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GERT UEDING

Das Spiel der Spiegelungen
Über ein Grundgesetz von Karl Mays Werk*



Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein heutiges Thema ist nicht neu, sondern im Gegenteil auf dem Gebiet, das uns so fesselt, als ob es sich dabei wirklich um die dark and bloody grounds des Wilden Westens handle, ein schon geläufiger und fast notorischer Gegenstand der kritischen oder affirmativen Erörterung. Ich kann es mir daher ersparen, eine Fülle von Belegen anzuführen. Daß in Mays Romanen eigentlich immer nur dasselbe passiere, ist ja eine der ältesten, häufigsten und pauschalsten Mängelrügen; nicht »barocke >Fülle<«, monierte etwa derart Arno Schmidt, »sondern (...) manisch-mechanische Repetition«(1) beherrsche die Handlungskonstruktion. Für eine differenziertere Betrachtung plädierte inzwischen auch schon eine ganze Reihe von Autoren, ich erinnere nur an die Analysen Heinz Stoltes,(2) der die Erzähltechnik des von ihm so genannten Motivreims in mehreren Romanen verfolgt hat; an Harald Frickes daran anknüpfenden Versuch, seinerseits die Wiederholung vom Ruch der Trivialität zu befreien und als »konstruktives Prinzip«(3) zu erweisen; schließlich in aller Bescheidenheit an meine eigene, dem Freud-Studium entwachsene Hypothese von der psychologischen Wirkung sich wiederholender Erzählereignisse.(4)

Beinah, aber nur beinah, könnte es so aussehen, als ob ich mich nun selber dieses Prinzips bediente, das ja nicht ohne eine gewisse pädagogische Bedeutung ist, und in diesem Sinne ist Voltaires Satz gemeint, er werde sich so oft wiederholen, bis man ihn verstanden habe. Doch geht es mir heute darum, die uns schon bekannte Sache in eine andere Beleuchtung zu rücken oder ­ wie es so schön Lichtenberg formulierte - ein paar »neue Blicke durch die alten Löcher«(5) zu werfen.

Eines der ältesten eröffnet uns die Formel, daß jemand in die Fremde aufgebrochen sei, um dort sein Glück zu versuchen. Wir fanden sie zuerst im Märchen, entdeckten sie aber in späterer Lektüre wieder. Unerquickliche Verhältnisse in der Heimat und ein, ich möchte sagen, angeborener Thatendrang hatten mich über den Ocean nach den Verei-

* Vortrag, gehalten am 7. 10. 1989 auf der 10. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Augsburg.


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nigten Staaten getrieben, wo die Bedingungen für das Fortkommen eines strebsamen jungen Menschen damals weit bessere und günstigere waren als heutzutage.(6) Das ist der aus Deutschland stammende, noch namenlose Erzähler des ersten >Winnetou<-Bandes, der sich selber kurz zuvor als blutiges Greenhorn vorgestellt hat; was freilich nicht heißt, er entbehre etwa gänzlich der Eigenschaften, die sich sehr wohl auf fremdem Boden bewähren können - die Episoden bei dem Büchsenmacher Mr. Henry geben bereits einen Vorgeschmack davon. Sie sind als Proben gedacht vor dem Aufbruch in den Wilden Westen, jene Fremde, die der exotische Abenteuerroman schon durch das adjektivische Signalwort in unserer Vorstellung aus allen Begriffen und Vereinbarungen des bürgerlichen Lebens gezogen und als das ganz andere zum wichtigsten oder gar einzigen Erzählraum der abenteuerlichen und gefährlichen Existenz gemacht hat. Ich hatte meine guten Gründe, gerade diese Route einzuschlagen. Ich hatte das Felsengebirge von den Quellen des Frazer-Flusses bis zum Hell Gate Paß, vom Nordpark bis hinunter zur Wüste Mapimi kennen gelernt, doch die Strecke vom Hell Gate Paß bis zum Nordpark, also eine Strecke von über sechs Breitegraden, war mir noch fremd geblieben. Und gerade hier sind die interessantesten Punkte des Gebirges zu suchen: die drei Tretons, die Windriverberge, der Südpaß und ganz besonders die Quellgegenden des Yellow Stone, Schlangenflusses und Columbia.(7) Wenn man dergleichen Passagen vernimmt, stellt sich aber nicht der von ihnen bedeutete, sondern genau der entgegengesetzte Effekt ein: der des Wiedererkennens nämlich und einer Erwartung, die auch regelmäßig durch die nun folgenden und in ihrer Struktur ebenso längst bekannten Abenteuersequenzen bedient wird. Deren Signalisierung ist denn auch der Hauptzweck solcher Ortsbestimmungen, und er wird um so klarer, je näher die Geschehnisse selber rücken. So lange ich mich in der eigentlichen Sierra befand, hatte ich weniger zu befürchten; es gab da Deckung genug... Dann aber gab es kahle Plateaus, auf denen man schon aus sehr weiter Entfernung bemerkt werden konnte; sie waren von steilen Schluchten und tiefen Canons durchschnitten ... Die gefährlichste dieser Schluchten war der sogenannte Mistake-Cañon, weil er den betretensten Indianerweg zwischen der Ebene und den Bergen bildete. Er hatte seinen Namen einer unheilvollen Verwechslung zu verdanken...(8) Und nun folgt die Anekdote, daß ein weißer Jäger an dieser Stelle statt eines feindlichen Komantschen seinen besten Freund, einen Apatschen, erschossen habe. Dieser fast beiläufige Hinweis wird uns an späterer Stelle noch einmal beschäftigen. Hier habe ich sie nur als Exempel für die zahlreichen Landschaftsbilder erwähnt, die in Karl Mays Werk immer wieder das-


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selbe signalisieren, den Beginn, die Einleitung des Abenteuers. Er hat diese Handlungsräume mehr oder weniger exakt charakterisiert, auch die eben angeführte Passage ist weitläufiger, als ich sie hier zitiert habe. Die eigentlichen Merkworte, auf die es ankommt, um dergleichen Stellen auf ihre eigentliche Botschaft hin zu entziffern, sind gänzlich unabhängig von den landschaftlichen Gegebenheiten, denen sie abgezogen sein wollen. Unser Autor hat sich, wir wissen es, mit ethnographischen Details versehen, die er aus Handbüchern und Reiseberichten entnahm, und daraus zuweilen gar kein Hehl gemacht. Der Südamerika-Roman beginnt sogar mit einer direkt als Buchzitat gekennzeichneten Schilderung von Land und Leuten in Uruguay, deren Sinn natürlich nicht darin besteht, Sitten und Gebräuche der Gauchos, ihren Charakter, ihre Bewaffnung und ihre Fähigkeiten für sich zu charakterisieren; der kundige Leser überträgt sie von vornherein auf das sich als recht unzuverlässig herausstellende Personal der folgenden Geschichte, und in der Begegnung mit den Bola-Männern ergibt sich bald eine sehr ernste Probe aufs allgemeine Einleitungs-Exempel. Wenn der Ich-Erzähler als der fiktive Leser dieses ursprünglich in spanischer Sprache abgefaßten ethnographischen Werkes seine Lektüre damit kommentiert, daß er doch einigen Zweifel gegen die Wahrheit des Gelesenen(9) hege, tun sie ihrer Funktion aber keinen Abbruch und enthalten darüber hinaus einen weiteren Hinweis. Denn die Fremde, die hier im Buch-Zitat vorgestellt wird, verdient ja ihren Namen eigentlich gar nicht, da sie schon längst Gegenstand der Literatur geworden ist. Ein merkwürdiger Umstand, der den exotischen Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts von Anfang an kennzeichnet: er rennt gleichsam längst geöffnete Türen nochmals und nochmals ein. Als Friedrich Gerstäcker seinen Tahiti-Roman schrieb, war die Insel längst entdeckt und, so beginnend mit Georg Forster 1777, hinreichend ausführlich beschrieben worden. Von den >dunklen und blutigen Gründen<, durch welche die Helden Karl Mays ziehen, natürlich ganz zu schweigen. Die »Global-Tilgung des Fremden«(10) durch die europäische Zivilisation hat die Faszination, die es in seiner ästhetischen Repräsentation ausübt, nicht beeinträchtigt, vielmehr erhöht. Wie in unseren Tagen erst die Bedrohung und der Schwund der natürlichen Ressourcen das Interesse an der Natur ungemein stimuliert und ihre Erhaltung in Reservaten oder gar (denken wir an Parkanlagen und die häusliche Gartenkunst) in einer auf ästhetische Wirkung berechneten Gestalt fördert. Die exotische Gegenwelt - so könnte man die These zuspitzen - entfaltet ihre höchste literarische Wirksamkeit, nachdem es sie längst nicht mehr gibt. Das Motiv der elegischen Rückschau findet sich auch in den Büchern sel-


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ber. Es verleiht schon den Romanen Coopers diese eigenartige Stimmung, die aus der Vergegenwärtigung eines vergangenen Glücks folgt und immer mit Trauerrand erscheint. Karl May hat es natürlich ebenso aufgegriffen und vor allem auf das Porträt des Indianers als einer sterbenden Rasse konzentriert.

Nun könnte man mir entgegenhalten, daß Karl May wie seine übrigen Kollegen auch nicht für ein Publikum geschrieben habe, das die ganzen Abenteuer-Szenarien bereits aus wissenschaftlichen Werken und authentischen Reiseberichten kannte, daß der Neuigkeitswert vielmehr für den üblichen Leser des Abenteuer-Romans noch ganz uneingeschränkt bestanden habe, für den jugendlichen Leser vielleicht gar heute noch bestehe. Zur näheren Ergründung der Funktion des exotischen Motivs in diesem Genre habe ich zwei uns allen vertraute Reminiszenzen gewählt. Die erste führt uns in die Orient-Romane. Die öftere Erwähnung von steilen Felswänden, von Schluchten und Rissen darf nicht verwundern. Die Gebirge der Balkanhalbinsel - besonders die westlich gelegenen und vor allen Dingen der Schar Dagh - sind meist von gewaltigen, tief zerklüfteten Felsenmassen gebildet. Senkrechte Wände von mehreren hundert, ja über tausend Fuß Höhe sind da gar keine Seltenheit. Zwischen diesen eng bei einander stehenden Mauern tritt das Gefühl äußerster Hilflosigkeit an den Fremden heran. Es ist, als ob die schweren Massen über ihm zusammenbrechen wollten. Es kommt der Gedanke, wieder umzukehren, um dem Verderben zu entgehen, und unwillkürlich treibt man die Pferde zu größerer Schnelligkeit an, um dem niederdrückenden Bewußtsein menschlicher Ohnmächtigkeit zu entgehen und die Gefahr hinter sich zu legen.(11) Die zweite Stelle soll in eine andere Weltgegend führen und ist viel zu ausführlich geraten, um hier geschlossen wiedergegeben zu werden: es handelt sich um die Rocky Mountains, eine oft verwendete Kulisse. Links drohten die finsterbewaldeten Vorberge der Salt River Range über den nordsüdlich fließenden Green River herüber; hinter uns schienen die dunklen Black-und Tabernacle-Bluffs die Last des schweren Himmels zu tragen; weit draußen, rechts, versammelten sich die Sweetwater-Giganten einer nach dem andern... Sie blickten, Haupt an Haupt, mit schwerem Eis und Schnee bedeckt, bald tiefernst, bald vorwurfsvoll, bald hohnlächelnd auf uns nieder, daß wir lächerlichen Pygmäen es wagen wollten, in eine Welt einzudringen, wo nur das Große, Erhabene Platz zu finden, die alles Kleine, Gewöhnliche zu erdrücken, zu zermalmen schien.(12)

Eine Shakesprare-Landschaft nennt der Autor das Panorama, und die Bezeichnung weist einige Besonderheiten auf, die wir uns heute erst etwas umständlich vergegenwärtigen müssen. Sie macht nicht nur


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auf den engen Zusammenhang von Landschaftserleben und Literatur in der deutschen Kultur aufmerksam, so daß man etwa Albrecht von Haller als den wahren Entdecker der Alpen gefeiert hat, die bis zu seinem großen Gedicht von 1729 als eine häßliche und abschreckende Formation galten; der Hinweis auf Shakespeare trifft außerdem ziemlich genau den Zeitpunkt, an dem eine solche Naturerfahrung schon wieder konventionalisiert wurde, da er mit der Entdeckung des englischen Dramatikers durch die Geniebewegung in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts zusammenfällt, wo alles Hinreißend-Zerklüftete, Vehement-Pathetische, eben alles Maßlose und Ungewöhnliche ob an menschlichen oder geographischen Monströsitäten die eigenen Größenträume widerspiegelte. Aber der Ausdruck gibt noch einen weiteren Hinweis, denn mehr als ein Jahrhundert nach seiner Prägung ist auch seine einmal metaphorisch mitgemeinte Abbildfunktion natürlich längst geschwunden. >Shakespeare-Landschaft< muß man jetzt als Formel für den rein innerliterarischen, sprachlichen Kontext auffassen, der durch Schilderungen dieser Art eröffnet wird. Denn was ist der Unterschied zwischen ihnen und der folgenden, die dem Dschebel Allah ... an der Grenze zwischen El Hadd und Ardistan gilt? Er bildet, heißt es da unter anderem, eine einzige, mächtige, kompakte Felsenmasse, die aber da, wo früher der Wald aufhörte, sich in drei hochaufragende Kuppen teilt... Ein breiter Weg führt hinauf.... Auch der Weg von da in das Tal hinab ist breit, aber trotzdem gefährlich. Zu beiden Seiten gähnen Schluchten und Abgründe, aus denen für einen Jeden, der da hinunterstürzt, keine Rettung möglich ist.(13) Eine Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Fiktion läßt sich aus den Bildern selber nicht mehr gewinnen, denn daß die Namen der einen auch auf Landkarten, die der anderen aber nirgendwo sonst zu finden sind, ist von ganz untergeordneter, die Rezeption kaum berührender Bedeutung. Die Erzeugung dieser Bilder und Vorstellungen hat sich von dem Bezug auf ein Original befreit. Dies sogar ganz buchstäblich auch im Sinne von Autorschaft, denn in den Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts kursieren Bilder dieser Art in unzählbaren Variationen, die nicht auf Wahrheit, nicht einmal auf Wahrscheinlichkeit der Schilderung aus sind, sondern allein dazu bestimmt, die ihnen vom Autor jeweils verliehene, in sie gleichsam hineingefüllte Bedeutung zu transportieren. Es ist natürlich ganz unmöglich, hier auch nur einen flüchtigen Eindruck von der Fülle dieser Bilder wiederzugeben, die man bei Gerstäcker oder Ruppius, Mügge oder Möllhausen und natürlich auch bei ausländischen und fleißig übersetzten und bearbeiteten Schriftstellern auf Anhieb finden kann. Zusammengenommen ergeben sie einen Katalog aller nur denk-


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baren Landschaftsregister und ihrer Verbindungen, die jeder Schriftsteller als Elemente einer Sprache benutzt, die sich nicht mehr auf ein Urbild oder eine Realitätsperspektive, sondern nur noch aufeinander beziehen. Der Autor nimmt sie und verbindet sie durch Kommunikationsprozesse, die allein auf Wirkung abgezielt sind und im Leser Emotionen erzeugen sollen. Die Syntax dieser Sprache besteht in der Form der Verbindungen, wodurch die aufgegriffenen und aus diesen weitererzeugten Bildelemente aufeinander bezogen werden, die häufigsten sind Parallelismus, Wiederholung, Variation und negative Verdoppelung, die letztere eine besonders spannungsreiche Parallelstruktur. Tiefe, Flachland, Wüste oder Talboden erscheinen als parallele Antithesen zu den Höhen- und Gebirgsbildern und sind daher besonders ausdrücklich auf Ergänzung hin ausgerichtet, einander wie Frage und Antwort zugeordnet, was Karl May durchaus gesehen und zur Selbstinterpretation genutzt hat.

Aber auf diesen Gedanken komme ich später noch einmal zurück. Hier gilt es zunächst, eine vorgängige oder besser implizite Aufgabe der Wiederholung und Verdopplung nachzutragen. Sie sind nämlich auch die besten Mittel, die Bilder von der Bindung an ein Original in der Realitätserfahrung zu befreien. Wenn wir uns das Verfahren klarmachen wollen, brauchen wir nur an den Allegoriker zu denken. Denn wodurch verlieren Waagschale und Sanduhr, Glocke und Hobel, Richtscheit und Kneifzange, Streichmaß, Hammer und Schmelztiegel ihre ursprüngliche, an ihren Verwendungszweck in Baukunst und Zimmermannshandwerk gebundene Bedeutung als durch ihren gleichsam seriellen Gebrauch in einem neuen Bildkontext, dem der (Sie haben es längst erkannt) Melancholie; seriell deshalb, weil sie ihre Brauchbarkeit in dieser Sprache natürlich nicht erst in Dürers Variation erwiesen haben. Als Signa für Melancholie sind sie von uns durch ihre Kombination und den Zusammenhang, den sie mit Ruine, Fledermaus, tief in sich versunkener Gestalt bilden, zu entziffern. Ihre ganz unwahrscheinliche, der Realitätserfahrung kraß zuwiderlaufende Präsentation und der gleichsam automatische Gebrauch lassen sie als Formeln erkennbar werden, die zu Elementen einer neuen Sprache werden. Karl Mays Genialitat besteht, denke ich, auch darin, daß er den überlieferten Katalog der in einer Art von serieller Produktion erzeugten Bilder der exotischen Abenteuerliteratur zu einer neuen Sprache verbunden hat, die nichts anderes bedeuten soll als immer wieder die eigene Geschichte oder vielmehr das Substrat der eigenen Geschichte. Denn eine, wie auch immer verschlüsselte realistische Suggestion ist mit den solcherart notwendig allegorischen Mitteln nicht zu erreichen, wohl


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vom Autor nicht einmal angestrebt, so daß biographische Dechiffrierungen immer nur zu ganz beliebigen Ergebnissen kommen können und man Mays Lebenslauf mit derselben Kunstfertigkeit dann auch aus einem Roman von Otto Ruppius wie aus einer Trick-Kiste wird herausziehen können.

Aber das ist nicht alles, und es gibt eine Reihe weiterer Techniken, die Karl May zwar nicht an jedem Einzelfall, aber in der Bildersprache seines Gesamtwerks konsequent ausschöpft. So etwa die prononcierte literarische Ursprungskennzeichnung der Bilder als Zitat: denken Sie an meine beiden anfänglich gebrachten Beispiele, den lesenden Hotelgast in Montevideo, die Shakespeare-Landschaft, denken Sie an die vielen Male, in denen sich unser Autor auf seine Vorgänger bezieht oder durch die Beteuerung, kein Dichter könne die Ereignisse ersinnen, die das Leben schreibe, ganz hintersinnig das artifizielle Wesen seiner Erfindungen betont. (Auch die stehende Figur des ständig Abenteuer kaufenden verrückten Engländers gehört hierher.) Andere Verfahren wie Delokalisierung, hyperbolische Übertreibung, Verräumlichung zeitlicher Prozesse werden uns noch an manchem Beispiel begegnen, ohne daß ich sie dann jedesmal ausdrücklich kennzeichnen kann. Diese Möglichkeiten bestimmen schon die Auswahl bestimmter Bilderreihen vor anderen. Je mehr die Zeichen bereits formalisiert, also ihrem ursprünglich sinnstiftenden System durch anderweitigen Gebrauch etwa im Werk anderer Schriftsteller, in der bildenden Kunst (Dorés Lucifer-Darstellung!) oder anderen kulturellen Praktiken entfremdet wurden, um so tauglicher sind sie für ästhetische Operationen allegorischer Art, in denen sie als Elemente einer neuen Sprache fungieren sollen. Um wenigstens das ein oder andere zu nennen, das auch für Karl May von besonderer Bedeutung wurde: der Abenteuerwald, Kampf auf Leben und Tod, Großwildjagd oder Gefangenschaft und Befreiung. Das sind Fiktionen und Bilder, die ihre Bedeutungsvielfalt in ungezählten verschiedenen Kontexten längst belegt haben, die ­ wie man landläufig sagt - abgegriffen, entleert sind. Selbst das Knochengerippe, ich werde noch darauf des näheren eingehen, wurde derart in alle Weltgegenden bildlicher und literarischer Erzählung geschickt, stand für Pest und Krieg, machte als komische Figur von sich reden und erweckte als Schwächling und übertölpelter Narr das Mitleid des Publikums. Diese Bilder sind längst keiner feststehenden Bedeutung mehr zugeordnet, sondern kursieren in mannigfachen Sinnverbindungen. Losgelöst von ihrem Ursprung, sind sie gleichsam fließend geworden und warten darauf, durch die Aktivität des Schriftstellers eine neue Übereinkunft zu begründen. Überlegungen dieser Art muten


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uns, wenn wir sie von dem literarischen Material lösen, an dem ich sie hier entwickelt habe, ausgesprochen modern an und sind auch Ausdruck einer historischen Situation, in deren konsequenter Verlängerungslinie wir stehen. Selbstauflösung des Subjekts und Zerfall der historischen Vernunft lauten die Stichworte für eine Welt, die aus den traditionellen Verabredungen gerückt ist oder sogar gänzlich hinter ihren Surrogaten zu verschwinden droht. Diese Erkenntnis ist nicht neu und seit Schillers Essay >Über naive und sentimentalische Dichtung< ein Bezugspunkt jeder Theorie der Moderne. Wieweit Karl May von dieser Diskussion Kenntnis genommen hat, läßt sich kaum ermitteln, ganz entziehen konnte sich ihr wohl kaum ein Schreibender, der überdies gewisse pädagogische Interessen verfolgte. Viel wichtiger aber ist, daß seine Lebenserfahrung auf ungewöhnlich intensive Weise die Entmächtigungsgeschichte des modernen Subjekts widerspiegelt, weil er sie individuell immer wieder hat durchleiden müssen. Diese, seine körperliche und seelische Integrität gefährdenden, ja zerstörenden Erfahrungen, die ich nicht im einzelnen mehr aufzuführen brauche, ließen ihm als Autor gar keine andere Wahl, als die Wirklichkeit nur noch als Stoff für konstruktive ästhetische und rhetorische Operationen und Anlaß zu autonomer Bilderzeugung zu nehmen. Wo war die Wahrheit zu suchen? fragt er in seinem Lebens-Rechenschaftsbericht. In den aufgeschlagenen Büchern oder in der aufgeschlagenen Wirklichkeit? Die Antwort, die er sich selber gibt, lautet zwar: In beiden!, doch daß damit nicht etwa tatsächlich eine Gleichberechtigung von Kunst und Leben gemeint ist, wird sofort deutlich. Die Wissenschaft ist wahr, und das Leben ist wahr. Die Wissenschaft irrt, und das Leben irrt. Ihre beiderseitigen Wege führen über den Irrtum zur Wahrheit. .. Wo diese Wahrheit liegt und wie sie lautet, das können wir nur ahnen. Es ist nur einem einzigen Auge vergönnt, sie vorauszusehen, und das ist das Auge des - Märchens.... Ich brauche nur die Augen zu öffnen, so sehe ich sie aufgespeichert, diese Hunderte und Aberhunderte von fleischgewordenen Gleichnissen und nach Erlösung trachtenden Märchen.(14) Die Stelle ist viel zitiert worden, aber wurde sie auch ernst genug genommen? Hat man ihren Kontext wirklich schon ausgeschöpft und sich klargemacht, was es bedeutet, sich in einer solchen Kunstwelt zu wissen? Die Wirklichkeit selber, so können wir aus diesen Sätzen folgern, ist zu einem Katalog reiner Zeichen geworden, von denen wir nicht wissen, was sie bedeuten, Wahrheit und Irrtum ununterscheidbar gemischt. Nur wer sie als Märchen liest, dem mag eine Ahnung von der Wahrheit (was immer das sei) aufgehen. Das Ergebnis läßt sich leicht voraussehen: es ist die Allegorisierung der Wirklichkeit, der fleischgewordenen Gleich-


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nisse und Märchen, doch nicht etwa als das realitätsverändernde Werk des Schriftstellers, sondern als sein unentrinnbares Geschick. Ich muß selbst zum Märchen werden, ich selbst, mein eigenes Ich,(15) konstatiert der Autor Old Shatterhands und Kara Ben Nemsis, doch in der konsekutiven Formulierung steckt auch der Zwang, das Ausgeliefertsein an ein künstliches Dasein und die Verwandlung der Person in ein Spiel unendlicher Möglichkeiten. Der Schriftsteller ist dessen Schöpfer und Opfer zugleich, und darin gleicht seine Arbeit der des Traumes. Der einstmals historisch oder sozial vermittelte Sinn, der den Real-Zeichen verlorengegangen ist, wird von ihm zwar in sie hineingelegt, doch indem er sich ihnen auch selber anverwandeln muß, weil er anders gar keine Identität finden kann, wird er selber zu einem anderen oder vielmehr zu den vielen Gestalten, die dieses Andere seiner Einbildung und seinen Wünschen nach annehmen kann. Um den Sachverhalt an einem einfachen Beispiel zu erläutern, so befindet sich May in der Lage eines Spielers, der die Regeln und Abläufe seines Spieles zwar erfunden hat, nun aber auch ihnen gemäß agieren muß und dem immer wieder das Bewußtsein davon abhanden kommt, daß dieses jetzige Spiel nur eines von vielen möglichen und auf jeden Fall eine Leistung der Imagination darstellt. So begreift man, wie es kommt, daß (mit Walter Benjamins Worten) dann jede »Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis (...) ein beliebiges anderes bedeuten«(16) kann. Der Schriftsteller benutzt sie alle als Bestandteile eines selber geschaffenen künstlichen Beziehungsgefüges, das durch Bedeutungsübertragung entsteht und seinen Roman ausmacht. Um noch einmal den hier ganz hellsichtig sein Verfahren beschreibenden Autor von >Mein Leben und Streben< zu zitieren: In die Prairie oder unter Palmen versetzt, von der Sonne des Morgenlandes bestrahlt oder von den Schneestürmen des wilden Westens umtobt, in Gefahren schwebend, welche das stärkste Mitgefühl der Lesenden erwecken, so und nicht anders mußten alle meine Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit ihnen das erreichen wollte, was sie erreichen sollten.(17) Kann man es noch deutlicher sagen, auch wenn die Wendung so und nicht anders eine notwendige Bindung des Bildes an die Sache suggeriert, die doch vorher gerade in der beliebigen Reihung von Prärie oder Palme, Sonne des Morgenlandes oder Schneestürmen des Wilden Westens dementiert worden war? Karl May jedenfalls hat die Zeichen, die er brauchte, um seine Märchen zu erzählen, genommen, wo er sie fand: in Sage und exotischem Abenteuerroman, Reisebeschreibung und ethnographischem Handbuch, im romantischen Räuberroman und dem allegorischen Märchenstück nach Maeterlincks Manier. Durch jene zu Anfang beschriebenen Techniken der Wiederholung und Parallelisierung,


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durch Beistellung und Umstellung hat er sie zu Trägern einer neuen Kunstsprache gemacht und daraus seine Romane gleichsam chiffriert.

Wie solche A l l e g o r i s i e r u n g geschieht und welche Folge sie hat, wie sie nicht nur eine besondere Erzählmethode konstituiert, sondern das epische Erzählen seinem überlieferten Verständnis nach überhaupt aufhebt, dafür möchte ich zur Verdeutlichung einige Beispiele anführen. Das erste liefert, wie könnte es anders sein, der Ich-Erzähler, jene künstlichste aller Mayschen Kunstfiguren, die doch durch das Personalpronomen gerade das Gegenteil nahezulegen scheint. Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi oder das namenlose Ich des Südamerika-Romans, wer sind sie wirklich? Eine Frage, über die sich viele den Kopf zerbrochen haben, die zu den waghalsigsten biographischen, psychologischen, literaturhistorischen oder geistesgeschichtlichen Interpretationen gereizt hat und deren Antwort ebenso verblüffend und einfach wie modern anmutet. Wollte man einen Katalog aller Eigenschaften dieser Heldenfigur aufstellen, die zwar unter verschiedenen Masken erscheint, die eine aber immer auf die andere bezieht, also im Orient den Westmann oder im Llano estakado den Kenner der arabischen Wüste und in Südamerika beide hervorsehen läßt, dieser Protagonist in höchster Potenz und allen Sätteln der Welt erschiene auch als die Summe aller möglichen und wünschbaren Eigenschaften: als Planer und Ergründer wie als Täter und Stratege, in Theorie und Praxis gleichermaßen vorbildlich. Es bedarf keiner umständlichen Beweisführung, denn wir haben ihn schließlich in allen Rollen glänzen sehen: als General und Missionar, Arzt und Detektiv, Poeten und Jäger, Nahrungsmittelchemiker und Philosophen, Techniker und Ingenieur, Religionswissenschaftler und Ethnologen ­ die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen, denn ihr Prinzip besteht darin, den Helden jeweils gerade mit den Fertigkeiten, Kenntnissen und Anlagen auszurüsten, die gerade benötigt werden. Wer aber alle Merkmale besitzt, der hat kein einziges, das ihn wirklich unverwechselbar auszeichnet, und ist in Wahrheit ein Held ohne Eigenschaften. Seine angebliche Fülle ist die Leere einer totalen Beliebigkeit, in der wir alles, alle Eigenschaften der Gattung, finden können und daher nichts Individuelles, nur ihn allein Bezeichnendes. Der Held Karl Mays ist die Traumfigur eines einheitlichen Subjekts und damit eine ausgesprochen moderne Erscheinung. Sie verdankt sich gewiß nicht seiner bewußten Einsicht in die sozialpsychologischen Gründe dafür, daß die Geschichte keine Identität mehr hervorbringen kann, auch nicht oder wohl nur zu einem geringen Teil dem Kunstverstand des Autors, sondern ganz schlicht wiederum der eigenen Lebenserfahrung. Adorno hat Schizophrenie »die geschichtsphilosophische Wahr-


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heit übers Subjekt« genannt, insofern nämlich der »Zustand der Dissoziation und Vieldeutigkeit«(18) Ausdruck für die historische Auflösung des Subjekts ist. Ich will mich nun keineswegs auf eine Erörterung der seelischen Krankheitszustände einlassen, die Karl May während seiner Haftzeit und danach heimsuchten und die er uns teilweise so nachdrücklich geschildert hat, aber die in ihnen sichtbare Tendenz zum Zerfall der Persönlichkeit, zusammengenommen mit der auch sonst wirksamen pseudologischen Neigung, scheinen mir schon vollkommen ausreichend, die Übereinstimmung zwischen individueller Erfahrung und dem geschichtlichen Stand der Identitätsbildung des Subjekts zu konstatieren. Karl Mays Held ohne Eigenschaften ist das Bild für die im eigenen Leben erfahrene, aber eben auch historisch seit dem 18. Jahrhundert zu diagnostizierende Dis-Qualifikation der Subjektivität. Angestrebt hatte er natürlich das Gegenteil, als er jenes Erzähler-Ich als die Projektionsfläche aller seiner Kompensationswünsche und Tagträumereien schuf. Aber deren Zuspitzung endete in der Zerstörung der Identität.

Auch sie hat unübersehbare Spuren in Mays Werk hinterlassen, von denen ich hier noch die ein oder andere betrachten möchte. Zum Beispiel >Am Rio de la Plata< mit der seit Bloch zu Recht immer wieder gerühmten Exposition. Der Erzähler, ich habe an die Szene vorhin erinnert, ist soeben in Montevideo eingetroffen, im Hotel abgestiegen und schon zu einem ersten Stadtgang bereit, als ihn ein Besucher mit den Worten »Ich bringe Ihnen meine Verbeugung, Herr Oberst!«(19) auflhält. Im Laufe des Gesprächs stellt sich, wie jedermann weiß, heraus, daß hier eine Verwechslung vorliegt: der Fremde sieht einem hohen uruguayischen Offizier verblüffend ähnlich, an den sich gewisse Zukunftshoffnungen zu knüpfen scheinen,(20) der also einen politischen Umsturz plant. In der Lopez-Jordan-Handlung spielt dieses Motiv eine leitende Rolle, daß es längst auf seinen autobiographischen Hintergrund hin durchleuchtet wurde, sei hier nur angemerkt.(21) Die ausdrückliche Verkennung lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine ganze Figuren-Reihe, die durch das Prinzip der Ähnlichkeit miteinander verknüpft ist, richtig allerdings nur aufgrund der Kenntnis der anderen Reiseromane unseres Autors gewürdigt werden kann. Sie beginnt mit dem Yerbatero Monteso, geht weiter mit dem Bruder Jaguar, mit Desierto und Pena, um schließlich in dem Sendador zu kulminieren. Mit Monteso verbinden den Erzähler die geringsten Gemeinsamkeiten: dieselbe, allerdings landesübliche Barttracht, gewisse Lebensumstände, weil sich das Dasein des südamerikanischen Teesammlers und des nordamerikanischen Trappers gleichen, am wichtigsten freilich die Diskre-


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panz von äußerlicher Schäbigkeit und gediegenem Charakter, die uns auch als ein stereotyp hervorgehobenes Merkmal des Ich-Erzählers in zahllosen anderen Abenteuern begegnet ist.

Die Übereinstimmungen mit dem Bruder Jaguar brauche ich kaum zu nennen, so klar liegen sie auf der Hand: ungewöhnliche Körperkraft, Respektlosigkeit vor der uniformierten Obrigkeit, und trotz seiner Riesenstärke(22) besitzt er ein zart geschnittenes Gesicht von ungewöhnlich sanftem Ausdrucke(23); er ist unerschrocken, umsichtig, ein kühner Jäger und eine Führernatur, wie sie im Buche steht. Eigenschaften, die bei Pena nicht so ausgeprägt sind, doch ist er Deutscher und zudem ein sehr guter Kenner der einheimischen Indianerdialekte. Größer wird die Ähnlichkeit wieder mit Alfred Winter, dem Desierto, der seine Heimat durchaus unfreiwillig verließ und zum Wohltäter der Indianer wurde, zudem ein leidenschaftlicher Zigarrenraucher ist, wie der Erzähler auch, und in eine Reihe von Spiegelfiguren gehört, auf die ich noch gesondert unsere Aufmerksamkeit richten will. Schließlich Geronimo Sabuco, der Sendador, ein kühner Spurenleser und Bergführer, von den Indianern verehrt, geistig und körperlich dem Erzähler durchaus ebenbürtig und mit Anlagen begabt, die ihn zu hohen Ehrenstellen (hätten) bringen können,(24) kurz: eine negative Reduplikation des Erzählers, der auch mehrfach solidarische Gefühle mit ihm verspürt, ihn vor Gomarras Anschlag schützt, sein Leben für seine Rettung einsetzt und nach dem Absturz des Widersachers selber einen Schwindel verspürt, der ihn in die Tiefe zu ziehen droht.

Das Prinzip einer solchen auf Ähnlichkeit und Parallelismus, auf Wiederholung und Entsprechung gründenden Personenverknüpfung kann man durch Karl Mays gesamtes Werk verfolgen, am Beispiel des Old-Surehand-Personals hat Fricke es so einleuchtend vorgeführt, daß ich die Passage hier nur zu zitieren brauche. »Tibo-wete-elen ähnelt Old Surehand (I 175), dieser wiederum Apanatschka (I 382); derselbe sieht Winnetou ähnlich (I 359), der später von Old Shatterhand beinahe mit Kolma Puschi verwechselt wird (III 143), welche(r) wiederum ihn für seinen Vater Intschu tschuna hält (III 144); und sie alle haben ihr Gegenbild in Old Wabble mit seinen ebenso langen, aber weißen Haaren (I 140 explizit mit Winnetou und Old Surehand verglichen).«(25) Das allegorische Spiel der Spiegelungen, die von einer Figur zur nächsten verweisen, sprengt die Vorstellung von einem einheitlichen Subjekt und setzt an seine Stelle eine Reihe von Gestalten des Subjekts, von denen die eine gleichsam aus der anderen herauszieht, jede ist also eine Auszugsgestalt der vorigen oder der benachbarten, undicht, fragmentarisch, auf die nächste verweisend. Dazu stimmen die auffälligen


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Paarbildungen, zu denen May neigt und die die Parallelstruktur direkt oder antithetisch aufweisen. Allen voran die beiden berühmtesten, Old Shatterhand und Winnetou beziehungsweise Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar, das erste nach dem Prinzip der Verdopplung gebildet (denken wir nur an die wortlose Übereinstimmung der beiden Protagonisten in Denken und Handeln oder an das ganze Brüderlichkeitsgepräge, das sie ständig inszenieren), das zweite auf Kontrast beruhend. Doch damit ist die Reihe erst begonnen, und ich brauche nur die beiden Toasts zu nennen oder Has und Kas oder Tante Droll und Hobble-Frank, um uns die komischen Situationen vor Augen zu führen, die der Autor aus diesen Spiegelungen gewinnt. Es ist eine Komik, die meist auf Schadenfreude oder Bloßstellung beruht, und obwohl es nicht mehr zum hier erörterten Thema gehört, die ambivalenten seelischen Bestrebungen zu analysieren, die sich in diesen epischen Clownsnummern darstellen, führt uns deren wenigstens beiläufige Bemerkung doch auf eine andere, verdecktere, aber bedeutsamere Parallelkonstruktion. An der jeweiligen Parallelfigur können auch die aggressiven Regungen zur Geltung kommen, deren eigentlicher Gegenstand das eigene Ich ist, weil es aus der Wurzel des Schuldgefühls entsteht. So wird dann stellvertretend der Doppelgänger vernichtet, besonders spektakulär bei Winnetous Tod, aber auch in kleinen Äquivalenzen widerscheinend, wie sie die namengebende Anekdote um den Mistake-Cañon so schön illustriert, weil ja wirklich eine Verwechslung zugrunde liegt und sich die Feindseligkeit an den falschen Adressaten richtet. Auch eine andere Gestaltenreihe, in die sich die Heldenfigur auseinanderfaltet, verdankt ambivalenten Regungen ihre Bedeutung.

Ich habe den Desierto in den >Cordilleren< schon erwähnt, ohne auf sein Äußeres aber einzugehen. Er wird beschrieben als eine lange, skelettartige Gestalt, der glänzende Schädel war vollständig kahl, dafür trug er einen starken silberglänzenden Bart. Die Augen lagen so tief in den Höhlen, daß man denken konnte, man sehe sie gar nicht, und die Wangen waren so eingefallen, daß sie sich im Innern des Mundes fast berührten.(26) Diese Figur reimt sich auf manch andere, die wir aus Mays Werk kennen. Ohne Vollständigkeit anzustreben, seien einige ihrer Auszugsgestalten in Erinnerung gerufen. Old Wabble zum Beispiel, den das Wundfieber zum Gerippe mit einem Totenkopf hat schrumpfen lassen(27) Oder Pir Kamek im Lande der Dschesidi: Seine Kleidung zeigte das reinste Weiß, und schneeweiß war auch das Haar, welches ihm in langen, lockigen Strähnen über den Rücken herabwallte. Er mochte wohl in die achtzig Jahre zählen; seine Wangen waren eingefallen, und seine Augen lagen tief in ihren Höhlen ... (28) Dieses Signalement begeg-


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net uns noch bei einer anderen, besonders ausgezeichneten Hauptperson des Orientzyklus und des Spätwerks zugleich: Ich ... erblickte eine alte Frau, deren Aeußeres mich schaudern machte. Sie schien ihre hundert Jahre zu zählen; ihre Gestalt war tief gebeugt und bestand wohl nur aus Haut und Knochen; ihr fürchterlich hageres Gesicht machte geradezu den Eindruck eines Totenkopfes, aber von ihrem Haupte hingen schwere weiße Haarzöpfe fast bis auf den Boden herab.(29) Auch an den Münedschi mag man denken, dessen Gesicht als blaß und totenähnlich(30) geschildert wird und der uns wirklich, wie auch dem Erzähler, zunächst als Scheintoter, von seinen Gefährten schon aufgegebener und ins Grab gelegter Greis vor Augen kommt. Oder an den Ustad, der ihm bis auf die Farbe seiner schwer vom Kopfe herniederhängenden Haarflechten(31) (die nämlich schwarz ist) wie aus dem Gesicht geschnitten gleichsieht. Es läge nahe (und ist auch geschehen), diese Figuren im Sinne einer Vater-Imago zu deuten, mit welcher der Erzähler seine in Kindheit und Jugend unerfüllt gebliebene Sehnsucht nach väterlicher Liebe und Güte literarisch kompensiert. Das um so mehr, als einige dieser Figuren tatsächlich Vater- und Erzieherfunktionen ausüben: Klekih-petra an Winnetou und den Apatschen, der Desierto an den Tobas (die mit Mays nordamerikanischem Lieblingsstamm auch sonst viele Gemeinsamkeiten aufweisen, allen anderen Stämmen an Kultur und Tapferkeit überlegen sind und mit Unica eine Anführerin haben, die Nscho-tschi in allen wesentlichen Eigenschaften entspricht, sogar in die zivilisierten Landstriche gezogen ist, um wegen eines Weißen die richtige Erziehung zu bekommen), schließlich die alte Marah Durimeh an allen Menschen. Eine solche Interpretation zu bestreiten wäre töricht, doch sind Symbole dieser Art immer überdeterminiert, und keine einzelne Deutung erschöpft sie ganz. So gibt es mindestens noch eine zweite Schicht, die man in den früheren Reiseerzählungen leichter als in den noch weiter befrachteten Symbolfiguren des Spätwerks entdecken kann. In >Winnetou II< schließt sich dem Ich-Erzähler, wie wir uns wohl alle erinnern, ein berühmter Westmann mit dem merkwürdigen Namen >Old Death< an. Sein Aussehen hat ihm diesen Namen eingebracht, und es wird uns ausführlich beschrieben. Er gleicht einem wandelnden Knochengerippe mit einem Totenkopf darüber, über den man sich entsetzen konnte, wenn man ihn unerwartet zu Gesicht bekam, heißt es an anderer Stelle. Der Anblick dieses Kopfes wirkte wahrhaftig auch auf meine Nase: ich glaubte die Dünste der Verwesung, den Odeur von Schwefelwasserstoff und Ammoniak zu riechen. Es konnte einem dabei der Appetit zum Essen und Trinken vollständig abhanden kommen.(32) Der Gefährte trägt hier Totenantlitz, und wenn wir im Laufe


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der Erzählung auch darüber informiert werden, wie es zu diesem äußeren Zerfall der Person kommen konnte (Old Death ist Opiumesser), so ist die Bedeutung dieser Figur damit keineswegs hinreichend ausgemessen. Kurz vor seinem Tode bekennt Old Death seine Sünden, Leichtsinn und Spielsucht haben ihn zu schweren Veruntreuungen verführt, so daß er die Familie seines Bruders in Leid und Unglück brachte. Eingeleitet hatte er das Gespräch mit der Frage an den Erzähler: »Habt Ihr einmal ein Verbrechen begangen?«,(33) was von dem derart peinlich Befragten mit ein paar Scherzen verneint, also wahrheitswidrig beantwortet wird, wenn wir nämlich von der sonst suggerierten Identität von Erzähler-Ich und Autor-Ich ausgehen.

Der psychologische Mechanismus, der hier tätig wurde, indem er die negativen Persönlichkeitsmerkmale auf eine andere, schließlich durch Reue und Buße und den bevorstehenden Opfertod gerechtfertigte Person abspaltete, bedarf keiner weiteren Erklärung. Für mich ist er nur wichtig zur Einführung einer weiteren Bedeutungsschicht dieser stehenden Figur in Mays Werk. In Old Death begegnet sich der Erzähler selbst im Zustande des Verfalls und der Zerstörung. Der andere, Fremde, ist hier eigentlich der Heimlichste und Vertrauteste im Zustande des Todes: er ist die Reflexionsfigur der Zukunft und macht uns damit nicht allein abermals auf Ambivalenz als ihr Motiv, sondern zugleich auch auf einen anderen Entstehungsgrund aufmerksam, von dem das gesamte figuren- und gestaltenreiche Spiel der Spiegelungen zuletzt ausgeht. Indem ich mich nämlich selbst reflektiere, trete ich aus mir heraus und mir gegenüber, in der Selbstverdopplung spiegele ich mich, es entsteht eine reflektierende und eine reflektierte Seite, die durch die Bewegung der Reflexion miteinander verbunden sind und sich in den vielen verschiedenen Formen der Selbstbezüglichkeit, die ich im Laufe meines Gedankengangs vorgestellt habe, ausdrückt, also in den Äquivalenzen und Wiederholungen, den Entsprechungen und Übereinstimmungen, den positiven und negativen Verdopplungen, den Analogien, Antinomien und Kontrasten, die das durchgängige Baugesetz von Karl Mays Prosa darstellen, die ja ganz ausdrücklich die Absicht hat, das Ich des Autors zu reflektieren.

Die aus der Gestalt der Selbstreflexion herauswachsende und sie zugleich als ihr eigenes Medium benutzende Literatur ist erst eine ziemlich junge Errungenschaft unserer Geschichte und hängt mit der romantischen Auffassung und Konzeption des modernen Subjekts als in sich widersprüchliche, ständig von Selbstauflösung bedrohte Einheit zusammen. Es verwundert daher nicht, daß Schlegel und Novalis die Struktur des Sich-selbst-Darstellens erstmals detailliert als Struktur des


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literarischen Kunstwerks analysiert haben, so daß etwa Friedrich Schlegel vom »Shakespeareschen Reim« spricht,(34) wenn er die Parallelfiguren in Shakespeares Dramen untersucht und von Cervantes' Roman sagt, in ihm »reimen sich auch die Gedanken, und das ist das Wesentlichste«,(35) wenn er schließlich gar Goethes >Wilhelm Meister< als Modellfall paralleler Konstruktionskunst auszeichnet.(36)

Man kann schon aus diesen allgemeinen Thesen heraushören, für wie umfassend Schlegel seine Theorie gehalten hat, und Karl Mays Werk ist für mich, unbeschadet aller Rangfragen, eine weitere Bestätigung. Der Parallelismus, die symmetrische Organisation der Texte, bezeichnet seine Grundstruktur, der gegenüber andere Strukturelemente nur von untergeordneter Bedeutung erscheinen, denn sie ist keine ästhetische Zutat, sondern in der selbstreflexiven Form des modernen Bewußtseins verankert. May hat sich der Formen des Parallelismus gewiß nur zu einem geringeren Teil aus Kunstverstand und historischer Erkenntnis bedient, sie entsprachen der fast zwanghaft autoreflexiven Weise seiner Selbsterfahrung, wie wir alle sie auch im Traum erleben und in manchen Formen kultureller Betätigung wiedererkennen. Einem Kritiker solcher Verdopplungsstrukturen hielt Herder die entwaffnende Frage entgegen: »Haben Sie noch nie einen Tanz gesehen? und nichts vom Chorgesänge der Griechen, der Strophe und Antistrophe gehört?«(37)

Aber zurück zum Hauptpunkt. Streifen wenigstens möchte ich noch einige Folgen, die diese Überlegungen des weiteren für die Einschätzung und Interpretation von Mays Werk haben. Denn das von ihm mit traumhafter Sicherheit in Szene gesetzte Spiel fließender, austauschbarer Identitäten sprengt auch die Vorstellung von einem starren Schema homogener Zeit und einheitlicher Handlung auf. Ich weiß wohl, daß ich mich auch mit dieser These in den Gegensatz zu den meisten Deutungen setze, die gerade das lineare Fortschreiten von Zeit und Handlung betonen, die konsequente Entwicklung von einem Rätsel bis zu seiner Lösung, den Fortschritt des Reiseabenteuers von einem Punkt A bis zu einem Punkt B. Auch in Gegensatz zu des Autors eigener Meinung, der seine Handlung nach dem Prinzip >Aus der Tiefe zur Höhe< konstruiert haben will und in seiner Autobiographie behauptete: Meine »Reiseerzählungen« haben ... bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der Prairie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen.(38)

Und stimmt es nicht wirklich, sind nicht tatsächlich die meisten Geschichten nach diesem Schema erzählt? Von der Sahara bis hinauf auf die Balkanhöhen, von Montevideo am La Plata durch den Gran Chaco


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bis hinauf in die Kordilleren oder von Weston im Missouri-Gebiet auf die Höhen des Felsengebirges von Wyoming? Ich bezweifle nicht, daß May selber diesen Erzählplan gefaßt und ihn immer wieder zu verwirklichen gesucht hat; noch seine späte Stilisierung: Denn Berge müssen wir haben, Ideale, hochgelegene Haltepunkte und Ziele,(39) verrät nicht nur, wie ich einmal zu zeigen versucht habe,(40) den Geist einer sich selber als Hoch-Zeit spiegelnden Epoche, sondern natürlich auch die individuellen Aufstiegswünsche des Autors. Doch May erwies sich als viel zu feiner Seismograph, um derart ungebrochen sein Sehnsuchtsbild ins Werk zu setzen. Wie die Aufspaltung des Subjekts in eine Gestaltenreihe, so löst sich ihm auch das lineare Handlungsschema in ein Netz von Episoden auf, die durch Korrespondenzen und Ähnlichkeiten, Wiederholung und negative Verdopplung miteinander verbunden und virtuell unendlich fortsetzbar sind. In der Kennzeichnung der Orientromane als eines Zyklus ­ ich weiß nicht, wer die Bezeichnung als erster verwendete ­ mag eine Ahnung von der eigentlichen Struktur dieser Werke stecken, die kein kontinuierliches Fortschreiten oder Fortreiten simulieren, sondern ein Multiversum in Zeit und Raum ausschreiten. Wir brauchen uns nur die Vielfalt der Teilhandlungen vor Augen zu halten, die sich zwar zu eigenen Einheiten verselbständigen, aber durch Wiederholung, Variation und Antithese zusammengefügt sind. Einige durchaus nicht systematischer Lektüre entsprungene flüchtige Hinweise müssen hier genügen: Dem Diebstahl der Maflei-Juwelen durch Abrahim-Mamur im dritten Band entspricht im vierten das Verbrechen, dessen Opfer der Wirt Ibarek wird, und auch in seinem Falle ist es Geschmeide, das ihm gestohlen wurde. Die Saban-Handlung wird in der Mübarek-Handlung auf einer anderen Ebene, doch mit denselben Motiven (etwa der Bettlerhütte als Falle) verdoppelt, und die Reihe parallel konstruierter Gerichtsszenen brauche ich nur anzusprechen, um das hier zur Diskussion stehende Verfahren anschaulich zu machen. Die Struktur ist stets die gleiche, Personal und Verhandlungsgegenstand oder der Ausgang des Verfahrens wechseln, doch ob Kara Ben Nemsi nun den wahrhaft Schuldigen überführt (und dabei manchmal den Richter als dessen Komplizen namhaft macht) oder sich durch einen waghalsigen Reitersprung jeder weiteren Verhandlung zunächst entzieht, um dann erst mit den nötigen Beweisen zurückzukehren, so sind das nur unwesentliche Veränderungen, die die Parallelkonstruktion natürlich überhaupt nicht zu verunklären vermögen. Der Autor macht sogar dieses Verfahren der Reduplikation selber zum Thema und Anlaß seines Erzählens, wenn er als Beweggrund der Orientreise, zu der er mit Halef im >Reiche des silbernen Löwen< aufbricht, die


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Erinnerungen an die ehemals beim Birs Nimrud ausgestandenen Abenteuer nennt und prompt mit seinem Begleiter abermals in die Pestwolke einer Todeskarawane gerät, sich in den unterirdischen Gängen der riesigen Ruine verfängt, diesmal aber nicht nur räuberisch versteckte Juwelen dort entdeckt, sondern einen ganzen Schmugglerschatz an Pretiosen der unterschiedlichsten Art. Der Turm von Babylon übrigens ist selber ein Spiegel-Phänomen, nämlich das besonders herausragende Exemplar vergleichbarer Bauwerke von dem Genueser Turm in Galata, der dem verräterischen Griechen Kolettis und Abrahim-Mamur zum Verhängnis wird, über den Karaul, in dem der Schut seine Gefangenen hält, bis zum Kulluk, dem Gefängnis Marah Durimehs.

Aber ich breche hier ab, die Fülle der Verweisungs- und Spiegelreihen, der Wiederholungen und Parallelen ist so groß, daß man in kurzer Zeit nur Stichworte bringen kann. Denn die Parallelkonstruktion findet sich auf der Handlungsebene wie bei der Raumkonstruktion, sie konstituiert die Figuren und erscheint noch in den nebensächlichsten Requisiten. Eine Analyse der Werke unter dem Gesichtspunkt dieser universalen Grundstruktur des Parallelismus halte ich für eines der dringendsten Desiderate der Karl-May-Forschung.

Doch kann schon nach den wenigen Zeugnissen, die ich angeführt habe, wohl kein Zweifel mehr bestehen, daß auf solche Weise keine chronologisch fortlaufende Geschichte im Sinne der alten Romanpoetik entstehen kann, deren Maßstab etwa Hegel darin gesehen hat, daß das Kunstwerk »als die eine eigene Schöpfung eines Geistes erscheint, der nichts von außen her aufliest und zusammenflickt, sondern das Ganze im strengen Zusammenhange aus einem Guß in einem Tone sich durch sich selber produzieren läßt, wie die Sache sich in sich selbst zusammengeeint hat.«(41) Zu solchen Forderungen steht Mays Werk ganz disparat, weil für ihn die Sache selbst, seine Erfahrung und die Geschichte, aus der sie folgt, in Teile zerfallen ist und die Teile wieder in Teile; auch die einfache homogene Zeit hat sich in ein Zusammenspiel mehrerer inhomogener Zeitebenen oder Zeitfelder aufgelöst, die wie Bausteine gehandhabt werden. Wenn der Erzähler, angeblich nach vielen Jahren, seinen polnischen Gastwirt und den dicken Diener Kepek ein zweites Mal in Bagdad aufsucht, hat sich nichts verändert. Die gleiche Szene wie bei der ersten Ankunft spielt sich abermals ab, Kepek hat nämlich alles Geld in Tabak und Kaffee für sich selber angelegt und seinem Herrn nichts mehr übriggelassen, so daß die Gäste einspringen müssen, Halef einkaufen geht und die Küche versorgt. Verdopplungen dieser Art, Entsprechungen und Parallelen wie die hier an-


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geführten, die ja nur wenige Beispiele für das durchgehende Prinzip von Mays Textorganisation abgeben, verwandeln die Geschehenszeit in einen Geschehensraum. Gleich einem Katalog und ohne Differenzierung nach der üblichen Chronologie führt May in seinen Romanen Episoden, Figuren und Requisiten zusammen, so daß jedes Bild, jede Vorstellung auf die nächste Fiktion deutet und sie sich zu einem Netz paralleler oder sich symmetrisch kreuzender Reihen zusammenschließen. Die ständig herrschende Erzählgegenwart, durch Mays Haupt-Stilmittel, den Dialog, besonders offensichtlich gemacht, führt die ungleichzeitigen Geschehnisse in einem Raum zusammen, der nicht etwa einen durch Vorher und Nachher gekennzeichneten Durchgangsmoment meint, sondern wirklich einen Zeit-Raum, in dessen Kreis das Nacheinander zum Nebeneinander wird. Aspekte dieser räumlichen Kompositionsweise sind auch durchaus bisher nicht unbemerkt geblieben, doch schwankte ihre Bewertung sehr, weil sie immer noch von den Prinzipien einer kohärenten und konsequenten Handlungsführung her beurteilt wurden. Doch eben davon muß man sich wohl bei einer angemessenen Beschreibung der Handlungs- und Textorganisation in Mays Romanen frei machen. Denn auch die Unterschiede sonst parallel konstruierter Szenen (wie etwa der im >Geist des Llano estakado< von Helmut Schmiedt untersuchten Parallelhandlungen auf Helmers Home und im Singenden Tal)(42) begründen noch keine Entwicklung. Der Parallelismus schließt Invarianz und gleichzeitige Variation ein,(43) weshalb Schlegel ihn als Synonym für den Reim behandelte; und Wiederholung oder Übereinstimmung und Verdopplung sind ja nur bestimmte Sonderfälle paralleler Konstruktion, die durch die symmetrische Wiederkehr des Ähnlichen ergänzt werden. Sie alle sind zwar Mittel zur literarischen Realisierung einer Struktur des Sich-selbst-Darstellens, doch deuten sie auf ganz verschiedene Stadien im Prozeß der Selbstreflexion. Wiederholung und Verdopplung werden nur dann die angemessenen Strukturbilder sein, wenn in der Reihe der Spiegelungen nichts Neues geschieht, doch überschreitet May die leere Unendlichkeit ständiger Selbstdarstellung. Denn wenn Reflexion ihrer produktiven Form nach eine Bewegung des Aus-sich-Herausgehens und In-sich-Zurückkehrens beschreibt, so entsteht eine Differenz durch Erfahrungszuwachs.

Gewiß, in der Großstruktur bildet nicht jeder einzelne Roman diese Bewegung vollständig ab, nimmt man sie aber als Serie, wie sie geschrieben und von ihrem Autor als zusammengehörig verstanden wurden, so können wir die ästhetische Verwandlung der selbstreflexiven Form des Bewußtseins in ein pulsierendes Geschehen und Spiel sich


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potenzierender Spiegelungen verfolgen: in seiner Rhythmik positiver und negativer Symmetrien genießen wir das durchaus nicht unriskante eigentliche Abenteuer hinter allen Masken und Kulissen: das Abenteuer der Selbstverdopplung und -vervielfältigung, das uns auch eine wenigstens ästhetische Teilnahme an Narrenfreiheit und Nomadentum ermöglicht.



1 Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl May's. Frankfurt a.M. 1985 (Reprint), S. 83

2 Vgl. u. a. Heinz Stolte: Der Fiedler auf dem Dach. Gehalt und Gestalt des Romans >»Weihnacht!«<. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1986. Husum 1986, S. 9-32 - Ders.: Abschiede - ein Thema mit Variationen. In: Jb-KMG 1980. Hamburg 1980, S. 35-62.

3 Harald Fricke: Wie trivial sind Wiederholungen? Probleme der Gattungszuordnung von Karl Mays Reiseerzählungen. In: Erzählgattungen der Trivialliteratur. Hrsg. von Zdenko Skreb und Uwe Baur. Innsbruck 1984, S. 125-148 (141)

4 Vgl. Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt a.M. 1973, S. 154-158.

5 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Erster Band: Sudelbücher. München 1968, S. 585 (F 879)

6 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou der Rote Gentleman I. Freiburg 1893, S. 9

7 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. IX: Winnetou der Rote Gentleman III. Freiburg 1893, S. 357

8 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894, S.4f.

9 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XII: Am Rio de la Plata. Freiburg 1894, S. 4 - Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 7: Am Rio de la Plata. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 11 (künftige Zitierweise: HKA: Abt./Bd. Titel Ort, Seite)

10 Götz Großklaus: Reise in die fremde Natur. Zur Fremdwahrnehmung im Kontext der bürgerlichen Aufstiegsgeschichte. In: Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur. Hrsg. von Götz Großklaus und Ernst Oldenmeyer. Karlsruhe 1983, S. 265-75 (274)

11 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VI: Der Schut. Freiburg 1892, S. 343f.

12 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIV: »Weihnacht!«. Freiburg 1897, S. 540 ­ HKA: IV.21: »Weihnacht!«. Nördlingen 1987, S. 455

13 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXII: Ardistan und Dschinnistan II. Freiburg 1909, S. 539f.

14 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o.J. (1910), S. 137; Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul

15 Ebd., S. 138

16 Walter Benjamin: Der Ursprung des Trauerspiels. In: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1974, S. 350

17 May: Leben und Streben, wie Anm. 14, S. 139

18 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1966, S. 275

19 May: Am Rio de la Plata, wie Anm. 9, S. 5 (HKA: S. 12)

20 Ebd., S. 23 (HKA: S. 28)

21 Vgl. Walther Ilmer: Karl May auf halbem Wege. Mannigfaches zur hochbrisanten »hochinteressanten« Erzählung >EI Sendador<. In: Jb-KMG 1979. Hamburg 1979, S. 213-261.

22 May: Am Rio de la Plata wie Anm. 9, S. 404 (HKA: S. 345)

23 Ebd., S. 249 (HKA: S. 2i5)

24 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIII: In den Cordilleren. Freiburg 1894, S. 522 - HKA: IV.8: In den Cordilleren. Nördlingen 1988, S. 439


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25 Fricke, wie Anm. 3, S. 137

26 May: In den Cordilleren, wie Anm. 24, S. 199f. (HKA: S. 173)

27 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VIII: Winnetou der Rote Gentleman II. Freiburg 1893, S. 18f.

28 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892, S. 563 - HKA: IV.1: Durch die Wüste. Nördlingen 1988, S. 483

29 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. II: Durchs wilde Kurdistan. Freiburg 1892, S. 207 ­ HKA: IV.2: Durchs wilde Kurdistan. Nördlingen 1988, S. 184

30 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXV: Am Jenseits. Freiburg 1899, S.77

31 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVIII: Im Reiche des silbernen Löwen III. Freiburg 1902, S. 275

32 May: Winnetou II, wie Anm. 27, S. 19

33 Ebd., S. 374

34 Friedrich Schlegel: Lyceums-Fragmente. In: Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hrsg. und eingeleitet von Hans Eichner. München u. a. 1967, S.163 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung. Zweiter Band)

35 Friedrich Schlegel: Literarische Notizen 1797-1801. Literary Notebooks. Hrsg., eingeleitet und kommentiert von Hans Eichner. Frankfurt a.M.-Berlin-Wien 1980, S. 165 (Notiz 1589)

36 Vgl. Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister. In: Schlegel: Charakteristiken, wie Anm. 34, S. 126-146. Zum Problem des Parallelismus in der Poetik der Romantik hat Winfried Mennighausen eine gründliche Studie vorgelegt, der einige dieser Ausführungen verpflichtet sind. Siehe: Winfried Mennighausen: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a.M. 1987.

37 Johann Gottfried Herder: Vom Geist der Ebräischen Poesie. In: Herders Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. 11. Band. Berlin 1879, S. 235

38 May: Leben und Streben, wie Anm. 14, S. 209

39 Ebd., S. 227

40 Vgl. Gert Ueding: Der Traum des Gefangenen. Geschichte und Geschichten im Werk Karl Mays. In: Jb-KMG 1978. Hamburg 1978, S. 60-86.

41 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Mit einer Einführung von Georg Lukacs. Band 1. Frankfurt a.M. 1955, S. 289f.

42 Vgl. Helmut Schmiedt: Helmers Home und zurück. Das Spiel mit Räumen in Karl Mays Erzählung >Der Geist des Llano estakado<. In: Jb-KMG 1982. Husum 1982, S. 60-76.

43 Vgl. dazu und zu den folgenden Überlegungen Mennighausen, wie Anm. 36, S. 22f.


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