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HELMUT SCHMIEDT

Der Klassiker, der andere Klassiker und ihre Leser · Über Kuriositäten und Analogien in der Rezeptionsgeschichte Goethes und Karl Mays



Ein Kritiker moniert: Es »geht der Gedankengehalt in der dichterischen Form nicht mehr auf, das Interesse an den Personen des Romans und ihren Schicksalen hat ein Ende, und wir finden uns (...) mehr und mehr in eine symbolische Schemenwelt versetzt.« Man könnte – im Blick auf den Erscheinungsort der vorliegenden Arbeit – vermuten, das literarische Werk, um das es hier geht, stamme vom späten Karl May, es handle sich um den dritten und vierten Band des »Silberlöwen« und der zitierte Kritiker habe seine Bedenken in einem der alten Karl-May-Jahrbücher zwischen 1918 und 1933 vorgetragen. Tatsächlich finden sich dort Kommentare zu Mays Spätwerk mit einer ganz ähnlichen Tendenz; aber der obige Satz wurde schon 1872 von David Friedrich Strauß formuliert, und sein Bezugsobjekt sind die »Wanderjahre«, eine Dichtung also, die Johann Wolfgang von Goethe in hohem Alter verfaßt hat.(1)

   Karl May ist – so überraschend es zunächst klingen mag – bereits mehrfach mit den Klassikern unserer Literaturgeschichte und insbesondere mit Goethe, ihrem größten, auf die eine oder andere Weise in Verbindung gebracht worden.(2) Der Schriftsteller Martin Walser beispielsweise hat auf das in seiner Sicht übermäßige Harmoniebedürfnis des Weimarer Olympiers hingewiesen, das die Entfaltung von Konflikten eigentlich immer nur mit dem Blick auf deren spätere Lösung zulasse, und er hat sich nicht gescheut, unter diesen Vorzeichen Parallelen zwischen den Werken Goethes und Mays zu ziehen.(3) Mir selbst ist vor einigen Jahren aufgefallen, daß sich kleinere Abschnitte der Mayschen Autobiographie wie eine Kontrafaktur zu »Dichtung und Wahrheit« lesen lassen; zumindest ein Teil jener Stellen, etwa die Episode mit dem Puppentheater, dürfte von May ganz bewußt in diesem Sinne konzipiert worden sein.(4)

   Im folgenden soll es aber nicht darum gehen, ob und in welchem


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Grad die Schriften der beiden Autoren tatsächlich nennenswerte Gemeinsamkeiten und verwandtschaftliche Nähe aufweisen. Ich will auf etwas anderes hinaus: auf den Umstand, daß sich die Wirkungsgeschichten Goethes und Mays ertragreich miteinander vergleichen lassen, die Reaktionen, die sie beim großen Publikum, bei den Kritikern und Fachwissenschaftlern geerntet haben. Die These sei gewagt: zumindest in einigen, vielleicht in vielen Bereichen ähnelt die Wirkungsgeschichte Karl Mays derjenigen Goethes auf erstaunliche Weise; das gilt auch dann, wenn man die Detailunterschiede in der Rezeption ganz und gar anerkennt, und es gilt erst recht, wenn man von einem Vergleich der Werke nichts hält und die im vorigen Absatz zitierten Thesen als abwegig beurteilt. Mit anderen Worten: jene gedankliche Nähe, die zwischen dem einleitend zitierten Kommentar zu Goethes Spätwerk und manchen Äußerungen zu Mays letzten Arbeiten besteht, ist durchaus exemplarisch.

   Ich wende mich zunächst dem wissenschaftlichen Umgang mit den beiden Schriftstellern zu. Goethe ist sicherlich der von der deutschen Literaturwissenschaft am häufigsten und intensivsten besprochene Autor überhaupt; in gut ausgestatteten germanistischen Fachbibliotheken füllt die Literatur über ihn viele Regale. Das gewaltige Interesse setzte bereits zu seinen Lebzeiten ein und hat sich bis heute, mit kleinen zwischenzeitlichen Schwankungen, nahezu unverändert erhalten. So spiegelt sich in der Goethe-Forschung zwangsläufig die gesamte Geschichte der Germanistik, wie sie sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Der Positivismus ihrer Frühzeit ist da ebenso zu studieren wie die geistesgeschichtliche Orientierung der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, und auch alle weiteren methodischen Verfahrensweisen haben sich in der Auseinandersetzung mit Goethe bewähren müssen, vom Marxismus bis zur empirisch ausgerichteten Literatursoziologie, vom Strukturalismus über die Literaturpsychologie bis zum Poststrukturalismus französischer Provenienz; man kann sogar den Versuch wagen, die Geschichte einer ganzen analytischen Tradition in bezug auf ein einziges Goethe-Werk umfassend zu dokumentieren.(5)

   Von einer seriösen May-Forschung größeren Ausmaßes ist demgegenüber erst seit den späten 1960er Jahren zu reden. Dann aber ging es rasch vorwärts, und im Zuge dieser Entwicklung wurde manches von dem nachgeholt, was im Falle Goethes über viele Jahrzehnte hinweg gediehen war: Die biographische Forschung erschloß immer neue Details, in literaturhistorischer Sicht wurde May zu so unterschiedlichen Größen wie Vulpius, Lessing und Kaffka in Beziehung gesetzt,(6) der


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politisch-ideologische Gehalt seiner Werke rückte ebenso ins Blickfeld wie die psychische Konstitution des Autors, die Frage nach der ästhetischen Qualität der Texte wurde ausführlich besprochen und die ihres Einflusses auf die Leser; die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Die allermeisten jener Verfahrensweisen, die sich in der Entwicklung der Neueren deutschen Literaturwissenschaft herausgebildet haben, fanden mithin auch Eingang in die May-Forschung, und so stellt sich nun auch diese als ein Spiegel der Geschichte des Faches dar bzw. als ein Kompendium, in dem die Phänomene in besonders dichter Zusammenballung auftauchen. Daß die Konstellation im Falle Mays gewissermaßen verspätet auftritt,(7) daß die Akzente des Interesses anders gelagert sein mögen als bei Goethe, daß die Zahl der Arbeiten zu May weiterhin um ein Vielfaches geringer ist und vermutlich für immer bleiben wird: an diesen und anderen Unterschieden ist nicht zu zweifeln, aber sie ändern im Kern nichts an der Triftigkeit der generalisierenden Feststellung. Der Umstand, daß wir in der May-Forschung mittlerweile schon sog. Tertiärliteratur benötigen,(8) um in der sog. Sekundärliteratur nicht völlig den Überblick zu verlieren, deutet im übrigen an, wie weit in quantitativer Hinsicht auch hier die Entwicklung gediehen ist.

   Aber nicht nur das Gesamtbild der Forschung bietet Übereinstimmungen; sogar in vielen Einzelheiten lassen sich Parallelen entdecken, und sie beginnen bereits bei dem elementarsten Problem: der Bereitstellung der Texte. Bei beiden Autoren ist umstritten, wie das Werk editorisch am sinnvollsten zu betreuen ist; im Falle Goethes hat dies zu einer kaum noch überschaubaren Fülle von Teil- und Gesamtausgaben mit unterschiedlichster Konzeption geführt, im Falle Mays zu jenem Nebeneinander teils konkurrierender, teils einander ergänzender Editionen, das ich hier mit den Stichworten Freiburger Ausgabe, Bamberger Ausgabe, Reprints, historisch-kritische Ausgabe nur anzudeuten brauche. Viele Goethe-Herausgeber haben sich gescheut, ihren Lesern das »Tagebuch« zuzumuten, jenes heikle Gedicht, dessen Protagonist in eine delikate Situation gerät und sexuell versagt; analog dazu haben wir mehr als ein halbes Jahrhundert auf die Publikation der in mancher Hinsicht dubiosen, wenn auch faszinierenden »Studie« über Mays erste Ehefrau warten müssen, und die Gründe dafür dürften ähnlicher Art sein wie beim Goetheschen Skandalon. Bei einigen frühen Texten Goethes streitet man darüber, ob sie tatsächlich von ihm stammen;(9) in Entsprechung dazu ist an jene besonders anstoßerregenden Teile der Münchmeyer-Romane zu denken, für die May im Alter das Wirken unerwünschter Bearbeiter verantwortlich machte.

   Dissonanzen ergeben sich aber nicht nur bei editorischen Bemühun-


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gen und den divergierenden methodischen Verfahrensansätzen, sondern erst recht in den Ergebnissen des kommentierenden Umgangs mit den Werken; es scheint, als habe auch da der Weimarer dem »anderen« Klassiker, als den Gert Ueding May bezeichnet hat,(10) nur in quantitativer Hinsicht einiges voraus. Vergleicht man beispielsweise eine »Werther«-Interpretation, die in den fünfziger oder sechziger Jahren in der DDR publiziert wurde, mit einer geistesgeschichtlichen Abhandlung aus den zwanziger Jahren und mit einer vom Geist Jacques Lacans geprägten aus neuerer Zeit, so wird man teilweise nur mit Anstrengung davon überzeugt bleiben, daß sie sich allesamt mit demselben Roman befassen – zu unterschiedlich sind die gedanklichen Bewegungen und die Befunde. Während liberal gesonnene Kommentatoren in dieser Situation die Überzeugung vertreten, man könne literarische Werke generell unter den verschiedensten Perspektiven ertragreich betrachten und müsse sich auch nicht auf die Priorität dieses oder jenes Ansatzes bzw. einer bestimmten Erkenntnis festlegen, betonen andere den notwendigen Vorrang einer einzigen Orientierung. Auch die May-Forschung kennt diese zugespitzte Konfrontation, den Streit um den wenn nicht allein »richtigen«, so doch unbedingt zu bevorzugenden Umgang mit ihrem Objekt. Als ein Rezensent des »Jahrbuchs der Karl-May-Gesellschaft« die Konzentration auf May allein rügte und »Abhandlungen über Pauperismus, Militarismus, Kolonialismus oder über Schulwesen, Arbeiterbildung, Kolportagehandel und Informationsmarkt«(11) anmahnte, antwortete Hans Wollschläger nicht weniger streng: »mit Abhandlungen über Ismen wäre es nichts«(12) Der Streit über den rechten Weg der Forschung ist in diesem Fall und in vielen anderen abhängig vom jeweiligen Grundverständnis der Literatur und der für sie zuständigen Fachwissenschaft. Manchmal treibt er sogar weit über den Komplex der wissenschaftlichen Kontroverse hinaus und wirkt so, als ständen verschiedene religiöse Gemeinschaften einander unversöhnlich gegenüber; der Leser möge sich Beispiele aus der jüngeren Geschichte des Umgangs mit May selbst in Erinnerung rufen.

   Indessen kommt es vielfach auch da, wo man sich über einen gedanklichen und methodischen Ansatz einig ist, zu divergierenden Ergebnissen. Im Falle Goethes streiten z. B. diejenigen, die ihn primär unter politisch-ideologiekritischen Prämissen würdigen wollen, darüber, ob es sich um einen reaktionären »Fürstenknecht« oder einen fortschrittlichen bürgerlichen Humanisten handelt; in Entsprechung dazu gilt Karl May den einen als Wegbereiter des Nationalsozialismus und den anderen als Vertreter einer utopischen, auf Freiheit und Selbstbestimmung gerichteten Literatur. Ein krasses Beispiel für die verschiedenen We-


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ge [Wege], die selbst bei anscheinend übereinstimmenden Richtungsanzeigern noch beschritten werden können, bietet in unübertrefflicher Konzentration die Abteilung »Psychologische Annäherungen« des Sammelbandes zum Winnetou-Mythos. Dort finden sich mehrere tiefenpsychologisch-biographisch ausgerichtete Abhandlungen, in denen Winnetou mit beträchtlichem Argumentationsaufwand nacheinander als Objekt homosexueller Begierden, als Mutter-Imago und als Stellvertreter der Ehefrau des Autors betrachtet wird.(13) Das Pendant dazu entnehme ich der Bilanz eines »Werther«-Sammelbandes: »Diagnostiziert der eine Kommentator einen "nervösen Charakter", so setzt der andere auf die Karte einer zu schwach ausgeprägten Ich-Abwehr gegenüber dem Sog des unbewußten Selbst, während der dritte mit einer narzißtischen Regression argumentiert und der vierte die Besonderheiten eines bestimmten psychologischen Typs ins Zentrum rückt.«(14)

   Übereinstimmung oder zumindest Nähe kennzeichnet noch die apartesten Details der wissenschaftlichen Rezeption hier und dort. Daß Goethes Werk von streng fachwissenschaftlich ausgerichteten Kommentatoren überschwenglichste Huldigungen erfahren hat, ist weithin bekannt; erstaunlicherweise – denkt man an das vor wenigen Jahrzehnten noch kaum angefochtene Bild des der künstlerischen Qualität nicht verdächtigen »Volksschriftstellers« May – hat auch er mittlerweile euphorische Kommentare im wissenschaftlichen Kontext geerntet, z. B. Harald Frickes Diktum, May erst habe den großen romantischen Roman verfaßt, den die Romantiker selbst »nur  b e s c h r e i b e n ,  aber nicht  s c h r e i b e n  (konnten)«(15) – das ist selbst dann sensationell, wenn man es als typologische Standortbestimmung und nicht als Qualitätsurteil versteht. Wer bei Goethe und in seinem Werk Eigenarten findet, die diskreditierend wirken, verfügt immer noch über vielfach bewährte Verfahrensmöglichkeiten, mit exkulpierenden Erklärungen zu arbeiten; das gilt beispielsweise für die eben erwähnte These vom »Fürstenknecht« oder für Goethes teilweise recht befremdlich wirkenden Umgang mit Frauen, dessen fragwürdige Seiten etwa der Psychoanalytiker Kurt R. Eissler auf eine qualvolle Bindung an die Schwester Cornelia zurückführt.(16) Bei May ist solch ein kritischer Punkt die lang anhaltende Vorliebe für nationale, rassische und kulturelle Klischees, die gerade im Lichte seiner anderslautenden Äußerungen besonders auffallen: Man relativiert sie teils mit dem Hinweis, im Vergleich zu vielen schreibenden Zeitgenossen äußere er sich noch relativ moderat, teils mit der Betonung der poetischen Lizenz, die einem Schriftsteller im Umgang mit der Realität zuzugestehen sei, und teils – tendenziell im Widerspruch zu dieser These – mit der Erschlie-


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ßung [Erschließung] einschlägiger Quellen, die May als verläßlich ansehen mußte und die er gewissenhaft ausgewertet habe. Nimmt man das alles zusammen, so ist Mays Werk jede Chance ausgetrieben worden, in diesem Punkt einen schlechten Eindruck zu hinterlassen.(17)

   Zu diesen Beobachtungen wäre nun vielleicht einzuwenden, daß sie sich teilweise auch in bezug auf andere Schriftsteller formulieren ließen und insofern nichts Spezifisches zur Wirkungsgeschichte Mays und Goethes besagen. In der Tat: manches von dem, was hier ausgeführt wurde, ist nicht so sehr charakteristisch für den Umgang mit einem besonders exponierten Autor, sondern für die Praxis der Literaturwissenschaft überhaupt. Das gilt beispielsweise für den Umstand, daß sie sich ihren Forschungsobjekten unter den verschiedensten Perspektiven nähert und zu entsprechend abweichenden Ergebnissen gelangt. Entscheidend ist aber bei Goethe der Grad der Ausprägung, in dem die genannten Phänomene auftreten, und auf dieser Basis dann eben auch die Ähnlichkeit, die sich zur wissenschaftlichen Wirkungsgeschichte Karl Mays ergibt, der gravierenden Verspätung ihres Einsetzens zum Trotz. Gerade wenn man darauf beharrt, hier würden schlechthin nicht vergleichbare Autoren zueinander in Beziehung gesetzt und das Reflexionsniveau in der Goethe-Forschung liege, alles in allem, mit Notwendigkeit unendlich viel höher, gerade dann fallen die gleichsam strukturellen Gemeinsamkeiten um so deutlicher auf.

   Analoge Feststellungen treffen auch für den über den wissenschaftlichen Teil hinaus greifenden Bereich der Wirkungsgeschichte zu. Beiden Autoren ist euphorische, z. T. fanatische Verehrung beschieden gewesen; jenen Rezensenten, die nach der Lektüre des »Werther« kaum Worte für ihre Begeisterung fanden,(18) entsprechen die zahllosen »dankbaren Leser«, die ihrem Idol May brieflich oder während seiner öffentlichen Auftritte zur Zeit der Old-Shatterhand-Legende persönlich huldigten, und die Kinder und Jugendlichen, die stolz den Dreß Winnetous und seines Blutsbruders tragen, erinnern nicht nur von fern an jene Werther-Freunde, die dem unglücklich Verliebten schon in ihrer Kleidung nacheiferten (man muß freilich hinzufügen, daß der »Werther« unter den Arbeiten Goethes in dieser Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt). Auf der anderen Seite hat es in beiden Fällen nicht an heftiger Besorgnis gegenüber derartiger Verehrung gefehlt: Hielt man dem Autor des »Werther« vor, der Selbstmord seines Helden könne sensible Leser auf schlimme Abwege treiben, warf man dem Verfasser der ersten "Stella"-Version Propaganda für Vielweiberei vor, so monierten besorgte Pädagogen Jahrzehnte später, Mays Phantasien seien von verderblichem Einfluß auf jugendliche Gemüter. Und es blieb


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nicht bei abstrakten Bedenken: Man will tatsächlich einige Selbstmorde registriert haben, die wesentlich auf die Lektüre von Goethes Jugendroman zurückzuführen gewesen seien, und im Falle Mays ist hinlänglich bekannt, daß sich jugendliche Delinquenten zu ihrer Entschuldigung auf die verführerische Kraft seiner Werke beriefen. Greifbare Konsequenzen aus dem Argwohn gegenüber derart gräßlicher Wirkung blieben nicht aus: Der Verkauf des »Werther« war im Raum Leipzig eine Zeitlang verboten, und Mays Bücher mußten zu Beginn unseres Jahrhunderts aus den Bibliotheken der bayerischen Mittelschulen entfernt werden.

   Mit der weit verbreiteten Verehrung war bei Goethe und May häufig auch, wie es die ökonomischen Gesetze verlangen, eine kommerzielle Dimension verbunden, die sich bei weitem nicht auf den Verkauf von Büchern beschränkte. Dabei entspricht dem Goethe-Bild oder den gemalten Goethe-Szenen, die gutbürgerliche Wohnungen als eine Art Statussymbol geschmückt haben,(19) wohl nicht so sehr die vom Karl-May-Verlag angebotene Winnetou-Büste (»Alabastergips, bunt bemalt, 30 cm hoch«) als vielmehr so manches Ingredienz einer jugendlichen Subkultur, vom Pierre-Brice-Poster bis zum Bleistiftanspitzer mit Indianerbild; gemeinsam ist den Erscheinungen, daß sie bekenntnishafte Züge tragen, indem sie den Anspruch der Besitzer auf die Zugehörigkeit zu einer sozial oder kulturell definierbaren Gruppe symbolisieren. Mancher Philologe wird es wohl insgeheim, dem nach außen erklärten Abscheu vor solchem Treiben zum Trotz, als ein erfreuliches Zeichen für die Popularität der von ihm betreuten Kunstabteilung ansehen, daß das Mozartkugel-Syndrom auch hier umfassend zutage tritt.

   Bekannte und besonders profilierte Schriftsteller finden häufig eine beträchtliche Resonanz in den literarischen Werken anderer Schriftsteller. Daß die von den Koryphäen tradierten oder kreierten Sujets und die Form, in der sie ihre Werke gestalten, zu Nachahmung und Neubearbeitung animieren, ist beinahe selbstverständlich. Goethes »Werther« hat geradezu ein eigenes Genre begründet, die Wertheriaden, und einer dieser Texte, Ulrich Plenzdorfs »Neue Leiden des jungen W.«, ist vor nicht einmal zwei Jahrzehnten noch zum Bestseller avanciert; die Wirkungsgeschichte des »Faust«, die z. B. auch Hans Wollschlägers »Herzgewächse« in einem sehr direkten Sinne umfaßt, dürfte ebenfalls noch lange nicht zu Ende sein. Im Falle Mays ist an die zahlreichen Spuren zu erinnern, die Leser und Forscher in den Werken späterer Autoren – von Leonhard Frank bis zu Ernst Jünger(20) – registriert haben, und die Geschichte der deutschen Abenteuerliteratur des 20. Jahrhunderts wäre wohl ohne das Auftreten Mays ebenso gänz-


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lich [gänzlich] anders verlaufen wie die des Bildungsromans ohne den »Wilhelm Meister«. Manche jüngeren Verfasser operieren auf beinahe peinliche Weise mit May-Assoziationen, wie etwa jener Hans Walter Schmidt, der eine Erzählung mit dem Titel »Winnahou« geschrieben und Figuren präsentiert hat, die Sichere Hand und Old John heißen.(21) Zu diesem Thema gehört ferner die Reaktion in anderen Gefilden der Kunst und Unterhaltung: »Mit "Werther" beschäftigten sich Romane, Dramen, Gedichte, Briefsammlungen, Opern, Operetten, Parodien, Bänkelsang, Volkstheater, Posse, Harlekinade, Ballett und ein Feuerwerk mit dem Titel "Werthers Zusammentreffen mit Lottchen im Elysium"«;(22) auf die May-Filme, -Hörspiele, -Dramatisierungen, -Comics, -Parodien soll hier nur pauschal verwiesen werden.(23)

   Eine eigene Gruppe innerhalb des jetzt zur Diskussion stehenden Bereichs bilden jene Texte, die in literarischer Form und manchmal ohne Rücksicht auf die überlieferten Daten und Fakten das Leben der Autoren bzw. Teile daraus thematisieren; bei Goethe reicht die Liste von Thomas Manns »Lotte in Weimar« bis zu Hans Francks »Marianne. Goethe-Roman«,(24) bei May ist an Anton Kaisers Drama vom »Geächteten Hakawati« zu denken und im Komplex der romanhaften Biographie an Namen wie Karl-Heinz Dworczak, Erich Loest, Otto Kreiner.(25) Aber das alles ist bei weitem nicht das erstaunlichste Phänomen innerhalb der literarischen Wirkungen Goethes und Mays.

   Daß Goethe in der Erstfassung des »Werther« die Schwärmereien der Titelfigur mit Sympathie zeichnete und konsequent im Selbstmord enden ließ, ohne sich deutlich von der nach damaligem Verständnis ruchlosen Tat zu distanzieren, erschien vielen zeitgenössischen Beobachtern als ungeheuerlich; sogar Lessing war der Meinung, hier liege ein Mißgriff vor. Als einer der bissigsten Kritiker erwies sich der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai: Er formulierte seine Kritik jedoch nicht in einem expositorischen Text, sondern kleidete sie in die Form einer satirischen Fortsetzung des Romans, die Werther auf wundersame Weise überleben und schließlich sein Glück an der Seite der geliebten Lotte finden läßt. Fortsetzungen lieferten in gewissem Sinne auch manche Verehrer des Textes, z. B. ein Carl Ernst von Reitzenstein, der in einem Gedicht Lotte an Werthers Grab ausgiebig weinen läßt. Ein Autor namens Pustkuchen hat »Wilhelm Meisters Lehrjahre« fortgesetzt, und als Goethe die Erstfassung der »Stella« mit einer Lösung abschloß, die man salopp als eine Ehe zu dritt bezeichnen mag, schrieb ein erboster Hofprediger einen zusätzlichen sechsten Akt, der das frivole Spiel abrupt beendet, und er legte Goethe nahe, diesen Text als den bisher nicht gedruckten eigentlichen Schluß der »Stella« zu präsentieren.


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   Hier lösen sich die literarischen Werke und Figuren aus dem Rahmen, den ihnen ihr Autor gezogen hat; sie werden zu einer Dispositionsmasse, über die andere meinen verfügen zu dürfen, und gewinnen insofern ein Eigenleben jenseits der Bindung an die schriftlich fixierten Phantasien ihrer Urheber. Diese Art der Reaktion, die übermäßiger Neigung wie übermäßiger Abneigung entspringen kann, ist auch in der Wirkungsgeschichte Mays zu verzeichnen, wo sie freilich durchweg der Neigung entspringt. Franz Kandolf hat mit »In Mekka« Mays Fragment »Am Jenseits« fortgesetzt und ist mit diesem Werk, das keine einzige Passage aus der Feder Karl Mays enthält, bekanntlich sogar in die Radebeuler und Bamberger May-Ausgaben hineingerückt. Neuerdings hat Harald Mischnick den reichlich wirren, in der Sache unbefriedigenden Schluß von »Deutsche Herzen – Deutsche Helden« literarisch aufpoliert.(26) Otto Eicke konnte sich mit Mays Entwicklung im Spätwerk nicht anfreunden und dachte darüber nach, wie seine früheren Texte wohl ohne diese Neuorientierung fortgeführt worden wären.(27) Eine unter dem Pseudonym Nscho Tschi schreibende Autorin hat noch in jüngster Zeit mehrere Bände über das Leben und Streben der Schwester Winnetous verfaßt; Winnetou selbst wird als Hauptfigur mit neuen Abenteuern präsentiert in Friederike Chudobas »Winnetou und Tapferes Herz«, einem ebenfalls gleich mehrbändigen Unternehmen; noch umfangreicher ist das, was Edmund Theil über das Schicksal von Hadschi Halef Omars Enkel zu berichten weiß.(28)

   Im angelsächsischen Bereich ist ein solcher Umgang mit berühmten literarischen Figuren, etwa mit Sherlock Holmes und James Bond, weit verbreitet; dort bestehen häufig zwischen dieser Art von »Sekundärliteratur« und der bei uns üblicherweise so bezeichneten enge Verknüpfungen. Es gibt z. B. eine Studie über Ian Flemings James-Bond-Romane von Kingsley Amis und einen Bond-Roman, den Amis unter dem Pseudonym Robert Markham selbst verfaßt hat, sowie eine voluminöse Biographie über den Schriftsteller Fleming von John Pearson und eine Biographie über die literarische Figur James Bond von demselben Autor.(29) Derartige Konstellationen sind aber hierzulande kaum zu finden; und wo – abgesehen eben vom Klassiker und von dem einen »anderen Klassiker« – gibt es das in unserer Literatur sonst, daß diverse Autoren sich unwiderstehlich gedrängt fühlen, die Werke »ihrer« Dichter mehr oder weniger frei weiterzuschreiben?

   Ein bekanntes Phänomen in der May-Rezeption ist der Umstand, daß viele Leser die verschiedenen Teile seines Gesamtwerks in sehr unterschiedlichem Maße schätzen; das gilt auch für einen großen Teil derjenigen, die ihre Lektüre besonders aufmerksam und mit analytischen


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Ambitionen betreiben. Der auffälligste Einschnitt ist dabei der zum Spätwerk: Während manche Kommentatoren das, was vor 1900 entstanden ist – zumal die berühmten Old-Shatterhand- und Kara-Ben-Nemsi-Geschichten –, für Mays bedeutendste Schöpfungen halten, erklären andere das Spätwerk zum einzigartigen Gipfelpunkt seiner künstlerischen Entwicklung, demgegenüber fast alles übrige minderwertig erscheine; Ernst Bloch und Arno Schmidt stehen für diese konträren Überzeugungen, wobei Bloch die große Mehrheit der May-Leser hinter sich hat. Auf ähnliche Weise bevorzugen – mein einleitendes Zitat hat es schon angedeutet – viele Goethe-Leser entweder die frühen oder die späten Arbeiten des Dichters: Loben die einen den aufsässigen Impetus und die Lust an der Innovation, die »Werther«, »Prometheus« und »Götz« auszeichnen, so setzen die anderen auf die Altersweisheit, mit der der Verfasser des zweiten »Faust« und der »Wanderjahre« zu Werke geht; es ist an dieser Stelle müßig, über die Triftigkeit solcher Urteile nachzudenken. Sie haben indessen weitreichende Folgen, z. B. auch im Hinblick auf die Bühnengeschichte der Goetheschen Texte. Immer wieder wechseln – wie auch in der Schiller-Rezeption, wo sich das Phänomen wohl noch deutlicher ausprägt – Phasen, in denen bevorzugt frühe Werke inszeniert werden, mit solchen, in denen man sie zugunsten der späteren vernachlässigt; so haben während der 1970er Jahre die meisten prominenten Regisseure im deutschsprachigen Raum mit Vorliebe »Götz«, »Clavigo« und die »Räuber« auf die Bühne gebracht, während ein Jahrzehnt später wieder »Faust« und »Wilhelm Tell« zunehmend Aufmerksamkeit fanden.

   Die politische Indienstnahme der Literatur ist ein Thema, das in letzter Zeit viele Forscher beschäftigt hat. Man beobachtet, daß die Literatur mit oder ohne Absicht immer wieder zu den verschiedensten Zwecken instrumentalisiert und einer Deutung ausgesetzt wird, die von vornherein weitgespannten ideologischen Intentionen dient. Die Weimarer Klassik hat sich, zum einen, an der Oberfläche ihrer Werke der Einmischung in den politischen Alltag enthalten, und sie gilt, zum anderen, seit jeher vielen als der strahlende Höhepunkt der deutschen Kulturgeschichte: beides zusammen setzt sie in besonders hohem Grade der Gefahr einer derartigen Ausbeutung aus. In der Tat verweist man denn auch darauf, daß sie in der Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins insofern eine bedeutende Rolle spielt, als sie Ängsten vorbeugen, Fehlschläge kompensieren sowie Erfolge unterstützen und legitimieren konnte; »die besondere Faszination, die für alle nationale Literaturgeschichtsschreibung in Deutschland von der Weimarer Klassik als Gipfelepoche ausgeht, beruht auf der Hoffnung oder Überzeu-


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gung [Überzeugung], daß hier ein Identitätsangebot vorliegt: Ein kulturelles Paradigma soll (oder kann) Revolution ersetzen und zum Medium nationaler Selbstvergewisserung und Hoffnung werden.«(30)

   Es wäre abwegig, Mays Bedeutung in ähnlichen Dimensionen zu sehen; nicht abwegig jedoch ist es, das Faktum der politischen Indienstnahme als solches auch in seinem Fall zu registrieren und deren Tragweite im Lichte seiner besonderen Popularität hoch einzuschätzen. Von Fritz Barthels Jahrbuch-Einleitung, der zufolge May als Mittel gegen »das Undeutsch-Oberflächige, das Schalgeistige, das süße Gift des Reizvoll-Wesensfremden im Körper der Nation«(31) zu verwenden sei, bis zu Hitlers Empfehlung, Winnetou als »das Musterbeispiel eines Kompanieführers« zu betrachten,(32) reicht die Liste der – manchmal recht skurrilen – einschlägigen Äußerungen, und in den achtziger Jahren bewegte sich die DDR-Rezeption Mays, indem sie ihn mit aller Gewalt zum fortschrittlichen bürgerlichen Humanisten erklärte, zumindest teilweise – und wohl ein wenig notgedrungen – am Rande einer politischen Indienstnahme anderer Ausrichtung.(33) Bei May wie bei Goethe herrscht keine Einigkeit in der Frage, wie weit die bedenkliche politische Verwertung den Vorgaben durch die Autoren und Werke selbst anzulasten sei oder ob es sich bei all dem etwa nur um gravierende, vielleicht heimtückisch geförderte Mißverständnisse handle. Zusätzlich sei vermerkt, daß Mays Werk auch zu allerlei anderen nicht-literarischen, aber auch nicht-politischen Zwecken hat dienen müssen, vom Hilfsmittel gegen Zahnweh bis zur Bekämpfung der sexuellen Anfechtungen eines Geistlichen;(34) in bezug auf Goethe ließen sich viele analoge Zeugnisse anführen.

   Den letzten Faktor der Wirkungsgeschichte, der hier besprochen werden soll, bilden die zahlreichen Erklärungen, mit denen man auf das Phänomen der kreativen Persönlichkeit reagiert hat. Im Verlauf der Kulturgeschichte haben sich sehr verschiedene, z. T. kraß divergierende Vorstellungen und Ideale gerade auch zum Wesen des Dichters und seiner schöpferischen Kraft herausgebildet: Sie reichen von der These, Dichtung sei stets Mimesis, Nachahmung von etwas schon Vorhandenem, bis zu der Überzeugung, der wahre Poet arbeite ganz und gar mit der eigenen, originären Erfindungsgabe, von der Konzeption des poeta doctus, des umfassend gebildeten und gelehrten Literaten bis zu dem Gedanken des widerborstigen Freud-Schülers Wilhelm Stekel, es sei zwar nicht jeder Neurotiker ein Dichter, aber jeder Dichter ein Neurotiker.(35) Das volkstümliche Pendant zu dieser weiten Skala spannt sich von Eindrücken, die etwa durch Spitzwegs Bild des »armen Poeten« geprägt sind, bis zum Klischee des amerikanischen Bestseller-


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Autors [Bestseller-Autors], der einen Millionen-Vertrag nach dem anderen abschließt, sich morgens um elf schon am Rand seines Swimming-Pools rekelt und statt des Schreibwerkzeugs ein Whiskyglas in der Rechten und zwei vollbusige Blondinen in der Linken hält.

   Unter diesen Vorzeichen werden in besonderen Fällen die unterschiedlichsten Gedanken auch an ein und denselben Autor geheftet. Goethe ist der weise Olympier, geradezu furchteinflößend in der Tiefe seiner Gedanken, der Macht seiner Erfindungsgabe und der Erhabenheit seiner Gesinnung, und er ist auch – Kurt R. Eisslers psychoanalytischer Biographie zufolge – ein von diversen neurotischen Leiden geplagtes Individuum, ein bedauernswertes Opfer von inzestuösen Neigungen und ejaculatio praecox; analog dazu liest der eine seine Werke, um Trost und Beistand für den mühsamen Weg durch die Welt zu erhalten, und der andere, um ihr für die Dauer der Lektüre und vielleicht weit darüber hinaus zu entrücken, während ein dritter sich darauf konzentriert, wie die Verbindung von Genie und Elend auch Goethes Figuren plagt.

   Zeigt sich die breite Spanne solcher Betrachtungsweisen nicht auch im Umgang mit Karl May, und zwar wiederum, wie bei der Rekapitulation der literaturwissenschaftlichen Entwicklungsgeschichte, verdichtet und – manchmal – aufs Überdeutliche und Banale reduziert? Rudolf Lebius wollte einst, im Pamphlet »Verderber der deutschen Jugend«, Mays literarische Tätigkeit auf atavistische Fixierungen zurückführen:(36) in böswillig-polemischer Absicht. Aber seine These hat letztlich, auf einen sachlichen Kern reduziert, einiges für sich, wie beispielsweise der Kreativitätsstudie von Hans Wollschläger zu entnehmen ist,(37) und Claus Roxin beobachtet auf zumindest verwandte Weise den engen Zusammenhang zwischen den pathologischen, destruktiven Zügen der Persönlichkeit Mays einerseits und seiner schöpferischen Energie andererseits: »Was Karl Mays bürgerliches Leben in der Jugend zerstört und im Alter ein zweites Mal ruiniert hat, hat sein Leben als Schriftsteller und seinen literarischen Erfolg erst ermöglicht«;(38) das fügt sich zu Eisslers Befunden, nach denen Goethe seine großen neurotischen Konflikte erfolgreich in Literatur verwandelt hat, bis hin zur Transformation von Lebenserfahrungen in ästhetische Strukturen. Auf der anderen Seite wird May manchmal, zumindest der Tendenz nach, als der große Weise betrachtet, dessen Worte vorbehaltlos Zustimmung, wenn nicht Bewunderung und Gehorsam verdienen, als Mischung aus poeta doctus und einer neuzeitlichen Variante des altrömischen vates, des gottbegnadeten Sehers und Sängers des Volkes. Für diese Tradition stehen neuerdings Ernst Seybolds »Karl-May-Gratula-


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tionen [Karl-May-Gratulationen]«, die eine Fülle von Sätzen Mays zitieren, denen der Kommentator uneingeschränkte Gültigkeit und Autorität zuerkennt: »Das ist ja unsere Gewißheit.«(39) Auch viele andere Äußerungen zu May lassen sich ertragreich unter dem uns jetzt leitenden Aspekt lesen: Deutet man hier sein Werk als verkappte Autobiographie, als mimetischen Nachvollzug der eigenen Lebensgeschichte, so legt man dort Wert gerade auf jene Züge des Werkes, die sich vom Status quo energisch lösen und ins Utopische weisen.

   Vermutlich ließe sich die Liste der Entsprechungen in der Wirkungsgeschichte Goethes und Mays noch um einiges verlängern, z. B. auch im Hinblick auf die Abwehrreaktionen, die die Popularität der beiden hervorgerufen hat; das soll hier aber nicht geschehen, sie ist auch so lang genug. Angesichts der vielen Parallelen stellt sich die Frage, ob sie etwa – da doch die Werke von gravierend unterschiedlicher Beschaffenheit und Qualität sind – durch herausragende Gemeinsamkeiten in der Person und Lebensgeschichte der Autoren bewirkt oder zumindest mitbewirkt sein könnten.

   Auf den ersten Blick verbindet sie wenig. May hat seine Vita metaphorisch als mühsam bewältigten Weg aus den Niederungen Ardistans in Richtung Dschinnistan beschrieben, und wir wissen, daß er damit nicht unrecht hatte und daß ihm das Alter noch einmal einen schweren Rückschlag bescherte; Goethe hat sich demgegenüber, was die äußeren Daten betrifft, meistens in der Nähe Dschinnistans bewegt. Ein wenig anders sieht es aus, wenn man die psychische Konstitution betrachtet, die ja durchaus nicht im Einklang mit den manifest greifbaren Lebensverhältnissen stehen muß: Da sind der nicht nur von Eissler als in vieler Hinsicht leidend charakterisierte Goethe und der von pseudologischen Neigungen und narzißtischer Isolation geplagte May einander erheblich näher, aber wohl nicht so nahe, daß sich eine signifikant engere Verbindung als zu zahllosen anderen kreativen Persönlichkeiten ergäbe. Demgegenüber fallen wiederum einige Analogien in Details auf; z. B. hat Ulrich Schmid darauf hingewiesen, daß die Überzeugung vom gänzlich unreflektiert, ungeplant drauflos fabulierenden May in ähnlicher Weise zu korrigieren ist wie das entsprechende Erklärungsmuster im Falle des jungen Goethe.(40) Vergleichbar erscheint zudem manches im Auftreten der alt gewordenen Autoren: Beide präsentieren sich da, mit abweichendem Geschick, als die Großen Weisen, die ein Teil ihrer Verehrer in ihnen ohnehin schon sieht, aber dahinter lauern permanent die unterschiedlichsten Gefährdungen. Beide schauen im Alter mit einigem Befremden auf frühere Werke zurück: Bei Goethe zeigt sich das etwa in den spärlichen, von einer Mischung aus


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Faszination und Abwehr getragenen Reaktionen auf den Jugendroman(41) wie auch in den Umarbeitungen, die er manchen seiner Werke – bis hin zur Verwandlung des hoffnungsvoll-utopischen »Stella«-Endes in ein veritables Trauerspielfinale – angedeihen läßt; bei May zeigt sich das ebenfalls in einigen Selbstbearbeitungen und -bearbeitungsplänen, vor allem aber darin, wie er nach 1900 die früheren Arbeiten einerseits in den Kosmos der späten und noch projektierten einzubinden versucht und andererseits ständig von Etüden und Vorstudien spricht, die angeblich kaum etwas mit dem künftigen »eigentlichen Werk« gemein haben. All dies reicht freilich nicht hin, eine bedeutend enge lebensgeschichtliche, affektive oder intellektuelle Verwandtschaft zwischen Goethe und May zu konstatieren, und es kann erst recht nicht dazu dienen, die oben rekapitulierten Gemeinsamkeiten in der Wirkungsgeschichte plausibel zu erklären.

   Aber wie sind sie dann zu deuten? Mir scheint, daß sich Kommentare von unterschiedlichster Tendenz aufdrängen, und ich stelle abschließend drei Thesen zur Diskussion.

   Erstens: Die Karl-May-Rezeption versucht mehr oder weniger erfolgreich, durch die Nachahmung der Goethe-Rezeption sich selbst zu adeln und ihr Objekt aufzuwerten. Sie tut das weitgehend unbewußt, zumindest in aller Arglosigkeit, und in ihren besten Momenten gerät sie zur unfreiwilligen Parodie der Goethe-Rezeption.

   Zweitens: Entgegen anderslautenden Bemerkungen im obigen Text handelt es sich nicht um rezeptionsgeschichtliche Analogien, die für May und Goethe spezifisch wären; man könnte viele andere Beispiele mit gleichem Recht heranziehen, von Schiller bis Fontane, von Grimmelshausen bis Thomas Mann. Wir haben es also nur zu tun mit der ständigen Wiederkehr eines Immergleichen.

   Drittens: Aber gerade dieser Umstand erscheint außerordentlich bemerkenswert, wenn wir bedenken, wie man generell über May und Goethe urteilt! Daß zwei Autoren, zwischen denen nach weit verbreiteter Auffassung ästhetisch und qualitativ Welten liegen und deren Publikum gewiß sehr unterschiedlich zusammengesetzt ist, eine in ihrer Struktur eng verwandte Rezeptionsgeschichte ernten: dieses Phänomen ist mit den bisherigen Kriterien der zuständigen Forschungsrichtung kaum hinreichend zu analysieren.(42)


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1   David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß (1872). Hier zitiert nach: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte in Deutschland. Teil III: 1870–1918. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. München 1979, S. 8

2   Der Begriff der Klassik und des Klassischen ist nicht so unproblematisch, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag und, aus pragmatischen Gründen, in diesem Aufsatz verwendet wird. Vgl. dazu Literarische Klassik. Hrsg. von Hans-Joachim Simm. Frankfurt a. M. 1988. Im folgenden werden z. B. auch die frühen Werke Goethes, insbesondere der »Werther«–Roman, mit dieser Kategorie erfaßt: Sie fallen zwar nicht in die Zeit der sog. Weimarer Klassik, sind aber Schöpfungen des späteren Weimarer Klassikers Goethe; es deutet sich hier schon an, daß der Begriff der Klassik z. B. zwischen der Fixierung einer Epoche und der Bestimmung von als grandios-vorbildlich geltenden Kunstwerken schwankt.

3   Vgl. Martin Walser: Liebeserklärungen. Frankfurt a. M. 1983, S. 237ff. Walser spricht etwa von einer »Lösung à la Iphigenie und à la Winnetou, die einander an Tadellosigkeit nichts nachgeben« (253).

4   Vgl. Helmut Schmiedt: Karl Mays »Mein Leben und Streben« als poetisches Werk. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1985. Husum 1985, S. 85–101.

5   Vgl. »Wie froh bin ich, daß ich weg bin!« Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther« in literaturpsychologischer Sicht. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Würzburg 1989.

6   Vgl. Rainer Jeglin: »Die Welt der Ritterbücher war meine Lieblingswelt«. Anmerkungen zu »Rinaldo Rinaldini« und seinem Einfluß auf Karl May. In: Jb-KMG 1982. Husum 1982, S. 170–184; Heinz Stolte: Auf den Spuren Nathans des Weisen. Zur Rezeption der Toleranzidee Lessings bei Karl May. In: Jb-KMG 1977. Hamburg 1977, S. 17–57; Ulf Abraham: Die Angst vor der Entdeckung und die Entdeckung der Angst. Ein Motiv bei Franz Kafka und Karl May. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59/2 (1985), S. 313–340.

7   Einen Überblick zur neueren Entwicklung der Forschung habe ich unter dem Titel »Karl May und die Literaturwissenschaft« zusammengestellt für das Buch: 75 Jahre Verlagsarbeit für Karl May und sein Werk. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1988, S. 149–160. Der Gedanke von der »Verspätung« der May-Forschung taucht bereits auf in der Einleitung des von mir herausgegebenen Sammelbandes Karl May. Frankfurt a. M. 1983, S. 12f.

8   Vgl. Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987 (Sammlung Metzler 231); Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987.

9   Vgl. die Anmerkungen des Herausgebers zu den Sesenheimer Liedern in: Hamburger Ausgabe. Bd. I. Hrsg. von Erich Trunz. München 101974, S. 452ff.

10   Vgl. Gert Ueding: Die anderen Klassiker. Literarische Porträts aus zwei Jahrhunderten. München 1986.

11   Rudolf Schenda zum Jb-KMG 1972/73 in: Germanistik 14/1 (1973), S. 229

12   Hans Wollschläger: Das siebte Jahrbuch. In: Jb-KMG 1977. Hamburg 1977, S. 9. Vgl. zu diesem Komplex auch Volker Klotz: Über den Umgang mit Karl May. Unter anderm: psychoanalytisch: unter anderm. In: Jb-KMG 1980. Hamburg 1980, S. 12–27.

13   Vgl. Karl Mays »Winnetou«. Studien zu einem Mythos. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Frankfurt a. M. 1989, S. 329ff. Ich beziehe mich auf die Beiträge von Arno Schmidt, Wolfram Ellwanger/Bernhard Kosciuszko und Walther Ilmer.

14   Helmut Schmiedt: Einleitung: »Werther« und die Geschichte der Literaturpsychologie. In: »Wie froh bin ich, daß ich weg bin!«, wie Anm. 5, S. 28

15   Harald Fricke: Karl May und die literarische Romantik. In: Jb-KMG 1981. Hamburg 1981, S. 33

16   Vgl. Kurt R. Eissler: Goethe. Eine psychoanalytische Studie. 1775–1786. 2 Bde. Basel-Frankfurt a. M. 1983 und 1985.

17   Vgl. Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Frankfurt a. M. 21987, S. 161f. ; Wolf–Dieter Bach: Mit


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Mohammed an May vorbei. Zur Kritik I. Hoffmanns und A. Vorbichlers an Karl Mays Islam-Phantasien. In: Jb-KMG 1981. Hamburg 1981, S. 375–381; Bernhard Kosciuszko: Illusion oder Information? China im Werk Karl Mays. In: Jb-KMG 1988. Husum 1988, S . 322–381, und Jb-KMG 1989. Husum 1989, S. 146–177. Zum Problem der Apologie in der May-Forschung generell vgl. Günter Scholdt: Karl-May-Forschung und Karl-May-Gesellschaft. In: . Jb-KMG 1987. Husum 1987, S. 258–295.

18   Vgl. z. B. die Dokumente bei Georg Jäger: Die Leiden des alten und des neuen Werther. München-Wien 1984, S. 112ff.

19   Dazu ein literarisches Zeugnis: Das Wohnzimmer der Familie Selicke in dem gleichnamigen Drama von Arno Holz und Johannes Schlaf ist, der Beschreibung am Beginn des ersten Aufzugs zufolge, ausgerüstet mit »zwei kleinen, vergilbten Gipsstatuetten "Schiller und Goethe"« sowie dem »bekannte(n) Kaulbachsche(n) Stahlstich "Lotte, Brot schneidend"«.

20   Gemeint sind speziell »Die Räuberbande« und die »Marmorklippen«. Vgl. zu Jüngers Werk Günter Scholdt: Sitara und die Marmorklippen. Zur Wirkungsgeschichte Karl Mays. In: Jb-KMG 1982. Husum 1982, S. 158–169. Zum Thema insgesamt: Rudi Schweikert: Karl Mays literarische Wirkung. Ein Rundgang mit 10 Stationen. In: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1987, S. 244–268 (Sonderband Text + Kritik).

21   Hans Walter Schmidt: Winnahou, der Freund. Reutlingen 1948

22   Erläuterungen und Dokumente (zu) Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers. Hrsg. von Kurt Rothmann. Stuttgart 1982, S. 139f.

23   Vgl. die einschlägigen Kapitel im Karl-May-Handbuch, wie Anm. 8, S. 651ff.

24   Zu der von Francks Roman repräsentierten Form des Umgangs mit Goethe vgl. Jens Kruse: »Goethe« und Adenauer als Dioskuren: die Goethe-Fiktionen der fünfziger Jahre. In: The Germanic Review LXIII/4 (1988), S. 189–196.

25   Karl Heinz Dworczak: Das Leben Old Shatterhands. Radebeul 1935; Erich Loest: Swallow, mein wackerer Mustang. Karl-May-Roman. Hamburg 1980; Otto Kreiner: Der Schatten. Phantasien über den Volksschriftsteller Karl May. Salzburg-Wien 1989

26   Harald Mischnick: Das letzte Rencontre. Ubstadt 1988

27   Otto Eicke: Der verschüttete Quell. In: Karl-May-Jahrbuch (KMJB) 1930, S. 65–76; Der Bruch im Bau. In: Ebd., S. 77–126; Des Baues Vollendung. In: KMJB 1931, S. 307–381; Des Baues Krönung. In: KMJB 1932, S. 384–439; Des Baues Kuppel. In: KMJB 1933, S. 205–261. Eine Art Einleitung bildet: Wenn sie geschwiegen hätten. In: KMJB 1928, S. 115–125.

28   Nscho Tschi: Winnetou's Schwester. Teil 1. o. O. 1984; dies.: Das Herz des Trappers. o. O. , o. J.; Friederike Chudoba: Winnetou und Tapferes Herz. 3 Bde. Wien o. J.; Edmund Theil: Die Jagd auf die Raubkarawane. 6 Bde. Wien 1977–80, Neuauflage München 1986

29   Kingsley Amis: Geheimakte 007 James Bond. Frankfurt a. M.-Berlin 1965; Robert Markham: 007 James Bond. Auf der griechischen Spur. Bern-München 21970. – John Pearson: The Life of Ian Fleming. London 1966; John Pearson: Agent 007. Das Leben von James Bond. Eine frei erfundene Biographie. Zug/Schweiz 1974. Pearson bezieht sich in der »erfundenen Biographie« übrigens ausdrücklich auf die Existenz seiner älteren Arbeit.

30   Wilhelm Voßkamp: Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funktion der Weimarer Klassik. In: Literarische Klassik, wie Anm. 2, S. 267

31   Fritz Barthel: Das zweite Jahr. In: KMJB 1919. Breslau 1918, S. 8

32   Albert Speer: Spandauer Tagebücher. Frankfurt a. M.-Berlin-Wien 1975, S. 523

33   Vgl. die Hinweise in meinem Literaturbericht im Jb-KMG 1988. Husum 1988, S. 416.

34   Vgl. Schmiedt: Karl May, wie Anm. 17, S. 259f.

35   Vgl. Wilhelm Stekel: Dichtung und Neurose. Bausteine zur Psychologie des Künstlers und des Kunstwerks. Wiesbaden 1909, S. 5.

36   Vgl. Claus Roxin: Ein »geborener Verbrecher«. Karl May vor dem Königlichen Landgericht in Moabit. In: Jb-KMG 1989. Husum 1989, S. 24.

37   Vgl. Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den »Silbernen Löwen«. Zur Symbolik und Entstehung. In: Jb-KMG 1979. Hamburg 1979, S. 99–136.


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38   Roxin, wie Anm. 36, S. 22

39   Ernst Seybold: Karl-May-Gratulationen. Geistliche und andere Texte zu und von Karl May. Ergersheim o. J. (1988), S. 17

40   Vgl. Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895–1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund. Ubstadt 1989, S. 118.

41   Vgl. die Zeugnisse in: Hamburger Ausgabe. Bd. VI. Hrsg. von Erich Trunz. München 91977, S. 534f.

42   Ähnliche Wirkungsphänomene wie die hier zusammengetragenen ließen sich im übrigen auch bei besonders exponierten Koryphäen anderer künstlerischer Bereiche finden, wie eine flüchtige Prüfung zumindest andeutet: beim Film etwa in bezug auf Chaplin und Hitchcock, in der Musik in bezug auf Mozart und Wagner. Interessante Parallelen zum Kult um Elvis Presley und die Beatles beschreibt Peter Krauskopf: Karl May und die populäre Kultur. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 84/1990, S. 19–23; vgl. auch Krauskopfs Artikel »Old Shatterhand am Elbestrand« in ZEIT-Magazin Nr. 27/28. Juni 1991, S. 10–20, über den »Popstar« Karl May.


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