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CLAUS ROXIN

Das einundzwanzigste Jahrbuch



Das einundzwanzigste Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft ist das erste, das im wiedervereinigten Deutschland zum Druck gegeben worden ist. Der Sache nach war freilich die Karl-May-Forschung immer schon eine gesamtdeutsche Angelegenheit. Sie ist, wie unsere Leser wissen, durch grundlegende Arbeiten aus dem ostdeutschen Raum von vornherein in so hohem Grade mitgeprägt worden, daß es nicht mißverstanden werden kann, wenn gerade in diesem Jahrbuch ein ostdeutscher Beitrag fehlt. Das wird bald wieder anders werden. Wir planen für 1993 eine Tagung in Dresden (natürlich mit Besuchen in Radebeul und Hohenstein-Ernstthal), und zahlreiche neue Mitglieder, die wir inzwischen in den ostdeutschen Bundesländern gewonnen haben, werden in Zukunft noch mehr die Bedeutung hervortreten lassen, die der Heimat Karl Mays und den angrenzenden Gebieten vor allem für die weitere Erforschung seiner Biographie zukommt.

   Einen Schwerpunkt des vorliegenden Jahrbuchs bildet der umfangreiche Briefwechsel, den Karl und Klara May mit Adele und Willy Einsle in den Jahren 1902–1908 geführt haben; der Briefwechsel 1909–1912 wird im nächsten Jahrbuch folgen. Über die Briefpartner des Ehepaares May unterrichtet uns umfassend der ebenso einfühlsame wie informationsreiche Beitrag von Gertrud Mehringer-Einsle, der Tochter Wilhelm Einsles. Von ihr haben wir auch die Briefe Karl und Klara Mays erhalten, so wie umgekehrt der Karl-May-Verlag uns die Einsle-Briefe zur Verfügung gestellt hat. Ich möchte beiden dafür auch an dieser Stelle herzlich danken; sie haben der Forschung einen großen Dienst erwiesen!

   Es ist dies der erste umfangreiche »Leserbriefwechsel« Karl Mays, den wir veröffentlichen können. Die von uns früher publizierten Briefe an Karl Pustet und Otto Denk (Jb-KMG 1985, S. 15–62) und auch die »Briefe an das bayerische Königshaus« (Jb-KMG 1983, S. 76–122) haben trotz aller privaten Einschläge überwiegend literaturpolitischen Charakter, indem es Karl May in erster Linie um Geltung und Durchsetzung seines Werkes ging. Hier aber nun wendet er sich zwei begeisterten Lesern vor allem als Mensch zu; und er tut dies in sehr sympathischer Weise, indem er nicht sich selbst in den Mittelpunkt stellt, son-


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dern [sondern] auf die Bedürfnisse seiner Briefpartner wirklich eingeht. So hat er auf die Entwicklung des jungen Willy Einsle einen prägenden – und, wie man sagen muß: erzieherischen und guten – Einfluß ausüben können. In diesem privaten Briefwechsel, dem wir hoffentlich noch weitere folgen lassen können, zeigt sich eine Facette seines Wesens, die das Persönlichkeitsbild Karl Mays bereichert; sie weicht von seinem öffentlichen Gebaren etwa in der »Renommierzeit« (dazu Jb-KMG 1974, S. 15–73) weit und in gewinnender Form ab.

   Die übrigen Beiträge des Bandes verdeutlichen gerade durch ihre Heterogenität die Spannweite, die die Karl-May-Forschung inzwischen erreicht hat. Rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen, Werk-, Figuren-, Strukturinterpretationen und detaillierte Quellenstudien stehen in gleichem Range nebeneinander.

   Gert Ueding setzt mit seinem Referat »Bloch liest Karl May« die Untersuchungsreihe fort, die der Wirkung Mays auf das Werk bedeutender Autoren des 20. Jahrhunderts gewidmet ist und die wir im letzten Jahrbuch (Jb-KMG 1990, S. 12–29) mit Hans Wollschlägers Essay über »Arno Schmidt und Karl May« begonnen hatten. Unter den Schriftstellern, auf deren Werk May einen Einfluß ausgeübt hat, sind Bloch und Schmidt wohl die bedeutendsten; und es ist bemerkenswert, daß sie von der Abenteuerliteratur, für die man May am ehesten weittragende Folgen zuerkennen möchte, weit entfernt sind. Abhandlungen dieser Art ließen sich ertragreich mehren; sie würden in ihrer Gesamtheit zeigen, daß May im geistigen Haushalt unseres Jahrhunderts eine Rolle spielt, die sich nicht auf die Jugendkultur beschränken läßt.

   Helmut Schmiedt vergleicht halb im Ernst und halb im Scherz die Wirkungsgeschichte Goethes und Karl Mays und kommt zu bemerkenswerten Parallelen, deren Erklärung er dem Leser aufgibt. Auch ich habe keine Patentlösung zur Hand, denke mir aber, daß rezeptionsgeschichtliche Analogien überall dort auftreten, wo die Wirkung eines Autors sich nicht auf die Philologie oder selbst den Massenkonsum beschränkt, sondern wo es ihm gelingt, größere Leserschichten emotional an sich zu binden. Das ist bei Goethe wie bei May (wenn auch bei unterschiedlicher Zusammensetzung der jeweiligen »Gemeinde«) der Fall und vom literarischen Rangverhältnis beider Autoren unabhängig.

   Auch die Interpretationen widmen sich sehr unterschiedlichen Themen. Hermann Wohlgschaft führt seine theologischen Spätwerkanalysen mit einer Studie zu Mays Drama »Babel und Bibel« fort, in dem er Ansätze einer feministischen Theologie erkennt. Wir müssen ihm für seine Arbeit dankbar sein. Denn Wohlgschaft macht hinter dem überlieferten Klischee von Mays verschwommen-eklektischem Mystizismus


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das ganz andere Bild eines theologisch klar und progressiv denkenden religiösen Visionärs sichtbar. Damit wird eine der gröbsten Fehleinschätzungen korrigiert, die einer angemessenen Beurteilung von Mays Spätwerk bisher entgegengestanden hat.

   Siegfried Augustin untersucht zum ersten Male gründlich »Der beiden Quitzows letzte Fahrten«, jenes frühe Romanfragment Mays, das Friedrich Axmanns »Fürst und Junker« fortsetzt und schließlich von Dr. Goldmann zu Ende geführt worden ist. Es gelingt Augustin nicht nur, den Werkanteil Mays überzeugend zu bestimmen und die Art seiner Quellenauswertung anschaulich zu machen; er zeigt auch, daß viele Motive des späteren Reiseerzählungswerkes hier schon vorgeformt sind.

   Christoph F. Lorenz und Bernhard Kosciuszko liefern eine Art Kara-Ben-Nemsi-Biographie, indem sie die Erscheinungsformen und Wandlungen dieser Ich-Figur, einer der zentralen literarischen Gestalten Mays, von den Anfängen bis zum Spätwerk sorgfältig verfolgen; sie leisten damit einen Beitrag zum Verständnis der schriftstellerischen Entwicklung Mays überhaupt.

   Joachim Biermann und Ingmar Winter behandeln schließlich die Art und Weise, in der May seine »Roman-Welt als Bühne« aufbaut; tatsächlich dominiert der szenische Handlungsablauf bei May so sehr, daß man darin ein tragendes Strukturelement seiner Erzählungen sehen muß.

   Zwei weitere Beiträge befassen sich mit sehr unterschiedlichen »Quellen« Mays. Walter Schinzel-Lang prüft als Sinologe »Die Verwendung der chinesischen Sprache durch Karl May« und kommt dabei zu Ergebnissen, die für May günstiger ausfallen als die frühere Untersuchung des Nicht-Sinologen Erwin Koppen (Jb-KMG 1986, S. 69–88). Gewiß hatte May sich seine Chinesisch-Kenntnisse auf autodidaktischem Wege erworben und konnte infolgedessen notwendigerweise kein fehlerfreies Chinesisch reproduzieren. Aber bei allen berechtigten Vorbehalten kann man seiner nun genau überprüfbaren Leistung auf diesem Gebiet, die manche brauchbare Information vermittelt, doch einen gewissen Respekt nicht versagen. Der Leser überlege einmal, was er selbst unter den Arbeitsbedingungen Karl Mays mit den Hilfsmitteln des 19. Jahrhunderts als »sinologischer Laie« im Chinesischen bestenfalls würde leisten können! Seinen literarischen Zweck, nämlich die Schaffung eines authentisch wirkenden Lokalkolorits, hat May jedenfalls erreicht.

   Eine wichtige Quelle Mays in den Bereichen der Völkerkunde und der Abenteuerliteratur erschließt Andreas Graf, indem er dem Einfluß


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Möllhausens auf das Werk Karl Mays nachgeht. Dieser Einfluß erweist sich als überraschend groß, auch wenn man in Rechnung stellt, daß manches parallele Motiv Gemeingut der Amerika-Literatur jener Zeit ist. Fast möchte man sich wundern, daß Möllhausen, der ein wichtiger »Stichwortgeber« unseres Autors war, heute ganz vergessen ist, während Mays literarische Lebenskraft ungebrochen ist. Aber May war der weitaus bessere und suggestivere Erzähler!

   Der Literaturbericht von Helmut Schmiedt und Erich Heinemanns Bericht über die Arbeit der Karl-May-Gesellschaft schließen, wie immer, das Jahrbuch ab und informieren den Leser über alles, was in und außerhalb unserer Gesellschaft »rund um Karl May« geschieht. Das Jahrbuch im ganzen zeigt, daß die große Zeit der »Globalinterpretationen« vorbei ist und daß immer exakter werdende Detailstudien vorzuherrschen beginnen. In diesem Bereich steht die Karl-May-Forschung, nachdem entscheidende Grundlagenarbeit schon geleistet worden ist, weithin noch am Anfang. Wie fruchtbar und fesselnd solche Untersuchungen sind und auf wie weite Felder sie führen, mag gerade der vorliegende Band zeigen.


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