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HEINZ STOLTE

Karl Mays "Ardistan und Dschinnistan"
und sein Weltfriedensgedanke*



Niemand kann geben, was er nicht hat. Ich kann meinem Volke keinen Frieden geben, wenn ich ihn nicht selbst besitze, in meinem eigenen Innern. (II, 331)(1)

Für heut verzichten wir auf diesen Ort der Marter und der Pein und wandeln durch die Gärten von Ikbal, um alles Leid der Erde zu vergessen. Der dieses schrieb, meine sehr verehrten Damen und Herren, der Autor Karl May zu Radebeul im Jahre 1907, und zwar zur Einleitung seines Werkes "Der 'Mir von Dschinnistan" in der Zeitschrift "Deutscher Hausschatz", hatte, als er es schrieb, wahrlich Ursache und Bedürfnis, aus seinem ganz persönlichen Leid der Erde zu entfliehen und durch die Gärten von Ikbal zu wandeln. Zur gleichen Zeit, als diese hier zitierten Zeilen im "Hausschatz" gedruckt erschienen, hatte er im persönlichen Leben die größten Schrecken seines Alters zu erleiden, jenes ominöse Verfahren wegen angeblichen Meineides und die barbarische Hausdurchsuchung des Untersuchungsrichters Larrass im Zusammenhang mit diesem Verfahren. Auch liest man die Spuren des panischen Entsetzens, das ihn ergriffen hatte, noch deutlich genug aus der fast zur gleichen Zeit geschriebenen sogenannten Psychologischen Studie "Emma Pollmer" heraus. Vom Ort der Marter und der Pein, dem er verfremdend und mythisierend den Namen Geisterschmiede von Kulub gegeben hat, wußte er aus schmerzlichsten Erfahrungen genug, um Rettung aus ihm zu suchen, wo er schon immer Schutz und Trost gefunden hatte, im imaginären Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem kein anderer Wille galt als der seine, und das er auf den Flügeln schöpferischer Traumkraft auch diesmal wieder erreichte: Meine Erzählung beginnt in Sitara, dem in Europa fast gänzlich unbekannten "Land der Sternenblumen".

   "Ardistan und Dschinnistan", wie er diese seine Erzählung in der Buchausgabe von 1909 nannte, ist ja zweifellos das herausragendste Werk aus der Altersperiode seines Schaffens, gilt aber auch allgemein als schwer verständlich, und manche Liebhaber seiner früheren Abenteuergeschichten haben seit jeher aus ihrer Enttäuschung und Abneigung gerade diesem Werk gegenüber kein Hehl gemacht; wie überhaupt Mays sogenannte "symbolische Reiseerzählungen" bei der Mehr-

* Festvortrag, gehalten am 21.11.1987 auf der 9. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Wien.


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zahl [Mehrzahl] der Karl-May-Leser als eine bedauerliche Altersschrulle ihres Autors gelten. Hier eine Bresche zu schlagen, war immer ein Anliegen unserer Gesellschaft, und ich will versuchen, im Rahmen des Möglichen einiges vorzuführen, was mir besonders beachtlich erscheint.

   Ja, mit rechten Dingen, wie man sie in unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit gewohnt ist, geht es freilich in Ardistan und Dschinnistan nicht zu, und man hat in dem Satz, den ich anfangs zitiert habe, einen Schlüssel für das ganze Werk: aus dem Leid der Erde geht es ganz hinweg in die Gärten von Ikbal, nach Sitara also, einer Welt, die nicht mehr unsere Welt, nicht unsere Erde ist, sondern irgendwo im Nirgendwo gedacht werden soll. Und wenn es, wie May im Untertitel seines Werkes behauptet, eine "Reiseerzählung" sein soll, dann handelt es sich ganz gewiß um eine "Reise ins Innere", oder, um Karl Mays eigene Worte (I, 111) zu gebrauchen, seine Geschichte spielt im fernen und doch so nahen Lande des Menschen-Inneren. Und: ich erzähle . . . nur Wahrhaftiges und innerlich wirklich Geschehenes und Erwiesenes. Da dies sich tatsächlich so verhält, der ganze ungeheure Komplex eine schöpferische Vision aus dem eigenen Inneren dieses Autors ist, alles in allem eine Art Welterschaffung im Sinne eines Gegenmodells zu unserer von Streit und Krieg unheilschwangeren Erde, wird, wer sich mit diesem neuen Utopia einmal ernsthaft beschäftigt hat, nicht umhin können, die poetische Kraft, die das alles bewegte, zu bewundern. Ich sage nicht, daß dieses Alterswerk Mays etwa keine Schwächen zeige, will gerne zugeben, daß es auf weiten Strecken auch gelegentlich zurückfällt in die alten, abgegriffenen Klischees der frühen Reiseerzählungen wie Belauschungen, Haudegenstücke, Gefangennahmen und Befreiungen und so fort, die dann, weil ja alles nach Mays Willen  a l l e g o r i s c h -  s y m b o l i s c h  aufzufassen sein soll, den früher so reizvollen Kitzel epischer Spannung vermissen lassen. Was dennoch "Ardistan und Dschinnistan" – wie ich meine –lesenswert macht, ist die Technik, die epische Kunst, mit der dieser Erzähler den Leser mitnimmt auf die Reise in eine utopische Welt, und wie er dabei das eigentliche politisch-ethische Engagement, das ihn treibt, den Friedensappell an eine seit der Jahrhundertwende von permanenten Krisen und Kriegsdrohungen erfüllte Welt, aus einer bloßen Moralpredigt in eine so üppig aufblühende Poesie verwandelt. Da steigt ein ganzer Kosmos vor uns auf: Die Länder Ardistan und Dschinnistan, Ussulistan, Tschobanistan, El Hadd und Halihm, die Totenstadt und die Stadt Ard, alle die Volksstämme und Fürsten, die hier in Krieg und Frieden agieren, die Reisegesellschaft, die da immer tiefer ins Numinose, Magische, Mystische hineingeführt wird; und bei all diesen Vorgängen, die das Erringen des Weltfriedens zum Ziel haben, können Tote lebendig werden im Maha-Lama-See, spielen chthonische Mächte mit, Wüste und Wasser die Sümpfe von Ussulistan und der Fluß Ssul (= der Friede), die Vul-


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kane [Vulkane] am Dschebel Allah und überhaupt die ganze sinnbildhaft aufgebaute Geographie von Tiefland und Hochland –: gerade hierin hat Karl May noch einmal nicht nur die ihm auch sonst schon immer eigene eidetische Schärfe in der Vergegenwärtigung bloß erträumter Welt-Szenarien bewiesen, sondern auch im sprachlichen Ausdruck manchmal eine Stilhöhe erreicht wie in keinem anderen seiner früheren Werke. Lesenswert also und literarhistorisch unverächtlich ist "Ardistan und Dschinnistan".

   Man muß freilich akzeptieren, daß sich der Autor hier allen Ernstes als ein  H a k a w a t i ,  ein orientalischer Märchenerzähler wie aus Tausendundeiner Nacht geriert, wobei er für das Märchen Irreales und Wunderbares in Anspruch nimmt, so daß hier auch drei Pferde und vier Hunde fast nach Menschenart mit zu den entscheidend handelnden Personen gehören, jedes von ihnen in seiner Individualität unverwechselbar charakterisiert. Auch gehört nach Karl Mays Auffassung zur Form des Märchens, daß es, wie er sagt, himmlische Wahrheiten in irdisches Gewand kleide, weshalb denn auch alle Personen und Dinge außer ihrer sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung noch gleichnishafte Bedeutungen besitzen. So wimmelt es von allegorischen Verkörperungen, ist Kara zugleich der "Geist" und die "Menschheitsfrage"; Halef die "Anima"; Ussul-Scheik Amihn, der Riese, das Urtümlich-Körperhafte; der Dschirbani die aus dem Göttlichen stammende "Seele"; der Mir von Dschinnistan so etwas wie die göttliche Vorsehung; der Fluß Ssul der segenspendende "Friede"; der Abd el Fadl, Fürst von Halihm, die "Güte"; Merhameh die "Barmherzigkeit"; die Märchenkönigin Marah Durimeh hoch oben in Sitara (dem Stern) die Verkörperung der Menschheits-Idee etwa im Sinne Platons; sind die Brunnen-Engel Heilsbotschaften, die feuerspeienden Vulkane das "geöffnete Paradies"; das Wasser ist zugleich die himmlische Gnade, die Wüste Gottes Strafe für die kriegslüsterne Bosheit und das Sumpfland der Ussul das "Primitive" des Urmenschen, während Dschinnistan die Hochkultur des entwickelten "Edelmenschen" bedeutet. Und von Ussul nach Dschinnistan geht die Reise, oder vielmehr: sie war eigentlich so geplant, wenn nicht das Werk ein Torso hätte bleiben müssen. Mit dem Mir von Ardistan schließlich, an den Marah Durimeh den Kara Ben Nemsi gesandt hat, um den bösen Mann vom Kriege gegen Dschinnistan abzuhalten und aus ihm einen guten zu machen –, mit ihm hat es eine besondere Bewandtnis, denn – mit Mays eigenen Worten: aufrichtig gesagt, ist doch wohl ein jeder Mensch in Beziehung auf das, was er innerlich zu leben und zu kämpfen hat, ein größerer oder kleinerer Mir von Ardistan, der zwischen dem unsichtbaren Mir von Dschinnistan und dem Verräter "Panther" um den leeren Titel kämpft, den nur derjenige auszufüllen vermag, der den Letzteren durch den Ersteren bezwingt (II, 415). Der leere Titel, der erst ausgefüllt werden muß, müßte dann wohl lauten:


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"Mensch", und der Mir ist sozusagen "der Mensch als solcher". In diesem Sinne heißt denn auch einer der Kernsprüche: »Werde Mensch; du bist noch keiner!« (I, 232)

   Auch gehört zu dem Mythenhaften des Ganzen, zur totalen Mythologisierung der Handlung, die Überzeugung des Autors: Es waltet über uns eine Hand, die um so sicherer Alles zum guten Ende führt, je weniger wir sie stören (II, 333). Und wenn wir mit Kara Ben Nemsi in die Unterwelt des Maha-Lama-Sees hinabgefahren sind, werden wir in jenes Mysterium eingeweiht, von dem der Ich-Erzähler meint: Ich kann sagen, daß mich ein tiefes Staunen ergriff, ein ganz eigenartiges heiliges . . . Grauen, denn unter der feierlichen Einsamkeit und Stille, in der das Alles lag, lauschte grinsend der Gedanke hervor, daß in der Tiefe der heutigen Gegenwart, also in der Vergangenheit, der unheimliche, fürchterliche Bodensatz verborgen liege, aus dem die jetzige, tief ergreifende Lautlosigkeit sich losgerungen hatte (II, 335). Tiefenpsychologie also hier in der besonderen Form des Gleichnisses, ganz in der Art, bildhaft zu denken, für den Leser ebenso staunenswert wie die an Goethes Faust gemahnende Wendung: »Wir sind von Gleichnissen umgeben.« (I, 328) Zur Struktur, der inneren Form dieser Erzählung, gehört also, daß hier eine metaphysische Planung herrscht, die aus einem Jenseits heraus die Geschicke der Menschen leitet: »In Allem, was geschieht, liegt göttliche Berechnung!« (II, 442) So heißt es, und damit im Zusammenhang: »Es ist mir hier ganz unaussprechlich zumute. Fast möchte ich sagen: Wir leben hier nicht, sondern wir werden gelebt; wir denken hier nicht, sondern wir werden gedacht; wir wollen nicht, sondern wir werden gewollt. Es ist, als stehe hier Jemand hoch über uns, der uns am Zügel hat, wie der Reiter das gehorsame Pferd.« (II, 414)

   So zeigt sich denn eine Art von magischer Hintersinnigkeit, die es versteht, den Leser aus einer Schicht des Nichtwirklichen gewissermaßen Schicht um Schicht in immer irrealere, surrealere Sphären hineinzuführen.

   Schon Sitara ist "aus der Welt", und von diesem jenseitigen Schauplatz werden Kara und Halef in ein zweites Märchenreich weitergereicht, in das Land der Ussul, dieser Riesen und Urmenschen, und sie werden gewissermaßen da hinein  g e b o r e n ,  denn das Schiff, das sie hinträgt, heißt "Wilahde", was eines der vielen von May gebrauchten arabischen Code-Wörter ist und "Geburt" bedeutet. Geburt im tiefsten, sumpfig-moorigen Ardistan –, ich erspare mir außer diesem Hinweis weitere Ausführungen darüber, wie sich Biographisches des Autors hier (und in allem weiteren) wieder einmal spiegelt. Aber nicht weniger märchenhaft geht es hier zu wie in Swifts "Gulliver bei den Riesen". Karl May hat die Gegensinnigkeit, die Gegenposition zur Realität der Erde sogleich in einer Reihe von episodischen Kontrastmotiven fixiert. So erlebt man, daß nicht der Reiter Kara den Urgaul Smihk


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lenkt, sondern von diesem nach dessen eigenem Gutdünken davongetragen wird. Andererseits muß Kara seinen Gefangenen, den Scheik Amihn, nicht erst mit Stricken an einen Baum binden, sondern der bleibt ungefesselt daran sitzen, bis man ihn "befreit". Ein altes Abenteuermotiv wird so ins Absurde verdreht. Kara ist in der Auffassung der Ussul »ein Christ . . . Also Heide« (I, 143). Diese wiederum haben, wie sie sich rühmen, »Religion, aber keinen Glauben!« Denn: »Wir haben Gott. Wozu brauchen wir da noch einen eigenen Glauben an ihn?« (I, 144) Als Soldaten zieht man bei den Ussul nicht die Starken, Gesunden und Tüchtigen zum Kriegsdienst ein, sondern die Kranken und Schwachen, weil sie zu nichts sonst taugen und so vielleicht stark und tüchtig werden. Den edeldenkenden, hochsinnigen und gelehrten Dschirbani aber sperrt man als Räudigen und Wahnsinnigen hinter Schloß und Riegel, woraus ihn erst Kara Ben Nemsi befreien kann.

   Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, die Geschichten weiterhin im einzelnen zu referieren, sondern wir greifen sogleich die eigentliche Kernstelle, die gewissermaßen das gesamte Gebäude dieses utopischen Romans zu tragen hat, heraus. Es ist Halef, der seinem Sihdi die Sage vom Flusse Ssul erzählt, und wir müssen ihn nunmehr ausführlich zu Worte kommen lassen (I, 216 – 220):

Weit, weit von hier, hoch über Dschinnistan hinauf, liegt das verlorene einstige Paradies. Seine Tore sind geschlossen. Wer nach ihm sucht, der sieht es von weitem glänzen, jedoch hinein kann Keiner. Sogar dem Blick ist es versagt, die himmelhohen Mauern zu übersteigen. Bei Tage in sonnengoldenen Lettern, bei Nacht in flammenheller Sternenschrift sieht man über ihm den göttlichen Ruf erstrahlen: »Ist Friede auf Erden, dann kommt!«

   So oft ein Jahrhundert vorüber ist, springen alle Pforten und Tore des Paradieses auf, und eine unendliche Fülle durchdringenden Lichtes flutet über die Erde und über die Menschen hin, die auf ihr wohnen. Da wird Alles, Alles offenbar, was je geschehen ist und was noch heut geschieht. Die Erzengel treten vor die Tore. Ihre Scharen erscheinen zu Tausenden und zu Zehntausenden auf den Mauern. Sie schauen herab, ob endlich Friede sei; aber stets ist Krieg und Mord und Zank und Streit. Da erheben sie ihre Stimmen. Ein Weheschrei erschallt; er steigt vom Himmel auf die Erde nieder. Das Licht verschwindet, mit ihm das Paradies. Den Schrei aber hören nie die Mächtigen, die Reichen, die Sieger, sondern nur die Schwachen, die Armen, die Unterdrückten und Geknechteten, die händeringend und hilfeflehend in stiller Kammer beten, daß Gott der Herr sie von ihrem Leid, von ihrer Qual erlöse.

   Diese Bitten und Gebete sind mächtiger als die mächtigsten der Menschen. Was kein Sterblicher vermag, das vermögen sie. Sie steigen unsichtbar zum Paradies empor, versammeln sich vor seinen Mauern und


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wachsen zu Millionen und Millionen an. Sie helfen einander, heben einander über die Mauern hinweg, dringen ein in das Paradies und klammern sich an die Engel. Sie heften sich an die Flügel der Gnade, an die Fittiche des Erbarmens, die über dem Paradiese wehen, und werden von ihnen emporgehoben zum Allbarmherzigen, um in sein Herz zu dringen und es anzufüllen, bis es überschwillt. »Gib Frieden!« jammerte es über die Erde. »Gib Frieden!« klagt es durch das Paradies. »Gib Frieden!« bittet es in Gottes eigener Seele. Da sendet er den strengsten aller Geister, der Moses heißt, zum Sinai hernieder. Der schreibt in Stein: »Du sollst nicht töten! Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch vergossen werden!« Kaum hat das Volk der Menschen dieses Wort vernommen, so bricht es auf vom Berge Sinai, stürzt über das Land der Kananiter und opfert ganz demselben Gott in Strömen von Menschenblut, die durch Jahrhunderte fließen und bis zum Himmel rauchen. »Gib Frieden!« jammert es wieder über die Erde. »Gib Frieden!« klagt es wieder durch das Paradies. Und »Gib Frieden!« bittet es wieder in Gottes eigener Seele. Da sendet er den liebevollsten aller Geister, der Jesus heißt, zur Erdenwelt hinab. Der lehrt und ruft, daß man es durch alle Lande hört: »Liebet eure Feinde! Segnet, die euch verfluchen! Tut Gutes denen, die euch hassen! Und betet für die, welche euch verleumden und verfolgen! Denn wer zum Schwerte greift, der wird durch das Schwert umkommen!« Dies heilige Wort der Menschen- und der Nächstenliebe ist nie verklungen. Es klingt noch heut. Man hört es wohl, doch Keiner will es achten. »Gib Frieden!« jammert abermals die Erde. »Gib Frieden!« klagt das leere Paradies. Und »Gib Frieden!« bittet Gottes eigene Seele. Da sendet er den irdischesten aller Geister, mit Namen Mohammed, der fast noch menschlich spricht und darum leicht begriffen werden kann. Doch der verirrt sich zwischen Paradies und Erde und sucht vergeblich nach dem rechten Weg, der tief hinab zum Menschenherzen führt. Da spricht der Herr: »Wenn Keiner es erreicht, daß Friede werde, so gehe ich nun selbst!« Er schlägt den Mantel menschlicher Gestalt um seine Schulter und steigt zur Quelle Ssul im Paradies hinab. Die wächst bis Dschinnistan zum breiten Strom und fließt von da durch Ardistan, an beiden Ufern Frucht und Segen spendend, um an der Mündung neues Land und neues Volk zu schaffen. So wandert er, dem Flusse folgend, hinab nach Dschinnistan, um zunächst dort den Willen des Himmels zu verkünden. Doch kaum hat er sein Friedenswerk begonnen, wird er erkannt, und Alles eilt herbei, ihn anzubeten. Er segnet Jeden, der vor ihm erscheint, doch nur dem Mir gestattet er, in die Zeitenfernen zu schauen, in denen nicht mehr der Säbel und die Kanone, sondern nur der blanke Geist und der blitzende Gedanke die Schlachten schlagen. Dann wandert er weiter, am Strome abwärts, bis nach Ardistan. Er glaubt, er komme grad zur rechten Zeit, denn überall, wo er erscheint, ertönen Kriegstrompeten. Der Mir von Ardistan will Dschinnistan erobern und rüstet


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heimlich zum plötzlichen Ueberfall. Der Herr versucht an vielen Orten zum Wort zu kommen, um das Verhängnis aufzuhalten, doch vergeblich. Und als er in der großen Stadt des Mir, die glänzend wie ein Traumbild aus dem Märchenland am Strome liegt, seine Stimme zu erheben und vom Friedensbruch zu sprechen wagt, wird er als Landesverräter festgenommen und vor den Mir gebracht. Der hält über ihn Gericht und spricht das Urteil aus: »Man führe ihn auf die Brücke und stürze ihn in das Wasser, weil er sich vor dem Blut des Krieges fürchtet!« Da fragt der Herr: »Ist Jemand, der dies Urteil ändern kann?« – »Es gibt keinen Einzigen, der das vermag!« antwortete ihm der Mir. »Auch Gott nicht?« »Nein! Allah ist Gott! Und der hat uns befohlen, sein Reich durch Schwert und Feuer zu verbreiten! Es werde Krieg!« Da hebt der Herr die Hand empor und ruft: »Es bleibe Friede! Hoch über dem, den ihr zum Gott gemacht, steht der Erbarmer gegen den Verderber. Ich sage dir, o Mir: du bleibst daheim; kein Tropfen Blut wird fließen!« Da springt der Mir von seinem Sitze auf und donnert ihm zu: »Und ich, ich sage dir, dem Feigling und Verführer meiner Krieger: So wenig, wie der Fluß, der dich ersäufen soll, vor unserer Brücke umkehrt, dich zu schonen, so wenig kehrt die Klinge, die ich zum Krieg gezogen habe, in ihre Scheide zurück! Das Urteil ist gesprochen; es werde ausgeführt!« Da hebt der Herr die Hand zum zweiten Male und spricht: »So sei es, wie du sagst. Das Urteil ist gesprochen; es werde ausgeführt: Wenn Gott nicht mehr durch Worte lehren kann, so predigt er durch Taten. Der Strom floß euch zu Friedenswerken zu, nicht aber, um das Leben zu zerstören. Er werde euch genommen! Nicht eine Pfütze bleibe euch, die genug Wasser hat, auch nur einen einzigen Menschen zu ertränken! Und wehe euch, wenn ihr ihn durch die Waffe zwingt, zu euch zurückzukehren! Denn alles, was da lebte, würde sterben!« ––– Ein Hohngelächter folgt diesen Worten. Man führt ihn hinaus zur Brücke, der Mir auf hohem Roß voran. Der gibt, als die tiefste Stelle erreicht ist, den Befehl, den Gefangenen zu ergreifen und hinabzuwerfen. Da hebt dieser zum dritten Male die Hand, doch ohne ein Wort zu sagen. Sofort verfinstert sich der Himmel. Blitze zucken; drohende Donner rollen. Von der Brücke abwärts fließt das Wasser weiter; von ihr aufwärts aber bleibt es stehen. Es bäumt sich auf, wächst höher und höher und bildet eine Mauer, die zum Himmel zu streben scheint. Brüllend vor Angst und Entsetzen eilen die Menschen an die Ufer zurück. Nur Einer bleibt, der Gefangene. Leuchtenden Angesichtes steht er auf der Brücke, die von den steigenden Wogen von der Erde gelöst und hoch emporgetragen wird, bis sie verschwindet. Dann sinkt das Wasser zusammen und beginnt, wieder abzufließen, doch nicht abwärts wie bisher, sondern aufwärts, nach oben, woher es gekommen ist. Der Himmel wird wieder hell. Das Bett des Flusses aber liegt leer, und die entsetzte Menschheit flieht aus der Stadt, deren Trümmer heutigen Tages wasserlos in die Steppe starren, durch welche sich der dürre, aus-


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getrocknete [ausgetrocknete] Lauf in zahllosen Windungen vor Durst und Hunger krümmt, bis er in den Wäldern der Ussul verschwindet.

   So weit die Sage, die Halef seinem Sihdi erzählt. Und er erzählt sie nach Art der Hakawati, der Märchendichter aus der alten arabischen Literatur. Sie werden es an meinem Vortrag gehört haben, daß auf dem Höhepunkte der Erzählung die Prosa umschlägt in pathetische reimlose Jambenverse, und das ist altarabische Erzähltechnik, die May hier imitiert.

   Es wäre noch vieles Interessante zu dem hier zitierten Text anzumerken, wozu ich mich auf einige Andeutungen beschränken muß. Dem Kenner der literarpsychologischen Zusammenhänge zwischen Leben und Werk wird nicht entgangen sein, was die Formulierung uns verrät, wenn May zum Schluß bei Schilderung des göttlichen Strafgerichtes und des allgemeinen Entsetzens schreibt: Nur Einer bleibt, der  G e f a n g e n e .  Leuchtenden Angesichtes steht er auf der Brücke, die von den steigenden Wogen von der Erde gelöst und hoch emporgetragen wird, bis sie verschwindet.(2) Der Gefangene!  D a s  kommt aus den Tiefen der eigenen Vergangenheit dem Schreiber in die Feder geflossen, und die strahlende Apotheose als hybrider Sehnsuchtstraum aus Kerkerzellen dazu.

   Auf die Aufbaustruktur möchte ich weiter hinweisen, die der geläufigen Märchenform entspricht, indem hier viermal mit formelhaften Wiederholungen Episoden aneinandergereiht werden: die Aussendungen der Gottesboten Moses, Jesus, Mohammed und schließlich die Herabkunft Gottes selbst in die entartete Menschenwelt. Und was den Inhalt gerade dieser Episoden angeht, so kann ich mir lebhaft vorstellen, welchen Aufstand unter den strenggläubigen Lesern er da so mit leichter Hand angerichtet hat, welche furchtbaren Ketzereien da zum Himmel schreien. Ist nicht hier Jesus (statt Gottes Sohn und "ganzer Gott") bloß der »liebevollste aller Geister«, und muß nicht Gott nach dessen Versagen auf der Welt als einen vielleicht Besseren den Mohammed entsenden! Welche Blasphemie! Man ahnt die Woge der Empörung unter der Leserschaft des Hausschatzes, und noch während er an "Ardistan und Dschinnistan" schrieb, waren ihm die Proteste ins Haus gehagelt. Hier hat es seinen Ursprung, wenn May (I, 346), offenbar erschrocken und verärgert, geschrieben hat: Es wäre wohl manchem meiner Leser interessant, zu erfahren, was meine beiden Zuhörerinnen zu fragen und zu forschen hatten, und ich möchte gern einen Jeden, der diese meine Zeilen in die Hand bekommt, in dieses Allerheiligste der Menschenseele blicken lassen; aber ich muß Alles vermeiden, was zu der falschen Meinung leiten könnte, daß ich mit meinen Erzählungen sonderreligiöse oder aftertheologische Zwecke verfolge, und so will ich, wie so oft, auch hier über alles das hinweggehen, was lehrhaft erscheinen


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könnte. Da haben sie es nun, diese herumkrittelnden Leute vom "Hausschatz". Und um auch dieses hier noch zu dokumentieren: Außer den Vorwürfen der Ketzerei und der Lehrhaftigkeit (wo man doch flotte Abenteuer wünschte) gab es da noch den weiteren, die Geschichte sei einfach langweilig. Und hierzu auch der Originalton Karl May (I, 563). Abd el Fadl ist es, der die Bemerkung macht: »So wird der erste Teil deines Buches langweilig werden!« – »Das kann ich leider nicht vermeiden!« – »Der Humus ist ja für den Leser niemals interessant. Und tust du doch noch so sehr deine Pflicht, ihn mit den Wurzeln der kommenden Ereignisse zu beseelen, so wird man dich trotzdem nicht begreifen. Man wird dir vorwerfen, mystisch zu sein . . . Man wird dich tadeln, vielleicht sogar verdächtigen. Aber laß dich das ja nicht anfechten!«

   Wir hingegen, may-erfahrener wie wir sind, lassen uns durch nichts anfechten, die von Halef vorgetragene Sage als ein Beispiel für die mythenschöpferische Kraft der hier ihr Werk aus Seelentiefen herausspinnenden Phantasie zu würdigen. Denn das Wichtigste, der "Weltfriedensgedanke", hat hier schon legendarische Gestalt angenommen. Auch zögert Karl May nicht (lehrhaft wie er eben ist), diesen Mythos vom Weltfrieden zu deuten. Halef selbst spricht seinen Sihdi darauf an (I, 221–223):

»Uebrigens weiß ich von dir, daß eine jede Sage eine Wahrheit enthält, die man in der Tiefe suchen muß. So ist es wohl auch mit dieser Sage von dem verschwundenen Flusse, der plötzlich umgekehrt und aufwärts gelaufen ist, um nach seiner Quelle zurückzugehen?«

   »Jedenfalls.«

   »Und die Wahrheit, die sich in dieser Sage verbirgt?«

   »Ist wahrscheinlich eine zweifache, eine äußerliche und eine innerliche, eine geographische und eine sozial-philosophische.«

   »Das verstehe ich nicht.« . . .

   »Der äußere oder geographische Kern der Sage ist, daß es hier wirklich einen Fluß, und zwar einen bedeutenden, gegeben hat. Der ist verschwunden. Jedenfalls infolge eines Naturereignisses, welches man sich nicht erklären konnte, so daß man zur Sage griff, um es sich verständlich zu machen.«

   »Aber so große Flüsse können doch nicht verschwinden, wenigstens nicht so schnell!«

   »Allerdings nicht, aber sie können ihr altes Bett verlassen, ihren bisherigen Weg verändern, sogar infolge von Entwaldungen der Berge sich nach und nach zurückziehen. Wie es sich in diesem Falle verhält, werden wir erfahren, wenn wir erst längere Zeit im Lande gewesen sind.«

   »Und die andere Wahrheit der Sage, die innere?«

   »Die bezieht sich darauf, daß die Entwicklung des Menschengeschlechts nicht nach kriegerischen, sondern nach friedlichen, versöhnlichen Wegen zu suchen hat. Der Name der Quelle und des Flusses war


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Ssul, das ist Friede. Diese Quelle liegt im Paradiese. Der Friede ist Himmelsgabe. Wo er fließt, da segnet er nicht nur das, was bereits besteht, sondern auch das, was er bringt und schafft. Er setzt neue Länder an, sichtbare und unsichtbare, im Handel und Gewerbe, in der Kunst und in der Wissenschaft. Und das alles geht wieder zurück, wenn der Strom des Friedens vertrocknet, und die Rüstungen Alles, was er schaffte, wieder verschlingen. Oder wenn der Krieg mit einem einzigen rohen Streiche die Gaben vom Tische wirft, die der Friede dort bescherte. Dann weicht dieser Letztere bis dahin zurück, woher er kam, bis ins Paradies, oder wenigstens bis Dschinnistan, wenn nicht für immer, so doch für lange, lange Zeit. Und kehrt er endlich wieder, so geschieht das nur langsam, furchtsam, zögernd; er läßt sich nicht zwingen. Darum ist es sehr richtig, was die Sage Gott in den Mund legt, indem er warnend sagt: »Und wehe euch, wenn ihr ihn durch die Waffe zwingt, zu euch zurückzukehren; denn Alles, was da lebte, würde sterben!« Der Völkerfriede, den wir anstreben, kann sich nur nach und nach entwickeln. Umfaßt er mit seinen Wurzeln die ganze Erde, ein Saug- und Faserwurzelchen in jedes Menschenherz, so wächst er hoch über Irdisches empor und trägt als Früchte die ewigen Sterne in seiner Krone. Ein Welt- und Völkerfriede aber, der nicht im Herzen der Menschheit wurzelt, sondern mit Gewalt und plötzlich herbeigezwungen werden soll, der würde zerstören und vernichten, nicht aber erzeugen und beleben. Und hier gibt es in der Sage vom zurückgekehrten Flusse einen Punkt, den ich nicht sehe, oder ein Geheimnis, welches ich nicht begreife. Fast will es klingen, als ob es möglich sei, ihn mit den Waffen in der Hand zu zwingen, ganz plötzlich und unvorbereitet zurückzukehren, also eine noch gräßlichere Katastrophe, wie sein Verschwinden eine war. Eine Sage, die sich so fest gebildet und gestaltet hat wie diese hier, erzählt nie etwas Unnützes. Sie hängt wie eine schwere Drohung für Ardistan hoch über Dschinnistan, und wenn in dieser von der schauenden Volksseele gedichteten Erzählung kein Geringerer als Gott vor der Entladung dieser Wolke warnt, so ist die Gefahr nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Wirklichkeit vorhanden.«

   Der Dialog enthält ja eine im ganzen akzeptable und scheinbar ganz rationale Deutung dieser legendarischen Sage. Dennoch muß uns, wenden wir die Meßlatte der Logik einmal allein auf den letzten Satz von Karas Erläuterung an, bereits aufgehen, daß es mit der Rationalität in diesem Falle eine besondere Bewandtnis hat. Wie? Weil in der gedichteten Erzählung kein Geringerer als Gott warnt, ist die Gefahr nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Wirklichkeit vorhanden? Man muß wohl über eine Hemmnisschwelle unseres gesunden Menschenverstandes hinweg gesprungen sein, mitten hinein ins Irrationale, um bei solcher Schlußfolgerung noch etwas von Schopenhauers "zureichendem Grunde" entdecken zu können. Märchenlogik also, und die Schwelle, die hier überschritten worden ist, bedeutet. daß Kara Ben


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Nemsi und die Seinigen in eine weitere Schicht des Irreal-Allegorischen eingetreten sind. Die Reise geht, um es so auszudrücken, von nun ab in die Legende  h i n e i n ,  die sich denn auch alsbald als jetzt geltende Wirklichkeit erweist. Wahrhaftig, die Frist von hundert Jahren die Gott gesetzt hat, ist eben in diesem Moment abgelaufen, und die Priesterin kann dem staunenden Kara von der Tempelzinne aus die feurigen Tore des sich öffnenden Paradieses zeigen (I, 328–332):

   »Wir sind von Gleichnissen umgeben.« . . . »Merkt auf! Es scheint zu beginnen! Ich glaube, daß wir zur rechten Zeit gekommen sind. «

   »Was wird beginnen?« fragte ich.

   Sie brauchte nicht zu antworten, denn der Himmel antwortete selbst. Es zuckte ein schneller, blitzartiger Schein über ihn hin, genau an der Stelle, wohin die Priesterin gedeutet hatte. Dieser Schein . . . hatte etwas Nachgemachtes, Gefälschtes an sich, wie wenn man Bärlappmehl durch eine Flamme bläst. Es sah also nicht so aus, als ob ihn der Himmel spende, sondern als ob er von der Erde stamme. Einige Zeit darauf wiederholte sich der Blitz, aber nicht an derselben Stelle, sondern mehr nach rechts. Und bald nachher erfolgte eine zweite Wiederholung, weit links davon. Dann verschwanden plötzlich die Sterne. Es wurde oben im Norden dunkel. Diese Finsternis blieb eine Weile stehen und senkte sich dann zur Erde nieder, langsam, nach und nach, nicht so plötzlich, wie sie aufgestiegen war. Das wiederholte sich einige Male. Ich war ganz still. Ich fragte nicht. . . . Ein Nordlicht war es nicht. Es kam von der Erde. Es wurde emporgeworfen, mit mächtiger Gewalt. Es war vielleicht ––– doch halt, da kam es wieder! Aber nicht so, wie vorher. Zuerst wieder in der Mitte. Da stieg es empor, nicht blitzartig, sondern langsam, aber mit Macht! Zunächst violett, aber doch leuchtend feurig, dann blau, dann dunkelrot, blutrot, glühend rot, orange, gelb und endlich als klares reines Licht zum Himmel strahlend. Es bildete eine gigantische Säule, die von unten nach oben in allen diesen Farben glänzte, unten violett, nach oben in der angegebenen Regenbogenskala immer heller werdend und oben in einer Art von lebendiger, flockenreiner Flammenkrone zum Himmel zuckend, als ob es gelte, ihn zu umarmen und herabzuziehen. Und so langsam diese Säule entstanden war, so langsam kehrte sie wieder in sich selbst zurück. Kaum aber war sie verschwunden und wir, die wir von diesem überwältigenden Schauspiele tief ergriffen waren, holten tief Atem, so wiederholte sich dasselbe Phänomen in der gleichen Weise, erst rechts und dann links von der ersten Stelle. Diese Feuersäulen bestanden aus strahlengefärbter nach aufwärts immer reiner werdender Flammenglut. Sobald sie sich entwickelt hatten, standen sie wie Leuchttürme, die von ihrer Basis bis zu ihrer Spitze brennen, oder wie glühende Gebete hilfsbedürftiger Menschen, die sich zum himmelstürmenden Fanal vereinigen, um, sich im Steigen läuternd, in voller Reinheit Gott erreichen zu können. Sie wechselten im Aufstrahlen und Niedersinken miteinan-


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der [miteinander] ab. Bald wuchs und fackelte es hier, bald dort zum Himmel auf, erst in längeren, dann in immer kürzer werdenden Zwischenräumen, bis sich zuletzt feste, unbewegliche Mauern bildeten, die aus brennenden Regenbogenfarben bestanden und auf ihren Zinnen tausend weithin strahlende Fackeln trugen.

   Ich war auf das Tiefste ergriffen. So Etwas hatte ich noch nicht gesehen, noch nie geahnt! Das stand in keiner Physik, überhaupt in keinem Buche! Die beiden Frauen schmiegten sich eng zusammen, wie man tut, wenn man sich fürchtet oder wenn irgend etwas wirklich Heiliges naht. Sie beteten. Das sah und hörte ich zwar nicht, aber ich fühlte es. Der Mensch wird schon noch begreifen lernen, daß man Gebete fühlt! Das Leuchten und Glühen, das Flackern und Flammen, das da oben im Norden aus der Tiefe zur Höhe stieg, war ein Gebet der Erde, und wenn die Mutter betet, so durchzuckt es alle ihre Kinder, mitzubeten! Wir standen auf dem Dache eines Tempels, eines ungeheueren Bauwerkes, in dem sich Riesen versammelten, um Gott zu dienen. Was aber war dieses scheinbar große und doch so armselig kleine Haus gegen den heiligen Dom des Firmaments, in dessen unergründlicher Tiefe soeben das Herz der Erde brach, um in glühenden Atemzügen in alle Welt hinauszurufen, daß auch der scheinbar tote Stoff, die vielverkannte Materie noch Kraft, noch Leben und Seele hat!

   So saßen wir lange, lange Zeit, in den Anblick des unvergleichlichen Phänomens versunken, bis ich das Schweigen brach:

   »Eine unbeschreibliche Pracht und Herrlichkeit! Und sie bleibt! Sie vergeht nicht wieder!«

   »Sie wird während der ganzen Nacht bleiben,« antwortete die Priesterin, »und auch während des ganzen Tages, wo man sie aber nicht sieht. Du wirst sie morgen sehen und übermorgen und fernerhin, bis ihre Zeit vorüber ist. Sie hat sich schon seit mehreren Nächten angekündigt und wird nicht eher wieder verschwinden, als bis die Frage, die sie erhebt, beantwortet ist.«

   »Welche Frage?«

   »Die Frage: Ist Friede auf Erden? Du kennst diese Frage nicht. Du hast wohl noch nie die Sage von dem zurückgekehrten Flusse gehört –––«

   »Ich kenne sie. Man hat sie mir gestern erzählt,« . . .

   Die Reise geht also hinein in diesen von der Legende umrissenen mythischen Raum, und die Handlung, wie es sich sogleich denken läßt bei solch göttlicher Berechnung, die nach Mays Formulierung Allem, was geschieht zugrunde liegt, ist denn auch auf das vorgesehene Ergebnis zielstrebig ausgerichtet: Wiederherstellung des Friedens nach Gottes Willen und mit Gottes Hilfe, aber – vor allem sonstigen natürlich – auch mit Rat und Hilfe Kara Ben Nemsis, den ja Marah Durimeh, die über allem thronende Herrscherin, zu diesem Zweck nach Ardistan


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entsandt hat. Die äußere Handlung läßt sich in einigen groben Strichen skizzieren. Auch der zur Zeit regierende Mir von Ardistan ist wie seine Vorgänger ein finsterer, sein Volk bedrückender Tyrann und will einen Krieg beginnen, um das Hochland Dschinnistan mit seiner reichen Kultur zu erobern. Aber auch sonst sind Kriegswirren entstanden, da zum Beispiel die Tschoban das Land Ussulistan erobern wollen. Kara Ben Nemsi, nachdem er die Ussul für sich gewonnen, den edlen Dschirbani befreit hat, kann unblutig das gesamte Kriegsheer der Tschoban durch Einkreisung besiegen, Frieden mit ihnen schließen und sie zu Bundesgenossen machen. Dann reist er in die Hauptstadt Ard, wo er den finsteren Mir (durch besondere Hilfe seiner vier Hunde) zum Freunde gewinnt; und in diesem Gewaltmenschen entdeckt er rudimentäre Züge von Humanität und Güte. Fortan steht die Bekehrung und seelische Umformung des Mir von Ardistan aus einem Gewaltmenschen in einen Edelmenschen im Mittelpunkt der Erzählung; denn das ist Karl Mays Axiom bei seinem von ihm so genannten "Weltfriedensgedanken", daß äußerer, politischer Friede der Menschheit nur korrespondierend mit der Gewinnung des inneren, seelischen Friedens eben dieser Menschen erreicht werden kann. Ein "Axiom" sage ich, denn dieser Satz muß nicht erst bewiesen werden: er beweist sich in all unserer Erfahrung und zu allen Zeiten selbst. Freilich zumeist an seinem Gegenteil, daß der Unfriede dem Haß und Destruktionstrieb entstammt. Mit Mays Worten: Niemand kann geben, was er nicht hat.

   Die Verwandlung des Mirs von Ardistan, dessen Armeen bereits für den Krieg mobilisiert sind, nimmt den größten Teil des 1253-Seiten-Romans ein, wobei, wie so sehr typisch für diesen Autor, das Weihnachtsfest ein ganzes langes Kapitel hindurch die erste Bresche in dessen verhärtetes Wesen schlägt. Dann muß er erleben, daß sein Vertrautester, der Prinz Palang, der "Panther", die Verkörperung des Bösen überhaupt, ihn verräterisch nach der Stadt der Toten lockt, wo er mitsamt Kara und Halef in die Keller einer finsteren Unterwelt eingesperrt wird, um dort elend zu verschmachten. Wenn Kara Ben Nemsi nicht wäre! Der findet die verborgensten Türen ins Freie; aber noch muß sich der Mir gerichtlich vor der Dschemma der Toten und der Dschemma der Lebenden verantworten; mit welchem Gruselkabinett wir einen nächsten Schritt ins Irreale hineingeraten sind, so daß es schon gar nicht mehr verwunderlich ist, daß die mumifizierten Leichen als Verhandlungsteilnehmer wieder lebendig werden. Hier vollendet sich durch Erschütterung, Reue und Bekenntnis die Verwandlung des Mir, und fortan wird er nur noch dem Frieden und dem Glück seiner Untertanen dienen. Der Friede muß freilich erst verwirklicht werden. Aber weil der Mir so gereinigt und als ein neuer Mensch aus dem Fegefeuer hervorgegangen ist, kommen ihm nun alle göttlichen, kosmischen und menschlichen Mächte zur Hilfe. Denn den großen, heiligen Frieden


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der Welt verwirklicht man nicht, bloß weil man jetzt ein so gütiges, friedliebendes Herz hat, und Gott macht das auch nicht mit einem einfachen Machtwort. Nein, es muß ein gewappneter Friede sein. Der Panther, der Empörer, Thronräuber und Unhold mit seinen Armeen muß überwunden werden. Und so marschieren denn, im Kampf um den Frieden, schließlich ungeheure Heere durch die Lande, die Ussul, die Tschoban, die Lanzenreiter von Halihm, die blauen Reiter von El Hadd und die Schwarzgewappneten von Dschinnistan. Da bewegt Karl May in seinem Phantasieland wohl etliche Hunderttausende, aber er läßt kein Blut fließen und den Panther mitsamt seinen Armeen nur durch kluges Manövrieren überwinden.

   Der erste Teilsieg dieser großen "Friedensbewegung" ist es dann, daß der Mir von Ardistan wieder in seine Hauptstadt feierlichen Einzug halten kann, unter Jubel und Glockengeläut, und es ist so feierlich, daß ich Ihnen unmöglich ein kleines Zitat vorenthalten kann. Es lautet (II, 517): In diesem Augenblicke stieg die Sonne ganz plötzlich, wie mit einem schnellen freudigen Sprunge, hinter den jenseitigen Bergen empor; Millionen und Abermillionen goldener Strahlen überfluteten die Stadt; das Volk brach in weiter und weiter klingenden Jubel aus, und von dem hohen Dome herab erklang das Geläute der Glocken. Der Mir weinte; Abd el Fadl weinte; Merhameh weinte; Halef weinte, und ich – na, ich ––– weinte auch! Auch in den Augen des Oberpriesters standen Tränen, . . . Und wir, meine Damen und Herren, entsinnen uns vielleicht einer ganz ähnlichen Tränen-Orgie aus dem Roman "Der Weg zum Glück", die schon einmal zwei Autoren unseres Jahrbuchs beschäftigt hatte.

   Von der Hauptstadt Ard geht der Feldzug weiter den hohen Bergen von Dschinnistan entgegen, und in dem Grenzland von El Hadd reift die Entscheidung heran. Wie als Dea ex machina erscheint auch Marah Durimeh; der verlorene Fluß Ssul ergießt sich wieder durch die Wüsten von Ardistan, das zu bringen, was sein Name verheißt: die Segnungen des Friedens. Als einziger kommt der Panther, dem Wahnsinn verfallen schon vorher, in den steigenden Fluten um.

   Es ist hier nicht möglich, außer diesen groben Linien das überaus vielfältige und kunstvoll verschlungene Gewirr von Einzelfäden der Handlung auch nur der Hauptpersonen darzustellen. Ich will hier, weil unser Interesse ja primär der Friedensidee Karl Mays gilt, nur noch auf einige Kernstellen zu diesem Inhalt hinweisen. Sie zeigen das Typische der Denkweise Karl Mays in seiner Altersperiode. So wenn es heißt (II, 544): Meine Aufmerksamkeit wurde dreifach in Anspruch genommen. Nämlich erstens von der gewaltigen Natur, durch welche der Marsch uns führte. Zweitens von den eigenartigen Menschen, bei denen ich mich befand. Und drittens von dem tiefen Zusammenhang der Dinge, den ich in Allem erkannte, was in dieser Natur und mit diesen Menschen geschah.


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    . . . Daß der Gewaltmensch sich zum Edelmenschen emporzubilden habe, ist eines meiner Ideale. Dazu gehört vor allen Dingen, daß das Niedrige in uns, das Tierische, überwunden wird. Tausende klagen, das sei so schwer. Sie haben Recht und doch auch wieder nicht Recht. Man suche die "Schwarzgewappneten" des Mir von Dschinnistan, welche die Bestie in uns, den "Panther", nach dem Dschebel Allah zu locken verstehen. Man bitte um die Panzerreiter von El Hadd und Halihm, die den Empörer in uns aufstören . . . Hier haben wir in kürzester Formel das allegorische System aufgeschlüsselt und zugleich das Neuplatonisch-Mystische seiner Vorstellung von der Ineinssetzung des Makrokosmos mit dem Mikrokosmos und von der Austreibung der Hyle, des "Niedrigen" der menschlichen Natur. Hierzu stellt sich auch ein Text wie dieser (II, 577): »Fühlt ihr den Wind, den kalten, den es mit unwiderstehlicher Gewalt hinauf zur Wärme reißt? So zeigt uns Gott in seiner gewaltig predigenden Natur die Vorbilder dessen, was im Leben und in den Seelen der Völker und der Einzelmenschen zu geschehen hat, wenn die Ratschlüsse des Himmels in Erfüllung gehen sollen!« Und Marah Durimeh ist es, die verkündet, wie der nun anbrechende Friede aussehen soll (II, 633): »Die Erde sehnt sich nach Ruhe, die Menschheit nach Frieden, und die Geschichte will nicht mehr Taten der Gewalt und des Hasses, sondern Taten der Liebe verzeichnen. Sie beginnt, sich ihrer bisherigen rohen, blutigen Heldentümer zu schämen. Sie schmiedet neue, goldene und diamantene Reifen, um von nun an nur noch Helden der Wissenschaft und der Kunst, des wahren Glaubens und der edlen Menschlichkeit, der ehrlichen Arbeit und des begeisterten Bürgersinnes zu krönen.«

   Man wird nicht daran zweifeln, daß solche und andere Appelle seit jener Zeit, in der Karl May sie formuliert hat, ihre Aktualität bis heute behalten haben. Und wer weiter in diesen Texten forscht, könnte darin mancherlei finden, was uns bekannt vorkommen will. Da finden Gipfeltreffen statt, da werden Völkerbünde geschlossen und so fort. Und als ich, im Buche blätternd, auf Seite 70 des zweiten Bandes die folgende Stelle fand, wo der Sieger dem Besiegten sagt: »Ich wünsche, daß ich dein Bruder werde und daß deine Nation die Schwester der meinigen sei« –, da hatte ich soeben im Fernsehen eine große Rede des französischen Staatspräsidenten Mitterrand erlebt, in der er Deutsche und Franzosen ausdrücklich als "Brudervölker" bezeichnete.

   Nun liegt es mir fern, bei Karl May Anweisungen, Rezepte oder Lösungen für die Probleme und Konflikte unserer eigenen Zeit zu suchen, als wäre da ein Programm zu haben, das ebenso unsere Welt ordnete wie der Mir von Dschinnistan, dieser (nach Marah Durimeh) Allererhabenste in Mays Figurenspiel –, nein, Märchenwunschträume wie diese lassen sich unserer irdischen Existenz nicht aufstülpen. »Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen«, um es mit Schillers Worten auszudrücken. Sehr hart sto-


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ßen [stoßen] sie sich, das mußte der Autor Karl May schon beim Schaffen an seinem Opus erfahren. Die Leute vom "Hausschatz" wollten die Geschichte vom Frieden nicht länger lesen und drucken. Ziemlich abrupt mußte Karl May den Schlußpunkt setzen. Nach Dschinnistan sind die Reisenden nicht mehr gekommen, doch der letzte Satz in der Buchausgabe von "Ardistan und Dschinnistan" lautet: Wir aber wendeten unsern weitern Aufstieg nun den Bergen, über deren Pässe der Weg nach Dschinnistan führte, und unsrem hohen, weiteren Ziele zu. Ein guter Schluß ist das, möchte ich meinen, ein offener Schluß, so offen, wie die Zukunft für uns Menschen nun einmal ist. Seltsam war mir übrigens daß ich vor kurzem den jüngsten Bestseller "Palast der Winde" von M. M. Kaye las und dort den folgenden Schluß fand: »So ritten sie denn aus dem Schatten der Bäume, im Rücken den Bala Hissar und die glühende Asche der niedergebrannten Gesandtschaft, und trabten über das weite flache Land den Bergen entgegen. Und es mag wohl sein, daß sie ihr Königreich fanden.« Dschinnistan oder der Palast der Winde: in all diesem steckt, wie ein anderer, ein berühmter Karl-May-Kenner, sich ausgedrückt hätte, das "Prinzip Hoffnung". Wie auch in jedem von uns. Und so wollen wir denn uns ebenfalls unserem hohen, weiteren Ziele zuwenden.



1 Angaben in () beziehen sich auf Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXI/XXXII: Ardistan und Dschinnistan I/II. Freiburg 1909.

2 Hervorhebung H. St.


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