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GERTRUD MEHRINGER-EINSLE

Zum Lebensweg meines Vaters Wilhelm Einsle



Mein Vater, Wilhelm Max Maria – Rufname und unter Freunden »der Willy« –, wurde am 24. März 1887 gerade noch im Dorf Schwabing bei München geboren, nahe der Stadtgrenze, an die es längst herangewachsen war, und unweit des Schwabinger Hauses seines Großvaters, Thomas Ritter von Hauck, in der Wilhelmstraße. Dieser Großvater mütterlicherseits, der den persönlichen Adel seinen verwaltungsjuristischen Fähigkeiten als unterfränkischer Bezirksamtmann während des preußisch-bayerischen Krieges 1866 im später zu Preußen, dann zu Hessen geschlagenen Spessart-Bad Orb und – weil er nicht preußisch werden wollte – im mittelfränkischen Scheinfeld und anschließend als Mitbegründer des bayerischen Verwaltungsgerichtshofes in München verdankte, muß eine recht imponierende Rolle im Leben seiner jüngsten Tochter Adele und seines kleinen Enkels Willy gespielt haben. Jedenfalls erinnerte sich der Willy oft noch respektvoll dieser »Übervaterfigur«, wenngleich er dessen politischer Richtung – er war Reichstagsabgeordneter des Zentrums und pflegte einen sehr ausgeprägt konservativen Katholizismus – schon in seinen reiferen Jugendjahren recht skeptisch gegenüberstand; hierin stimmte er übrigens mit seiner stets betont eigenwillig, ja »emanzipiert« denkenden Mutter überein, die gleichwohl den gesellschaftlichen Rang und das entsprechende Umfeld ihres Vaters ganz gerne genoß.

   Adelheid Maria Theresie Hauck, am 17.1.1864 in Orb geboren, war nach dem sehr frühen Tod ihrer Mutter vom 6. Lebensjahr ab hauptsächlich im renommierten Kloster der armen Schulschwestern am Anger in München erzogen worden. Schon ihr Eintritt in dieses traditionsreiche Internat war typisch für ihre Wesensart: Sie hatte mit dem Vater die wesentlich ältere Schwester Marie in die Klosterschule begleiten dürfen, und es gefiel ihr gleich so gut unter den Mädchen, daß sie absolut dableiben wollte – was sie dank ihres energischen Dickkopfs entgegen den ursprünglichen Intentionen ihres Vaters auch erreichte. Sie wollte zeitlebens nur ungern die zweite Geige spielen, und es dürfte sie schon damals geärgert und zu besonderen Taten angespornt haben, wenn die große Schwester im Mittelpunkt stand. Später hat sie gerne und gut und auch selbstkritisch über diese Zeit erzählt. Sie muß wohl


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ein rechter Unband gewesen sein: rebellisch gegen auferlegte Denkformen, widerspenstig gegenüber jeglichem Zwang und stets zu wilden Streichen bereit, hat sie auch im Klosterinternat durchaus die Beachtung gefunden, nach der ihr Selbstbewußtsein lechzte. Ob sie auch die menschliche Zuwendung gefunden hat, deren ein so junges mutterloses Kind dringend bedurft hätte, mag zweifelhaft erscheinen. 22jährig heiratete sie dann auch ganz aus eigenem Entschluß einen gerade 27jährigen Juristen, den schwäbischen Weinhändlerssohn Julius Einsle aus dem nahe Augsburg gelegenen, aufstrebenden Krumbach, der, nach Aufteilung der elterlichen Geschäfte unter die älteren Brüder, zum Studium bestimmt war. Er dürfte den entschlossenen Ermutigungen der in ihren Kreisen gesellschaftlich glänzenden und geistreichen jungen Dame widerstandslos erlegen sein. Sie hat mir einmal erzählt, sie habe sich ihn in kühler Überlegung ausgesucht, nachdem der wenig geliebte Bruder Adalbert eine 16jährige zu heiraten gedachte, der sie dann ihre Rolle als Dame des väterlichen Hauses hätte überlassen müssen. So feierte sie noch vor dem Bruder Hochzeit mit dem sympathischen, allzeit frohen und durchaus gescheiten Juristen. Allerdings – manipulieren ließ sich der Gute keineswegs so leicht, wie sie sich das wohl erhofft hatte, und auch an Ehrgeiz, dem prominenten Schwiegervater nachzueifern, ließ er zu wünschen übrig, wie sie ehrlich zugab. Seine ruhige Behaglichkeit, seine Freunde, seine Studentenverbindung, ein verträgliches Maß an kulturellen Interessen waren ihm wichtiger, und in ein Übermaß an Arbeit und gesellschaftlichen Verpflichtungen durfte der Beruf nicht ausarten. Er ließ sich auch nur für eine kurz bemessene Frist in die niederbayerische Provinzhauptstadt Landshut versetzen und strebte sobald als möglich wieder zurück ins geliebte München. Auf eine verwaltungspolitische Karriere, die einen längeren Dienst in der Provinz vorausgesetzt hätte, konnte er ebensogut verzichten wie auf eine politische Laufbahn. Es bleibt festzuhalten: Trotz dieser gegensätzlichen Temperamente und Wunschvorstellungen wurde die Ehe glücklich; denn Adele Einsle war viel zu gescheit und letztlich wohl auch zu tolerant, um gegebene Grenzen nicht zu respektieren! Schließlich war man jemand, kannte alle, die »dazugehörten«, und eine solide finanzielle Unabhängigkeit bot die Basis für alle gemeinschaftlichen Unternehmungen, die man sich wünschen wollte. So könnte man das Lebensgefühl dieses gehobenen Bildungsbürgertums um die Jahrhundertwende wohl umreißen. Nicht aus Zufall geschah es, daß der junge Hausstand in Schwabing gegründet wurde. Adele Einsle hat viele Jahre einen literarisch-künstlerischen Salon bildungsbürgerlicher Prägung geführt, musikalische Soireen veranstaltet


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und sich und ihren kleinen Sohn von einem übrigens recht guten Modemaler portraitieren lassen. Sich jedoch als Allegorie des Frühlings mit nacktem Oberkörper malen zu lassen, wie das der Künstler wollte – und sie den staunenden Enkeln geschmeichelt überlieferte – verboten allerdings letztlich die nie ernsthaft angetasteten moralischen Prinzipien der Klostererziehung sowie ein grundsolider Ehegatte.

   Diese Zwiespältigkeit – Schwabing contra Kloster, Freigeistigkeit gegen katholische Wurzeln, hohe Intelligenz mit literarischem Verständnis gegen bürgerliche Solidität – hat ihrem Wesen und ihrem Leben den Stempel aufgedrückt. Sie wurde bald auch für den Sohn Willy prägend – mit dem generationsbedingten Unterschied, daß seine Wurzeln weitergriffen, sich neues Erdreich eroberten und in größere Tiefen wuchsen.

   Der kleine Willy, der in diesem bildungsbürgerlichen Milieu heranwuchs, spürte eigentlich recht früh, daß man hier in nicht zu übersehender Oberflächlichkeit, dem modischen Trend folgend, einem regelrechten Kulturkonsum frönte und dabei echte eigenständige Entwicklungen unsanft beschnitt. Von seiner Mutter in jeder Weise und auch mit mehr Verständnis, als ihm damals und später bewußt wurde, gefördert, wehrte er sich überraschend früh gegen ihr geistiges Übergewicht, gegen ihre oft scharfe ironische Art, andere bloßzustellen, nur weil sie selbst auf die Brillanz ihres Witzes nicht verzichten mochte, und gegen ehrgeizige Selbstbestätigungen, die er hinter vielen ihrer Handlungen erkennen wollte. Mutter und Sohn waren von der gleichen Sprödigkeit ihres Wesens und der gleichen Scheu, einander ihre Gefühle zu offenbaren. Da zudem der Sohn sich bald zum schmückenden Herzeigeobjokt mütterlicher Eitelkeit degradiert fühlte – er zeigte schon in den Jahren des Volksschulbesuchs ein beachtliches literarisches Talent darzustellen und zu reimen, das er von ihr geerbt hatte –, zog er sich sehr früh in eine von ihm schwer bewachte Traumwelt zurück, zu der weder die Mutter noch der sehr viel herzlichere, unkompliziertere Vater einen Zugang fand. Adele Einsle hat das bald gespürt und nach vergeblichen Öffnungsversuchen letztlich resignierend auch akzeptiert und dem Sohn fortan die eigene Welt zugestanden. Trotzdem standen sie sich in der Familie und im Alltag ein Leben lang konträr gegenüber, und es war die von beiden sehr geliebte Frau und Schwiegertochter Olga (Olly), der allein es gegeben war, Brücken zu schlagen. Ich, die Enkelin, habe – meinem Vater in vielem sehr ähnlich – eine fast identische Entwicklung der Beziehung erlebt: Meine Großmutter, die in ihren letzten Lebensjahren bei uns im Hause lebte, habe ich um ihrer Großzügigkeit, ihres absoluten Gerechtigkeitssinnes, ihres Witzes und


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ihrer Klugheit willen respektiert und verehrt, geliebt habe ich sie nicht. Geliebt habe ich dagegen von Kindheit an meinen seelisch einfachen, gütigen, humorvollen und nie verletzenden Großvater Julius, den wir leider schon sehr früh verloren haben.

   Deutlich war die Unvereinbarkeit der Charaktere bereits zu dem Zeitpunkt, als Karl May – durch Vermittlung von Mutter Adele! – in den innersten Kreis der Familie trat: Der Vater ließ die Dinge wohlwollend treiben, Sohn Willy stürzte sich in den Austausch von Gedanken und Gefühlen mit einer geradezu beängstigenden Vehemenz, und Mutter Adele, dies bemerkend, obwohl sie nie eine Zeile von Willys Briefen oder Versen zu Gesicht bekam, zog sich nach einem einzigen Versuch, auch ihrerseits an diesem Verhältnis teilzuhaben, den Totalitätsanspruch des Sohnes und seine Notwendigkeit spürend, auf ihre Vermittlerrolle zurück.

   Sowohl Mutter Adele wie Sohn Willy waren dichterisch überdurchschnittlich begabt und haben zum Teil beachtliche Carmina verfaßt. Während die Mutter die Bewunderung genoß, die ihr darob schon in jungen Jahren zuteil wurde, hat der Sohn nach einem frustrierenden Erlebnis als 7jähriger – er mußte zufällig hören, wie die Mutter sein Gedicht bei einem Damentee lächelnd oder lachend »preisgab« – seinen Eltern nie mehr etwas zugänglich gemacht. Eine harte Konsequenz bei einem so jungen Kind! Obwohl er sicher das größere Talent war, hat er auch später seine Gedichte nur im engsten Kreis der eigenen Familie und der Freunde vorgetragen, und erst, da er als fast 40jähriger Psychiater und Anstaltsarzt in Ansbach Anschluß an die künstlerische »Gesellschaft Schlaraffia« fand, gewann er eine breitere Plattform von verständnisvollen Freunden, die ihm aus seiner Introvertiertheit heraushalfen.

   Es ist auch später so gewesen, wie er in einem Brief an Karl May schreibt: zeitlebens fiel es ihm leichter, Gedanken, Gefühle, Phantasien und Wünsche in gereimter Form auszudrücken als in Prosa. Das ging so weit, daß er sogar bei Schreibspielen in der Familie seine Lösung in Zwei- oder Vierzeilern darbot, in kürzerer Zeit verfaßt, als die übrigen Teilnehmer für ihre Prosa benötigten. Besonderes Talent hatte er für Schüttelreime, die sich geradezu zwanghaft in ihm formten. Das wurde dann bald auch bei der übrigen Familie zur Manie, die einmal einen engen Freund unmutig ausrufen ließ: »Bei Euch getraut man sich ja kein einziges zusammengesetztes Wort mehr auszusprechen – schon schaut sich die Familie an und lächelt verschwörerisch! Was habe ich denn jetzt wieder gesagt?« Ja, so war das bei uns: Wir brauchten die Reime gar nicht mehr auszusprechen, wir wußten Bescheid!


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   Im übrigen hat sich das Tabu zwischen Mutter Adele und Sohn Willy in unserem Familienkreis, den die Großmutter ja mehrmals jährlich für mehrere Wochen besuchte – gern gesehene Besuche zumindest für uns zwei Enkel – leidlich gelockert: Sicherlich wieder ein Olga-Verdienst, die so manches Ungereimte zwischen Adele und Willy geebnet und aus der Welt geschafft hat, wofür ihr die Schwiegermutter alles an Liebe und Freundschaft zugewandt hat, was sie überhaupt einem Menschen zu geben vermochte.

   Zu der Zeit, als Willy in Verbindung mit seinem Idol Karl May trat, als 14- oder 15jähriger (es haben lose Kontakte wohl schon 1901 bestanden), kannte Willy die Olly schon, allerdings nur als 11jähriges lästiges Anhängsel ihres Bruders Robert Heumann, der das Schwesterlein auf dem gemeinsamen Schulweg mit Willy Einsle gnädigst hinterdreintrotten ließ. Dieser Robert, ein Jahr jünger als Willy, jedoch in der gleichen Klasse am Max-Gymnasium in München, zeigte schon damals eine unverkennbare Genialität. Einserschüler in allen Wissensfächern, zog es ihn unaufhaltsam zur Musik. Als Fünfjährigem hatte ihm der Vater Otto Heumann, kgl. Amtsrichter in Prien, Klavierunterricht bei einem emeritierten Pianisten ermöglicht. Vom Achtjährigen existiert eine kleine Marsch-Komposition für Klavier, vierhändig von ihm und seiner damals sechsjährigen Schwester Olga dem Vater zum Geburtstag vorgespielt. Als der alte Klavierlehrer – mit Tränen in den Augen, so wird es überliefert – dem Vater versicherte, er könne dem Zehnjährigen nichts mehr beibringen, der müsse in die Stadt, hat Vater Heumann tatsächlich gesundheitliche Vorwände benützt, damit er um dieses Sohnes willen vorzeitig in Pension gehen und die Familie nach München bringen konnte. Dieser Robert war eigentlich der einzige Freund, der den Willy in der Schulzeit in gewissem Sinne zu beeinflussen vermochte – soweit er neben seiner Musik noch freie geistige Valenzen hatte. Daß er sich später den religiösen Zweifeln und Skrupeln des Freundes verschloß, hat ihm damals sehr zu Unrecht den Vorwurf der Oberflächlichkeit eingebracht: Er war eben ein früh fertiger Charakter, völlig seiner Musik verschrieben, und wollte sich nicht mit solchen Schwierigkeiten belasten. In der Abiturklasse hat man behördlicherseits dem Vater angeboten, den Einserschüler Robert ins Maximilianeum, eine Stiftung des Königshauses für Begabte, die neben freiem Studium auch freie Wohnung und Kost bot, zu schicken: Vater Heumann lehnte ab – trotz schmalen Geldbeutels – , weil er dem Sohn die damit verknüpfte Bedingung eines letztendlichen Eintritts in den Staatsdienst nicht aufzwingen wollte. Als er dann plötzlich während des Abiturs von Robert und Willy starb – 14 Tage vor dem erwarteten Tod seiner seit Monaten


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an Krebs erkrankten, viel jüngeren Frau Emilie, geb. Weiß –, griff der Vormund der beiden verwaisten Kinder das Angebot wieder auf und brachte Robert als Jurastudenten ins Maximilianeum, das dieser fast zwangsläufig nach einigen Semestern verließ, um bei Richard Strauß Dirigieren und Komponieren zu studieren. 1914 ist dieser hochbegabte Musiker 26jährig schon kurz nach Kriegsausbruch in Frankreich gefallen. Damals war aber die Schwester Olly schon in Ansbach mit dem Willy jungverheiratet. Soviel über Robert Heumann, der im musikalischen Bereich großen Einfluß und große Wirkung auf Willy und Olly – und nicht zuletzt auch auf Adele Einsle und ihren Kreis ausübte. Sie hatte ja den beiden elternlosen Kindern sofort Haus und Familie geöffnet und damit der Großmutter Emilie Weiß, die kurz entschlossen das Doktorhaus in Lenggries, seit mehr als 50 Jahren ihre Heimat als Frau und Witwe des einzigen Landarztes zwischen Tölz und Hinterriß, verkauft hatte und zu den Enkeln nach München gezogen war, viel Hilfe und Entlastung gebracht.

   Die recht mühsam zu querenden »Gräben« zwischen dem heranwachsenden Willy und seiner Mutter, aber auch zu anderen Menschen seines Umkreises, waren hier zu skizzieren, machen doch erst diese Zusammenhänge klar verständlich, welche Schlüsselrolle Karl Mays Werke und seine einfühlsame Wortgewalt, seine eindrucksvolle und verständnisbereite Persönlichkeit für diesen jungen suchenden und selbstquälerischen Buben im Alter zwischen 14 und 20 Jahren spielen mußten. Auch späterhin, als der gefestigtere junge Medizinstudent Stück um Stück des um May gewobenen Märchenmantels preiszugeben hatte, ist ihm doch immer die Einmaligkeit dieser Erscheinung und ihres psychisch-seelischen Webmusters bewußt geblieben. Festzuhalten ist, daß sein Entschluß, Arzt zu werden, maßgeblich von Karl Mays beeindruckender Schilderung seines anderen »Adoptivneffen«, des Schiffsarztes Dr. Ferdinand Hannes, geprägt war: Auch Willy wäre gern Schiffsarzt geworden und hatte sogar einige Semester Medizin in Kiel eingeplant, aber seine sehr frühe Bindung an Olly hat ihn im Lande festgehalten. Seine Fachwahl Psychiatrie aber ist nicht allein Ausfluß seiner introvertierten Zergrübeltheit gewesen, sondern wurde klar und eindeutig durch das Phänomen des jugendlichen Karl May bestimmt: Er wollte ihm nahekommen, ihn verstehen lernen und mittels der psychiatrischen und psychologischen Methoden dieser neuen Wissenschaft der Nachwelt erklären können. Hätte Klara May auch nur einen Funken der hierfür notwendigen einsichtsvollen Sensibilität besessen, so wären die Beziehungen nicht abgerissen, sondern hätten sich zu gedeihlicherem Zusammenwirken in der Zukunft verdichten können.


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Zeit seines Lebens verfocht der Psychiater Willy Einsle die These, daß eine wirkungsvolle Jugendpsychologie und Jugendpsychiatrie, hätte sie es denn im vorigen Jahrhundert schon gegeben, die Ab- und Umwege des jungen Karl May frühzeitig hätten bereinigen können. Ob aber dann auch die schriftstellerische Persönlichkeit Mays sich so hätte formen können, sei die Frage; denn seiner Überzeugung nach hat May sein ganzes Leben dazu benutzt, um gegen die Irrungen seiner schweren Jugend anzuschreiben. Die verhängnisvolle Rolle Klara Mays in den letzten Jahren, als sie – gut gemeint vielleicht, aber taktisch wie moralisch falsch – ihn abschirmte und, krank wie er war, manipulierte, hat Willy Einsle wohl sehen können, aber nur andeutungsweise kommentiert. Es lag ihm ferne, jemanden von der Zuschauerreihe aus anzugreifen, nachdem er selbst nicht mehr gewillt war, aktiv sich einzusetzen.

   Willy Einsle hat in jenen für ihn so bedeutungsvollen Jahren des Studiums sich das Werk Hermann Hesses erschlossen und war ihm auch philosophisch in den Bereich buddhistischer Weisheiten gefolgt. Aus dem »Pro und Contra Katholizismus« war ihm ein allgemeinchristlicher außerkonfessioneller Humanismus als abendländisches Geisteserbe erwachsen, dem er die bedingungslose Aufrichtigkeit und Toleranz gegenüber jeder Kreatur zufügte. Und er hat für sich selbst und seinem Kreis gegenüber dies auch wahrhaft gelebt. Er war ein guter Psychiater und Lehrer, ohne den Ehrgeiz, prominent sein zu wollen; folgerichtig hat er daher auch stets abgelehnt, wenn an ihn die Aufforderung erging, seine Erfahrungen und Erkenntnisse zu publizieren. Seine Arbeit und sein Streben gehörten den Menschen vor Ort: seiner Familie, seinen Mitarbeitern – und insbesondere seinen Patienten. Die letzten Berufsjahre als Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen waren von Tragik umschattet, weil es ihm nur in wenigen Fällen gelang, Patienten vor dem Zugriff der nationalsozialistischen Euthanasie zu retten. Allerdings ist er im Rahmen seiner internen Konnexionen Sturm gelaufen gegen diese ungeheuerlichen Maßnahmen, ohne daß ihm dabei auch nur einmal die Angst gekommen wäre, er könne sich dadurch gefährden. Daß es ihm nach dem Krieg gelang, dies auch in einem Schwurgerichtsprozeß zu beweisen und einstimmig freigesprochen zu werden von der Anklage der Beihilfe zum Massenmord, ist nur einer Reihe von Zufällen zu verdanken, die ihm jene damals kompetenten Personen noch einmal über den Weg geführt haben – denn er hatte keinerlei Vorsorge für eine so geartete mögliche Entlastung getroffen.

   Ein Wort muß noch gesagt werden über eine weitere Entwicklungslinie, die für den Träumer auf der ureigenen »Karl-May-Insel« schon mit


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der May-Lektüre, mehr aber noch mit der zunehmenden Kenntnis des sozialen Umfelds und der sozialen Krisen im sächsischen Erzgebirge des jugendlichen Karl May begann. Intensive Aufmerksamkeit gegenüber den realen Nöten der damaligen und seiner zeitgenössischen Arbeiterschaft und den geistigen Strömungen dieser Bewegung haben in ihm ein »geschärftes soziales Gewissen« erwachsen lassen, mit dem er sich schon in der Studentenzeit weit von der gutbürgerlichen Almosen-Caritas christlich-konfessioneller Prägung seiner sozialen Schicht entfernte. Echte Reformbestrebungen, gleiche Rechte für Arm und Reich, partnerschaftliche Gleichstellung von Mann und Frau in Familie und Beruf und soziale Forderungen Lasallescher Provenienz haben schon dem Studenten sozialdemokratisches Gedankengut akzeptabel gemacht, ohne daß jedoch der introvertierte Einzelgänger Absprung und Zugang zu Parteikreisen gefunden hätte. Interessiert haben ihn jedoch Persönlichkeiten wie der bayerische Georg von Vollmar und die Rebellen um den Simplizissimus aufs höchste.

   Es bleibt festzuhalten, daß Werk und Persönlichkeit Karl Mays eine lebenslange, vielfach gewandelte Bedeutung für meinen Vater Willy Einsle behalten haben. Waren es ursprünglich die religiösen Inhalte, die dem zweiflerischen, ich-bezogenen Buben Befreiung und Bestätigung brachten, so hat der persönliche Kontakt dem romantisierend ausufernden Selbstbetrachter zunächst die nötigen Ordnungsrufe und die dringend erforderliche Kandare beschert. Karl May hat ihm nichts erspart und dabei den auch für ihn so wichtigen fruchtbaren Boden gefunden. Daß dieser Junge ihn nicht nach seinen Helden und Abenteuern fragte, sondern die Symbolhaftigkeit der Figuren und Handlungen instinktiv erfaßte, hat den alternden Schriftsteller, wie er selbst betont hat, beeindruckt und fasziniert. Es war, wie er meinte, ein Geben und Nehmen auf Gegenseitigkeit.

W i l l y  E i n s l e :  L e b e n s d a t e n

24.3.1887      Geboren in Schwabing bei München

1893–1897   Besuch der Volksschule im inzwischen eingemeindeten München-Schwabing – Umzug nach München in die zwischen Englischem Garten und Hofgarten gelegene Pilotystraße (Lehel)

1897–1906   Besuch des Max-Gymnasiums – mit kurzer Gastrolle im Wilhelmsgymnasium
      Gewinnt Robert Heumann, den Klassenkameraden und


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späteren Schwager zum Freund, lernt dessen 2 Jahre jüngere Schwester Olga kennen und lieben – enge Dreier-Bindung

1901      Erste tastende Kontakte zu Karl May

1902      Besuch in Radebeul und Beginn des Briefwechsels
      Schriftliche und persönliche Kontakte zu Karl May und Klara Plöhn, spätere Klara May

1906      Abitur von Willy und Robert
      Innerhalb von 14 Tagen Tod der Eltern Heumann
      Großmutter Emilie Weiß gibt das heißgeliebte Doktorhäusl in Lenggries auf und zieht nach München zu Olga und Robert Heumann.
      Robert erhält als Einserabiturient ein Stipendium im Maximilianeum.

1906–1912   Medizinstudium in München und Würzburg

1910      Endlich: Verlobung mit Olga Heumann

1913/1914   Psychiatrische Fachausbildung in München und Ansbach: Willy wählt die Laufbahn als bayerischer Anstaltspsychiater.

1914      Feste Anstellung in Ansbach

24.2.1914   Hochzeit mit Olga Heumann – Umzug nach Ansbach

Aug. 1914   Robert Heumann fällt in Frankreich.

Sept. 1914   Der ehemalige Vormund und Onkel, Oberst Max Weiß, fällt in Frankreich, die Großmutter Emilie Weiß hat damit ihre drei Kinder und den Enkel verloren.

1915      Geburt des Sohnes Max Robert Einsle

1918      Geburt der Tochter Gertrud Emilie Einsle: Die Familie ist komplett.

1929      Versetzung an die Heil- und Pflegeanstalt Günzburg/Donau

1934      Versetzung als Direktor der Heil- und Pflegeanstalt nach Kutzenberg bei Bamberg/Oberfranken

Herbst 1934   Versetzung als Direktor der gehobenen Heil- und Pflegeanstalt Erlangen (auf Druck der Regierung und gegen den eigenen Wunsch)

1934–1945   Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen

1945      Amtsenthebung durch die Amerikanische Militärregierung

1946–1951   Hilfsarbeiter in einer Bürstenfabrik in Erlangen

1948      Zwei Monate Untersuchungshaft wegen Verdachts auf Beihilfe zum Massenmord (Euthanasie)


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1951      Schwurgerichtsprozeß in Nürnberg. Freispruch von allen Punkten der Anklage – Gewährung der zustehenden Pension – Umzug nach Bayreuth

1951–1959   Ehrenamtliche Mitarbeit an der »Richard-Wagner-Gedenkstätte«: Sichtung, Erfassung und Aufstellung der 10000 Bände umfassenden Houston-Stuart-Chamberlain-Bücherei zugunsten der Stadt Bayreuth

1959      Umzug nach Pullach/Isartal in ein Altenwohnheim

1961      Tod im Krankenhaus Martha-Maria in München-Solln; seine Witwe Olga lebt noch 21 Jahre im Pullacher Heim. Sie stirbt dort 92jährig im April 1982. Beide sind zusammen mit ihrem 1944 gefallenen Schwiegersohn Helmut Mehringer auf dem benachbarten Waldfriedhof Solln begraben.


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