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ULRICH SCHMID

Ein Vortrag zwischen den Fronten
Karl May im Augsburger Schießgrabensaal,
8. Dezember 1909
*

Dem Andenken Roland Schmids
(1930- 1990)

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Es war vor fast genau 80 Jahren, am 8. Dezember 1909, abends achteinviertel Uhr. Da begann in Augsburg, nur wenige Meter von diesem Saal entfernt, eine - mutmaßlich sächselnde ­ Stimme zu reden. Fremdenpolizeilich war die Stimme schnell einzuordnen: sie gehörte dem Schriftsteller Karl Friedrich May, 67 Jahre alt, von eher mittlerer Statur, die Augen blau, Haar und Schnurrbart grau, ansonsten ohne besondere Merkmale; wohnhaft in Radebeul bei Dresden, Kirchstraße 5.

Aber wer war das wirklich, der da redete? Der da gleich anfangs seinen Zuhörern Grüße überbrachte, die wahrscheinlich die meisten heftig befremdeten? Seltsame Grüße, obwohl er doch genau wußte und aussprach, auf was sein Auditorium gespannt war: auf Abenteuerliches, auf packende Schilderungen aus dem Lande der Indianer, der Araber und der Beduinen. Statt aufregender Skalpierungsszenen und hitzeflirrender orientalischer Wüstenphantasien aber brachte er Grüße aus einem hochgelegenen Land der Sternenblumen und von einem Wesen, das den dunklen und blutigen Gründen des Wilden Westens Nordamerikas so fern wie nur irgend denkbar schien: Grüße von der großen, der herrlichen Menschheitsseele.

Das war nicht mehr die Stimme des prahlsüchtig-aufschneiderischen einstigen Ich-Erzählers und Selbstdarstellers; es war stattdessen eine Stimme, die den Wunsch nach phantastischen Abenteuergeschichten mit dem gelassen abwinkenden Satz erledigte, derlei lohne doch wahrhaftig nicht die Reise von Dresden nach Augsburg,(2) und die sich ganz trocken erbot, den Zuhörern als Ersatz ein schlichtes Märchen vorzutragen.

* Vortrag, unter dem Titel >Der alte May beim jungen Brecht. Augsburger Guckkastenbilder(1) aus des Jahrhunderts Anfang< gehalten am 8. Oktober 1989 auf der 10. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Augsburg. Der Redecharakter wurde auch für die Publikation beibehalten.


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Spätestens hier stellt sich uns, ebenso wie den sicher erstaunten Zuhörern damals, die Frage erneut: Wer redet denn da eigentlich, oben auf dem blumengeschmückten Podium? Woher tönt diese Stimme?

Und wir antworten so schlicht wie der da oben: da spricht eine Stimme aus dem Labyrinth!

Mochte auch der Sprecher sich selbst als neuen Theseus sehen, Held und Halbgott zugleich, auf der Spur des gräßlichsten Untiers der Menschheitsgeschichte, auf der Fährte von Krieg und Mord; er selbst war zugleich ein Opfer. Noch während er in Augsburg redete, wurde anderswo ein Netz bereits gewirkt, dessen raffiniert verschlungene Machart ihm in diesem Augsburger Moment des jubelnden Beifalls - zum Glück, dürfen wir sagen ­ noch weitgehend verborgen war.

Er war also zugleich ein Anti-Theseus, ein Anti-Held, mutmaßlich sogar mit einem guten Schuß Don-Quijote-Naturell, über dessen ge- und zerbrechlicher Existenz bereits die letzten, vernichtenden Schläge vorbereitet wurden, die dann die beiden Spätjahre, die er noch zu leben hatte, in düsterster Weise überschatteten und letztlich seine Krankheit zum Tode wurden.

Wir werden ein aus vielerart Fäden gefügtes Knäuel der Ariadne brauchen, um uns in den von vielstimmigem Gewirr und Geschrei widerhallenden Gängen dieses Labyrinths zurechtzufinden und der Stimme nachzugehen, die da brüchig und sächselnd zugleich ihre Zuhörer auf die wahrhaft kosmische Reise zu dem imaginären Stern Sitara locken will, eine Reise in, wie er selbst sagte, »neue Sujet-Welten«(3) und zu noch unentdeckten seelischen Kontinenten.

Entwirren wir also die Fäden unseres Knäuels und fragen wir nach der persönlichen ebenso wie nach der literarischen Existenz dessen, der da gerade auf dem Podium spricht, fragen wir nach den Zeitumständen, die ihn umgeben und begleiten, und fragen wir schließlich nach den vielerlei Gründen, die dazu führten, daß er gerade hier in Augsburg, und heute, am 8. Dezember 1909, abends achteinviertel Uhr, im Schießgrabensaal zu reden anfängt. Und letztlich münden all diese Fragen in die eine, an uns, warum wir eigentlich immer noch, 80 Jahre später, dieser brüchigen Stimme und ihrer höchst angefochtenen Botschaft mit Spannung und nicht ohne Ergriffenheit zuhören.

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Das Labyrinth, aus dem heraus May sprach, war zunächst ein persönliches. Immer wieder taucht in diesen Jahren ein Gedanke auf, den er


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fast auf den Tag genau ein Jahr vor dem Augsburger Vortrag in einem Brief an den Dresdener Geistlichen Paul Rentschka formulierte: Bin Einsiedler geworden; verkehre mit Niemand mehr.(4) Gewiß, nach wie vor kamen die Besucher und Fans in die Villa Shatterhand, nach wie vor gruppierten sie sich in den abenteuerlichsten Verkleidungen, die der große Kostümfundus des angeblichen Weltreisenden bereithielt, zum Erinnerungsfoto. Aber May selbst gesellte sich dem Maskentreiben nur noch mit müdem oder erstorbenem Lächeln bei, buchstäblich ein fremder Körper unter all den eigentlich in Amtsstuben und kleinen Ladengeschäften beheimateten Möchtegern-Cowboys und -Beduinen.(5)

Ein Urgrund aller Angst war es vor allem, der ihn zum seelischen Einsiedler im Labyrinth des Schneckenhauses werden ließ: immer näher und immer bedrohlicher rückte die Gefahr, daß die jahrzehntelang von der Öffentlichkeit vergessenen und von ihrem Urheber weitgehend verdrängten, über dreißig Jahre zurückliegenden und längst gesühnten Straftaten plötzlich im vollen Umfang aufgedeckt werden könnten.

Freilich, den Niederlagen und Katastrophen dieser späten Jahre, wie sie noch nachzuzeichnen sein werden, standen auch Positiva gegenüber: eine Reihe neuer, zum großen Teil junger Anhänger war ihm zugewachsen. Was sie suchten und bewunderten, war mehrheitlich nicht mehr der alte, missionarisch übersteigerte Abenteurer. Sie lasen vielmehr seine neu entstehenden Werke, sie bemühten sich, deren Vieldimensionalität und humanitäre Botschaft zu entziffern, und sie wirkten schließlich als publizistische Propagandisten dieser Absichten und Mittel.

Wir wissen noch wenig über den privaten Umkreis Mays nach 1900. Immer wieder tauchen die überraschendsten Korrespondenzfunde auf, und es ist zu hoffen, daß hier in der nächsten Zeit unser Bild dieses persönlichen Umfelds sowohl aus den Archivbeständen des Karl-May-Verlags wie auch durch private Nachforschungen nach erhaltenen Zeugnissen schärfere Konturen erhält.(6)

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Über den engeren Kreis des Privaten hinaus war er inzwischen aber auch im künstlerischen Bereich isoliert. So hatte sich etwa der in vielem zwar sehr gegensätzlich geartete, aber gerade dadurch anstachelnde und zur Auseinandersetzung nötigende Künstlerfreund Sascha Schnei-


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der aus persönlichen Gründen nach Italien zurückgezogen. Der Kontakt zu ihm war überdies belastet und unterbrochen durch unselige Mißverständnisse von beiden Seiten: Schneiders verbal auftrumpfendes Bemühen, sich als Kraftnatur darzustellen, war auf unglückliche Weise mit Mays Empfindlichkeiten bezüglich seiner Vorstrafen kollidiert, so daß sich die Verbindung, seit Schneider in Italien war, auf gelegentliche kurze Briefgrüße beschränkte.(7)

Auch der Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld war längst ferngerückt. Er hatte die zunächst schroffe Abkehr von der Abenteuererzählung, wie May sie erstmals in >Et in terra pax< seinen Lesern zumutete, nicht mitvollziehen können. Ihm fehlte der Zugang zu den neuen Absichten und Mitteln seines Leg-Huhns, das plötzlich die seltsamsten Ambitionen an den Tag legte, statt die Erfolgsserie mit den grüngoldenen Eiern fortzusetzen.

Auf listenreiche Art hatte May im Fall der >Et in terra pax<-Erzählung den Verleger Hermann Zieger und den Herausgeber Joseph Kürschner genötigt, einen pazifistischen Text zu drucken, der der säbelrasselnd-militaristischen Tendenz ihres Pracht- und Mach-Werks über China und die Niederschlagung des Boxeraufstands diametral entgegengesetzt war.(8)

Schon dieser Fall zeigte, daß er nach 1900 kein bequem zu handhabender Partner mehr war. Sein streckenweise grandios übersteigertes Selbstbewußtsein, sein ständiges Mißtrauen sowie auch sein andererseits berechtigter Stolz auf die nunmehr neu entstehenden Werke waren für Fehsenfeld um so schwerer zu ertragen, als mit diesen Werken Ziele verfolgt wurden, die dem inzwischen in Ehren gealterten Verleger persönlich fern und literarisch unzugänglich blieben. May trug keinerlei Bedenken, ihm seine Ansicht ungeniert brieflich ins Stammbuch zu schreiben: Ich weiß gar wohl, daß Ihre geistige Welt eine ganz andere als die meinige ist, doch muß und wird nur die letztere für mich maßgebend sein.(9)

Und als Fehsenfelds Drucker Felix Krais, ganz sicher in Übereinstimmung mit seinem Hauptauftraggeber, den Autor 1907 in das Gesicht hinein einen Phantasten nannte, konterte dieser mit gelassener Bosheit, die der früheren Herzlichkeit gänzlich entbehrte und die Distanz deutlich zeigt: Schon der neue Contract wird Ihnen zeigen, wie sehr normal und wie wenig phantastisch ich bin. Ich habe ihn erst aufgesetzt, nachdem ich Sie einen ganzen Nachmittag und Abend lang studirte, und er ist den Ergebnissen dieses Studiums vollständig kongruent.(10)

Gipfelpunkt der Entfremdung war die verzweifelte, einseitige Kündigung des beiderseitigen Vertrags durch Fehsenfeld am 31. März, dem


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>Ostersonntag< 1907. May quittierte sie lakonisch: Ihre Kündigung ist hiermit angenommen,(11) ohne sich dadurch hindern zu lassen, schon bald darauf wieder neue Verlagspläne zu erörtern.

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Damit sind wir bereits in den Bereich von Mays literarischer Existenz geraten. Sie stand in diesen Jahren im Zentrum dessen, was Zeitgenossen wie der junge, aus Bamberg stammende Jurist und Literat Lorenz Krapp das »Problem Karl May« nannten.(12)

Auch dieses Problem hat labyrinthische Züge; es ist nicht ein Einzelproblem, sondern ein verschachtelter Problemkomplex, aus dessen weitausgreifenden Verzweigungen in dieser Vormittagsstunde nur die wesentlichsten Linien herausgearbeitet werden können. Dabei soll es höchstens am Rande um die uferlose und in zahllosen Nebenrinnsalen und Sumpfgewässern sich verästelnde Prozeßflut dieser düsteren Spätjahre gehen. Weit mehr interessieren die literarischen Fehden in ihrer unlösbaren Verknüpfung mit dem, was wir >das Spätwerk< Mays zu nennen uns angewöhnt haben. Der Autor wurde zum >Problem< aus mehreren Gründen.

1882-1887 hatte er für den Dresdener Heftromanverlag Münchmeyer fünf buchstäblich vielseitige Kolportageromane geschrieben. Sie erschienen seit 1901 - gegen Mays Willen - unter vollem Verfassernamen, da der Verlag Münchmeyer samt dem Recht zur geschäftlichen Ausbeutung der May-Werke verkauft worden war.

Ihre Publikation wäre - trotz des intensiven Reklame-Rummels, der sie begleitete ­ mutmaßlich weitgehend folgenlos vorübergegangen, wäre May nicht inzwischen zum zugkräftigsten Hausautor der führenden katholischen Familienzeitschrift, des >Deutschen Hausschatz<, der im Regensburger Verlag Pustet erschien, avanciert.

Damit war durch die Neuausgabe der ursprünglich fast durchweg unter Pseudonym erschienenen Schmöker weniger die allgemeine Sittlichkeit als vielmehr die spezielle, offenbar in weit geringerem Maße belastbare Sittlichkeit der deutschen Katholiken gefährdet. Die Begründung der >Augsburger Postzeitung< für das Verdikt über May ist allerdings äußerst aufschlußreich. Sie zeigt nämlich, daß es nur zum Teil, und vielleicht nicht einmal zum größten Teil, um die Moral ging, sondern auch um die Konkurrenz, weshalb der Wortlaut hier ausführlich zitiert sei:


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Ueber Dr. Karl May

ist ein Streit entbrannt, zu welchem die gesammte katholische Presse jetzt, nachdem derselbe entschieden ist, Stellung nehmen muß. Karl May - mag man über seine Reiseromane urtheilen wie man will ­ ist ein Mann von großem Talent; das wollen wir gerne zugeben. Auf den Streit, ob die Reiseromane geeignete Jugendlektüre sind oder nicht, wollen wir uns hier nicht weiter einlassen. Karl May hat einen Ruf als Erzähler, wie selten einer; seine Werke werden von allen Volksklassen rein verschlungen.

Und  n u n  e r s c h e i n e n  mit  s e i n e m  v o l l e n  N a m e n  bei einer Dresdener Firma R o m a n e,  w e l c h e  g e r a d e z u  s c h a n d v o l l s i n d. Dieselben erschienen schon anfangs der 80er Jahre theils anonym, theils pseudonym als C o l p o r t a g e-R o m a n e. Jetzt erscheinen sie in neuer Auflage i l l u s t r i r t unter dem vollen Namen von Dr. Karl May. V o r  d i e s e n  R o m a n e n  m u ß  ö f f e n t l i c h  g e w a r n t w e r d e n. Es sind Abenteuer- und Räuberromane der schlimmsten Sorte. Hier wadet Karl May in dem tiefsten Schlamm und beschmutzt geistliche Personen in gemeinster Weise. (...) Eine gewisse Presse hat versucht, Karl May als »Ultramontanen« den Katholiken an die Rockschöße zu hängen. Das ist ein läppischer Versuch; er hat sich allerdings früher mit der größten Bestimmtheit als Katholik ausgegeben, aber er ist P r o t e s t a n t. Er hat nicht allein für katholische Zeitschriften gearbeitet, sondern auch für Rosegger's »Heimgarten«, für den »Guten Kamerad« (Union, Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart) und für die Volksbibliothek des »Lahrer hinkenden Boten«. Er hat also rechts und links blauen Dunst zu machen verstanden.

In der gleichen Dresdener Verlagsbuchhandlung (Münchmeyer) kommt auch ein katholisches »Erbauungsbuch«, angeblich mit bischöflicher Approbation, neben protestantischen Erbauungsbüchern und neben einer ganzen Colportage-Bibliothek heraus. Dieses katholische »Erbauungsbuch« erscheint in Lieferungen à 50 Pfg. mit schreckbaren Bildern. Dasselbe wird in Altbayern leider sehr viel gekauft; es ist nichts direkt Unkatholisches darin enthalten, aber es ist viel zu theuer; es ist schade um das gute Geld! Es ist höchste Zeit, daß von Seiten des Preßvereins die katholische Colportage organisirt wird, damit dem katholischen Volk sein gutes Geld nicht weiterhin oft für Schund aus der Tasche gelockt wird.(13)

Diese Notiz ist typisch für die Art der Angriffe gegen Mays Kolportageerzeugnisse: die Vorwürfe bleiben recht allgemein und gehen auf die Werke selbst kaum ein, sondern beschränken sich darauf, die Unsittlichkeit pauschal festzustellen.

Ein zweiter Angriffspunkt wird hier ebenfalls deutlich. Waren es bei den Kolportageromanen die Unsittlichkeit oder antiklerikale, meist antijesuitische Passagen, die den geballten Zorn der katholischen Literaturwächter hervorriefen, so war es bei den zuerst im >Deutschen Hausschatz< oder in katholischen Kalendern erschienenen Reiseerzäh-


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lungen etwas anderes, das Anstoß erregte: nun plötzlich gerieten die allzu dick aufgetragene Religiosität und die Missionars- und Predigerpose heftigst in den Verdacht, eher schauspielerische als den Glauben fördernde Darbietungen zu sein, während man sich in den katholischen Kreisen der neunziger Jahre die Marienbegeisterung Winnetous oder die angeblich in Kurdistan beheimatete glühende Papstverehrung gerne gefallen ließ.

Dabei warfen die Reiseerzählungen noch weitere Fragen auf: hatte May all die unglaublichen Abenteuer wirklich selbst erlebt, wie er noch Ende des 19. Jahrhunderts einem nur allzu gern- und leichtgläubigen Publikum weiszumachen suchte?

Lorenz Krapps Aufsatz über >Das Problem Karl May< zeigt, daß bereits 1906 (und damit auch früher) eine annähernd treffende Analyse des Realitätsgehalts möglich war: »Manches hat May zweifellos erlebt, aber das meiste ist poetische Konstruktion.« Auch Krapp unterschätzt allerdings die Welten beschwörende Kraft der poetischen Imagination des Sachsen, wenn er dem »Viel- und Weitgewanderte(n)« die »groß geschaute Erfassung« der ägyptischen Nillandschaft attestiert; im Wortsinn behält er jedoch recht mit der Feststellung, daß der Autor »nicht an der Oberfläche der Landschaft haften blieb, sondern ihren Sinn tief zu erforschen wußte«.(14)

Mays Jugenderzählungen, geschrieben für die Zeitschrift >Der gute Kamerad< und als Bücher im Stuttgarter Union-Verlag veröffentlicht, wurden übrigens bezeichnenderweise in diesen Jahren kaum angefochten - ganz im Gegensatz zur letzten Werkgruppe, die wir nun eingehender zu betrachten haben.

Nach den wenig geglückten, erbaulichen >Himmelsgedanken<, die er als >Reisefrüchte aus dem Orient< von der realen Monumentaltour 1899/1900 mitbrachte, fand May mit der Reiseerzählung >Et in terra pax< einen neuen Ansatz. Literarisch trat nun an die Stelle der Abenteuererzählung ein psychologisch-politisch unterblendeter Realismus, dessen Material die Eindrücke der >Morgenlandfahrt< bildeten; weltanschaulich bezog er eine Völker- und Glaubensgegensätze versöhnende, an seinem sächsischen Landsmann Gotthold Ephraim Lessing orientierte Position. Daß May hier nicht als tumber Tor durch Fettnäpfchen stolperte, sondern in klarem Kalkül dem chauvinistischen Produzentenpaar Zieger/Kürschner ein pazifistisches Kuckucksei ins eisenblitzende Waffennest legte, wurde bereits erwähnt.

Mit Stirnrunzeln bemerkten die Zeitgenossen aber darüber hinaus, mit welcher Selbstverständlichkeit hier das Axiom von der Überlegenheit der weißen Rasse nicht nur angezweifelt, sondern widerlegt


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wurde. So notiert etwa Lorenz Krapp nicht ohne abwehrenden Unterton, in >Und Friede auf Erden!< seien »die Orientalen fast ausnahmslos Engel, die Europäer (z. B. Dilke und die >Zivilisatoren<) [dagegen] fast ausnahmslos Bestien oder heruntergekommene Subjekte«.(15)

Daß auch aus der Absage an den kirchlichen und literarischen Katholizismus nunmehr eine Kampfansage geworden war, zeigte sich spätestens im folgenden Doppelband >Im Reiche des silbernen Löwen<. Vom eifernd-bigotten Stamm der Taki-Kurden allgemein bis zu einzelnen katholischen Widersachern und (in Mays Sicht) Erzbösewichtern wie Hermann Cardauns alias Ghulam el Multasim alias >der Henker< findet sich hier eine breite Palette bissiger Karikaturen, wie sie der ehemalige >Hausschatz<-Autor im jahrelangen Kontakt mit dem offiziösen deutschen Katholizismus unvermeidlich in sich aufgesogen und aufgestaut hatte. Bezeichnend, daß er hier nicht den Glauben an sich kritisiert, sondern weit mehr die blinde Dogmengläubigkeit, den mechanischen Leerlauf äußerer Riten sowie eine erstarrte Vorschriftenhuberei, die völlig absieht vom eigentlichen Sinn der Ge- und Verbote.

Die nun folgende Überarbeitung der >Pax<-Erzählung verschärfte gerade die religionskritischen ebenso wie die gegen die europäische Kolonialpolitik gerichteten Passagen so, daß ihre Zielrichtung keinesfalls mehr mißzuverstehen war. Um zu ermessen, welche politische Position May hier bezog, sei nur daran erinnert, daß in diesem Jahr (1904) in der deutschen Kolonie Südwestafrika der Herero-Aufstand begann, dessen Niederwerfung mit einem riesigen Völkermord, einem Vorspiel faschistischer Brutalität und Unmenschlichkeit, endete: Die deutschen Truppen unter ihrem Befehlshaber Lothar von Trotha, den der Sozialdemokrat August Bebel mit einem »Metzgerknecht« verglich, trieben die aufständischen Hereros mit deren Frauen, Alten und Kindern in die wasserlose Omaheke-Wüste, »um dem Feinde den letzten Rest seiner Widerstandskraft zu rauben; wie ein halb zu Tode gehetztes Wild ward er von Wasserstelle zu Wasserstelle gescheucht, bis er schließlich willenlos ein Opfer der Natur seines eigenen Landes wurde. Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: die Vernichtung des Herero-Volkes. (...) Das Röcheln der Sterbenden und das Wutgeschrei des Wahnsinns, sie verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit.«(16)

Mit seiner scharfen Kritik an den gerade in den letzten Jahren vor 1905 auf dem Höhepunkt befindlichen imperialistischen Gefühlswallungen der deutschen und der europäischen Volksseele setzte sich May in deutlichen Gegensatz zu weiten Kreisen der deutschen Bevölke-


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rung. Dies zeigten Anfang 1907 die sogenannten >Hottentotten-Wahlen<, deren Wahlkampf überwiegend mit kolonialpolitisch-patriotischen Argumenten bestritten wurde mit der Folge, daß die Vertreter einer deutschen >Weltpolitik< ­ gegen das katholische Zentrum und gegen die Sozialdemokratie - als Sieger aus den Wahlen hervorgingen.(17)

Die Neufassung >Und Friede auf Erden!< in der Fehsenfeld-Ausgabe war gleichzeitig mit einer ästhetischen Erneuerung verbunden, die May mit großem Elan dem zögernden Verleger gegenüber durchsetzte: der Band erschien mit einem symbolistischen Titelbild des Malers Sascha Schneider, dem Bild eines über der Erdkugel schwebenden geflügelten Genius oder Engels. Damit war auch äußerlich die Abkehr von den alten Mustern der Abenteuergeschichte deutlich gemacht, wie sie May schon im Brief vom 21. Januar 1904 Fehsenfeld gegenüber angekündigt hatte: ... das, was man bisher von mir gesehen und gelesen hat, das waren weiter nichts als Vorübungen und Studien, abseits von allen Euren litterarischen Gewohnheiten und Dogmen - ­ emporgeworfene Papierschnitzel, um die Luftströmung zu studieren, welche den Aeronauten zu tragen hat - - leichte, anspruchslose Schwalben, welche meiner Hand entflogen sind, weil sie den Frühling des begonnenen Jahrhunderts nahen hörten. Auf ihn, den Frühling, habe ich gewartet, und nun gehe ich mit Freuden an mein Werk. (18)

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Das Werk, um das es - zunächst unter strengster Geheimhaltung - ging, sollte ein Drama werden: Ich beginne damit mein eigentliches Lebenswerk, den »Anschauungsunterricht für neue Psychologie«. Die Reiseerzählungen werden nebenbei weitergehen.(19)

Mit großem Ernst arbeitete er nun daran, ein für uns, für Fehsenfeld wie für die meisten May-Leser seit Jahrzehnten höchst befremdliches Werk zu schaffen, das zweiaktige Drama >Babel und Bibel< mit seinen penibel ausgezählten zweimal eintausend Versen. Am 8. September folgte eine weitere Mitteilung an den Verleger: Ich armes, altes kleines Kind möchte mir gern einmal die Freude gönnen, im Schachspiel gegen mich einen Zug zu thun, den Niemand vorher ahnt.(20)

Der Schachzug wurde allerdings rasch zum Eigentor: Mays Hoffnung, das Stück werde höchst zugkräftig sein und einen Siegeszug über die deutschen Bühnen antreten, blieb trügerisch und scheiterte kläglich, obwohl er doch sogar den Bühnen soweit entgegenkam, die im acht-


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zehnten Auftritt des ersten Aktes von ihm gewünschten Kamele nur dort vorzusehen, wo ein zoologischer Garten es ermöglicht.(21)

Das Stück wurde bisher in der May-Forschung - sieht man von Bernhard Kosciuszkos und Martin Schenkels Interpretationen ab(22) - meist nur als Kuriosität betrachtet; mir scheinen aber mehrere Faktoren darauf hinzuweisen, daß seine Entstehung einen bedeutsamen Knotenpunkt in der Werkentwicklung darstellt.

Zum einen wurden die zeitgeschichtlichen Bezüge des Dramas noch kaum untersucht, da die beiden genannten Arbeiten sich weitgehend auf die religiösen und autobiographischen Implikationen beschränken. Welch brisante Schlagworte der politischen Diskussion des Wilhelminismus May hier aufgreift, zeigt schon die erste Szene mit den Zitaten: Amerika nur für Amerika! und Europa, wahre deine heilgen Güter!(22a) Umschreibt das erste die amerikanische >Monroe-Doktrin< von 1823, Hauptparole des Imperialismus der USA im 19. und frühen 20. Jahrhundert, so gibt das zweite ein damals bereits geflügeltes Wort Wilhelms II. wieder, das in dem >China<-Band mit dem Erstdruck der >Pax<-Erzählung als »Völker Europas, wahrt Eure heiligsten Güter.«(23) erscheint.

Zum anderen ist das Drama meines Erachtens ein Versuch, sich endgültig aus dem Dunstkreis des deutschen Katholizismus und von dem Etikett des >Abenteuerschriftstellers< zu lösen und eine neue schriftstellerische Existenz aufzubauen. Schon mehrfach war es May gelungen, durch neue Verlagskontakte eine höhere Qualitätsstufe seines Werks zu erreichen und sich zugleich von überlebten, leer gewordenen literarischen Formen zu lösen. Dies gilt für den Übergang von den noch recht grob und roh zugehauenen Früherzählungen zu den ersten umfangreicheren >Hausschatz<-Geschichten, es gilt für den Wechsel von der Hintertreppenproduktion für den Verlag Münchmeyer zu der neu entstandenen Jugendzeitschrift >Der Gute Kamerad<, und es gilt schließlich für die Ablösung von dieser Jugendzeitschrift und vom >Deutschen Hausschatz< Mitte bzw. Ende der neunziger Jahre, nachdem endgültig feststand, daß eine weitgehende, exklusive Bindung an den Verlag Fehsenfeld ausreichte, um dem Autor seine Existenz zu sichern.

Nunmehr, mit >Babel und Bibel<, versuchte May erneut den Sprung über den Abgrund, allerdings nicht, ohne ein Sicherheitsnetz aufgespannt zu lassen: einerseits sollte Fehsenfeld den Band verlegen, andererseits hätte ein überwältigender Bühnenerfolg des Stücks tatsächlich neue Dimensionen eröffnet und seinen Verfasser in den Stand gesetzt, entweder zu einem der renommierten literarischen Verlage zu wech-


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seln oder Fehsenfeld noch weit stärker als bisher Bedingungen zu diktieren.

Ein anderer Aspekt ist damit verbunden, den der junge Euchar Albrecht Schmid in seiner Rezension in der >Literarischen Beilage< der >Augsburger Postzeitung< ausdrücklich und treffend hervorhebt: »Das Buch enthält nirgends Theosophismen; noch weniger darf man es frömmelnd nennen; katholische Tendenz fehlt vollständig; überhaupt sind keinerlei religiöse Streitfragen berührt. Vielleicht kann man es treffender als kulturhistorisch bezeichnen (...)«(24)

May selbst formulierte es in der für die Presse bestimmten >Skizze zu Babel und Bibel< noch deutlicher: Nur gegen eines muß ich mich streng verwahren, nämlich gegen die alte, lächerliche Unterschiebung, daß ich religiöse oder gar konfessionelle Absichten verfolge. Ich denke nicht daran und habe nie daran gedacht. M e i n e  Z w e c k e  s i n d  r e i n m e n s c h l i c h e . . . Ich fuße hierbei auf dem Grundsatz, daß man v o r  a l l e n D i n g e n  e i n  g u t e r M e n s c h s e i n  m u ß,  u m  d e n k e n z u  d ü r f e n,  m a n  s e i  e i n  g u t e r C h r i s t!(25)

Ein ebenfalls wesentlicher Gesichtspunkt besteht in der völlig neuen Produktionserfahrung, die die Arbeit am Drama dem Autor vermittelte. Zwar hatte er bereits bei den letzten beiden Bänden des >Silberlöwe<-Romans einzelne Textpassagen intensiv überarbeitet, hatte nicht unbeträchtliche Teile des >Pax<-Romans für die Buchausgabe neu gefaßt, aber mit großer Überraschung stellte er nun fest, daß das Verfassen eines Theaterstücks etwas ganz anderes war als der bisherige Schreibvorgang bei seinen erzählenden Werken. Zwei Briefe an Fehsenfeld stellen auf eindrucksvolle Weise dieses neuartige Erlebnis in den Mittelpunkt. Am 8. Februar 1906 schreibt May, nachdem er erläutert hat, er habe das Drama ursprünglich als Einleitung zu Späterem geplant: Aber der Stoff und die Gestalten wachsen mir zu so riesenhafter, geistiger, dramatischer und aktueller Höhe empor, daß es nicht eine Einleitung, sondern ein »Werk an sich« geworden ist, wie sicher noch kein zweites existiert. Damit will ich nicht etwa loben, sondern nur sagen, daß es in keinem der gegenwärtigen Schrankfächer unterzubringen ist.(26)

Und noch erstaunter über sich selbst ist er am 27. März 1906: Ueber das Manuscript zu >Bibel und Babel< [!]. Ich sage Ihnen, das ist eine wahre Schöpfung, die täglich immer größer wird, und zwar derart, daß ich mich regelmäßig heute dessen schäme, was ich gestern oder vorgestern geschrieben habe. Dieses Stück wäre schon längst heraus und auch aufgeführt worden, aber es wuchs mir aus der Hand; es blieb nicht das, was ich wollte, absolut nicht. Es hatte seinen eigenen Kopf und bekam nach und nach seine eigenen Gedanken. Und diese Gedanken wuchsen so


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groß und so hoch empor, daß sie Macht über mich gewannen und ich sie gewähren lassen mußte, ich mochte wollen oder nicht. Ich habe mir förmlich Mühe geben müssen, sie zu begreifen, und während es da immer klarer und klarer in mir wurde, habe ich unablässig am Manuscript herumgeändert, was doch nie bei mir vorzukommen pflegt. Ich kannte mich schließlich gar nicht mehr. Nun ich aber hiermit zu Ende bin und der Diamant durchsichtig und zum tadellosen Krystall geworden ist, sehe ich ein, daß ich geführt worden bin, von wem und wohin, das ist hier Nebensache, denn an so Etwas glauben Sie doch nicht. Ich habe das Stück vollständig umgearbeitet.(27)

Angesichts dieser Hochstimmung mußte der Mißerfolg dieses eigentlichen Werks die Mitte seiner Existenz treffen und verstören.(28) Die Absicht, einerseits die Reiseerzählungen nebenbei weitergehen zu lassen, andererseits eine neue literarische Identität aufzubauen, war trotz der zahlreichen und teilweise sogar wohlwollenden Rezensionen kläglich gescheitert. Damit blieb er für die geringe noch verbleibende Frist seines Daseins auf unselige Weise an Fehsenfeld gekettet bzw. auf andere, mehr oder weniger zufällig sich ergebende Publikationsmöglichkeiten angewiesen.(29)

Ein letztes bleibt zu dem Drama noch zu bemerken: für uns heute wirkt es - von unserem modernen Dramenverständnis her - fremdartig und befremdend. Dies gilt aber wohl weit weniger für seine Entstehungszeit: nicht nur eine Fülle heute weitgehend verschollener symbolistischer Dramen, sondern auch mehrere Ansätze zur Wiederbelebung mittelalterlicher Mysterienspiele in dieser Zeit, von denen Hofmannsthals Salzburger >Jedermann< der einzige erfolgreich Überlebende ist, sind Indizien dafür, daß May mit seinem Stück keineswegs so isoliert stand, wie es uns Heutigen gern erscheinen mag; daß er vielmehr Teil einer breiten Bewegung war, deren literarische Prüfung und qualitative Beurteilung für die Zeitgenossen nur mit Mühe zu leisten war.(30)

Das Drama Mays erschien Ende 1906, und das ist der Zeitpunkt, zu dem erneut die >Augsburger Postzeitung< ins Spiel kommt.

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1905 war der 1877 in Bamberg geborene, in Nationalökonomie promovierte Hans Rost in die Redaktion des Blatts eingetreten, das seine Entstehung - als eine der ältesten deutschen Zeitungen ­ ins 17. Jahrhundert datiert. Damals, genau am 6. März 1687, hatte in Augsburg »eine hochlöbliche Obrigkeit auf Grund eines den gesambten Herren


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Deputierten [sprich Stadträte] über die Censur erstatteten Berichts dem Buchdrucker August Sturm neben dem Koppmayr das Zeitungsdrucken vergonnt [= genehmigt]«. Hinter dieser Aktennotiz verbarg sich ein konfessioneller Zwist: Koppmayr war Protestant und gab in Augsburg, wie er in einem Gesuch an Kaiser Leopold schreibt, »die wochentlichen Ordinari-Zeitungen und was denenselben angehört«, heraus. Er verwahrte sich bei der kaiserlichen Kanzlei gegen den katholischen Konkurrenten und ersuchte um ein zehnjähriges kaiserliches Privileg mit dem Argument, durch das neuentstandene katholische Blatt werde »ihm, Koppmayr, seine Nahrung merklich geschmälert«.

Der weitere, jahrelang sich hinziehende Zwist, gleichermaßen konfessionell wie geschäftlich bestimmt, braucht uns hier nicht zu interessieren; sein Ergebnis war jedenfalls, daß fortan in Augsburg zwei von religiös unterschiedlichen Druckern herausgegebene, kurioserweise unter fast gleichem Titel firmierende Blätter als >Ordinari-Postzeitung< erschienen. 1833 wurde aus dem katholischen Blatt dann die >Augsburger Postzeitung<, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem der führenden Blätter des deutschen Katholizismus entwickelte.(31)

Der Wechsel in der Kulturredaktion 1905 spiegelte recht deutlich die Veränderungen des deutschen Katholizismus im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts. Waren die >Literarische Beilage< und das Feuilleton des Blattes vorher, unter Adolf Haas, eher betuliche Institutionen, die nur vorsichtig, und in der >Literarischen Beilage< häufig durch Übernahmen aus anderen Blättern abgesichert, aktuelle Kulturfragen behandelten, so änderte sich das mit Hans Rosts verantwortlicher Schriftleitung ziemlich rasch.

Zum einen brachte er eine Reihe von literarisch ambitionierten Gleichaltrigen mit, denen er teilweise noch von der Bamberger bzw. Münnerstädter Schulzeit her verbunden war, zum anderen trug er keine Scheu, sich begeistert und furchtlos in aktuelle Auseinandersetzungen zu stürzen.(32)

Diese Furchtlosigkeit und Kompromißlosigkeit, wenn es um Fragen seiner Überzeugung ging, stellte er Jahre später, im Krisenjahr 1932, auf heute noch beeindruckende Art unter Beweis, als er in der >Augsburger Postzeitung< eine nicht mißzuverstehende Artikelserie »Christus ­ nicht Hitler!« gegen das heraufziehende nationalsozialistische Unheil veröffentlichte.(33)

Diese Serie, die auch in hoher Auflage als Broschüre verbreitet wurde, sticht wohltuend vom taktischen Lavieren der Bischöfe und des Zentrums in diesen Jahren ab ­ soweit der deutsche Katholizismus


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nicht sowieso in vielen Punkten mit dem nationalsozialistischen Antisemitismus und Antikommunismus konform ging und sich von der sogenannten >nationalen Revolution< eine Festigung der eigenen Position erwartete. Die Folgen für die >Augsburger Postzeitung< waren abzusehen: zwar war dem Blatt noch eine Gnadenfrist gewährt, aber 1935 mußte es dann sein Erscheinen endgültig einstellen.

Hans Rost, in Schwaben einer der von den Nationalsozialisten meistgehaßten Männer, wurde gleich im März/April 1933 in Schutzhaft genommen und nach seiner Entlassung dann im Juli 1934 gezwungen, die Redaktion zu verlassen. Dies bedeutete, daß er mit sechs Kindern wirtschaftlich vor dem Nichts stand, da er selbstverständlich keinerlei Chance hatte, in der gleichgeschalteten deutschen Presse eine andere Stelle zu erhalten.

Durch die Herausgabe bibliophiler Jahrbücher sowie durch andere Publikationen gelang es, die Familie halbwegs über Wasser zu halten; die Jahre bis zum Kriegsende waren allerdings immer wieder durch Haussuchungen und Vorladungen der Gestapo gekennzeichnet. 1970 starb er im biblischen Alter von 93 Jahren, und ich freue mich besonders, daß der älteste seiner Söhne, Herr Adalbert Rost, heute bei uns ist und daß wir ihn in unserem Kreis begrüßen dürfen.(34)

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Kehren wir nach diesem notwendigen Exkurs in das Jahr 1906 zurück. Hans Rost war bereits in seiner Schulzeit begeisterter Karl-May-Leser gewesen; seinen Bericht darüber können Sie in der schönen Broschüre des KMV nachlesen. Er schreibt da etwa: »Wie glühten wir nach den neuesten Hausschatzheften, die neuen Lesestoff von Karl May brachten; welch ein Nimbus aus Wahrheit und Dichtung bildete sich in unserer Vorstellung über Persönlichkeit und Lebenswerk Karl Mays.«(35)

Am 27. November 1906 erschien in der >Literarischen Beilage< der >Augsburger Postzeitung< die erste von zwei Folgen des jungen Juristen Lorenz Krapp über >Das Problem Karl May<, aus der wir bereits zitiert haben. Krapp setzt sich in diesem Artikel mit den persönlichen Angriffen gegen May auseinander, die den Höhepunkt der Kontroverse um seine Kolportageromane charakterisierten. Ausdrücklich hebt er Hermann Cardauns lobend hervor: dessen Aufsatz in den >Historisch-politischen Blättern< 1902, >Herr Karl May von der anderen Seite<,(36) sei »das Vernünftigste (...), was damals geschrieben wurde«. Cardauns »faßte die Sache richtig an: er kämpfte mit Sachlichkeiten, nicht mit


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persönlichen Invektiven: er kritisierte in erster Linie literarisch, nicht persönlich.«(37)

In der zweiten Folge befaßt sich Krapp mit Mays Erzählungen. Dabei geht er durchaus kritisch zu Werk und trifft mit seinem Urteil wesentliche Mängel: »Und hier ist, um das Gesamturteil gleich vorauszunehmen, zu sagen: hohe Kunst sind Mays Werke nicht. (...) Es fehlt ihnen die Geschlossenheit, die Komposition.«(38)

Darüber hinaus kritisiert er treffend die Schwarzweißmalerei Mays und zeigt deutlich, wie schwer es auch für dem Autor wohlgesonnene Leser war, den verhältnismäßig abrupten Schwenk von den Abenteuererzählungen zum symbolistischen Spätwerk mitzuvollziehen. Die verschlüsselte Wiedergabe der aktuellen Kämpfe durch ihre Verlagerung ins imaginäre >Reich des silbernen Löwen< war offenbar auch für jemanden, der wie Lorenz Krapp mit den zugrundeliegenden Vorgängen eigentlich genau vertraut war, höchstens bruchstückhaft zu durchschauen.

Der Artikel zeitigte eine für Rost wohl überraschende Wirkung: ein promptes Dankschreiben Mays samt einem Widmungsexemplar des neu erschienenen Dramas ging nach Augsburg und eröffnete einen Kontakt, der schließlich im Vortrag des 8. Dezembers 1909 gipfelte.(39)

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Das Jahr 1907 markiert einen wesentlichen Einschnitt in Mays Entwicklung ebenso wie im literarisch-kulturpolitischen Umfeld, das ihn umgibt.

Am 9. Januar 1907 war der Prozeß um die Münchmeyer-Rechte in der letzten Instanz siegreich zu Ende gegangen; am 7. April 1907 war der Käufer des Kolportage-Verlags, Adalbert Fischer, gestorben, so daß die Chance bestand, das so erregte Wellen schlagende Thema der >Schundromane< mehr oder weniger stillschweigend zu begraben, wenn, ja wenn der Sieger selbst und seine >May-Gemeinde< es fertiggebracht hätten, sich im kleinen Kreis still ihres Siegs zu freuen.(40)

Stattdessen wurde der Tod Fischers in Briefen auf aberwitzige Weise kommentiert, die kaum zu der sonst öffentlich zur Schau gestellten Friedfertigkeit paßte. Der Sieg wurde in allen mayfreundlichen Publikationsorganen als glänzender Erfolg, als »vollständig und bedingungslos« gefeiert: »Karl May hat gesiegt, glorreich gesiegt, er steht da herrlicher denn je, seine Feinde aber liegen im Staub, getreten und zerschmettert. Seine beiden Hauptgegner sind schon gerichtet: Adalbert


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Fischer hat seine Niederlage nicht lange mehr überlebt, er ist tot er, der Karl May literarisch tot machen wollte, steht nun bereits vor seinem ewigen Richter (...)«(41)

Der zweite Hauptgegner allerdings war keineswegs tot, sondern noch sehr lebendig. In den >Historisch-politischen Blättern< zerpflückte er infolgedessen den Triumphgesang über >Die >Rettung< des Herrn Karl May< nüchtern und sachlich.(42) Im Hause May dagegen sah man die Dinge ganz anders. In einem Brief an Leopold Gheri, den Autor der eben zitierten Zerschmetterungsphantasie, schreibt Klara May im Oktober 1907: »Ihr Artikel [gg. Cardauns, U.S.] in den Sonntagsglocken war ganz gut, nur mußten Sie den alten Köter nicht am Schwanz unter der Ofenbank hervorziehen. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, sein Gekläff ist nun erstickt, ja, leicht war es aber nicht.«(43)

Hatte somit das Jahr 1907 eine Neuauflage der Kontroverse mit Cardauns heraufbeschworen, so brachte es andererseits für May eine erneute Annäherung an das katholische Lager, allerdings in einer sehr verqueren und für ihn eher problematischen als günstigen Weise.

Im gleichen Jahr waren nämlich im Katholizismus zwei Dinge geschehen, die die Lage entscheidend veränderten: Zum einen verurteilte Papst Pius X. im September 1907 in der Enzyklika »Pascendi dominici gregis« den sogenannten >Modernismus< als Häresie und Irrlehre. Das bedeutete »eine pauschale Verurteilung sämtlicher moderner Bewegungen auf geistig-kulturellem, wissenschaftlichem und gesellschaftlich-sozialem Gebiet, (eine) pauschale Absage an alles, was der Zeit als echter Fortschritt und Befreiung galt. (...) In >Pascendi< erreichte die Absage an die (freilich von kirchlicher Bevormundung längst emanzipierte) moderne Welt und ihr Denken den nicht mehr überbietbaren Gipfel.«(44)

Soweit der Münchner Kirchenhistoriker Manfred Weitlauff.

Mit dieser Enzyklika und der >Modernismus<-Verurteilung war aber noch ein zweites Schlachtfeld verbunden, das unter dem Namen »Katholischer Literaturstreit« in die Geschichte eingegangen ist.(45)

Die Gegensätze waren die gleichen wie die weltanschaulichen Oppositionen im päpstlichen Lehrschreiben: hier Abkapselung des katholischen Lagers gegenüber der modernen Philosophie, Literatur und Kunst, dort das Plädoyer für einen offenen Umgang mit den Erscheinungen der eigenen Zeit, ohne die katholische Glaubensüberzeugung preiszugeben: »Die Kirche (...) muß der permanenten Versuchung widerstehen, das Evangelium (...) durch Inanspruchnahme fragwürdiger Herrschaftsformen für die eigene Macht zu mißbrauchen. (...) Sie ist


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keine belagerte Stadt, die ihre Bastionen auftürmt und mit Härte nach innen und außen verteidigt.«(46)

Was ich eben zitierte, stammt allerdings keineswegs aus dem Jahr 1907; die Sätze stehen vielmehr in der >Kölner Erklärung< der deutschen Theologen vom Anfang 1989. Sie bezeichnen aber präzise die einander befehdenden Positionen von damals: einerseits das Eintreten für Offenheit und Dialogbereitschaft, andererseits die strikte Forderung nach einer katholischen Kultur, bei deren Bewertung die religiöse Zuverlässigkeit oberster Maßstab ist, während ästhetischen Kriterien nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Der Streit wurde für die Zeitgenossen in den Jahren um und nach 1907 vor allem durch zwei personelle und institutionelle Gegensätze verkörpert: auf der einen Seite Carl Muth mit seiner seit Oktober 1903 erscheinenden Zeitschrift >Hochland<, auf der anderen Seite der Wiener Schriftsteller Richard von Kralik mit dem 1907 neu gegründeten Organ des >Gralbunds<, >Der Gral<.(47)

Während das >Hochland< immer wieder von klerikaler Seite heftig angegriffen wurde, fanden die >Gralbündler< rasch Zugang zu vatikanischen Kreisen und scheuten sich nicht, auch auf kirchlich-diplomatischen Wegen gegen Muth und seine Anhänger vorzugehen.(48) Hermann Cardauns etwa, durchaus auf Seiten Muths, beklagte später, indem er ein »süddeutsches liberales Blatt« zustimmend zitierte, »in München bestehe eine Nuntiatur, in Rom aber eine Denuntiatur«,(49) und der bereits zitierte Kirchenhistoriker Manfred Weitlauff weist darauf hin, daß »man von Rom aus ein die ganze Kirche kontrollierendes geheimes Überwachungsnetz installierte«, das nicht zuletzt den Bereich »der schönen Literatur wie überhaupt den ganzen Bereich der Kunst« dem römischen Zugriff verfügbar machen sollte.(50)

>Modernismus< wurde zum Schimpf- und Denunziationswort, besonders, nachdem Richard von Kralik den ursprünglich theologisch-philosophischen Begriff durch eine über den Papst hinausgehende Neu-Definition in ein grenzenloses Schlagetot-Wort für den kulturpolitischen Kampf verwandelt hatte.(51)

Damit war eine oberhirtlich approbierte Waffe da, um allen Gegnern, die die literarische Qualität der >Gral<-Produkte in Zweifel zu ziehen wagten, mit religiösen Bannflüchen den Garaus zu machen.

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In diese erregte Szenerie geriet nun May im Jahre 1907, als er sich auf zwei Wegen wieder dem deutschen Katholizismus näherte: zum einen


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fand er mehr und mehr ihm geneigte katholische Publizisten wie Leopold Gheri, Heinrich Wagner oder eben auch Hans Rost;(52) zum anderen knüpfte der >Deutsche Hausschatz< im Herbst 1907 die über Jahre hin völlig abgerissene Verbindung erneut an, um vom ehemaligen Hausautor eine Reiseerzählung im alten, höchst auflagenfördernden Stil zu erbitten.(53)

Die Anfrage deckte sich mit Mays Intentionen: nachdem sowohl die letzten beiden >Silberlöwe<-Bände wie auch >Babel und Bibel< auf eine recht negative Resonanz bei den Lesern und Käufern gestoßen waren, nachdem ihn überdies Fehsenfeld ebenso wie sicher zahlreiche andere Verehrer bestürmten, zur alten Reiseerzählung zurückzukehren, bot sich durch die Offerte des >Deutschen Hausschatz< die Chance, probeweise die alte und bei den Lesern beliebte Form der Reiseerzählung mit den inzwischen gewonnenen ästhetischen, psychologischen und politischen Standards zu verbinden.(54)

Daß dies jedoch nicht bedeutete, beispielsweise die pazifistische Stellungnahme gegen Krieg und Völkermord zurückzunehmen oder abzuschwächen, zeigte er sogleich in der Exposition: »Alle Rüstung der Erde und alle Rüstung ihrer Völker war bisher auf den Krieg gerichtet. Als ob es unmöglich wäre, in eben derselben und noch viel nachdrücklicherer Weise auf den Frieden zu rüsten!«(55)

Allerdings verlagerte er die Handlung nunmehr in eine imaginär-mythische Topographie, in das Tiefland Ardistan, dem das >Hochland< Dschinnistan gegenübersteht. Damit vermied er zwei Klippen: einmal konnte er im Imaginären leicht alle konfessionellen Streitigkeiten vermeiden und entkam andererseits den kritischen Nachfragen über den Realitätsgehalt seiner Ich-Erzählung.

In seiner Freude über die sich plötzlich neu eröffnende Verbindung zum >Deutschen Hausschatz< und über der gerade wieder heißgelaufenen Kontroverse mit Cardauns übersah May aber offenbar völlig, wie explosiv die Stimmung im deutschen Katholizismus geworden war. Wie blind er über dem Toben der Cardauns-Fehde gegenüber dem tieferliegenden und weit bedrohlicheren Wandel der Gesamtlage war, demonstriert etwa ein Satz in seinem Brief an Hans Rost vom 21.10.1907: Der letzte Kampf nahm meine ganze Zeit in Anspruch.(56)

Die Modernismus-Enzyklika erschien zur gleichen Zeit, als die ersten Folgen des >'Mir von Dschinnistan< geschrieben wurden. Sehr bald liefen offenbar beim >Deutschen Hausschatz< Beschwerden der Modernismus-Schnüffler ein: die Darstellung der Ussul, des behaarten Sumpf-Urvolks, propagiere einen nach des Papsts naturwissenschaftlicher Erkenntnis unzulässigen Darwinschen Evolutionismus, wobei


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auch andere Züge des Romans deutliche Kennzeichen des Modernismus sozusagen als Kainsmal auf der Stirn trügen.(57)

Blieben diese Leserbeschwerden gewissermaßen noch unter vier Augen zwischen der Redaktion und den Briefschreibern, so trug die Kritik des Dresdener Kaplans Paul Rentschka >das Problem Karl May< Anfang Dezember 1908 an die Öffentlichkeit. Ich greife nur wenige Sätze aus Rentschkas Anklageschrift heraus, die sich bezeichnenderweise nicht mit Mays neuestem Werk im >Deutschen Hausschatz<, sondern mit dem bereits seit über drei Jahren vorliegenden >Und Friede auf Erden!< befaßten: »Das ganze Buch steckt voll der Irrtümer, ganz besonders auch voll der Irrtümer des Modernismus.« »May will durchaus das Wahrheitsbedürfnis, den Wahrheitsdrang der Menschenseele opfern, ja tilgen, um eine Weltverbrüderung zu stande zu bringen.« »So wird für den Indifferentismus und Modernismus die allergefährlichste Propaganda gemacht.«(58)

Mays Versuch, den Konflikt auf der privaten Ebene, durch Briefe und ein Gespräch mit Rentschka, zu bereinigen, zeigt, daß die Dimension des Streits ihm nicht recht klar war. Längst ging es nämlich für die des Modernismus Angeklagten um die schiere Existenz, sowohl die berufliche wie die private, wie eine ganze Reihe tragischer Fälle damals zeigte.(59)

Dabei erklärt sich die Schärfe und teilweise Maßlosigkeit der katholischen Angriffe gegen den Radebeuler wohl aus einer einfachen Tatsache: Im Gegensatz zu den mißliebigen katholischen Glaubensbrüdern war May mit einer Indizierung oder der Exkommunikationsdrohung nicht beizukommen, da er ja Protestant war. So blieb nur die Erledigung des Mißliebigen durch den Appell an die öffentliche Meinung, gepaart mit der Drohung, ihn geschäftlich durch einen Kauf- und Lektüreboykott zu ruinieren.(60)

Das Vertrackte, Labyrinthartige der Sache lag überdies in Mays komplizierten Beziehungen zu den einzelnen Parteien: personell war er durch Kontakte, die teilweise noch vor die Schwelle der Jahre 1899/ 1900 zurückreichten, mit den Wiener >Gral<-Anhängern wie Richard von Kralik oder Heinrich Kirsch oder Franz Eichert freundschaftlich verbunden.(61) Deren idealistisch-romantische Kunstdefinition empfahl sich außerdem für ihn, um sich möglichst eindeutig von Cardauns' >Schund<-Verdacht abzusetzen, ganz abgesehen davon, daß er wohl auch in seiner eher gefühl- als gedankenvollen ästhetischen Theorie dieser Position zuneigte. So lag es für May nahe, sich bei den strikt amtskirchlich katholischen Gralbündlern Schützenhilfe gegen Cardauns zu verschaffen.


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Andererseits hatte er zumindest einmal, im Frühjahr 1907, massive Fürsprecher im damals radikalsten Modernistenblatt, der Zeitschrift >Das Zwanzigste Jahrhundert<, gefunden. Dem mit Mays Sprachduktus dieser Tage Vertrauten fällt es nicht schwer, hinter den beiden mit >Fred Holm< und >A. Abels< gekennzeichneten Artikeln den Radebeuler Autor selbst als geistigen Urheber zu entdecken.(62) Abels, den May bereits mit der ausführlichen >Skizze zu Babel und Bibel< versorgt hatte, überliefert die wohl am weitesten gehenden Andeutungen zur Entschlüsselung des >Silberlöwen<, dessen Bilderwelten hier als »Offenbarungen aus dem menschlichen und menschheitlichen Innenleben« charakterisiert werden. Besonders hebt er dabei hervor »jene(n) verwegene(n) Sprung über den Abgrund, der nur dem freien Geiste, nicht aber der Anima [= Halef, U. S.] gelingt«; er verweist auf die »Befreiung der verkalkten Geister« und die »Sage vom versteinerten Herrgott«,(63) Großmetaphern, die tatsächlich trefflich die sich klerikal abkapselnde römische Kirche jener Zeit abbilden.

Damit sind wir bereits bei >Herrn Karl May von der anderen Seite<(64): von seiner ästhetischen Praxis her und in seiner tatsächlich auf Interkonfessionalität und Humanität ausgerichteten weltanschaulichen Position stand May selbstverständlich in den geistigen Regionen des >Hochlands<, dessen Titel nicht zufällig in vielerlei Variationen seine Denk- und Schreibmodelle in diesen Spätjahren durchzieht.(65)

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Erneut sind wir somit zu Hans Rost und zur >Augsburger Postzeitung< zurückgekehrt. Ich kann hier keine minutiöse Feinbestimmung des Standorts der >Postzeitung< im Gewirr der katholischen Drahtverhaue und Schützengräben liefern. Stattdessen will ich nur darauf verweisen daß das Blatt sowohl von der antimodernistischen Seite angegriffen und verdächtigt wie auch von der anderen Seite als verbohrt-konservativ gebrandmarkt wurde.(66)

Aber genau in diesem, wie Sie jetzt sicher gemerkt haben, hochexplosiven Niemandsland zwischen den Fronten bewegte sich May zu dieser Zeit und mit seinem Augsburger Vortrag. Sie können den Text nun - dank Roland Schmids vorbildlicher Edition ­ mühelos in Mays Handschrift und in exakter Transkription nachlesen; so will ich Ihre lesende Aufmerksamkeit nur auf einige wenige Aspekte lenken.

Gleich zu Beginn verwahrt sich der Redner mit allem Nachdruck dagegen, er verfolge konfessionelle Absichten. Stattdessen bietet er für


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seine schriftstellerische Existenz ein alternatives Erklärungs- und Rechtfertigungsmodell, indem er sich als Märchenerzähler, als Hakawati stilisiert. Nicht nur im philosophischen Gedankengut, sondern auch bezüglich der Mitteilungsform bezieht sich dies auf Lessings >Nathan der Weise<, wo der vom Sultan bedrohte Jude in seinem Monolog vor der rettenden >Ringparabel< mit sich selbst zu Rate geht, wie er den dogmatischen Fallstricken des nach der wahren Religion fragenden Herrschers entgehen kann. Nathans Lösung ist auch die des Augsburger Redners: »Das wars! Das kann mich retten! - Nicht die Kinder blos, speist man mit Märchen ab. - Er kömmt. Er komme nur!«(67)

Allerdings: nachdem die bisherigen Großmärchen aus dem Tal der Dschamikun und aus dem Tiefland von Ardistan dem Publikum so ferngeblieben waren, vertraute er offenbar in keiner Weise mehr allein der eigenen Märchenwelt-Erfindung. So wird das Märchen zur Allegorie, zum erklärungsbedürftigen Gleichnis, dessen Bedeutung im zweiten Teil des Vortrags ausführlich erläutert wird, wobei man auch die unüberhörbare Ausweichbewegung vor den theologischen Fallgruben wahrnehmen sollte. Schon die ersten drei Zeilen führen das vor Augen:

Disposition.
1. Das Märchen an sich.
2. Seine Bedeutung und Nutzanwendung.
(68)

Die Bedeutung dieses Augsburger Vortrags liegt sicher, wie Roland Schmid in seiner Ausgabe schon richtig feststellt, weniger im Text selbst als vielmehr in seiner Funktion als Zwischenstufe: er verknüpft die Bilderwelten von >Babel und Bibel< sowie des >'Mirs von Dschinnistan< mit der Autobiographie, zu der er deutlich eine Vorstufe darstellt.(69)

Eine weitere, durchaus negative Folge bescherte der Augsburger Jubel überdies dem so beglückend Gefeierten: die über die Grenze der persönlichen Beleidigung weit hinausgehenden Angriffe des Benediktinerpaters Ansgar Pöllmann im folgenden Jahr 1910 verdankte May, nach Pöllmanns eigenem Bekunden, dem überwältigenden Augsburger Erfolg.(70)

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Damit Sie nun nicht ohne geistlichen Trost von dannen ziehen müssen, nachdem so viel von Theologie die Rede war, will ich Ihnen als letztes doch noch zwei Worte von dieser Tagung in Augsburg, meiner Hei-


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matstadt, mit auf den Weg geben. Beide sind Zufallsfunde während meiner Recherchen zu diesem Vortrag; beide sind Geist vom Geiste unseres Autors und seiner >Menschheitsfrage<.

Das erste ist ein Lieblingswort des großen Theologen und, wie wir wissen, Karl-May-Lesers Romano Guardini; es lautet schlicht: »Die Wahrheit ist polyphon.«(71)

Und denselben Sachverhalt beschreibt der bedeutende schwäbische Theologe Joseph Bernhart 1909 in einem Artikel der >Augsburger Postzeitung< zum Thema >Katholischer Literaturstreit<, indem er eine Metapher des Kirchenvaters Clemens von Alexandrien zitiert: »Der Weg der Wahrheit ist nur einer, aber in ihn münden wie in einen ewigen Strom die Flüsse, die einen von dort, die andern von da.«(72)

*

Das Thema und damit auch der Titel meines Augsburger Referats veränderten sich im Lauf der Vorbereitungszeit. Als ich erfuhr, daß Roland Schmid aus Anlaß der Tagung der Karl-May-Gesellschaft eine umfassende Dokumentation zu Mays Augsburger Vortrag vorbereitete, war die ursprünglich beabsichtigte ausführliche Darstellung dessen was May in Augsburg gesprochen hatte, überflüssig geworden. Darüber hinaus waren durch meine Lektüre in den katholischen Kunst- und Literaturzeitschriften der Jahre vor 1910 ganz neue Aspekte aufgetaucht, so daß sich das Thema zu einem komprimierten Aufriß der späten Existenz Mays (bis 1910) erweiterte, fokussiert um den Aufenthalt in Augsburg 1909. Diese Ausweitung und Änderung des Themas hatte zur Folge, daß der zunächst gehegte Plan, die Augsburger May-Bilder bis zu dem 1909 elfjährigen Bert Brecht fortzusetzen, auf eine spätere, gründliche Bearbeitung verschoben werden mußte, ähnlich wie May seine Leser am Schluß des >'Mir von Dschinnistan< vertröstete: Das weitere liest man später.(73) Auch die Darstellung der Beziehung zwischen May und der >Augsburger Postzeitung< ist noch lückenhaft und ergänzungsbedürftig; für eingehendere Arbeiten ist Material in Fülle vorhanden.

Herzlich zu danken habe ich insbesondere Herrn Adalbert Rost, dem ältesten Sohn Dr. Hans Rosts; er stellte mir nicht nur kostbare May-Texte aus dem Familienbesitz, sondern mit viel Geduld und Zeitaufwand auch seine Erinnerungen und Unterlagen über seinen Vater zur Verfügung. Zu danken habe ich zum anderen mit großer Herzlichkeit Roland Schmid, der mir bereits vor der Tagung die Fahnen der von ihm herausgegebenen, ausgezeichnet gestalteten Broschüre über Mays Augsburger Vortrag zur Verfügung stellte; ohne diese beiden Helfer (die übrigens - augsburg- bzw. bambergspezifische May-Beziehungen - den Firmpaten namens Lorenz Krapp gemeinsam haben) wäre mein Referat in der vorliegenden Form nicht möglich gewesen; sein plötzlicher und jäher Tod hat uns alle bestürzt und erschüttert. Roland Schmid und dem Karl-May Verlag habe ich darüber hinaus für die freundliche Erlaubnis zu danken, aus den noch unveröffentilchten Briefen Mays an seinen Verleger Fehsenfeld zu zitieren, die im Karl-May-Archiv Bamberg (KMA) aufbewahrt werden.

Ein letzter Dank gilt der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg und ihrem Leiter, Dr. Helmut Gier, ebenso wie der Universitätsbibliothek Ulm für ihre freundliche Bereitwilligkeit, mir Zugang zu den von ihnen verwahrten zentnerschweren Zeitungs- und Zeitschriftenbeständen zu gewähren.

*


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1 Guckkastenbilder, d. h. Ansichten, die in meist seitlich beleuchteten Kästen ein Bild der großen weiten Welt vermittelten, waren im 18. Jahrhundert eine Augsburger Exportspezialität; vgl. Walter Grasser: Blick in die weite Welt. In: Süddeutsche Zeitung, 11./12. November 1989, Wochenendbeilage.

2 Karl Mays Augsburger Vortrag - 8. Dezember 1909 -. Eine Dokumentation für die Karl-May- Forschung. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1989, S. 41f.

3 A. Abels: Karl May. In: Das Zwanzigste Jahrhundert. 7. Jg. (1907), S. 224; zitiert nach: Bernhard Kosciuszko: Im Zentrum der May-Hetze - Die Kölnische Volkszeitung. Materialien zur Karl May-Forschung Bd. 10. Ubstadt 1985, S. 162

4 Karl May: Briefe an Paul Rentschka. Mit Einleitung und Anmerkungen von Ernst Seybold. In: Jahrbuch der Karl-May Gesellschaft (Jb-KMG) 1987. Husum 1987, S. 160-187 (162)

5 Vgl. Klaus Hoffmann: Karl May - Leben und Werk. Ausstellung in der Villa »Shatterhand«. Radebeul 1988, S. 60-73.

6 Zu nennen sind hier beispielsweise die Briefwechsel Mays mit Prinzessin Wiltrud von Bayern (Jb-KMG 1983), mit dem >Deutschen Hausschatz< in den Jahren 1908/09 (Jb-KMG 1985), mit Joseph Kürschner (Jb-KMG 1988), mit Dr. Hans Rost (in: Karl Mays Augsburger Vortrag, wie Anm. 2) oder auch mit dem Münchner Studenten Willy Einsle (Publikation in Vorbereitung).

7 Vgl. Hansotto Hatzig: Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft. Beiträge zur Karl-May-Forschung 2. Bamberg 1967, S. 153ff.

8 Vgl. Hermann Zieger/Joseph Kürschner: Briefe über Karl Mays Roman >Et in terra pax<. In: Jb-KMG 1983. Husum 1983, S. 146 - 196.

9 Karl May: Brief an Fehsenfeld, 14. August 1901 (Karl May-Archiv Bamberg (KMA))

10 Karl May: Brief an Fehsenfeld, 27. Februar 1907 (dort auch das Krais-Zitat) (KMA)

11 Karl May: Brief an Fehsenfeld, 5. April 1907; Fehsenfeld hatte am 31. März 1907 den Vertrag auf den 1. April 1909 gekündigt. (KMA)

12 Lorenz Krapp: Das Problem Karl May. In: Literarische Beilage zur >Augsburger Postzeitung<, Nr. 52 (27.11.1906), S.409f. (1); Nr. 54 (7.12.1906), S.427 - 429 (11); in Nr. 57 (28.12.1906), S.452f., findet sich als Nachtrag eine Kontroverse zwischen Max Ettlinger, einem der führenden >Hochland<-Mitarbeiter, und Lorenz Krapp zur Frage von Mays Pseudonymen bei den Kolportageromanen und zur Wertung Mays insgesamt. Die Teile (1) und (11), der eigentliche Aufsatz Krapps, jetzt auch in: Karl May und Augsburg. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft (S-KMG) Nr.82/1989, S. 14 - 22

13 Augsburger Postzeitung, 17. 6. 1902. Faksimile in: Kosciuszko: Köln. Volkszeitung, wie Anm. 3, S. 117

14 Krapp (Nr. 54), wie Anm. 12, Karl May und Augsburg, wie Anm. 12, S. 18 und 20

15 Ebd.; Karl May und Augsburg, wie Anm. 12, S. 19

16 Auf den Spuren der Hereros. Dargestellt von der kriegsgeschichtlichen Abteilung I des Großen Generalstabes. In: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten. Hrsg. von Jakob Hopf und Karl Paulsick. 34. Aufl. Berlin 1910, S. 437f.; zit. nach: Marieluise Christadler: Zwischen Gartenlaube und Genozid. Kolonialistische Jugendbücher im Kaiserreich. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung >Das Parlament<. B 21 (1977), S. 32

17 Vgl. Winfried Becker: Kulturkampf als Vorwand. Die Kolonialwahlen von 1907 und das Problem der Parlamentarisierung des Reiches. In: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft. 106. Jg. (1986), S. 59 - 84.

18 Karl May: Brief an Fehsenfeld, 21. Januar 1904 (KMA)

19 Karl May: Brief an Fehsenfeld, ohne Ort und Datum (Querformat), wohl Mitte September 1905 (KMA)

20 Karl May: Brief an Fehsenfeld, 8. September 1905 (KMA)

21 Karl May: Babel und Bibel. Arabische Fantasia in zwei Akten. Freiburg 1906, S. 87

22 Vgl. Hatzig, wie Anm. 7, S. 102 - 152 - Bernhard Kosciuszko: Karl Mays Drama >Babel und Bibel<. S-KMG Nr. 10/1978 - Martin Schenkel: >Babel und Bibel<. Ein aufklärerisches Drama des Mittelalters. In: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt a. M. 1983, S. 278-309 (Suhrkamp Taschenbücher 2025).


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22a May: Babel und Bibel, wie Anm. 21, S. 11

23 China. Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik. Hrsg. von Joseph Kürschner. Berlin o. J. Erster Teil: Land und Leute, Sp. 515

24 Euchar Albrecht Schmid: (Rezension zu) Karl May: Babel und Bibel. In: Literarische Beilage zur >Augsburger Postzeitung<, Nr. 48 (2. 11. 1906), S. 380f. (siehe Anhang)

25 Karl May: Skizze zu Babel und Bibel. In: Karl-May-Jahrbuch 1921. Radebeul 1920 S. 59

26 Karl May: Brief an Fehsenfeld, 8. Februar 1906 (KMA) ­ Möglicherweise stellt auch die Ausgabe der >Erzgebirgischen Dorfgeschichten< in Adalbert Fischers Belletristischem Verlag einen solchen Versuchsballon dar, eine neue Verlagsbasis zu finden. Dafür spricht der Obertitel >Karl Mays Erstlingswerke. Autorisierte Ausgabe. Band 1< (wobei ein zweiter Band trotz reichlichem Material nie erschienen ist) ebenso wie die spätere Ausgabe bei Fehsenfeld nach Fischers Tod (1907), die der Freiburger Verleger nur mit großem Unwillen übernahm.

27 Karl May: Brief an Fehsenfeld, 27. März 1906 (KMA)

28 Bisher fehlt eine zusammenfassende Darstellung sowohl der Bemühungen Mays, das Stück auf die Bühne zu bringen, als auch der Wirkung, wie sie sich in Rezensionen und persönlichen Reaktionen spiegelte; ebenso fehlt eine Einordnung in den Rahmen der zeitgenössischen Dramatik, die nicht von den Spitzenwerken des Genres, sondern von der Durchschnittsproduktion ausgeht.

29 Der Geschäftsrückgang bei Fehsenfeld, verursacht durch die Prozesse und durch die allzugroße Ausgabenvielfalt, verschärfte überdies die Situation; vgl. Roland Schmid: Anhang (zu >Satan und Ischariot II<). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. XXI. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1983, A31-A40.

30 Beispiele für derartige Mysterienspiele sind insbesondere die Dramen Richard von Kraliks und die im Umkreis der >Gral<-Bewegung entstandenen Bühnenwerke, Rezensionen finden sich beispielsweise im >Hochland< (Joseph Sprengler: Eine dramatische Anthologie. In: Hochland. VII. Jg., 2. Bd. (1909/10), S. 232 - 237 - Ders.: Zum katholischen Drama der Gegenwart. In: Hochland. IX. Jg., 2. Bd. (1911/12) S. 356-361). - Vgl. auch: Adolf Innerkofler: Richard von Kralik. Eine Studie. 2. vollkommen umgearbeitete und ergänzte Auflage. Wien 1912, S. 23-37 (>Ein neuer Dramenstil<); dieser Band wurde übrigens im Verlag Heinrich Kirschs veröffentlicht, der mit May persönlich bekannt und befreundet war (s. u. Anm. 61).

31 Alle Angaben zur Geschichte des Blatts nach: Die Augsburger Postzeitung im neuen Heim. Augsburg 1913, S. 7f.

32 Hans Rosts Buch- und Broschürenpublikationen, geschrieben neben seiner journalistischen Tätigkeit, umfaßten in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg u. a. die Titel: Der Selbstmord als sozialstatistische Erscheinung. Köln 1905 - Gedanken und Wahrheiten zur Judenfrage. Trier 1907 - Die Katholiken im Kultur- und Wirtschaftsleben der Gegenwart. Köln 1908 - Das moderne Wohnungsproblem. Kempten 1909 - Die wirtschaftliche und kulturelle Lage der deutschen Katholiken. Köln 1911. Seit seiner Studienzeit und seiner Beteiligung an der Augsburger Wohnungsuntersuchung von 1903/04 war er sozialpolitisch stark engagiert, insbesondere auf dem Gebiet der Selbstmordforschung, für die er in Deutschland eine Pionierstellung einnahm. Seine mehrere tausend Bände umfassende >Selbstmordbibliothek< wird heute von der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg verwaltet und fortgeführt. Nach seiner Entlassung aus der Redaktion gab er u. a. die bibliophilen Jahrbücher >St. Wiborada< heraus und schrieb eine Kulturgeschichte der Bibel im Mittelalter (Augsburg 1939).

33 Eine Zusammenfassung der wesentlichen Aussagen in: Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Hrsg. von Hans Müller. München 1965, S. 63f. (dtv 328, Erstausgabe: München, Nymphenburger Verlag) - Eine ausführliche Arbeit zu Hans Rosts Biographie und zu seinem Widerstand gegen den Nationalsozialismus fehlt bisher bedauerlicherweise; eine Wanderausstellung über >Zeugnis und Widerstand von Katholiken in der Diözese Augsburg zur Zeit des Nationalsozialismus< und ihr Katalog tragen den Titel von Hans Rosts Artikelserie >Christus! - nicht Hitler< und erinnerten


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an ihren Autor (Hrsg. von Josef Fuchs, Karl Hofmann und Hans Thieme. St. Ottilien 1984, S. 14).

34 Eine Durchsicht des erhaltenen Nachlasses von Hans Rost war vor der Augsburger Tagung aus Zeitgründen nur sehr begrenzt möglich; er soll aber noch auf may-relevante Materialien untersucht werden.

35 Hans Rost: Aus der Jugendzeit. Erinnerungen eines Bambergers. Westheim bei Augsburg: Selbstverlag 1924; zit. nach: Karl Mays Augsburger Vortrag, wie Anm. 2, S.6

36 Beide Artikel, die Hermann Cardauns in den >Historisch-politischen Blättern< veröffentlichte (1902/1907), finden sich im Neudruck in: Jb-KMG 1987. Husum 1987, S. 206-224 (>Herr Karl May von der anderen Seite<, 1902) und S. 225-242 (>Die >Rettung< des Herrn Karl May<, 1907). Christoph F. Lorenz hat die Texte mit einem biographischen Essay kommentiert (>Nachforscher in historischen Dingen<. Hermann Cardauns(1847-1925): Publizist, Gelehrter, May-Gegner. Ebd., S.188-205)

37 Krapp (Nr. 52), wie Anm. 12, Karl May und Augsburg, wie Anm. 12, S. 16

38 Krapp (Nr. 54), wie Anm. 12; Karl May und Augsburg, wie Anm. 12, S. 18; zu ähnlichen Ergebnissen kommt, zwei Jahre später, Adolf Droop: Karl May. Eine Analyse seiner Reise-Erzählungen. Cöln/Weiden 1909.

39 Vgl. den Briefwechsel Rost-May in: Karl Mays Augsburger Vortrag, wie Anm. 2, S. 8 - 22. Weitere Materialien in: Dieter Sudhoff: Einführung und Anhang (zu Winnetou IV). In: Karl May: Winnetou Bd. IV. In: Augsburger Postzeitung, Beilage Lueginsland Nr. 88 (1909) - Nr. 36 (1910), Augsburg; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1984, S. 3-9, 271-305

40 May selbst schrieb am 20. Mai 1907 an Fehsenfeld: Fischer ist todt. Mein Sieg hat ihn das Leben gekostet.... Gottes Mühlen mahlen sicher!!! Leider ist er hierdurch dem sichern Zuchthaus entgangen. Die Anzeige lag schon bereit. (KMA)

41 Leopold Gheri: Karl May. In: Sonntagsglocken, Jg. 3, Nr. 41 (14. 7. 1907); zit. nach: Kosciuszko: Köln. Volkszeitung, wie Anm. 3, S. 173- 175 - ebd., S. 176- 178, das Faksimile einer Bearbeitung des Gheri-Artikels durch May für ein Werbeflugblatt

42 Vgl. Cardauns, wie Anm. 36.

43 Siegfried Augustin/Anton Halder: Leopold Gheri - Kunstmaler und Schriftsteller. In: Vom Lederstrumpf zum Winnetou. Hrsg. von Siegfried Augustin und Axel Mittelstaedt. München 1981, S. 120; zit. nach: Kosciuszko: Köln. Volkszeitung, wie Anm. 3, S. 179

44 Manfred Weitlauff: >Modernismus litterarius<. Der >Katholische Literaturstreit<, die Zeitschrift >Hochland< und die Enzyklika >Pascendi gregis dominici< Pius' X. vom 8. September 1907. In: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte. Band 37 (1988), S. 97- 175 (in dieser umfassenden und klug gewichtenden Darstellung auch ausführliche Literaturangaben) - Grundlegend zum deutschen Katholizismus vor 1914: Wolfgang Kramer: Zeitkritik und innere Auseinandersetzung im deutschen Katholizismus um die Jahrhundertwende im Spiegel der führenden katholischen Zeitschriften Deutschlands (1895 - 1914). Diss. Mainz 1955 (Masch.schr.)

45 Vgl. dazu (neben der bei Weitlauff, wie Anm. 44, genannten Literatur) Hainer Plaul: Literatur und Politik. Karl May im Urteil der zeitgenössischen Publizistik. In: Jb-KMG 1978. Hamburg 1978, S. 174 - 255.

46 >Kölner Erklärung< der deutschen Theologen; zit. nach: Politik aktuell für den Unterricht, H.4/1989, S. 7f.

47 Vgl. Plaul, wie Anm. 45, S. 207ff.

48 Vgl. Weitlauff, wie Anm. 44, S. 148ff.

49 Zit. nach Plaul, wie Anm. 45, S. 207

50 Weitlauff, wie Anm. 44, S. 149

51 Vgl. ebd., S. 152, Anm. 190.

52 Mays publizistische Kontakte sind noch unzureichend aufgehellt. Zur ersten Information vgl. Plaul, wie Anm. 45 - ferner: Schriften zu Karl May. Materialien zur Karl May-Forschung Bd. 2. Ubstadt 1975, S. 237-253 - Hermann Wiedenroth: Karl May in der zeitgenössischen Presse. Ein Bestandsverzeichnis. Bad Segeberg 1985 (Archiv der Karl-May-Gesellschaft; erste, unvollständige Bibliographie der Presseartikel von und über May.


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53 Vgl. Wilhelm Vinzenz: Karl Mays Reichspost-Briefe. Zur Beziehung Karl Mays zum >Deutschen Hausschatz<. In: Jb-KMG 1982. Husum 1982, S. 211-233 - Karl May: Briefe an Karl Pustet und Otto Denk. Mit einer Einführung von Hans Wollschläger. In: Jb-KMG 1985. Husum 1985, S. 15 - 62 - Roland Schmid: Nachwort (zu >Ardistan und Dschinnistan<). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. XXXI. Hrsg. von Roland Schmid, Bamberg 1984, Nl-17.

54 Mehrfach finden sich in Mays Briefen an Fehsenfeld in dieser Zeit Absichtserklärungen zum geplanten Roman >Abu Kital<, der uns mit einem Schlage hochzuheben hat und darum von mir ganz in der alten, einfachen, lieben und frohen Weise geschrieben wird. (Brief an Fehsenfeld 27. Februar 1907) (KMA). Ähnlich am 3. März 1907: Es werden die liebsten, heitersten und interessantesten Bände sein, die ich geschrieben habe. (Zitiert bei Schmid: Nachwort Ardistan, wie Anm. 53, N3; dort weitere Zeugnisse)

55 Karl May: Der 'Mir von Dschinnistan. In: Deutscher Hausschatz. XXXIV. Jg. (1907/ 08), S. 84. Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1976 ­ Daß die Absicht Mays, zur Form der Reiseerzählung zurückzukehren, nicht bedeutete, daß er gewissermaßen dem Irrweg zum Spätwerk (dem vielbeschworenen »Bruch im Bau« Otto Eickes) abschwor, zeigen (außer der Faktur von >Ardistan und Dschinnistan< selbst) mehrere Indizien: der Untertitel der geplanten >Reiseerzählung< >Abu Kital< (Ein Versuch zur Lösung der Menschheitsfrage und zur Aussöhnung des Morgenlandes mit dem Abendlande) ebenso wie das von May vorgesehene Titelbild (samt Plakat) mit dem von Sascha Schneider entworfenen Kopf Abu Kitals (Ein Meisterstück: so der Brief an Fehsenfeld, 12.2.1907, zit. nach Schmid: Nachwort Ardistan wie Anm. 53, N2) oder auch der erhaltene Textanfang mit der völlig der Gedankenwelt des Spätwerks entstammenden Unterscheidung von zwei Lesergruppen, den Haddedihn und den Dschamikun (ebd. N5f.).

56 Karl Mays Augsburger Vortrag, wie Anm.2, S.10/13 - Zur Fehde mit Cardauns vgl. Lorenz, wie Anm. 36. - Parallel zu dieser Auseinandersetzung liefen noch weitere Kontroversen; etwa gegen die Zeitschrift >Hochland< und ihren Herausgeber Carl Muth, der eine Stellungnahme zur Cardauns-Fehde plante (sie erschien: Hochland IV. Jg., 2. Bd. (1906/07), S. 755f.; Faksimile in: Kosciuszko: Köln. Volkszeitung, wie Anm. 3, S. 188f.). Bereits im Februar 1907 plante May, einen vermuteten Angriff Carl Muths (Der Busenfreund von Cardauns) abzuwehren; dazu setzte er für Fehsenfeld eine Anfrage an das >Hochland< auf (bereits mit der Unterschrift Fehsenfeld), wie die Anzeigenpreise seien (Brief an Fehsenfeld, 20. Februar 1907, Beilage) (KMA). Neben diesen Pressekontroversen war für May der schwerste Schlag aber sicher die Hausdurchsuchungs- und Beschlagnahmungsaktion der Dresdener Justiz am 9. November 1907 (dieser 9. November scheint es wahrhaftig in sich zu haben!).

57 Briefe an Pustet, wie Anm. 53, S. 23ff., besonders: S. 29f.: Nicht schweigen darf ich aber zu dem Vorwurf, daß ich für die Darwinistische Evolutionstheorie eintrete ...

58 Faksimile der Rentschka-Artikel in: Kosciuszko: Köln. Volkszeitung, wie Anm. 3, S. 205-217 - Rentschkas Artikel und Mays Briefe an Rentschka in: Jb-KMG 1987, wie Anm. 4 (Zitate ebd., S. 146, 144, 146)

59 Zu nennen wäre beispielsweise der schwäbische Geistliche Joseph Bernhart (1881-1969), der 1909 unter dem Titel >Der literarische Kampf (Der Kampf um die Wiedergeburt der Dichtung)< in der Literarischen Beilage der >Augsburger Postzeitung< (Nr. 38 (1909), S. 297-299) abschließend zum katholischen Literaturstreit Stellung bezog und der 1910 auf dem Katholikentag in Augsburg über die >Bildungsaufgaben der deutschen Katholiken< sprach. Diese Rede löste bereits im Vorfeld einen Kleinskandal aus: zwei Bischöfe reisten vor Bernharts Rede ab, einzig weil er ihnen als >Hochland<-Mitarbeiter des Modernismus verdächtig war (vgl. Weitlauff, wie Anm. 44, S. 161f. ). Die Ablegung des Antimodernisteneids, d. h. die kirchenamtlich geforderte Unterwerfung unter die päpstliche Autorität, im Januar 1911 in Augsburg stürzte ihn »auf Tage in tiefe Depression«; 1913 heiratete er in London eine katholische Lehrerin, die er seit 1908 kannte, und brach damit den Zölibat. Obwohl er weiterhin mit theologischen Publikationen hervortrat und sich als Mitglied der Kirche verstand, wurde ihm die Laisierung und damit die Anerkennung seiner Ehe lange


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Jahre verweigert und erst 1942 von der Amtskirche zugebilligt (vgl.: Joseph Bernhart. Leben und Werk in Selbstzeugnissen. Hrsg. von Lorenz Wachinger. Weißenhorn 1981). Eindrucksvoll schildert er die Atmosphäre in der katholischen Kirche vor 1910 in dem autobiographischen Roman >Der Kaplan< (Neuausgabe: Weißenhorn 1986. Anton H. Konrad Verlag).

Weitere Opfer des Kampfes gegen die Modernisten sind beispielsweise der Tübinger Theologe Wilhelm Koch (Max Seidler: Der Fall Wilhelm Koch. (Ein Bericht. Tübingen 1972 (Contubernium 3)), der Würzburger Theologe Hermann Schell (Weitlauff wie Anm. 44, S. 122 und 146) sowie der Freiburger Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus, der allerdings bereits 1902 starb und infolgedessen nicht persönlich, nur durch das Schicksal seines Werks vom Modernismus-Streit betroffen war (vgl. Liberaler Katholizismus. Biographische und kirchengeschichtliche Essays von Franz Xaver Kraus. Hrsg. von Christoph Weber. Tübingen 1983 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 57)).

60 Deutlich spiegeln sich diese Fragen etwa in der Korrespondenz mit Pustet, wie Anm. 53.

61 Eine umfassende Untersuchung der Wiener Beziehungen Mays steht noch aus, vgl. aber z. B. den Band: Perlen der Erinnerung an die Fünfte Wiener Männerfahrt nach Mariazell. Wien 1897. Reprint in Ekkehard Bartsch (Hrsg.): Karl May. Leben-Werk-Wirkung. Eine Archiv-Edition. Abt. IIa, Heft 3. Dort (S.7 - 9) taucht Franz Eichert, der spätere Chefredakteur des >Gral<, als Verfasser eines Telegramms der Wallfahrer an Karl May auf. Richard von Kraliks Kontakte zu May hat Kralik selbst beschrieben (zit. bei Claus Roxin: »Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand«. Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: Jb-KMG 1974 Hamburg 1973, S. 15 - 73; Kralik-Zitate S. 26-29). - Andererseits schrieb May noch im Juli 1908, also auf dem Höhepunkt des katholischen Literaturstreits, die Zeitschrift der Gralbündler als Kral, möglicherweise wegen des Gleichklangs mit Kralik, vielleicht aber auch deshalb, weil diese aktuell-katholischen Zwistigkeiten ihn nur am Rande interessierten (May: Briefe an Pustet, wie Anm. 53, S. 27).

62 Faksimile in: Kosciuszko: Köln. Volkszeitung, wie Anm. 3, S. 151-164 - Zur Zeitschrift >Das Zwanzigste Jahrhundert< vgl. Kramer, wie Anm. 44.

63 Abels, wie Anm. 3, S. 160

64 Titel des Essays von Cardauns 1902; wie Anm. 36

65 Zum Titel >Hochland< vgl. Weitlauff, wie Anm. 44, S. 136. Zahlreiche Sätze in Carl Muths >Ein Vorwort zu >Hochland< < (I. Jg., 1. Bd., S. 1­8) entsprechen, zumindest in den Formulierungen, Gedankengängen Mays, etwa: »Ist es doch eine Tatsache, (...) daß es unserm Gegenwartsleben an Idealismus, an hohem vornehmem Sinn und ernster Religiosität gebricht, daß wir, allzusehr in Diesseitigkeit befangen, den Blick zu verlieren beginnen für die höheren Güter des Lebens (...) Aber (... ) es regt sich auch in den Tiefen der Volksseele bereits etwas wie ein Sehnen und Verlangen, dem müde gehetzten Dasein wieder jenen Schimmer idealer Verklärung und die ruhige, sonnige Harmonie zu geben, wie sie früheren, glaubensstarken und deshalb hochgerichteten Zeiten jedenfalls in höherem Maße eigen waren als uns. Angesichts dieser Tatsache gilt es, der bisherigen Tiefenstimmung bewußt und klar eine Höhenstimmung entgegenzustellen, einen idealen Hochlandssinn und Hochlandsgeist auf allen Gebieten (...)«

66 Vgl. Weitlauff, wie Anm. 44, S. 160: der Rottenburger Bischof Paul Wilhelm von Keppler bezichtigte vor der Deutschen Bischofskonferenz die >Augsburger Postzeitung< des Modernismus, während Cardauns sie offenbar als antimodernistisch einstufte (Plaul, wie Anm. 45, S. 212).

67 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Dritter Aufzug. Sechster Auftritt

68 Schmid: Karl Mays Augsburger Vortrag, wie Anm. 2, S. 23 und 41

69 Ebd., S. 5 ­ Die Briefe Mays an Pustet/Denk (wie Anm. 53) legen den Verdacht nahe, daß er in grandios verzerrter Wahrnehmung den Modernismus-Streit nur für einen Nebenkriegsschauplatz des Karl-May-Problems ansah.

70 Vgl. P. Ansgar Pöllmann: Karl May im Lichte der praktischen Pädagogen. In: Die Bücherwelt. Bonn, Nr. 9/10 (Juni/Juli 1910); zit. nach: Hansotto Hatzig/Gerhard


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Klußmeier: Pöllmann versus May - May versus Pöllmann. Dokumente zum Ende einer Kontroverse ohne Schluß. In: Jb-KMG 1982. Husum 1982, S. 245-284 - Pöllmann, der auf Rentschkas Artikelserie verweist (S. 261), greift zentrale Begriffe der Modernismus-Debatte auf, etwa den >Indifferentismus<: Mays Werke seien ein »Nährboden der Verschwommenheit und Unentschiedenheit« (265). May sei nach dem Augsburger Vortrag von der >Augsburger Postzeitung< auf den »Lehrstuhl der Völker« (d. h. dem Papst gleich-) gesetzt worden; für Pöllmann der Anlaß, »einmal gründlich Abrechnung zu halten.« (Ebd., 262)

71 Hanna-Barbara Gerl: Einer Freundschaft Blühen. In: Begegnungen in Mooshausen. Romano Guardini u. a. Hrsg. von Hanna-Barbara Gerl, Elisabeth Pregardier, Annette Wolf. Weißenhorn 1989, S. 9- 18 (9)

72 Joseph Bernhart wie Anm. 59 S. 298

73 Karl May: Der >'Mir von Dschinnistan<, wie Anm. 55, S. 936.


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Anhang

Von den zahlreichen Artikeln, die die >Augsburger Postzeitung< in den Jahren vor 1912 über May brachte, haben wir die beiden folgenden ausgewählt, um durch sie stellvertretend zu dokumentieren, wie ausführlich und mit welcher Tiefe wie Schärfe zugleich das Blatt über die späten Werke und Jahre des Radebeuler Schriftstellers informierte. Lorenz Krapps ebenfalls sehr bedeutender Aufsatz >Das Problem Karl May< wurde bereits im Sonderheft Nr. 82 der KMG zur Augsburger Tagung neu abgedruckt (vgl. oben Anm. 12).

Literarische Beilage zur >Augsburger Postzeitung< vom 2. 11. 1906 (Nr. 48), S. 380f.:

Babel und Bibel, arabische Fantasia in zwei Akten von Karl May. Erschienen in Freiburg i. Br. bei Fr. Ernst Fehsenfeld.

Die vieldeutige Fassung des Untertitels läßt es zweifelhaft, welcher Art dramatischer Kunst das Werk beizurechnen sei. Mit Legenden oder Mysterien läßt es sich wohl schwer vergleichen; wie in seinen Romanen, wandert K. M. auch hier seinen eigenen Weg. Die Aufgabe, die er sich gab, war die, jene zum Teil merkwürdigen Ansichten über Gott und die Welt, die er in seinen letzterschienenen Büchern zur Schau stellte, in das Gewand der Bühnenkunst zu kleiden. Sämtliche Persönlichkeiten sind allegorisch gehalten, und zwar in der Weise, daß selbst dem naiven Leser oder Zuschauer Absicht, Sinn und Zweck nicht entgehen kann. Abu Kital, Scheik der An'allah (Geist des Morgenlandes), dessen Inneres noch ungeläutert und mit Schlacken behaftet ist, läßt sich unbewußt leiten von Babel (Wissenschaft; die beste und treffendste allegorische Bezeichnung!), vom Imam (Glaube) und Kadi (Recht). Dem verderblichen Einfluß der beiden letzteren gehorchend, hat er sein Weib Bent'ullah (Bibel, bezw. das Neue Testament) verstoßen und mit ihr seinen (damals) unmündigen Sohn Ben Tesalah (Geist des Abendlandes). Das war vor langen Jahren, und seither ist sein Herz rauh und trotzig worden, wenngleich die alte Wunde noch immer brennt und ihn zuweilen leise Reue beschleicht. Hier setzt der erste Akt ein. Der Scheik rüstet zum Verteidigungskampf gegen die feindlichen Kiram (die neuerungsfreundlichen, aufgeklärten Orientalen), die sich mit dem Abendland vereinigten und unter Ben Tesalah, von dessen Abkunft er keine Ahnung hat, heranziehen, um den Schatz (Kuran u.s.w.) der An'allah (der starrgläubigen, orthodoxen Orientalen) zu rauben. Im Bunde mit jenen befindet sich auch Marah Durimeh (die Menschheitsseele). - Man beachte, welch seltsamen Unterschied zwischen Geist und Seele May aufstellt. ­ Solchergestalt sind in kurzen Umrissen die Grundgedanken des Werks. Der Inhalt selbst schildert uns, wie der Scheik sich von der Tücke des Imams und des Kadis überzeugt, und wie er wahrnimmt, daß auch Babel ihm nur ein ehrliches Wollen, nicht aber unbedingtes Können bieten kann: Wissen ist Stückwerk. Die vermeintlichen Feinde nahen ihm verklei-


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det und gewinnen seine Achtung und seine Liebe. Und der Ausklang: Anerkenntnis der Heimgekehrten, die Versöhnung, der Sieg der Bibel, des Neuen Testamentes. Das Buch enthält nirgends Theosophismen; noch weniger darf man es frömmelnd nennen; katholische Tendenz fehlt vollständig; überhaupt sind keinerlei religiöse Streitfragen berührt. Vielleicht kann man es treffender als kulturhistorisch bezeichnen; wie schon in seinem letzten Romane »Und Friede auf Erden« tritt K. M. als Verfechter der Ansicht auf, daß der Orient Träger oder wenigstens der Mitträger der künftigen Kultur sein werde; er hält die seit Jahrhunderten dort brach gelegene Geisteskraft für fähig und für nötig, bei der Erdvervollkommnung mitzuschaffen; nur sei die christliche Religion erforderlich, um befruchtend zu wirken. Mays Schöpfung besteht aus zwei Akten zu je genau 1000 Verszeilen; Versmaß: der fünffüßige Jambus. Die Handlung ist bühnengerecht, abwechslungsreich, ohne Verwandlungen im Akte und dürfte durch ungewohnte Szenerie und Kostümierung zur Geltung gelangen. Zu Liebhaberbühnen wird sich »Babel und Bibel« den Weg sicherlich bahnen, wenngleich hohles Pathos und leere Geste der Aufführung mehr als jeder andern schaden wird. Was den Erwerb durch ein öffentliches Theater betrifft, so scheint der Verfasser diesbezüglich große Erwartungen zu hegen (S. 87) »Hinter ihm - - - -- mit einigen Eseln und, wo ein zoologischer Garten es ermöglicht, mit Kamelen.« Ob dieser Fall eintritt, wage ich nicht zu beurteilen. Quien sabe?! Jedenfalls haben Mays Ansichten über »Geist und Seele« weit mehr Daseinsberechtigung als Wedekinds »Erdgeist«-Gefasel. Das Motto

lautet:

»Gott schuf die Schöpfung nicht als Trauerspiel;
   Ein tragisch Ende kann es nirgends geben.
    Zwar jedes Leben ringt nach einem Ziel,
Doch dieses Ziel liegt stets im nächsten Leben.«

Bamberg.

Euchar Schmid.

Augsburger Postzeitung vom 6. 2. 1909:

Karl May. Eine literarische Porträtstudie*

Seit Terenz haben Bücher Ihre Fata. Diejenigen, die den Namen unserer Ueberschrift im Titelblatte führen, sind seit anderthalb Dezennien viel gelobt, viel getadelt, aber noch viel mehr gelesen und sogar auch gekauft worden. Letzteren Beweis erbringt ihre neue, illustrierte Sammelausgabe, die seit Ende vorigen Jahres zu erscheinen beginnt.(1) Die früheren, sehr auseinandergehenden Beurteilungen Karl Mays sind an mehreren beachtenswerten Stellen einer gewissen Revision unterworfen worden, und das nicht zu Mays Nachteil. Aufmerksamkeit verdient er unbedingt, schon als geistige


* Aus dem Wiener »Vaterland«.

1 Karl Mays Reiseerzählungen. Neue illustrierte Ausgabe. 31 Bände. Verlag von F. E. Fehsenfeld, Freiburg im Breisgau.


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Macht in den Strömungen unserer Zeit, zu der ihn die unerhörten Auflageziffern seiner - überdies auch in den meisten fremden Sprachen verbreiteten ­ Reiseromane stempeln.

Ihre ersten Anfänge reichen um dreißig Jahre zurück, in die Zeit, da Karl May, schon vierzigjährig, im »Deutschen Hausschatz« sich mit der großen Reisenovellenserie »Giölgeda Padishanün« (Im Schatten des Großherrn, des »Schattens Gottes auf Erden«), die Sporen als »phantasiereichster aller Fabulisten« verdiente. Vorher, als Anwalt der Scholle in »Erzgebirgische Dorfgeschichten«, war er nicht durchgedrungen; als Herold der Fremde sah er sich von Lesern sofort umschart.

Mag sich May aber unter Lammfellmütze oder Turban, Fez oder Sombrero, mag er sich in den Pelz des Zobeljägers, die Weiße des Beduinenburnus, den ledernen Jagdrock des Trappers, die geblümte Seide des Chinesen stecken, wir spüren über all der Buntheit des exotischen Milieus die Kraft einer einheitlichen, in sich geschlossenen Lebensanschauung, einer wirklichen Persönlichkeit.

Da ist eine wachrüttelnde, aufrichtende, mit sich fortreißende Tatenenergie in diesen Reiseerlebnissen, daß der Gedanke an Heldengesänge bei uns anpocht, wo Odysseus Länder und Meere durchirrt, Siegfried Bären besteht, Hüon im Walde von Askalon mit Mauren ficht und Bayard weder Furcht noch Tadel kennt, alle aber nach Tells Wort handeln:

Wer frisch umherspäht mit gesunden Sinnen,
Auf Gott vertraut und die gelenke Kraft,
Der ringt sich leicht aus jeder Fahr und Not ...

Dieser Hymnus der Tatenfreude, der überschüssigen Lebenskraft, des herzfrischen Vertrauens ist ins Zeitalter der Blasiertheit und Nervosität geworfen, wie ein Magnet in den Spänehaufen, in Abschnitzel und Überbleibsel des Einstig-Eisernen. Alles drängt hin.

Die Phantasie, dieses Zentralfeuer aller Geistesschöpfung, strahlt bei May in hellem Glanze, und diese sehr seltene, bei ihm schier unerschöpfliche Brunnenkraft der Fabulierung ist nicht das letzte der Mittel, unentrinnbar gefangenzunehmen. Unterhaltungsfutter wird gelesen und weggeworfen. Sehr viele Leser aber sind zu treffen, die starke, fortwirkende Eindrükke von Personen und Ereignissen bei May empfangen haben; geht doch Dr. Hugo Eik(2) so weit, von »okkulten« Wirkungen zu sprechen und »irgendwelche faszinierende Ausflüsse« bei May anzunehmen.

Die zahlreiche Jugend, die May liest, muß beim Stoff, bei der physischen Person, beim Abenteuer haften bleiben, deren figürliche Bedeutung innerhalb eines bestimmten Gedankenkreises ihr entgeht. Deshalb kann May nicht als Jugendschriftsteller, wie dies vielfach geschieht, angesprochen werden. Die gedanklichen Werte seiner Werke, die hier einmal gestreift seien, sind nur reiferen Menschen zugänglich, und nur solche haben die


2 Beilage zur »Allg. Ztg.« Nr. 130 vom 14. Juli 1907.


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notwendige geistige Augenschärfe, die Schleier der Mystik, wie sie in den letzten drei, vier Büchern Mays zu wehen beginnen, zu durchdringen.

Seltsamerweise war es ein bildender Künstler, dem zuerst die Widerlegung des alten Vorurteils gelang. Sascha Schneider, von dessen frühesten Kartons schon einige - »Kampf um eine Seele«, »Gedanke an die Unendlichkeit« - dem Kenner schlechtweg als gezeichneter May galten, schuf eine Karl May-Mappe(3), um in ihren Blättern den Geist sichtbar zu machen, in dem an das Innere der Mayschen Bücher heranzutreten ist.

In seinen »Briefen über Kunst«(4) hat May die Kunst als diejenige Geistes- und Seelentätigkeit definiert, die in das Innere eines Gegenstandes eindringt, um nach Erfassung seines Wesens das Aeußere im Einklang mit dem Innern darzustellen. Wenn diese Begriffserklärung richtig ist, dann ist May auch ein Künstler. Dieser schafft die physischen Personen des Globetrotters May derart um, daß sie vollständig zur Materialisation des inneren, typischen Menschen werden und sich von der Psyche eines veredelten, in Wirklichkeit noch nicht erreichten Daseins leiten und bestimmen lassen. Denselben Weg hatte auch die Illustration der neuen Buchausgabe zu gehen. P. Schnorr v. Carolsfeld, Willy Moralt und Klaus Bergen leiten ihre Zeichnungen ins Märchenreich hinüber, geben den Bildern aber soviel an Stoff und Wesentlichkeit mit, »daß sie auch als Werke der Gedankenkunst doch porträtierende Illustrationen bleiben«.

Karl May bemüht sich, in seinen Gestaltungen die größte Aehnlichkeit der Reiche des Geistes mit denen der sichtbaren Natur nachzuweisen. Jedes geistige Leben hat bei ihm die Aufgabe, durch sämtliche Ordnungen des Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreiches zu steigen bis zur völligen Freiheit und Selbständigkeit der »Schöpfungskrone«. Die pfadlose Wüste der Unwissenheit, in der wir uns über uns selbst befinden, wird ihm zum Bilde in den Einöden der Sahara(5), wo die Wanderung seines »Ich« im ersten Bande beginnt.

Diese »Ich«-Form der ganzen Reiseerzählung, die zur geistigen Identität lückenlos auch die körperliche treten läßt, erzielt die größte Unmittelbarkeit der Wirkung, den stärksten Duft des Erlebten und Wahren. Sie ließ zwar einerseits jede literarische Kritik leicht persönlich werden, hatte aber andererseits den Vorteil, den Autor dem Leser sofort menschlich nahezu


3 Sascha Schneider, Titelzeichnungen zu den Werken Karl Mays. 25 Doppel-Tondruck-Autotypien. Mit einführendem Text von Dr. Johann Werner, ordentlicher Professor der Universität Leipzig. Preis 12 Mark. Freiburg 1905.

4 »Der Kunstfreund« (Innsbruck), 1906 und 1907.

5 Es ist dem Illustrator sehr gut gelungen, diese Stimmung über das Landschaftsbild des Schott el Dscherid, des »Meeres des Schweigens«, zu breiten. Ebenso hervorzuheben sind die Bilder von Mekka und der Kaaba (I, 244), dem Tale Idiz (II, 9), des Gartens von Esma Khan (II, 139), Kalah Gumri (II, 180), der See Zeribar (als kurdisches Vineta, zu III, 135), die Ruine des Babelturmes (III, 255), ferner die tanzenden Derwische (III, 385), der Genueserturm von Galata (III, 435) und Ostromodscha (IV, 433)


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bringen und zu jener aufrichtigen persönlichen Verehrung zu führen, die im Geiste immerfort Hände schüttelt und wohl auch küßt. Geboren ist sie aus dem Prosagefühl eines »Abgeordneten der ganzen Menschheit«, der ihre uralten Rätselfragen(6) an die Völker aller Zonen richtet. Winnetou ist die Antwort auf Old Shatterhand, Marah Durimeh die Antwort auf Kara Ben Nemsi, dessen Weg zu ihr bei Halef Omar beginnt, dem Prahlhans und Pseudohadschi, der auf der himmelhohen Hassi-Ferdschahn seiner Einbildung sitzt; in ihm will May die menschliche Anima zeigen, die zu Unrecht als »Seele« bezeichnet wird und in der obenerwähnten geistigen Evolutionsreihe erst bei den verschiedenen animalischen Nuancen hält. Jedenfalls ist diese Figur sowohl als individueller Charakter, als auch - bei der tatsächlichen Renommiersucht des Naturmenschen ­ völker-psychologisch vollkommen richtig gezeichnet. Darüber hinaus, in seinem letzten Zweck, ist dieser Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Haschi [!] Dawud al Gossarah als Mays zweites Ich zugleich seine Generalbeichte, im Sinne der Ibsenschen Definition des Dichtens: »Gerichtstag halten über sein eigenes Ich.« May hat ihn zu seiner Selbstbefreiung geschrieben, in ihm die verlassene Sprosse seiner eigenen, ad altiora schreitenden Entwicklung gezeigt und damit auch dargetan, daß er den Vorwurf einer egoisierenden »geistigen Enterbung der Mitwelt« nicht verdient.

May liebt als Schauplatz seiner Erzählungen vorzugsweise den Orient, liebt ihn als Heimat von Völkern, denen die Menschheitsseele ihre Jugendbegeisterung widmete. Darum spürt er ihren Flügelschlag von allen Ländern am stärksten im Morgenlande: »Droben auf den Bergen, da liegen sie in tiefer Einsamkeit, vom hohen Forst beschützt, die immerklaren Wasserspiegel. Von unentweihten Quellen gespeist, fließen sie über von Segen für jedermann, der von dem sumpf- und fieberreichen Strome aufwärts nach seinem Ursprung wandert. Die holde Fee der Menschheitskinderzeit geht liebreich wandelnd von Haus zu Haus. Des Edens fromme Sage wird beim Scheine des brennenden Spans an jedem Herd erzählt, und wenn die Ahne im lauschenden Kreise der Enkel eine mit ihr altgewordene Mär erzählt, so hebt sie wohl mit den Worten an: »Als wir noch Kinder waren« ...« (Band 28, 563).

Diese »holde Fee« ist May zum weihevollen Bilde geworden in Marah Durimeh, der über hundertjährigen Königin von Sitara, dem »Land der Sternenblumen«, wo sie mit scharfem Mutterauge über ihren Schützlingen wacht. Sie taucht schon am Beginne der Mayschen Bändereihe(7) auf im »Höhlengeist zwischen Aschiehta und Gunduktha«, sie kehrt »Im Reiche des silbernen Löwen« wieder und durchschreitet »Babel und Bibel« als »Phantasie«. Im »'Mir von Dschinnistan« schattet sie voraus in jenes »heil'ge Land«, in dem die Zukunft aller Menschen liegt«. In ihrem Zei-


6 Sascha Schneider hat einer Karl May-Büste aufs glücklichste diesen Sphinxcharakter zu verleihen vermocht.

7 Band II. 330.


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chen stehen auch die »Himmelsgedanken«, Gedichte, die May von seiner letzten Orientreise heimgebracht hat, Lieder, leise bittend und klagend werbend für die unerkannte »Menschheitsseele«:

Ich hatte dich so oft, so gern gesehen,
Als pilgernd ich zum Morgenlande kam.
Ich sah dich leiden, und so ist's geschehen,
Daß ich dein Bild im Herzen mit mir nahm.
Du gingst von dort nach allen, allen Landen,
Doch, wo du grüßtest, dankte man dir kaum.
So bliebst du unbeachtet, unverstanden,
Ein armes Weib - der Menschheit Jugendtraum.

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Ich weiß es, daß ich mit dir steh' und falle,
Daß deine Zukunft auch die meine ist
Und daß als leiser Ton ich mit erschalle
In dem Akkorde, dessen Klang du bist...

Im »Reiche des silbernen Löwen«, einem 1903 vollendeten Schlüsselroman, zeigt May das physikalische Gesetz von Licht und Schatten auch im Geistesleben wirksam. Wie Chamisso uns vom Mann ohne Schatten erzählt, so May hier anthropomorphotisch vom Schatten des Mannes. Wir sehen Ahriman Mirza, die Macht der in der Schönheit versteckten Fäulnis des in die Wahrheit verhüllten Truggedankens. Sehen hinter jeder Tugend ihren Schatten, der nichts als ihre Uebertreibung ist; sehen den Sonnen-Untergang eines Lebens und jubeln seiner strahlenden Renaissance entgegen.

Solche Schöpfungen erfordern, daß Idealist und Realist - in stetem Brückenschlagen vom Sänger zum Helden, vom Dichter zum Krieger vom Träumer zum Tatmenschen ­ zuvor einen innigen Bund eingegangen sind. Dieser hat dem ideologischen Ueberbau das konkrete Fundament der fremden Kulturen zu liefern, geographisch, folkloristisch und sozial getreu, vom Padischah in Istambul herunter bis zum Ungeziefer seiner Untertanen(8), vom Leben in englisch dirigierten Riesenhotels mit Tropen-Anzügen und Dinerfräcken bis zum Wildnisleben an der Indianergrenze mit seinen scharfsinnigen »Westmännern«. Er ist es, der uns in den amerikanischen Abolitionskrieg, die Ku-Kluxerherrschaft, die Juarezzeit führt, uns 1865 die ersten Anfänge der Atlantik- und Pazifik-Railway, 1873 das Pronunziamento Lopez Jordans am Rio de la Plata, am 9. September 1881 den Putsch Arabi Paschas in Kairo und das Aufsteigen des Mahdismus miterleben läßt. Er ist es auch, der in seiner treuen Schilderung des balkanischen Bandenwesens, der persisch-türkischen Grenzzustände ewig aktuell bleibt und all den exotisch prasselnden Uelad Khramemssa, Mescaleros, Tetongs Stakemen, Railtroublers, Cowboys, Peons,


8 Vergleiche das Schnorrsche Bild zu Bd. IV, S. 243.


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Tramps, Assineboin, Yumas, Dongiol und Beni Dscheheine immer neue Jünger wirbt.

Der Schilderer all der Herrlichkeiten muß Plastik haben, lebendige Konturierung und überhaupt reiche Schattierungen eines artistischen Könnens, das von der Federskizze bis zur Freskenbreite reicht. Er muß Romantiker sein in der Freude am Lyrischen, im Persönlichkeitsgefühl, im Lauschen aufs Innere, in der mysteriösen, Opfermut weckenden Kraft der Idee und dabei über Logik von Dolchesspitzen verfügen, die ihre eisige Berechnung bis in die letzten Kombinationsmöglichkeiten treibt. Karl May hat es und ist es. Streicht mit wenigen Zügen prachtvoll anschaulich hin, was er will, die wogende Pampa, die samumhauchende Wüste, das indische Dschungel, das Hochland der Anden. Oder das Erwachen aus einem Starrkrampf: »Mein Herz stand still und meine Lungen waren wie Stein. Es war totkalt in mir und dennoch lebte ich. Ich wollte mich bewegen, und ich konnte nicht. Ich wollte die Fäuste ballen, schreien, fluchen, beten; ich konnte nicht. Ich war wie eine Erzfigur im weichen, warmen Daunenbett. Meine Zunge lag in meinem Munde wie Eisen und doch fühlte ich jeden Lufthauch, hörte ich die Fliegen draußen am Fenster summen« ...

In unzähligen Variationen klingen bei May die Töne der Liebe, in ihrer Gesamtheit eine brausende Symphonie der christlichen Caritas. Er, der Weltläufige, hat sich bei seinen Wanderungen in den Ländern des Kur'an, der Zend-Avesta, der vier Vedas und der fünf Kings jenen richtigen Distanzblick auf europäische Kultursegnungen erworben, der - ungleich Goethes »Chinese in Rom« - ethnologisch gerecht urteilt. Man lese z. B. die Apostrophe an China (Bd. XI, 70), um zu sehen, wie dünkellos und lernbereit sich May fremden Volksgeistern nähert.

Für den religiösen und politischen Frieden hat May eine besondere irenische Studie geschrieben, seine letztvollendete Reiseerzählung »Und Friede auf Erden«. Hier läßt er, Philadelphien gleich, der vom Apokalyptiker einzig ungetadelten Gemeinde, auf chinesischem Boden den Bund der »Shen« entstehen, der in der echten Bruderliebe des Gesetzes Erfüllung sucht.

Auf diese Weise die Lösung des uralten Menschheitsproblems der Aussöhnung von Morgen- und Abendland empfehlend, hat May es unternommen, mit der glühendsten und liebevollsten seiner Federn den Orient uns solchen Bestrebens wert zu zeigen. Da weitet sich seine Schreibstube förmlich zu einer Kirche, in der die Gedanken wie Heilige rundum auf den Stühlen sitzen.

Der Orient birgt noch ungeahnte Schätze, die er mit dem Okzident redlich eintauschen wird,(9) wenn dieser sich endlich bequemt, die ihm geliehe-


9 In der Musik z. B. erwartet Georg Capellen in einem neuen exotischen Musikstil die Vermählung von Orient und Okzident durch Verschmelzung der Tonsysteme, ebenso wie Saint-Saens die Belebung der erschöpften Melodik des Abendlandes durch das Primitive, Wolkige, die Formenwelt preisgebende orientalische Tonart erhofft.


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nen geistigen Summen seiner Urheimat zurückzuerstatten. Denn die birgt auch schlafende Riesen, leuchtender Zukunftshoffnungen voll, die einst in schrecklicher Lebensstärke ihre entfremdeten Söhne heimsuchen, eine Verwirklichung der johanneischen aetas consolatoria bringen können; begonnen mit der Erneuerung Japans, fühlsam in der Wiedererstarkung des islamitischen Chalifatsgedankens, wie sie sich in der selbstschöpferischen Kulturtat der gewaltigen Hedschasbahn(10) ausdrückt, im Emporbäumen des osmanischen Nationalstolzes gegen die Legende vom »kranken Mann« und anderen Zeitzeichen.(11)

Die Liebe zur roten Rasse hat May Winnetou finden lassen, dieses wurzelechteste Stück Autochthonenpoesie, geboren aus der tiefen Melancholie der dark and bloody grounds.

Auch hier sieht er Zukunft, Winnetou als das Prototyp des werdenden Edelmenschen. Kenner bemerken eine Erholung, eine Vermehrung des »sterbenden Mannes«. Er beginnt in die Wissenschaft, ins öffentliche Leben zu treten. Der Tuskaroraindianer Hewitt ist ein bedeutender Soziologe, ein Riowa, Lone Wolf, nimmt einen Lehrstuhl des Griechischen ein, ein Pottawatomie, Charles Curtis, sitzt im Senat von Washington, der Tscherokese Oskison redigiert die »Evening Post« in Newyork, der Komanchenhäuptling Quanahj Parker ist Millionär und Besitzer der reichsten Kupferminen der Welt in Oklahoma, wieder andere sind Aerzte oder sonstige Kulturarbeiter. Die Ehen zwischen Weißen und Indianern mehren sich, und es ist kein Zweifel möglich, daß ein weltgeschichtliches Gesetz einst den Yankee verschwinden lassen wird, um an seine Stelle einen neuen Menschen zu setzen, »dessen Seele germano-indianisch ist«. Zehn Jahre vor Breysig und Lamprecht hat May schon den Ruf erhoben nach einer Geschichtswissenschaft, die nachweist, daß weltgeschichtliche Kräfte nach bestimmten historischen Gesetzen bestimmte weltgeschichtliche Erscheinungen hervorrufen. Die bisherige Historik lehnte er als »einfache Chronik« ab. »Dann erst können wir sagen: wir haben Geschichte. Dann werden wir Herren der Ereignisse sein; dann werden wir sie zu fabrizieren verstehen, wie der Handwerker sein Werk. Dann wird die Geschichte das Kind Politik gebären, das als Königin des Erdkreises ihm den ewigen Frieden bringt.« (Band 23,69)

Der Weg zu diesem Isaiasideal des »Segens inmitten der Erde« (19,24) führt durch unsere Seelen, die Herrinnen werden müssen, wo sie bis nun Aschenbrödel gewesen sind. Strindbergs »Gotische Zimmer« sprechen das neue Jahrhundert der »Seele« zu. May ist ihr erster Pionier.

Amand Edler von Ozoroczy


10 Siehe Wiener »Vaterland« vom 31. v. Mts. 11 Vergl. »Das Erwachen Chinas« (»Vaterland« vom 6. ds. Mts.).

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