Erdenstunde; denn Roß und Reiter verweilen ja noch in der Höhe, ganz abgesehen davon, daß ja nicht die Thore tief hinab führen, sondern bestenfalls der Weg, den sie eröffnen. Wir fahren fort im Text:


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Der Reiter hüllte leicht sich in den Silbermantel, den ihm der Mond um Brust und Schultern warf, und seiner Locken Reichthum wallte ihm vom Haupte. Des Rosses düstre Mähne aber wehte, im Winde flatternd wie zerfetzte Strophen, schwarz auf des Mantels dämmerlichten Grund.

Hier kommt unser der schreibenden Feder folgender Blick zum dritten Mal ins Stocken. Wir sind an der Stelle, wo der Autor zu Papier, Federmesser und Klebstoff griff.

   In den letzten zwei Zeilen der Manuskriptseite 44, einer Blattrückseite, stand hier ursprünglich ein unvollständiger Satz, der am Ende der Seite abbricht und ganz offenkundig auf dem nächsten Manuskriptblatt, einer später ausgeschiedenen Seite 45, zu Ende geführt worden war. Mit dem Wort Grund beginnt dieser allererste, später überklebte Text:

Und was am Tage sich allein dem Ohre, nicht auch dem Blick des Auges offenbarte, die Kraft von dort gab sich

Hier endet Seite 44. Wie der Text und wie lange er auf der folgenden, ausgeschiedenen Seite 45 weiterging, wissen wir – trotz unserer "Astralaugen" – nicht; daß er tatsächlich am Ende der Seite 44 nicht abgebrochen, sondern noch zumindest einige Zeilen lang fortgeführt wurde, verrät aber das Blatt, das May zum Überkleben der letzten zwei Zeilen der Seite 44 verwendete; es enthält rückseitig nämlich ebenfalls zwei Textzeilen, die ganz offenkundig nur aus dem Zusammenhang der ausgeschiedenen Seite stammen können:

Sie ist schon da, Du brauchst sie nur zu sehen. Sie hat sich selbst zu zeigen. Mir ist es nur erlaubt, sie anzudeuten. Du

Damit endet – in einem angefangenen Satz – der rückseitige Text auf dem aufgeklebten Blatt; durch das sie, nämlich die am Tage unsichtbare Kraft von dort, wie ursprünglich auf Seite 44 stand, wird ebenso wie durch die jambisch-rhythmisierte Sprache deutlich, daß es sich um eine Fortsetzung der "Himmelsroß"-Metapher handeln muß.

   Das aufgeklebte Blatt enthält aber nun ja nicht nur rückseitig Text und verbirgt zwei ursprüngliche Zeilen, es zeigt auch zwei Zeilen offen: den endgültigen Wortlaut, dessen erstes Wort, Grund, den begonnenen Ausdruck (auf des Mantels dämmerlichten Grund) zu Ende führt. Dann folgt der Neuansatz:

Und jene wunderbare Kraft von oben, die aus den höchsten aller Sonnen stammt, sprang in gedankenreichen Funkenschwär(E 45)men vom wallenden Behang des Wunderpferdes, hell leuchtend, auf des Dichters Locken über und knisterte versprühend in das All.


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Abgesehen von der auf den ersten Blick etwas verwirrenden Paradoxie im ursprünglichen Text, daß etwas ausgerechnet am Tage sich zwar dem Ohre, aber nicht dem Auge offenbart, erscheint als Grund für die Änderung bedeutsamer, daß durch den neuen Text das Bild vom Roß der Himmelsphantasie einen geschlossenen ästhetischen Rahmen erhält, indem – neben dem Bezug zur eingangs genannten Funkenmähne – eine in der Mitte des Gleichnisses verwendete Formulierung die Kraft, die von den höchsten aller Sonnen stammt leicht variiert erneut aufgegriffen wird:

Und jene wunderbare Kraft von oben, die aus den höchsten aller Sonnen stammt

Darüber hinaus ist die ästhetische Verbesserung unübersehbar; der Schluß zieht die Bilder des vorangegangenen Textes zusammen, wobei er die Bewegung von Roß und Reiter, die Pegasus-Verkörperung der Gattung Reiseerzählung und des Mayschen Lebens und Strebens schlechthin, in der Funkenbewegung fortsetzt und zugleich die Beschreibung mit musikalisch-plastischem Sprachklang ins Kosmische münden läßt: und knisterte versprühend in das All. Es wäre zu den gedankenreichen Funkenschwärmen dieser Parabel von der verlorengegangenen und wieder zu gewinnenden Poesie noch viel zu sagen; aber wir wollen nun zurückschauen auf die Manuskriptseite 44. Was hat sie uns verraten?

1. Mays Diktum, er habe keine Zeit, zu entwerfen, . . . zu feilen, zu streichen, zu verbessern, trifft zumindest für das Manuskript des dritten und vierten "Silberlöwen"-Bandes nicht zu. Diese Einsicht ist nicht neu: schon in seinem "konkret"-Artikel(4) – immerhin vor nunmehr 25 Jahren – wies Hans Wollschläger auf die »zahlreiche(n) Überklebungen« der "Silberlöwen"-Manuskripte hin; ein Hinweis, der nicht zuletzt der Anlaß war, diese Überklebungen genauer zu untersuchen oder – besser gesagt – buchstäblich ins Licht zu heben, um sie zu entziffern.

2. Es lassen sich bei May, zumindest auf dem schmalen Raum der Seite 44, drei unterschiedliche Korrekturtypen beobachten: einmal Sofortkorrekturen auf der gleichen Zeile, im gleichen Schreibvorgang mit der ersten Niederschrift, sodann spätere Korrekturen durch Streichen und Darüberschreiben (in selteneren Fällen durch Darunterschreiben oder durch Einfügen mittels eines Markierungszeichens am Ende der Seite); schließlich Überklebungen.(5) Der ursprüngliche Text wird dabei entweder durch ein leeres oder durch ein auf einer Seite bereits beschriebenes Blatt abgedeckt; der Umfang dieser Überklebungen kann von einer Zeile bis zu zwei Seiten reichen. Gelegentlich – davon wird noch zu reden sein – sind sogar


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Mehrfachüberklebungen zu beobachten. Das in der Regel relativ dünne Manuskriptpapier Mays gibt bei den meisten dieser Klebstellen seine Geheimnisse beim Durchleuchten mit einer starken Lampe preis; es ist auf diese Weise fast durchweg möglich, den ursprünglichen Text zu entziffern.

3. Die Korrekturen betreffen nicht nur Änderungen der Handlungsführung, sondern erfolgen mindestens ebenso häufig aus Gründen der sprachlichen Präzisierung oder ästhetischen Verbesserung, also aus stilistischen Erwägungen. Dabei werden nicht nur größere, handlungsentscheidende Passagen neugefaßt, sondern auch die Mikrostruktur des Textes wird, bis hin zu einzelnen Worten und sogar Wortteilen, korrigiert.

Ein letztes bleibt zu unserer einleitenden Nachtszene noch anzumerken: alle erhaltenen Manuskripte Mays zeigen eine gleichbleibende Gestalt. Einzelne Blätter, meist in einem etwas breiteren Format als DIN A 5, in der Regel ca. 17 × 21 cm, wurden von May vor Beginn der Niederschrift jeweils auf den ungeraden Seiten vorpaginiert und dann jeweils zweiseitig beschrieben.(6) Dabei war die Zahl der Zeilen pro Seite höchst unterschiedlich, je nachdem, ob eine Erzählung, wie etwa beim "Deutschen Hausschatz", nach Seiten, oder, wie bei Fehsenfeld, nach Band bezahlt wurde.


3

Bevor wir nun unsere Erkenntnisse, die uns die Seite 44 des letzten "Silberlöwen"-Manuskripts E (ich folge hier mit den Buchstabensiglen den von Hans Wollschläger vorgenommenen Bezeichnungen der Handschriften)(7) gewinnen ließ, anhand weiterer Beispiele überprüfen und deutlicher ausführen, ist eine Zwischenbemerkung nötig. Sie soll den methodischen Hintergrund meiner Darstellung kurz umreißen.

   Die Editionskunde war ursprünglich eine Hilfswissenschaft der philologischen Schriftauslegung, zuständig dafür, gesicherte Texte bereitzustellen. Angesichts antiker oder mittelalterlicher Werke, die nur als vielfach entstellte oder verfälschte Endglieder einer Kette von Abschriften überliefert waren, ging es darum, den "richtigen", den "ursprünglichen" Text soweit wie irgend möglich wiederherzustellen. Von diesem, neuerer Literatur unangemessenen Ziel hat sich die germanistische Editionswissenschaft in den letzten 150 Jahren längst gelöst. Schon lange ist die Überzeugung Allgemeingut der Editoren, daß es nicht darauf ankommt, den einen, "richtigen" Text festzulegen, sondern daß die Edition die Aufgabe hat, die Entstehung eines literarischen Werks in all seinen Stufen möglichst lückenlos zu dokumentieren und nötigenfalls zu kommentieren.(8)


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   Die verschiedenen Fassungen eines ganzen Werks oder seiner Teile, wie sie im Entstehungsprozeß und in der Publikationsgeschichte aufeinanderfolgen, sind wichtige Indikatoren für die Strukturen des literarischen Texts, d. h. für die künstlerischen Absichten und Mittel des Autors, für seine geistig-weltanschauliche Konzeption sowie für seine Einordnung und Bewertung.

   In jedem Moment des Schreibens wählt ein Verfasser zwischen letztlich zahllos vielen Möglichkeiten. Durch die Auswahl zwischen den verschiedensten sprachlichen Elementen und durch ihre Kombination innerhalb ganz bestimmter syntaktischer und thematischer Strukturen entsteht ein abgeschlossener Text, der seinerseits wieder bis zum Erscheinen im Druck, aber auch noch, nachdem das fertige Werk der Öffentlichkeit vorliegt, durch Korrekturen, durch Erweiterungen oder Kürzungen verändert werden kann.

   Die Abweichungen zwischen verschiedenen Fassungen, ganz gleich, ob der Text nun grundlegend umgestaltet oder nur in einigen wenigen Formulierungen verändert wurde, können entscheidende Auskünfte darüber liefern, wie die Struktur des Werks beschaffen ist und welche Motive den Verfasser gerade zu dieser und keiner anderen Zusammenstellung der Worte bewogen. Mit dieser neuen Sicht der Varianten, d. h. der vom Autor geänderten Textstellen, verändert sich auch der Textbegriff selbst: es gibt nun nicht mehr die ein für allemal festgelegte und gültige, also statische Fassung, beispielsweise der sogenannten "Ausgabe letzter Hand", also der letzten vom Autor noch selbst besorgten Edition, sondern es geht um die Textdynamik, um Schreibprozesse und Schreibstrategien, mit denen der Autor auf kommunikative oder meditative Weise seine Leser erreichen will oder sich seiner eigenen Situation vergewissert, und mit denen er schließlich auf die Einflüsse seiner Umwelt, welcher Art auch immer, reagiert.


4

Genug des theoretischen Zwischenspiels. Machen wir uns, wenn es denn schon um Reise-Erzählungen geht, erneut auf den Weg, diesmal nicht an einen nächtlichen Schreibtisch, sondern in das Land Luristan, eine westliche Provinz Persiens. Ein kleiner Reitertrupp hat in einem sandigen Tal haltgemacht an einer Fährte, welche aus einer rechts . . . liegenden Schlucht herauskommt, um links in einer andern zu verschwinden.(9) Soeben sagt einer der Reiter, ein kleingewachsener Beduine, zum Anführer des Trupps:

»Wenn ich dir einen Brief schreibe, den ich auf einen schwarzen Schiefer geschrieben habe, was thust du da?« »Ich lese ihn.« »Nein! Ich sehe ja, daß du das nicht


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thust! Du löschst ihn aus und fragst dich dann verwundert, was auf dem Schiefer wohl gestanden habe . . . Schau diesen Sand! Er ist die Schiefertafel. Der, welcher hier geritten ist, hat eine Schrift geschrieben, welche zu lesen ist, nämlich seine Spur . . . «

Die Spur als Schrift, als Schriftzeile, die es zu lesen, zu entziffern gilt: noch mehrfach taucht diese Ur-Metapher(10) der Mayschen Reiseerzählung in den an diese Szene anschließenden Seiten auf, und sicher hat sie nirgends so treffend ihren Platz wie gerade in einem Werk, mit dem sein Autor sich nichts weniger vornimmt als die bewußte Übertragung seines eigenen Lebens und Schreibens in die Sphäre und in die Handlungsmuster des Abenteuerromans.(11)

   Wir wollen die Fährten-Metapher aus dem Vorfeld des Tals der Dschamikun, aus der Erzählung "Am Tode" vom Beginn des dritten ,Silberlöwen"-Bands einmal umkehren: wir befragen heute die Schrift und die Schriftzeilen als eine Fährte, die es zu enträtseln gilt, wenn wir Auskunft erhalten wollen über den, der hier geschrieben hat, Auskunft darüber, warum und zu welchem Ende er seine Schriftzeilen dem flüchtigen Papier eingezeichnet hat wie der Reiter die Schritte seines Pferdes dem verwehenden Staub.

   Jede Spur verläuft in zwei Linien: eine führt auf den Betrachter zu und eine von ihm weg, oder, anders gesagt, eine geht zurück zum Ursprung, dorthin, woher der kommt, der die Schriftzeile im Sand oder Gras niedergeschrieben hat, und eine andere in die Ferne, zum Ziel des unbekannten Wanderers oder des Reiters – und sei es schließlich der auf dem Roß der Himmelsphantasie. Werfen wir also zunächst einen kurzen Blick zurück, in das Werk Mays vor 1900, und fassen wir die dort sich abzeichnenden Spuren in drei Thesen zusammen:

1. Immer wieder finden sich von Mays Anfängen an Varianten im Sinne voneinander abweichender Fassungen, am ausgeprägtesten an dem Knotenpunkt der Jahre um 1880, wo das knappe Rohstoff-Material der archaisch-frühen Skizzen, etwa aus "Frohe Stunden", in die gekonnt und ausführlich erzählten Abenteuerstories der ersten Hausschatz-Jahre umgewandelt wird.(12) Aber derartige Beispiele, die sich als Ergebnis intensiver Überarbeitung des ursprünglichen Texts präsentieren, bilden die Ausnahme gegenüber den beiden weitaus häufigeren Verfahren: entweder den älteren Text weitgehend oder ganz unverändert zum Neudruck zu befördern, oder aber gleich, wie im Fall des "Winnetou I", aus verschiedenen Motiven und Handlungselementen früherer Erzählungen ein ganz neues Werk zu schreiben.

2. Zwar bedürfen die Manuskripte der Jahre vor der Orientreise noch der genauesten Untersuchung, und es könnten dabei durchaus überraschende Entdeckungen zu machen sein, aber generell kann


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festgestellt werden, daß Mays Aussage, er ändere und feile nie, für die Korrekturen der Jahre vor 1900, einschließlich der Handschrift zu "Am Jenseits", auf jeden Fall insoweit zutrifft, als keine Änderungen festzustellen sind, die über die weitgehend mechanische Tilgung einzelner Wörter oder Ausdrücke, wenn sie sich im Abstand weniger Zeilen wiederholen, hinausgehen.

3. Daß diese Schreibkonventionen nicht nur für die stilistischen Schwächen, sondern vor allem auch für die kompositorischen Mängel zahlreicher Werke verantwortlich sind, ist inzwischen ein Allgemeinplatz der Karl-May-Forschung, wobei noch auf zwei Sachverhalte ergänzend hinzuweisen ist: auffallend ist auf der einen Seite die Ambivalenz des Mayschen Schreibens, d. h. die Tatsache, daß Werke unterschiedlichster Qualität dicht nebeneinander entstehen; auf der anderen Seite läßt sich eine bewußte Schreibstrategie Mays spätestens in den neunziger Jahren beobachten, die ihn zwischen den einzelnen Publikationsorten deutliche Qualitätsunterschiede machen ließ. Dabei ist zu differenzieren: Welten an schriftstellerischem Selbstverständnis liegen zwischen dem lustlosen Herunterschreiben lästiger Auftragsarbeiten nach bewährten Mustern, wie es sich beispielsweise in den letzten Kamerad-Erzählungen "Der Ölprinz" und "Der Schwarze Mustang", in großen Partien der "Hausschatz"-Erzählung "Satan und Ischariot" und am ausgeprägtesten in den "Dschafar"- und "Turm zu Babel"-Episoden der ersten beiden "Silberlöwen"-Bände widerspiegelt, und andererseits dem Scheitern trotz oder gerade wegen höchstgespannter Vorsätze, etwa im Fall der "Winnetou"- oder der "Surehand"-Trilogie.


5

Wenden wir uns nun, von der einschneidenden Grenzlinie der großen Orientreise aus, dem Werk nach 1900 zu. Der psychologische Schock dieser morgenländischen Monate, dessen Phänomene Hans Wollschläger so eindringlich dargestellt hat,(13) ist nicht zuletzt, wenn nicht sogar in erster Linie, ein künstlerisch-literarischer Schock. Nicht nur Mays Heldenpose zerbröckelt angesichts seiner Nichtigkeit im Getriebe und Geschiebe des nahen und des ferneren Ostens, sondern auch sein, während er "Am Jenseits" schrieb, zu geradezu messianischer Monumentalität aufgewuchertes Sendungsbewußtsein bricht innerhalb weniger Wochen völlig zusammen. Wie die Reisetagebücher erkennen lassen, sind es nicht nur die realen, nunmehr hautnahen Erfahrungen und Schrecken der europäischen Kolonialherrschaft, sondern es ist vor allem das ohnmächtig empfundene Gefühl der schriftstellerischen Impotenz gegenüber der Aufgabe, die so vielfältig vermischten sozialen,


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kulturellen und geschichtlichen Reiseeindrücke künstlerisch zu verarbeiten und zu gestalten. (14)

   Zwar erweist sich der erste literarische Niederschlag der im Orient gefaßten guten Vorsätze eher als hilflose Fortsetzung der Tausendsassa-Posen aus der Zeit der "Old-Shatterhand-Legende", wenn zu den Rollen des Weltläufers, des Komponisten, des Völkerpredigers und des Musterdeutschen jetzt noch der lyrische Dichter und der Aphoristiker treten, aber bereits die Entstehung von "Et in terra pax", wie sie Hainer Plaul mustergültig aus dem Briefwechsel des Verlegers Hermann Zieger mit dem Herausgeber Joseph Kürschner rekonstruiert hat,(15) zeigt deutlich, mit welch klarem strategischen Kalkül sich May nun daranmacht, seine Botschaft in Handlungsmuster umzusetzen und als Konterbande zu verbreiten. Leider ist die Handschrift des "Pax"-Romans nicht erhalten, so daß über die Varianten nichts gesagt werden kann.(16) Die listenreiche Sorgfalt jedoch, mit der der nicht zu Unrecht äußerst argwöhnische Autor die Drucklegung seiner Erzählung überwachte, spricht dafür, daß auch dieser Text sorgfältig durchgearbeitet wurde.(17)

   Sicher belegen läßt sich Mays neues Schreibverhalten dagegen, wie wir bereits gesehen haben, aus den Manuskripten der letzten beiden "Silberlöwen"-Bände, wo bereits rein quantitativ, aus den nackten Zahlenproportionen der Korrekturen, die neue Gestaltungsintensität ablesbar ist.

   Die Handschrift zu "Am Tode", dem ersten Versuch nach dem nicht veröffentlichten "Gleichnis für Zieger",(18) die Abenteuermuster der früheren Reiseerzählung durch die Unterblendung von autobiographischem Material doppeldeutig zu gestalten, zeigt deutlich, daß für diese verhältnismäßig einfach strukturierte Verschlüsselung der Konflikte mit den katholischen Verlagshäusern Pustet und Bachem nur eine vergleichsweise geringe künstlerische Innovationskraft nötig war. Die Handschrift weist mit ihren 321 Seiten ebenso wie das anschließende dritte Kapitel im Manuskript C – es umfaßt knapp 100 beschriebene Seiten – jeweils nur eine Überklebung auf, während sich dann die Zahl der Korrekturen rapide erhöht.

   Das vierte Kapitel des dritten "Silberlöwen"-Bandes, niedergeschrieben auf knapp 280 Seiten, hat fünf überklebte Stellen, das fünfte, das "Bluträcher"-Kapitel, hat ebenso elf Klebestellen wie das folgende Manuskript D, das mit seinen 238 Seiten den größten Teil des Eröffnungskapitels des vierten Bandes "Im Grabe", enthält.

   Im letzten "Silberlöwen"-Manuskript E schließlich lassen sich zahlreiche Streichungen und Ergänzungen beobachten; so greift May beispielsweise im letzten Kapitel des Romans, das ca. 150 handgeschriebene Seiten umfaßt, einundzwanzigmal zum Klebstoff, um z. T. beträchtliche Korrekturen anzubringen.


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   So beeindruckend diese Zahlenspiele (1 – 1 – 5 – 11 – 11 – 21) Mays Bestreben, die Textstrukturen bis ins Detail durchzuarbeiten, auch dokumentieren mögen, bleibt doch festzuhalten, daß sie nur äußerst grobe und unzuverlässige Näherungswerte darstellen. Dem kritischen Fährtenleser auf den Spuren der verborgenen Schrift offenbart sich nämlich an einigen, wenn auch wenigen, so doch ausreichend beweiskräftigen Stellen der Handschriften, daß offenkundig auch dort, wo im Manuskript selbst keinerlei Indizien auf eine Korrektur verweisen, bereits eine zweite oder gar dritte Textfassung vorliegen kann.

Das sah so unschuldig aus . . . ; aber wehe dem, der diesem Betruge traute!(19)

Dieser Satz, der sich so treffend in unsere Argumentation einfügt, ist zugleich einer der Belege für die Notwendigkeit, dem unschuldigen Erscheinungsbild der Manuskripte heftig zu mißtrauen. Er findet sich im "Großen Traum", dem Erlösungs-Mysterienspiel unter den Ruinen im vierten Band des "Silberlöwen" und beschreibt die Türe, die zum jähen Absturz in das unterirdische Bassin führt. Der eben zitierte Wortlaut des Satzes steht im Manuskript an dem regulären und zu erwartenden Platz, auf der Manuskriptseite 199, wo auch nicht das leiseste Anzeichen erkennen läßt, daß die Formulierung nicht einer allerersten Niederschrift entstammt.

   Die andere, mutmaßlich tatsächlich erste Fassung des Satzes klebt erst 17 Seiten später auf der Seite 216 desselben Manuskripts E, allerdings nicht im fortlaufenden Text, sondern auf der Rückseite eines aufgeklebten, 5 Zeilen langen Streifens. Die Tatsache, daß auf diesem Überklebeblatt die Seitenzahl "199" deutlich lesbar ist, beweist ebenso wie die Übereinstimmungen im Wortlaut die eindeutige Zuordnung der Variante. Die Differenzen zwischen den beiden Fassungen sind höchst aufschlußreich: durch minimale Veränderungen wird die Passage ausschließlich sprachlich-stilistisch präzisiert und verbessert.

   Hieß es zuerst: dieser führte zum Sturz hinunter, in das Bassin, so ergänzt die Endfassung zum jähen Sturz. Bestand der zweite Ausgang ursprünglich aus einer hölzernen, unverschlossenen Thür, so besteht er im endgültigen und gedruckten Text aus einer hölzernen, unverschlossenen und unverriegelten Thür. Der folgende Satz schließlich verschärft den Akzent des bewußten, vorsätzlichen Betrugs; aus Das sah ganz so aus, als ob man durch sie in ein weiteres Gemach oder Gewölbe trete wird Das sah so unschuldig aus, ganz genau so, als ob sie in ein weiteres Gemach oder Gewölbe führe. Diese Tendenz unterstreicht zuletzt die Änderung von aber wehe dem, der diesem Truge traute in aber wehe dem, der diesem Betruge traute.

   Eine weitere Belegstelle dafür, daß der Entstehungsprozeß der späten Werke, was die Mikrostruktur betrifft, nur mit in ihrer Ausdeh-


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nung [Ausdehnung] unabgrenzbaren Unschärfen zu rekonstruieren ist, haben wir schon eingangs, beim Schluß der Parabel vom "Roß der Himmelsphantasie", kennengelernt, wo sich ein von May getilgter Ansatz zur Fortsetzung nur auf der Rückseite des aufgeklebten Blatts zufällig erhalten hat. Ein letztes Beispiel, besonders aufschlußreich und interessant, bietet der Abschluß des Kapitels "Im Grabe", der gespenstischen Nachtszene, mit der May zu Beginn des vierten "Silberlöwen"-Bandes sich selbst und seiner literarischen Vergangenheit den Prozeß macht. Hier finden sich auf der Manuskriptseite 24 der Handschrift E gleich zwei Überklebungen, also drei Papierschichten übereinander, von denen die beiden aufgeklebten auch jeweils wieder auf der Rückseite älteren Text mit ausgeschiedenen Passagen enthalten. Der unterste dieser Rückseitentexte stammt ganz offenbar aus dem Zusammenhang des Kapitelschlusses und beginnt mitten im Wort:

ten wir diesen Ausdruck noch einmal bei: Ich wohne in Deiner Gruft in Deinem Grabe.

Die Rückseite des obersten Blattes dagegen zeigt eine Seitenzahl, nämlich "17", und drei Zeilen ursprünglichen Text, der ebenfalls mitten im Wort beginnt:

-hest [fest?] und Du jetzt »Tiefen« nanntest, würde es Dir von jetzt an wohl nicht möglich sein, auch fernerhin nur an der Oberfläche zu bleiben. Das prophezeie ich Dir.

Nun enthält die Seite 17 des Manuskripts E allerdings nichts, in dessen Zusammenhang sich dieses Textfragment einordnen ließe, die Seite 17, wie sie in der endgültigen Handschrift vorliegt, entspricht der Seite 188 des vierten "Silberlöwen"-Bandes und schildert die dramatischen Ereignisse nach dem Ausbruch der Gefangenen, die bei ihrer Flucht den Pedehr gefesselt und geknebelt zurücklassen. Das bedeutet, daß das Nachtgespräch zwischen dem Ustad und dem Ich-Erzähler – es endet in der Fehsenfeldausgabe auf Seite 186 – im ersten Entwurf noch mindestens drei bis vier Seiten weitergegangen sein muß, als es die heutige Handschrift erkennen läßt.

   Die Beispiele ließen sich vermehren, wobei schon aus den angeführten Exempeln die Beweisführung erkennbar ist.(20) Das Verfahren Mays, verworfenen Text auszuscheiden und die Korrektur dadurch zu kaschieren, daß er auf einem neu eingefügten Blatt mit dem Beginn einer neuen Seite fortfährt, bewirkt, daß eine an sich zu erwartende Korrekturspezies, nämlich Varianten des Handlungsablaufs, nur relativ spärlich zu finden ist.(21) Allerdings sind unter diesen wenigen Belegen ausgesprochene Leckerbissen wie die auf Seite 144 des Manuskripts E fragmentarisch erkennbare Absicht des Autors, das Kind Tifl den


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Kiss-y-Darr, den Schundroman, nicht nur besitzen, sondern auch reiten zu lassen, wobei das Pferd offenbar ebenso wie die von Kara Ben Nemsi gerittenen Pferde ein Rappe sein sollte, der nicht, wie im späteren Geschehen, durch fremde Hände gegangen bzw. dem Ustad gestohlen worden, sondern stets bei den Dschamikun geblieben war. Als "Rappe" hätte sich der Münchmeyer-Teil des Mayschen Ouvres ganz anders als der im endgültigen Text enthaltene Hellbraune in die Reihe der anderen Pferde bzw. Werke, Assil Ben Rih und Syrr, die Verkörperungen der Reiseerzählungen und des rätselumwitterten Spätwerks, eingefügt.


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Fassen wir, wobei natürlich noch viel auszubreiten und zu sagen bliebe, einige Ergebnisse unserer Untersuchung zusammen:

1. Die Vielfalt der Tonlagen, vom hymnischen Sprechen über die Selbstkritik und Selbstironie bis zur Banalität der Pekala-Sphäre, verdankt sich wesentlich den z. T. intensiven Korrekturprozessen, die sich allerdings in den Handschriften nur noch rudimentär dokumentieren lassen.

2. Die Genese der Handlungsentwürfe ist nur fragmentarisch zu rekonstruieren; es muß aber weitaus mehr Varianten, d. h. verworfene Textteile, gegeben haben, als wir heute nachweisen können. Gewichtige und schlüssige Momente weisen darauf hin, daß gerade diese handlungsbezogenen Varianten, zumal sie in der Regel umfangreichere Textpartien betreffen als die rein ästhetisch-sprachlich motivierten Korrekturen, überwiegend dadurch kaschiert wurden, daß der Neuansatz jeweils mit einem neuen Manuskriptblatt begonnen wurde.

3. Die entscheidend neue, auf unterschiedlichen Ebenen realisierte Differenzierung der mythologischen, literarischen und kunstbezogenen Substrate ist ebenfalls ein Ergebnis ästhetisch begründeter Textbearbeitung, aus ihr entsteht auch die so unterschiedlich akzentuierte Symbolik des Texts mit ihren großen mythischen Figurationen, insbesondere den hymnisch-lyrisch bestimmten Märchen-Partien des "Bluträcher"-Kapitels in "Silberlöwe III", dem autobiographischen Rollenspiel des Kapitels "Im Grabe" samt seinen jäh wechselnden Figuren- und Argumentationskonstellationen sowie der biblisch hinterblendeten Passions- und Auferstehungsmetaphorik, oder beispielsweise dem Kommunikations-Mythos vom "Versteinerten Gebet" im vierten Band des "Silberlöwen".

4. Diese wenigen Beobachtungen, mühelos noch weiter zu ergänzen,


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lassen von einer historisch-kritischen Ausgabe des Spätwerks entscheidende Erkenntnisgewinne für die Interpretation erhoffen. Das gilt nicht nur für die beiden letzten Bände von "Im Reiche des silbernen Löwen", sondern weitaus mehr noch für die nach 1903 erschienenen Werke. Bei der Überarbeitung der "Et in terra pax"-Erzählung nahm May tiefgreifende Textänderungen vor, die weit über das bloße Anfügen eines Schlußkapitels hinaus in die Handlungs- und Bedeutungsstrukturen des Texts eingreifen, und erreichte dadurch eine gegenüber der Erstfassung entscheidend verbesserte ästhetische Qualität.(22)


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Die auf die Überarbeitung des "Pax"-Romans folgenden beiden Werke, "Babel und Bibel" und "Ardistan und Dschinnistan", sind bezüglich ihrer Textentstehung im Detail noch nicht zureichend erforscht. Dennoch zeigt schon die Tatsache, daß May im Fall des Dramas eine erste Fassung vollkommen verwarf und durch eine Neufassung ersetzte, ebenso wie die wenigen Andeutungen in Hansotto Hatzigs Sascha-Schneider-Buch,(23) welche hochinteressanten Erkenntnisse hier zu erwarten sind, ganz abgesehen davon, daß May für sein Stück umfangreiche, in einer historisch-kritischen Ausgabe zu dokumentierende Vorarbeiten geleistet hat. Die Literatur zum sog. "Babel und Bibel"Streit,(24) dem titelgebenden Anlaß des Mysterienspiels, wurde von ihm ebenso herangezogen wie Abhandlungen zur Dramentheorie und Bühnenpraxis.

   Bei der Neufassung des "'Mir von Dschinnistan" (so der Titel im "Deutschen Hausschatz") für die Buchausgabe schließlich griff May grundlegend in Sprache und Handlung ein; die textkritische Situation kompliziert sich in diesem Fall zusätzlich dadurch, daß offenkundig die Redaktion des "Deutschen Hausschatz" für den Zeitschriftenabdruck umfangreichere Veränderungen des Manuskripts vornahm, die May seinerseits zum Teil wieder in den Fehsenfeld-Text übernahm. Eine gründliche Untersuchung der Manuskripte und ein sorgfältiger Vergleich mit dem "Hausschatz"-Text ist ebenso längst überfällig wie eine Auswertung der Varianten zwischen den Druckfassungen selbst.(25)

   Werfen wir zum Abschluß noch einen Blick auf den letzten Großroman Mays, den vierten "Winnetou"-Band, so zeigt sich hier eine überraschend weitgehende Übereinstimmung zwischen der Beurteilung durch die Forschung, zuletzt durch den gründlichen und in seinen Befunden sehr exakten Aufsatz von Günter Scholdt im Jahrbuch 1985,(26) und der textkritischen Situation. Die Rückkehr in die seit Jahren gemiedenen finsteren und blutigen Gründe des Wilden Westens, die


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Schwächen und Unklarheiten der Handlungsführung sowie der sprachlichen Gestaltung verweisen ebenso wie die gegenüber den vorangegangenen Romanen unscharfe und allzusehr rekapitulierende Symbolstruktur auf die Erschöpfung Mays in der Entstehungszeit des Texts, die auf der Ebene des Manuskripts ihren Ausdruck im regressiven Charakter des Schreibakts findet: die Handschrift entspricht in bezug auf die Durcharbeitung des Texts ganz und gar den Schreibkonventionen vor 1900, sie weist mit einer (wenig bedeutsamen) Ausnahme, der bekannten Auskunft über Pappermanns Auge,(27) keinerlei Korrekturen auf, die über die Tilgung von Wort- oder Ausdruckswiederholungen hinausgehen. Das aber heißt, daß – bei allen dennoch faszinierenden Komponenten dieser späten "summa indianica"(28) – die mechanisch dahinlaufenden Schreibprozeduren der, um mit May zu sprechen, ersten Haddedihnzeit(29) wiedergekehrt sind und entscheidend das gegenüber den vorangegangenen Werken deutlich schwächere Textniveau bestimmen.

   Ein einziges Indiz hält auf der Titelseite der Handschrift dieses, wie Arno Schmidt es nannte, »allzu zittrig geratenen Swan-Song eines in jeder Hinsicht Verbrauchten«(30) den Qualitätsanspruch auf rührende Weise fest: links unten in der Ecke des Deckblatts steht Concept,(31) um die Vorläufigkeit des Geschriebenen, um wenigstens damit den Willen zu späterer Durcharbeitung zu dokumentieren.


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Lassen Sie mich zum Abschluß eines der Leitthemen aus dem wunderschönen, tief anrührenden neuen Film von Wim Wenders "Der Himmel über Berlin" variieren:

   Als das Kind Kind war, wollte es unbedingt ein Dichter werden. Als das Kind alt war, war es ein Dichter geworden, aber kaum einer wollte ihm das glauben. Da war das Kind traurig, bis ihm schließlich jemand bestätigte, daß es wirklich ein Dichter geworden sei. Dieser Jemand war ausgerechnet ein Gerichtsvorsitzender im Gerichtssaal. Und das war ja eigentlich noch viel trauriger.

   Einer schreibt. Allein am Tisch. Vor dem Fenster die Nacht.


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Als das Kind Kind war, wollte es immer ein Dichter werden. Als das Kind alt war, war es ein Dichter.


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1 Karl May: Freuden und Leiden eines Vielgelesenen. In: Deutscher Hausschatz, XXIII. Jg. (1896) S. 18 (Reprint in: Karl May: Kleinere Hausschatz-Erzählungen. Hrsg. von Herbert Meier. Regensburg 1982 S. 303–315 (310))

2 Alle Variantenzitate stammen aus den Manuskripten zu "Im Reiche des silbernen Löwen" (Karl-May-Archiv, Bamberg) und werden mit freundlicher Genehmigung des Karl-May-Verlags, Bamberg, mitgeteilt. Der Text vom "Roß der Himmelsphantasie" findet sich im Manuskript E auf den Seiten 43–45. Die endgültige Fassung in: Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903 S. 208f.

3 Zu den Fragestellungen und Methoden der Editionswissenschaft vgl. die grundlegenden Bände: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. v. Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971 – Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (Lili), Jg. 5 (1975), H. 19/20, "Edition und Wirkung" – Edition und Interpretation ( . . . ). Akten des ( . . . ) deutsch-französischen Editoren-Kolloquiums Berlin 1979. Hrsg. v. Louis Hay u. Winfried Woesler. Bern u. a. 1981 (Jahrbuch für internationale Germanistik, Reihe A. Bd. 11) – Zeitschrift für deutsche Philologie. 101. Bd. (1952). Sonderheft "Probleme neugermanistischer Edition" – Eine Einführung in den Problembereich bietet: Klaus Kanzog: Variante oder Textentscheidung. Über die Rolle der Textkritik im literaturwissenschaftlichen Studium. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. Stuttgart 1978 S. 700–721.

4 Hans Wollschläger: Herr Karl May von der anderen Seite. In: Konkret, Sept. 1962 – Die Informationen, die dieser Artikel über die "Silberlöwen"-Manuskripte liefert, in erweiterter Form auch in: Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den "Silbernen Löwen". Zur Symbolik und Entstehung. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1979. Hamburg 1979 S. 99–136 (auch in: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt a. M. 1983 S. 188–228).

5 Genauere Angaben zu Mays Korrekturen und ein Apparat ausgewählter Varianten in meiner Dissertation: Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895–1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 12. Ubstadt (in Vorbereitung; erscheint voraussichtlich Herbst 1988).

6 Die Vorpaginierung ist in verschiedenen Manuskripten vor und nach 1900 nachzuweisen, wenn Seitenzahlen von May geändert werden mußten, weil er Blätter ausschied.

7 Wie Anm. 4

8 Wie Anm. 3

9 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVIII: Im Reiche des silbernen Löwen III. Freiburg 1902 S. 183f.

10 Vgl. Ingmar Winter: »Bin doch ein dummer Kerl«. Vom Spurenlesen beim Spurenlesen. In: Jb-KMG 1987. Husum 1987 S. 47–68. – Belegstellen zur Parallele Fährte-Schrift finden sich beispielsweise im dritten Kapitel von "Der Geist des Llano estakado" (»Man kann eine Fährte so gewiß lesen wie die Zeilen und Seiten eines Buches.« – Karl May: Der Geist des Llano estakado. In: Karl May: Die Helden des Westens. Stuttgart (1890) S. 305).

11 U. Schmid wie Anm. 5 S. 99–206

12 Vgl. Herbert Meiers Einführungen in: May: Kleinere Hausschatz-Erzählungen wie Anm. 1

13 Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972 S. 11–92

14 Hans Wollschläger/Ekkehard Bartsch: Karl Mays Orientreise 1899/1900. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971 S. 186–215 (vgl. z. B. S. 199, 206, 209–211 u. ö.)

15 Hermann Zieger/Joseph Kürschner: Briefe über Karl Mays Roman "Et in terra pax". In: Jb-KMG 1983. Husum 1983 S. 146–196

16 Roland Schmid: Nachwort (zu "Im Reiche des silbernen Löwen III"). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. XXVIII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984 N16

17 Wie Anm. 15 S. 159ff.


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18 Karl May: (Der Zauberteppich). In: Karl-May-Jahrbuch (KMJB) 1923. Radebeul 1922 S.12–16; auch in Karl May's Gesammelte Werke Bd. 48: "Das Zauberwasser". Radebeul (auch Bamberg). (Gegenüber dem Jahrbuchtext weichen die Texte in den Buchausgaben ab.)

19 May: Silberlöwe IV wie Anm. 2 S. 322

20 Weitere Beispiele bei: U. Schmid wie Anm. 5

21 Belege für einen verworfenen Handlungsfortgang bieten beispielsweise die Manuskriptseiten E 102 ("Silberlöwe IV" wie Anm. 2 S. 251), wo ursprünglich eine Auseinandersetzung mit dem Pedehr weitaus schärfer und ausführlicher formuliert ist, oder E 632 ("Silberlöwe IV", S. 639), wo ein Handlungsansatz abgebrochen wird, der auf eine "Kriegskasse", d. h. auf materielle Bestechungsversuche der May-Gegner hindeutet.

22 Hansotto Hatzig: Et in terra pax – Und Friede auf Erden. Karl Mays Textvarianten. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972 S. 144–170

23 Hansotto Hatzig: Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft. Bamberg 1967 S.135–152

24 Max Finke: Aus Karl Mays literarischem Nachlaß. In: KMJB 1920. Radebeul 1919 S. 53ff.

25 Die Varianten zwischen der Hausschatz- und der Fehsenfeld-Fassung stellte Hansotto Hatzig in einer ersten Übersicht zusammen in Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 30/1976 S. 23–32.

26 Günter Scholdt: Vom armen alten May. In: Jb-KMG 1985. Husum 1985 S. 102–151

27 Karl May: Winnetou Band IV. Repr. der Karl-May-Gesellschaft. Hrsg. von Dieter Sudhoff. Hamburg/Gelsenkirchen 1984 S. 5, Faksimiles der Korrektur S. 275 und 295

28 Zur Entwicklung der "Winnetou"-Figur und damit auch zu "Winnetou IV" bereiten Hartmut Vollmer und Dieter Sudhoff einen Materialienband beim Suhrkamp-Verlag vor; dort weitere Informationen zur Bewertung des "Winnetou IV"-Romans.

29 Hatzig: Karl May wie Anm. 23 S.152 – Das Zitat stammt aus dem fragmentarischen Anfang des "Abu Kital"-Romans.

30 Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Frankfurt a. M. 1969 S. 201. (Fischer TB 968)

31 Faksimile in May: Winnetou Band IV wie Anm. 27 S. 273 – Die Lexika aus Mays Zeit definieren ebenso wie May selbst den Begriff "Concept" durchweg mit »Entwurf, Plan« (Brockhaus 1879) oder »Entwurf eines Schriftstücks, Fassung« (Meyer, Bd. 10, 41888), unterstreichen also den Charakter des Vorläufigen.

Dieser Vortragstext geht in seiner Materialgrundlage zurück auf Manuskriptuntersuchungen, die ich im Zusammenhang mit meiner Dissertation über Jahre hinweg im Karl-May-Archiv Bamberg durchführen durfte.

   Mein herzlicher Dank dafür sowie für die Druckgenehmigung der im Vortrag zitierten Varianten aus den "Silberlöwen"-Manuskripten gilt dem Karl-May-Archiv, insbesondere Roland Schmid, der mir über Jahre hinweg bei mehreren Arbeitsaufenthalten in Bamberg immer wieder die Möglichkeit bot, nicht nur die Manuskripte einzusehen und kritisch zu untersuchen, sondern der darüber hinaus auch in vielfältiger Weise meine Arbeit durch Ratschläge und dadurch unterstützte, daß er die unterschiedlichsten Materialien aus Mays Nachlaß, insbesondere den Briefwechsel mit Fehsenfeld, zur Einsichtnahme zur Verfügung stellte.


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