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BERND STEINBRINK

Literaturbericht II



Das Jahr 1987 mit dem 75. Todestag Mays war sicherlich eines der ergiebigsten für die Karl-May-Forschung. Es erschienen einige Werke, die in vorzüglicher Weise zusammenfaßten und erschlossen, was zuvor verstreut und trotz zahlreicher Bibliographien selbst für Insider wenig überschaubar war. In die Reihe jener Schriften, die den Forschungsstand größerer Themenbereiche zu dokumentieren suchen, gehört sicherlich auch der 1989 erschienene Suhrkamp-Materialienband zum edelsten aller Wilden der deutschen Literaturgeschichte, zu Winnetou.(1) Die Faszination, die von jener Mayschen Traumfigur ausgeht, ist wohl einzigartig.

In ihrer Einleitung zu dem mit mehr als 500 Seiten recht umfangreichen Band erläutern Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer ihre Intentionen als Herausgeber des Buches: »Der vorliegende Materialienband über Karl Mays >Winnetou< unternimmt es erstmals in der langen Rezeptionsgeschichte, die unterschiedlichen methodischen und interpretatorischen Ansätze zusammenfassend zu dokumentieren; sie reichen von ethnographischen, historischen, geistesgeschichtlichen, soziologischen Studien über biographisch-psychologische, formal-ästhetische, literaturdidaktische Analysen bis zu Untersuchungen der Popularisierung durch Bühne und Film. Neben repräsentativen Arbeiten der älteren und jüngeren May-Forschung stehen innovative Neubeiträge, die den weiteren Diskurs beleben werden.« (S. 17) Die Beiträge sind jeweils zu Themenbereichen zusammengefaßt.

Zunächst geht Werner Poppe den möglichen Quellen für den Namen Winnetou nach. Er widerspricht der gerne gebrauchten Erklärung, es handele sich um eine lautliche Ableitung des Digger-Wortes >vintu<, das >der Indianer< bedeute und für Winnetou als den Indianer schlechthin stehe. Poppes Argumentation ist sehr plausibel; er sieht George Catlins Blackfeet-Häuptling >Wun-nes-tou< als Namensvorbild des Mayschen Helden an. »Nahm May bei flüchtiger Lektüre an, Catlin sei ein eingewanderter Franzose, und sprach er deswegen den Namen >Wun-nes-tou< französisch aus, so ergab sich für ihn die Aussprache >Wün-nä-tu<, die er klanglich schöner zu >Winnetou< umwandeln konnte.« (S. 38)


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Mit dem Aufbau und der Form des Winnetou-Romans befaßt sich der nächste Abschnitt des Buches. Joseph Höck hatte sich in den zwanziger Jahren bereits mit der Tektonik der Winnetou-Bände befaßt. Die Herausgeber verstehen die Aufnahme der zwei frühen Forschungstexte Höcks ­ trotz konzedierter unübersehbarer Mängel ­ nicht bloß als Würdigung einer Pionierleistung, sie billigen ihnen auch »noch heute, bei wesentlich gewachsenem Erkenntnisstand, eine grundsätzliche Relevanz« zu. (S. 18) Sodann wird ein Auszug zu diesem Themenbereich aus Heinz Stoltes verdienstvoller Dissertation >Der Volksschriftsteller Karl May< (1936,21979) präsentiert. Es ist nicht zuletzt die behauptete formale Unzulänglichkeit, die Karl Mays Werk in den Augen vieler Germanisten der älteren Generation herabsetzte. Im Gegensatz dazu benutzt Helmut Schmiedt, der sich sehr eingehend mit dem Aufbau der Mayschen Schriften befaßt hat, als Titel seines Beitrags die Blochschen Worte »Einer der besten deutschen Erzähler...«, fügt aber zunächst einmal ein Fragezeichen hinzu. Schmiedt beklagt, daß gerade bei der Erforschung der Form der Mayschen Werke noch ein erhebliches Defizit bestehe, »obwohl doch nicht zuletzt bei diesem Thema über die ästhetische und künstlerische Qualität literarischer Werke entschieden wird.« (S. 83) Exemplarisch untersucht Schmiedt die Wiederholungsstruktur im Winnetou-Roman, die exzessive Wiederholung der Motive, die oft genug Anlaß zur formalen Abqualifizierung gab. Seine exemplarische Feststellung über die Greenhorn-Passage in diesem Roman, daß »Wiederholungen im mikrostrukturellen Rahmen einen über die additive Reihung des Immergleichen weit hinausgreifenden Sinn haben« (S. 100), läßt auch in diesem Punkt erkennen, »daß der Schriftsteller Karl May auch unter formalem Aspekt sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen braucht.« (S. 100)

Die beiden nächsten Themenbereiche des Materialienbandes befassen sich mit dem in der Winnetou-Figur verkörperten literarischen Topos des edlen Wilden. Zunächst erarbeitet Eckehard Kochs Beitrag den historischen Hintergrund der Winnetou-Gestalt; der kenntnisreiche Aufsatz gerät dabei oft beinahe zu einer Art Adelskalender der indianischen Häuptlinge. Manfred Durzaks Aufsatz >Winnetou und Tecumseh. Literarische Ikone und historisches Bild< geht sehr ausführlich auf die Indianerbilder bei Cooper und Sealsfield ein. Weitere Beiträge (Kandolf, Müller, Hohendahl) verfolgen Winnetous Weg vom Barbaren zum Edelmenschen - zum Menschheitsideal des >Winnetou IV< schließlich, des Werkes, das im anschließenden Abschnitt durch die Aufsätze von Christoph F. Lorenz und Ulrich Schmid behandelt wird.


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Daß in Mays Werken die Tradition der Aufklärung fortgesetzt werde, ist bereits mehrfach in der Forschung behauptet worden. Es gab allerdings auch Gegenstimmen, die in May einen korrumpierten Bürger sahen, der den Idealen der Aufklärung abgeschworen habe. Dabei wurde dann auch auf die Selbstanklage Klekih-petras verwiesen. Klekih-petra, der gescheiterte deutsche Revolutionär und Lehrer Winnetous, bekennt reumütig über seinen Irrweg in der Alten Welt: »In mir hatten die Ideen der Aufklärung Wurzel geschlagen. Meine Göttin hieß Vernunft.« Aber dies bekennt er erst seit 1948, ein unbekannter Bearbeiter legte ihm dieses Credo in den Mund. Tatsächlich aber, so weist Claus Roxin in seinem Beitrag schlüssig nach, kann Mays >Winnetou< »auch vor dem Forum der Ideologiekritik in Ehren bestehen besser als mancher vermeintlich klügere Bearbeiter und mancher kritische Verächter.« (S. 300) Martin Lowsky spürt ebenfalls das Erbe der Aufklärung auf und entdeckt bei Mays Helden Persönlichkeitsmerkmale, die er auch in Voltaires Erzählung >Zadig< findet. Sicherlich seien in den Erzählungen auch romantische Züge enthalten, resümierend stellt Lowsky aber die These auf, Mays Erzählen sei »das philosophische Erzählen Voltaires in seiner trivialen Variante« (S. 321) ­ was wohl mit der These weitgehend übereinstimmt, in Mays Werk habe die Popularphilosophie der Aufklärung Eingang gefunden.

Psychologische Annäherungen stellen die Beiträge des nächsten Abschnitts dar. Es beginnt mit Altmeister Arno Schmidt; ein Auszug aus seinem Sitara-Buch wird präsentiert. Dieter Ohlmeier konstatiert in seinen anschließenden >Psychoanalytischen Bemerkungen über kollektive Phantasietätigkeit< (eine überarbeitete Fassung eines 1976 gehaltenen Vortrages), daß Adoleszenzkonflikte gerade in den Mythen und Märchen der Deutschen eine besondere Rolle spielen und daß auch die breite Rezeption des deutschen >Volksschriftstellers< Karl May auf die Lebendigkeit dieser Konflikte hindeutet ­ eine These, die sich recht gut mit der Initiationsthematik in den Werken verbinden läßt. Wolfram Ellwanger und Bernhard Kosciuszko führen in ihrem gemeinsamen Beitrag aus, daß die Winnetou-Figur »für Karl May mehr oder weniger unbewußt vom Seelenbild seiner Mutter geprägt ist.« (S.366) Das Winnetou-Bild entwickele sich, so ihre These, »im Verlauf von Karl Mays Reiseerzählungen vom >rohen Wilden< in zunehmender Verfeinerung und Differenzierung zur mythischen männlich-mütterlichen Heldengestalt.« (S. 375). Jenen weiblichen Zug in Mays Winnetou konstatiert auch Walther Ilmer in seinen Ausführungen zum >Befremdlichen Winnetou<, allerdings sieht er darin eher ein Abbild bzw. Idealbild der Emma Pollmer; Mays Verhältnis zu seiner ersten Ehefrau


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spiegele sich auch im Verhältnis Shatterhands zu seinem Freund Winnetou.

Pädagogische und didaktische Aspekte untersucht sodann Joachim Biermann beim >roten Schulmeister< und bekennt sich zum »Vorbild an humaner Gesinnung, das Winnetou gibt«. (S. 417)

Mit dem Winnetou auf der Bühne und im Film setzen sich anschließend die Aufsätze Hansotto Hatzigs, Peter Krauskopfs und Michael Petzels auseinander. Alle drei Beiträge gehen auch besonders auf Pierre Brice ein, der nach seinen erfolgreichen Filmen mit der Figur des Winnetou etwa in gleicher Weise verschmolz wie Johnny Weissmüller mit Tarzan. Hatzig beschäftigt sich mit der Interpretation der Winnetou-Figur durch die Schauspieler Hans Otto, Will Quadflieg und Pierre Brice; Krauskopfs interessanter Überblick läßt Winnetous Bühnenkarriere bereits 1919 im Deutschen Theater München beginnen und verfolgt sie bis zu Pierre Brice am Bad Segeberger Kalkberg. Petzel führt sodann die interessante These Christopher Fraylings aus, daß die Karl-May-Filme in der Bundesrepublik mit dem tradierten Western-Mythos à la Hollywood brachen und mit ihrem kommerziellen Erfolg den »fruchtbaren Urgrund« (S.450) für Corbuccis und Leones Italowestern bildeten.

Im anschließenden Teil steuert Regina Hartmann einen Beitrag zum Thema >Winnetou in der DDR< bei. Eine Bibliographie zur Winnetou-Thematik verzeichnet abschließend alle Winnetou-Erzählungen sowie Sekundärliteratur, die sich mit der Winnetou-Figur bzw. mit den Winnetou-Romanen befaßt.

Insgesamt dokumentiert der Winnetou-Materialienband mit seinen unterschiedlichen Interpretationsansätzen wiederum das vielfältige Interesse am Werk Mays und eben gerade an jener einzigartigen Figur, die das Indianerbild vieler Deutscher nachhaltig prägte. Sicherlich hat May in der literaturgeschichtlichen Forschung längst einen wichtigen Platz eingenommen; das zeigt sich am stetig zunehmenden Interesse der etablierten Germanistik an diesem Schriftsteller, das auch dieser Materialienband dokumentiert. Zugleich ­ die Kehrseite der Medaille - vermittelt der eine oder andere Beitrag aber auch schon die Langeweile, mit der diese etablierte Wissenschaft betrieben werden kann.

Wie es um das Verhältnis der Literaturwissenschaft zu Karl May bestellt ist, beleuchtet Helmut Schmiedt in einem Aufsatz >Karl May und die Literaturwissenschaft ­ Zur aktuellen Lage der Forschung<. Es handelt sich dabei um eine interessante Bestandsaufnahme, die in dem Band >75 Jahre Verlagsarbeit für Karl May und sein Werk 1913 - 1988< abgedruckt ist.(2) »Karl May«, so Schmiedt, »ist keineswegs zu einem


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herausragenden Lieblingskind der Germanistik geworden (...) Aber May ist eben auch kein ganz und gar vernachlässigter Schriftsteller mehr; er scheint sich vielmehr als vorerst beständiges Untersuchungsobjekt des Faches Neuere deutsche Literaturwissenschaft etabliert zu haben, und das ist sehr viel mehr, als man vor noch nicht allzu langer Zeit erwarten konnte.« (S. 150)

Zu Schmiedts Aufsatz sei aber auf eine Richtigstellung in unserem Jahrbuch 1989 verwiesen: Zwei Hinweise auf die historisch-kritische May-Edition wurden vom Herausgeber der Festschrift ohne Rücksprache mit dem Autor gestrichen, ebenso eine kritische Bemerkung zur Bearbeitungspraxis des Verlags.

Dies ist sicherlich um so bedauerlicher, als gerade andererseits mit Roland Schmids Reprint der >Freiburger Erstausgaben< im Bamberger Verlag ein Beitrag zur Karl-May-Forschung geleistet wurde, den Claus Roxin in einem Aufsatz des Bandes mit Recht als »einen Markstein in der Editionsgeschichte des Karl-May-Verlags« (S. 129) bezeichnet.

Die meisten Aufsätze des Bandes >75 Jahre Karl-May-Verlag< wollen Authentizität ohne die Strenge und den Ernst literaturwissenschaftlicher Forschung vermitteln: etwa Euchar Albrecht Schmids von Liebe und Verehrung getragener Nachruf auf Karl May, der am 3. April 1912 im Deutschen Volksblatt (Nr. 76) erschien, oder Ekke W. Guenthers (ein Enkel des Verlegers Friedrich Ernst Fehsenfeld) Beitrag zum Thema May und Fehsenfeld. Heinz Stolte sieht in Euchar Albrecht Schmid, dem May am Ende seines Lebens begegnete, die ideale Ergänzung zu May. Hier der »hilflose Phantast«, dort der Realist, »die andere Hälfte, die Ergänzung, die nötig ist, um in der Welt zu bestehen.« (S. 26) Euchar Albrecht Schmid erinnert in einem kleinen Beitrag an den Gefängnisschließer von Waldheim, Herrn Wilhelm Müller, der zugegen war, als sich 1874 für May die Gefängnistüren öffneten.

Hans Zesewitz beschreibt die Karl-May-Höhle bei Hohenstein-Ernstthal und belegt seinen Beitrag mit umfangreichem Bildmaterial und übrigens auch mit einer kleinen Karte, die nach Öffnung der DDR-Grenzen vielen Karl-May-Freunden als verläßlicher Führer dienen könnte. Wir sehen im Bild die Mühen dokumentiert, die Schmid 1933 auf sich nahm, um die »damals sehr unzugängliche >Höhle<« (S. 48, Bildteil) zu erforschen, und erblicken den Höhleneingang im Wandel der Jahrzehnte.

Der nächste Teil der Jubiläumsschrift befaßt sich mit den Werken Mays ; mit der >Handlungszeit der May-Erzählungen< (Franz Kandolf); Euchar Albrecht Schmid beschreibt, wie er die >Geographischen Predigten< auffand; mit der Bibliographie der Mayschen Erstausgaben


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setzt sich Roland Schmid auseinander, Heinrich Pleticha und Claus Roxin steuern Beiträge zu den Reprintausgaben bei. Im Aufsatz >Der geschliffene Diamant. Über die Bearbeitung von Karl Mays Werken< (Siegfried Augustin) wird die Bearbeitungsproblematik angesprochen, ein letzter Abschnitt des Buches befaßt sich schließlich mit den Wirkungen Mays bis hin zur Briefmarke zum 75. Todestag und den Karl-May-Gedenkstätten. Sicherlich ist diese Festschrift, wie erwähnt, keine streng wissenschaftliche Publikation. Sie ist für Freunde des sächsischen Dichters bestimmt und gibt einen aufschlußreichen Einblick in die Geschichte des Karl-May-Verlags.



1 Karl Mays >Winnetou<. Studien zu einem Mythos. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Frankfurt a. M. 1989

2 75 Jahre Verlagsarbeit für Karl May und sein Werk 1913-1988. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1988


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