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CLAUS ROXIN

Das achtzehnte Jahrbuch



Karl Mays 75. Todestag am 30. März 1987 hat in der Forschung, aber auch in der Öffentlichkeit eine Resonanz gefunden wie kein May-Gedenktag zuvor. Der Literaturbericht von Helmut Schmiedt und Bernd Steinbrink sichtet den Ertrag der Sekundärliteratur, in der das von Gert Ueding im Verlage Kröner mit Unterstützung der Karl-May-Gesellschaft herausgegebene Karl-May-Handbuch einen bleibenden Rang als Standardwerk der May-Forschung behaupten wird.

   Das bei weitem wichtigste Ereignis der "Primärliteratur" im Gedenkjahr war der Beginn einer historisch-kritischen, auf 99 Bände angelegten Gesamtausgabe Karl Mays, für die Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger verantwortlich zeichnen. Inzwischen ist diese erste unbearbeitete und gleichzeitig präsentable Neusatzausgabe, die seit dem Tode Mays überhaupt erscheint und der ihr Verleger Greno (im Frühjahrsprospekt 1988) »große(n) Zuspruch« der Leser bescheinigt, auf fast ein Dutzend Bände angewachsen und schreitet planmäßig voran.

   So ist es nur folgerichtig, daß zwei der auf dem "Wiener Kongreß" der KMG (18.–22.11.1987) gehaltenen Vorträge sich mit den Problemen einer kritischen May-Ausgabe beschäftigen. Karl Konrad Polheim setzt sich mit den Aufgaben und besonderen Schwierigkeiten einer solchen Edition in grundsätzlicher Weise auseinander, während Ulrich Schmid selbst ein Stück textkritischer Arbeit liefert, indem er erstmals Proben aus den von ihm entzifferten Textvarianten des "Silberlöwen" vorführt. Dem Vortrag Schmids liegen die langjährigen Forschungen zugrunde, die er für seine Dissertation "Das Werk Karl Mays 1895–1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund" angestellt hat. Diese Arbeit, eine besonders wichtige Monographie der neueren Karl-May-Forschung, wird von der KMG demnächst als Band 12 der "Materialien zur Karl-May-Forschung" veröffentlicht werden. Sie steht zur Zeit noch zur Subskription, und wir bitten unsere Leser, von dieser Möglichkeit regen Gebrauch zu machen.

   Im übrigen ist der vorliegende Band auch ein Jahrbuch der großen Interpretationen. Dabei gehen fast alle interpretierenden Beiträge von durchaus unterschiedlichen Ansätzen und Forschungsinteressen aus und zeigen gerade dadurch, daß die Ergiebigkeit des Forschungsgegenstandes Karl May weiterhin zunimmt.


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   Gerhard Neumann behandelt in seinem Wiener Vortrag die Winnetou-Trilogie als Bildungsroman und rückt dadurch und durch die Inanspruchnahme Karl Mays als »Autor der Postmoderne« die Deutung dieser populärsten May-Erzählung in eine ganz neue Perspektive. Heinz Stolte erörtert Mays großes Alterswerk "Ardistan und Dschinnistan" unter dem Gesichtspunkt der Weltfriedensgedanken seines Autors; aber nicht durch deren theoretische Darlegung, sondern indem er zeigt, wie sie sich bei May in Bilder und Märchen umsetzen. Dieter Sudhoff liefert eine erste umfassende Interpretation eines Zentralstücks aus dem "Silberlöwen", des ehedem von Arno Schmidt mit Recht gerühmten "Großen Traumes"; sie bestätigt den literarischen Rang des "Silberlöwen", aber auch seinen Anspruch als Weltanschauungs-Dichtung. Hermann Wohlgschaft führt die Untersuchungen über Mays "Am Jenseits" fort, die bisher vor allem Hans Wollschläger (Jb-KMG 1974 S. 153ff.) und Hartmut Vollmer (Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 7) vorgelegt haben; er hebt mit Nachdruck die Bedeutung Mays als eines auch theologischen Schriftstellers hervor, die in den letzten Jahrzehnten fast unerkannt geblieben war. Eine noch zu veröffentlichende Arbeit Wohlgschafts über "Friede auf Erden" wird May als einen ernstzunehmenden modernen theologischen Denker vollends sichtbar machen. Walther Ilmer bringt den zweiten Teil seiner Aufsatzreihe über Karl Mays "»Weihnacht!«", in der er die Verarbeitung äußeren und inneren biographischen Materials in dieser späten und exemplarischen Reiseerzählung bis ins Detail verfolgt. Wojciech Kunicki schließlich macht zum ersten Mal eine Humoreske Karl Mays ("Die verhängnisvolle Neujahrsnacht") zum Gegenstand eingehender Erörterung; dabei ergibt sich, daß die an sich anspruchslose Geschichte nicht nur mit einigem handwerklichen Raffinement gearbeitet ist, sondern auch unter dem sozialgeschichtlichen Aspekt der »Lachkultur« Beachtung verdient.

   Neben den sechs Interpretationen machen auch sechs werkübergreifende Beiträge deutlich, unter wie vielfältigen Gesichtspunkten sich May und seine Werke fruchtbar diskutieren lassen. Viktor Böhm, der vor 33 Jahren mit der unvergessenen Dissertation "Karl May und das Geheimnis seines Erfolges" (21979) hervorgetreten war, entschlüsselt Karl Mays Spannungstechnik, die gewiß zu seinen Erfolgsgeheimnissen gehört, im Anschluß an sein Buch über "Sprache und Sprachgebrauch" (Wien 1986) mit den modernen Methoden algorithmischer Regeln und Denkschritte. Reinhard Tschapke stellt "Überlegungen zum Verhältnis von Herr und Knecht in Mays Abenteuerromanen" (vornehmlich den Orientgeschichten) an und rückt damit Mays Werk in das Licht der Philosophie (besonders Hegels). Ingmar Winter sucht die Geschichte der Pädagogik im vergangenen Jahrhundert in den Spuren auf, die sie im Werk des ehemaligen Lehrers Karl May hinterlassen hat.


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Bernhard Kosciuszko legt den ersten Teil einer geschichtlichen und quellenkundlichen Abhandlung über Mays China-Bild vor; sie zeigt, daß die oft getadelte, etwas herablassende und unfreundliche Schilderung, die May vor seiner Orientreise von den chinesischen Zuständen gegeben hat, in der zeitgenössischen Literatur manche Anhaltspunkte findet. Das rechtfertigt nicht Mays (später revidierte) Vorurteile, erklärt sie aber bis zu einem gewissen Grade. Jürgen Wehnert wendet sich in sehr ertragreicher Weise noch einmal den literarischen Beziehungen zwischen Karl May und Joseph Kürschner zu; er veröffentlicht einen großen Teil der erhaltenen Briefe Kürschners an May und einige bisher unbekannte Reiseskizzen, als deren Verfasser May zu vermuten ist. Außerdem macht dieser Ausschnitt aus der literarischen Biographie Mays in den Achtzigerjahren deutlich, daß May ohne seine Verstrickung in die Kolportage den Weg in die Literatur um sechs entscheidende Jahre früher hätte antreten können. Daß er zugunsten Münchmeyers die Chancen zunächst versäumte, die Kürschner ihm immer wieder bot, hat für sein Leben und Werk im Alter ähnlich schwerwiegende Folgen gehabt wie die frühen Straftaten. Klaus Hoffmann schließlich berichtet in seinem Wiener Kurzvortrag über Mays Beziehungen zur katholischen "Sächsischen Volkszeitung"; auch er kann neues biographisches Material vorlegen.

   Eine letzte Beitragsgruppe ist dokumentarischer Art. René Wagner und Ekkehard Fröde, mit Klaus Hoffmann unsere Wiener Gäste aus der DDR, schildern die Arbeit der May-Stiftung und der May-Museen in Sachsen, und Erich Heinemann berichtet über das Karl-May-Gedenkjahr und vor allem über die erlebnisreiche Wiener Tagung der Karl-May-Gesellschaft im November 1987. Die Tagung ist von der "Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften" finanziell unterstützt worden. Ihr sei auch an dieser Stelle der herzliche Dank der Karl-May-Gesellschaft ausgesprochen!

   Das Jahrbuch 1988 bringt auch für die Karl-May-Gesellschaft eine besonders reiche Gedenkjahrs-Ernte ein. Es ist, so meine ich, nicht nur das bisher umfangreichste in unserer langen Reihe, sondern auch eines der inhaltlich gewichtigsten. Es zeigt die Karl-May-Forschung noch immer in rascher Entwicklung. Die Seitenzahl und die herstellerische Qualität des Buches zeigen aber auch, daß die Karl-May-Gesellschaft weiterhin auf die engagierte Förderung durch ihre Mitglieder angewiesen ist. Ich bitte Sie daher herzlich, die Karl-May-Gesellschaft auch in Zukunft mit Spenden und anderen Hilfen zu unterstützen!


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