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HEINZ STOLTE

Karl May und alle seine verlorenen Söhne*



»Ich bin derselb verloren Son.«
Th. Murner: Die Schelmen-Zunfft

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»Und er sprach: Ein Mensch hatte zween Söhne. Und der jüngste unter ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Teil der Güter, das mir gehört. Und er teilte ihnen das Gut. Und nicht lange danach sammelte der jüngste Sohn alles zusammen und zog ferne über Land. Und daselbst brachte er sein Gut um mit Prassen.

   Da er nun alle das Seine verzehret hatte, ward eine große Teuerung durch dasselbige ganze Land, und er fing an zu darben. Und ging hin und hängte sich an einen Bürger desselbigen Landes, der schickte ihn auf seinen Acker, der Säue zu hüten. Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit Trebern, die die Säue aßen; und niemand gab sie ihm.

   Da schlug er in sich und sprach: Wie viel Taglöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben, und ich verderbe im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen, und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündiget in den Himmel und vor dir, und bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße; mache mich als einen deiner Taglöhner. Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater.

   Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn, lief und fiel ihm um den Hals und küßte ihn. Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündiget in den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße.

   Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringet das beste Kleid hervor und tuts ihm an, und gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand und Schuhe an seine Füße. Und bringet ein gemästet Kalb her, und schlachtet's. Lasset uns essen und fröhlich sein. Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig worden; er war verloren und ist wieder gefunden worden. Und fingen an, fröhlich zu sein.

   Aber der älteste Sohn war auf dem Felde. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er das Gesänge und den Reigen und rief zu sich der Knechte einen und fragte, was das wäre. Der aber sagte ihm: Dein Bru-

* Festvortrag, gehalten am 28.9.1991 auf der 11. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Wiesbaden


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der ist gekommen, und dein Vater hat ein gemästet Kalb geschlachtet, daß er ihn gesund wieder hat.

   Da ward er zornig, und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus, und bat ihn. Er aber antwortete und sprach zum Vater: Siehe, so viel Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, daß ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der sein Gut mit Huren verschlungen hat, hast du ihm ein gemästet Kalb geschlachtet.

   Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und gutes Muts sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wiedergefunden.«


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Dieses ist der Text des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, wie er uns im 15. Kapitel des Lukas-Evangeliums überliefert ist, in der Übersetzung Martin Luthers. Unter den Gleichnisreden Jesu ist diese die berühmteste, und sie ist auch die schönste, zeigt den lehrenden Jesus geradezu als Dichter, denn er erzählt eine in sich abgeschlossene Geschichte in unübertrefflich präziser und geschliffener Form. Kein Wort zuviel und kein wichtiges zu wenig! Der poetischen Gattung nach ist sie eine  P a r a b e l  , und damit ist gemeint, daß das hier Erzählte außer dem mit Worten ausgedrückten Sinn noch eine zweite, gar nicht expressis verbis mitgeteilte Bedeutung hat, auf welche der Hörer (oder Leser) durch Analogieschluß selber kommen soll. Diese Bedeutung ergibt sich aus dem Kontext; in diesem Falle, das heißt bei Lukas im 15. Kapitel, aus der vorangestellten Einleitung:

   »Es naheten aber zu ihm allerlei Zöllner und Sünder, daß sie ihn höreten. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isset mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis ... «

   So ist der zunächst gemeinte Gleichnissinn klar. Jesus will sagen, daß ihm die Verachteten und Sünder als Umgang und als Zuhörer willkommener sind als jene, die sich selber legitim im Besitz der Wahrheit glauben. Das ist das  u n m i t t e l b a r  Gemeinte: Jesus will sein  e i g e n e s  Verhalten erklären, wozu noch die vorangestellten Gleichnisse vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen gehören. Eine Schicht tiefer verstanden und im Zusammenhang damit, daß Jesus ja in all die-


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sen Reden eine  r e l i g i ö s e  Verkündigung beabsichtigt, ergibt sich fast zwangsläufig, daß der Vater in dieser Parabel, mit einer Wendung vom Symbolischen ins Allegorische, als Versinnbildlichung  G o t t e s  zu verstehen ist. Und so hält es die uns geläufige Hermeneutik, für die die Parabel vom verlorenen Sohn - wie es zum Beispiel Werner Brettschneider formuliert - »die frohe Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes« ist.

   Die unermeßliche Popularität, die im Laufe der Jahrhunderte der Parabel vom verlorenen Sohn zugewachsen ist, ermißt man am besten an der Tatsache, daß die Bezeichnung >Verlorener Sohn< eine von jedermann gebrauchte und verstandene feststehende Redewendung geworden ist. Darüber hinaus hat das Motiv in der Literatur aller Völker und Zeiten der abendländischen Welt immer wieder neue und dem Sinn nach vielfach variierende Nachdichtungen erfahren. Einen Eindruck von dieser Ausuferung vermittelt der schon genannte Werner Brettschneider in seinem Essay >Die Parabel vom verlorenen Sohn. Das biblische Gleichnis in der Entwicklung der europäischen Literatur<.(1) Der Bogen spannt sich vom mittelhochdeutschen Epos >Helmbrecht< von Wernher dem Gartenaere über Lope de Vega, Thomas Murner, Jörg Wickram und viele andere bis zu Gerhart Hauptmann, André Gide, Rilke und Kafka.

   Ich will nicht weiter darauf eingehen, sondern zu unserem speziellen Thema kommen, das heißt zu Karl Mays Kolportageroman >Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends<.(2) In der erwähnten literaturwissenschaftlichen Übersicht fehlt dieser Titel natürlich, gemäß der Verachtung, die man bis in unsere Tage dieser Art Volksliteratur entgegenbringt. Oder vielmehr: In den Elfenbeintürmen der Seminare war dergleichen unbekannt. Aber nichtsdestoweniger ist es eine Tatsache, daß unter allen literarischen Gestaltungen des Themas vom verlorenen Sohn, die uns bekannt sind, Karl Mays Roman sich schon seines ungeheuren Umfanges wegen als die zweifellos gewaltigste heraushebt. Was der Evangelist Lukas uns in 22 Versen erzählt, das hat Karl May auf 2411 Seiten gebracht, das Thema zu all seinen möglichen Variationen differierend.

   Wenn sich uns bei der Beschäftigung mit Mays >Verlorenem Sohn< zunächst die Frage stellt, warum denn wohl der Autor darauf verfallen ist, gerade  d i e s e s  Thema zur Behandlung zu wählen, so ist uns natürlich einiges klar: Erstens, daß es sich um ein Erzählmotiv handelt, das gewiß schon jeder vom frühesten Religionsunterricht kannte, also auch dem bibelfesten Karl May, dem Absolventen eines frommen Lehrerseminars, als Bildungsgut höchst vertraut war; zweitens kam da hinzu,


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daß ein noch gar nicht so lange der Verlorenheit in der Gefängniszelle Entronnener auf ein eigenes Schicksal zurücksah, das dem in der biblischen Parabel so sehr ähnelte, ja, eigentlich schlimmer noch gewesen war als dieses.

   Ich will einmal eine Hypothese wagen, die ich freilich nicht beweisen kann: Aber jenem katholischen Katecheten, dessen seelsorgerische Bemühungen um ihn, den Strafgefangenen, Karl May lebenslang in so dankbarer Erinnerung behielt(3) -, was hätte diesem Tröster eines Gestrauchelten näher liegen können, als seinem Zögling eben die Parabel von der Barmherzigkeit Gottes vor Augen zu halten und sie ihm zu interpretieren in dem Sinne, daß auch aus diesem seinem Inferno Erlösung und Auferstehung möglich sein würden. Doch auch ohne den Katecheten Kochta wäre es wohl nicht anders gewesen, als daß sich der Sträfling May als einen aus Familie und bürgerlicher Gesellschaft verlorengegangenen Sohn betrachten mußte. Ich könnte mir sehr wohl denken, daß das Thema vom >Verlorenen Sohn< schon in seiner Gefängniszeit eine in Karl Mays Gedankenwelt zentrale Bedeutung gehabt hat. Er hatte von jeher die Neigung, seiner eigenen Existenz einen gewissermaßen allgemeingültigen Sinn zu geben, so als sei sein Schicksal eine Art Exempel, von übergeordneten, gleichsam mythisch gesetzten Strukturen geprägt. Er war in dieser Weise seines Denkens ein Mythomane zeit seines Lebens. Auch seine Auffassung, daß Dichtungen, speziell Märchen, himmlische Wahrheiten in irdischer Verkleidung seien, gehört in diese Art des Denkens: Eine solche >himmlische Wahrheit<, in irdisches Gewand gekleidet, war ja eben die Parabel Jesu vom verlorenen und wiedergefundenen Sohn. Und man denke nur: Sieben Jahre in Gefängnissen verbracht, das mußte diesen um sein Weltbild Ringenden besonders prägen. Da waren sie doch alle um ihn herum, all die Sträflinge, die diese Häuser füllten: eine ganze Welt voll verlorener Söhne!

   So nimmt es nicht wunder, daß der Schriftsteller Karl May, als ihn sein Verleger Münchmeyer bedrängte, Selbsterlebtes als Roman zu gestalten, die Parabel vom Verlorenen Sohn zum Thema wählte, und zwar mit einem Engagement moralischen, sozialkritischen Eifers und autobiographischen Ressentiments, daß daraus ein Panorama der sechziger Jahre in Deutschland entstand.


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»Eine ganze Welt voller verlorener Söhne!« Ich halte diesen Satz hier noch einmal fest, weil er uns helfen soll, die höchst eigentümliche


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Struktur des Romans, den wir betrachten wollen, besser von ihren Ursachen her zu verstehen. Eine Welt voller verlorener Söhne, das war eben die Welt Karl Mays in seiner Inferno-Zeit, und es wäre verwunderlich, wenn sie sich nicht in diesem Sozialpanorama, das der Kolportageschreiber May so ausschweifend entworfen hat, deutlich genug spiegeln würde; gemäß unserem Axiom, daß nichts im Werk eines Dichters sein kann, was nicht vorher in ihm selbst gewesen ist.

   Und um die Varianten zu verstehen, die das Phänomen >Verlorener Sohn< in Karl Mays Roman erfahren hat, stelle ich hier noch einmal heraus, welche stofflichen und gehaltlichen Bestandteile das biblische Urmuster enthält. Es sind im wesentlichen deren acht, nämlich:

1. Lebensgier, Ungeduld eines jungen Menschen, der gegen väterliche Autorität rebelliert und mit seinem Erbteil vorzeitig selbständig sein will.
2. Liederlicher Lebenswandel des Emanzipierten. Er verpraßt sein Vermögen mit Huren.
3. Er gerät ins äußerste Elend und leidet Hunger.
4. Zustand tiefster Verlorenheit, Knechtsarbeit als Schweinehirt.
5. Erkenntnis seiner Schuld und Reue.
6. Umkehr und Bereitschaft zu büßen.
7. Empfang durch den liebenden und verzeihenden Vater, glückliches Ende und Freudenfest.
8. Empörung und Protest des Gerechten gegen die Resozialisierung des Sünders.

Legt man nun aber dieses mythische Muster vergleichend an das, was uns als Lebensgeschichte Karl Mays bekannt ist, so zeigt sich, daß sich Mays Schicksal gewiß nicht in genauen Einzelheiten Zug um Zug damit identifizieren läßt. Nein, nicht Lebensgier oder Hochmut hat da einen reichen Erben in die Welt hinaus getrieben. Nichts war es mit dolce vita und einem verpraßten Vermögen. Aber wohl bestimmte der Hunger, beherrschte das Elend schon von allem Anfang an seine Existenz. Auch was ihn zu seinem bescheidenen Aufstieg in den Rang eines Volksschullehrers brachte, war Fleiß und abermals Fleiß. Sonst indessen stimmt es schon mit diesem Vergleich, wenn man hinzufügt, daß die Schrecken, die in der biblischen Geschichte das Äußerste an Verlorenheit bezeichnen, nämlich Hungersnot und Absinken in eine Paria-Existenz, im wirklichen Leben Karl Mays auf eine Weise übertroffen sind, daß jene Plagen, die der biblische Sünder als Schweinehirt zu ertragen hatte, sich dagegen wie eine harmlose Idylle ausnehmen.

Was ihm, Karl May, aus eigener Lebenserfahrung unter einem >Ver-


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lorenen Sohn< vorschwebte, das konnten die Abonnenten seines Kolportageromans auf der Umschlagseite eines jeden Fortsetzungsheftes am Titelbild anschaulich genug wahrnehmen. Da liegt er, der >verlorene Sohn<, an Ketten im Kerker, einem finsteren Verlies hinter Gittern, bei Wasser und Brot, auf einem Bund Stroh. Jedoch, wer ihn sich genauer betrachtete, diesen sympathischen jungen Mann, traurig und nachdenklich das Haupt aufgestützt und seiner Kleidung nach kenntlich als einer, der aus einer besseren Welt in diese Tiefe geworfen worden ist, der traute gewiß diesem offenen, ernsten Antlitz nicht zu, daß es einem Verbrecher zugehören könnte. Nein, eher unschuldig erscheint er uns; und ob hier ein finsteres Geheimnis, eine Intrige oder auch nur ein Irrtum gewaltet hat, dies zu erfahren - sollte man meinen - ist die Lektüre von 2411 Romanseiten wert.

   Doch im Ernst: das Titelbild symbolisiert sehr genau das große, übergreifende Hauptmotiv der Erzählung, das wie in einem Magnetfeld die Episoden der ins fast Unübersehbare ausschweifenden Teile des Mammutromans zusammenhält.

   Hier ist nicht Ort noch Gelegenheit, eine abgeschlossene Gesamtanalyse dieses Werkes zu geben. Die Forschung hat sich bisher schon gelegentlich an dieses Objekt gewagt. Es ist aber hier Erstaunliches noch zu entdecken. In welcher Hinsicht, das will ich nur an einer Gegenüberstellung historischer Daten andeuten. Karl Mays Elendsroman vom verlorenen Sohn entstand und erschien in den Jahren 1883 bis 1885. Genau zu der Zeit, als das erste Kolportageheft auf den Markt kam, im Jahre 1883, begann Bismarck seine große Sozialgesetzgebung mit der Krankenversicherung und ließ ihr 1884 die Unfall- und 1889 die Invaliden- und Altersversicherung folgen. Was besagt diese Gegenüberstellung? Sie macht deutlich, daß Karl Mays Roman uns eine Arbeits- und Wirtschaftswelt, ein gesellschaftliches Gefüge vor Augen führt, in der es das, was wir heute das >Sozialnetz< nennen, überhaupt noch nicht gab. Die Welt des nackten Kapitalismus der sechziger und siebziger Jahre tut sich weit vor dem Leser auf. Und nehmen wir hinzu, daß die Handlung nicht, wie man bei diesem Autor erwarten würde, in exotische Fernen versetzt ist, sondern sich alles in der deutschen Heimat abspielt, man sogar die hier genannte »Residenz« mühelos mit Dresden, das Königreich mit Sachsen identifizieren kann, so gewinnt dieses Werk noch mehr an dokumentarischer Bedeutung. Über die Forschungsliteratur, die sich diesem Gegenstand zuletzt gewidmet hat - ich nenne Volker Klotz und Monika Evers(4) - referiert Klaus Hoffmann im >Karl-May-Handbuch< in einem Artikel,(5) der zugleich eine Gesamtcharakteristik des behandelten Romans enthält.


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Es geht, so sei vorab gesagt, in diesem Roman nicht nur um  e i n e n  verlorenen Sohn, sondern es wimmelt darin geradezu von ihnen. Man hat ja dergleichen verlorene Söhne auch in fast allen größeren Erzählungen Mays: ob es nun Amad el Ghandur aus dem >Wilden Kurdistan<, der >Sohn des Geheimnisses< in der >Sklavenkarawane< oder der Dschirbani in >Ardistan und Dschinnistan< ist, über welche alle ich an anderer Stelle schon einmal berichtet habe(6), daß in diesen Figuren sich Autobiographisches des Autors meldet, ist offensichtlich.

   Und nun insbesondere bei seiner Arbeit am Roman, der speziell das Thema vom verlorenen Sohn behandeln sollte!

   Der Kolportageschriftsteller, das muß man sich doch vorstellen, der unter der Hetzpeitsche einer Fortsetzungsserie schrieb und schrieb, kaum Zeit sich lassend für Korrekturen und Rückschau, er überanstrengte unaufhörlich seine Phantasie, und dieser psychische Überdruck förderte dann zutage, was aus dem Trauma des erlittenen Lebens am brennendsten schmerzte.

   Da ist der Hauptheld des Ganzen zunächst, Gustav Brandt, der sich aus bescheidenen Verhältnissen zu einer leitenden Position der Kriminalpolizei seines Landes emporgearbeitet hat, beauftragt schließlich mit der Führung des Kampfes gegen Schmuggler und das, was wir heute eine Mafia nennen würden. Aber dieser Aufstieg und sein Umgang in Hochadelskreisen wird ihm zum Verhängnis. Franz von Helfenstein nämlich, Neffe des Inhabers der gleichnamigen Baronie, hat eine mörderische Intrige angezettelt, um sich in den Besitz von Gütern und Titel zu setzen. Und wohlgemerkt:  F r a n z  heißt er, und das nicht aus Zufall, denn wer Franz heißt, der muß - das wissen wir alle seit Schillers Franz Moor aus den >Räubern< - in der Geschichte der Hauptbösewicht sein. Und er ist es auch alle zweitausendvierhundert Seiten hindurch. Das schlechthin Böse vertritt er in diesem epischen Gebilde, in dem es sich (wie schon im >Waldröschen<) um eine Art Wettkampf zwischen Gut und Böse handelt. Franz ermordet den Onkel und noch einen zweiten Mann, doch falsche Zeugenaussagen und Indizien bringen den braven Gustav Brandt in den Verdacht, der Mörder zu sein. Er ist es, der im Gefängnis landet, wie auf dem Titelblatt zu sehen ist. Ein >verlorener Sohn<, der der Stolz des ehrbaren Försters, seines Vaters, war. Hier haben wir sogleich die entscheidendste Änderung des Verlorenen-Sohn-Motivs gegenüber der biblischen Urform: Gustav Brandt ist  u n s c h u l d i g  , ja, nicht nur das: Er ist, das haben wir schon gemerkt, vom Autor dazu bestimmt, die Verkörperung des Guten in der Welt zu sein, wie jener Franz die des Bösen.


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   Und die Metamorphose des Motivs ist von grundlegender und vielsagender Bedeutung. Vielsagend, weil wir, den Text literaturpsychologisch interpretierend, hieraus eine ganz eindringliche Botschaft des  M e n s c h e n  Karl May vernehmen, nämlich diese, die lautet: >So kann es einem Menschen ergehen, der immer nur das Gute gewollt hat und den doch ein hartes Geschick als Verlorenen und Verachteten ins Inferno dieser Welt schleudert. So ähnlich ist es doch mir selber ergangen.< Nun, wir wissen, daß er nicht so ganz und gar unschuldig war an seinem Schicksal wie dieser Gustav Brandt, und erkennen in diesem Motiv einmal wieder das Wunschbild des vom Leben Versehrten, als Erzähler wenigstens ein Leben zu erträumen, das hätte sein eigenes sein sollen.

   Um das Verhältnis von  V a t e r  und Sohn geht es auch in unserer Geschichte sogleich, und ich will die eindrucksvolle und eigenartige Szene in ihrer Dramatik hier zitieren.

Er hatte im Walde zu thun gehabt und auf dem Heimwege im Dorfe erfahren, was geschehen war und daß sein Sohn des Doppelmordes angeklagt sei. Er war im Dauerlaufe herbeigekommen und drängte sich fast athemlos durch die Menge. Er sah seinen Sohn in Fesseln, er sah alle die Anderen, auch den König; aber er beachtete sie alle nicht, sondern er wendete sich direct an den Amtmann:

   »Herr Richter,« sagte er, »mein Sohn soll zwei Menschen ermordet haben, hinterrücks ermordet?«

   »Regen Sie sich nicht auf, Herr Förster,« bat der Angeredete; »ich gebe Ihnen die Versicherung, daß -«

   »Geben? Eine Versicherung geben? Ich brauche sie nicht. Ich will wissen, ob der Junge ein Mörder ist oder nicht?«

   »Die Untersuchung wird das resultiren. «

   »Die Untersuchung? Ja, die wollen wir sogleich beginnen!«

   Er trat zur Leiche des Hauptmannes und untersuchte sie. Dann wendete er sich an seinen Sohn. Sein Gesicht war kalt, fast gefühllos zu nennen.

   »Erzähle!« gebot er.

   Da trat der Amtmann herbei und sagte:

   »Mein lieber Herr Brandt, die Untersuchung zuführen, ist meines Amtes. Sie dürfen überzeugt sein, daß -«

   Der Förster unterbrach ihn durch eine rasche Handbewegung und sagte, beinahe aufbrausend:

   »Ueberzeugt? Wovon wollen Sie mich überzeugen? Ich kann mich schon selbst überzeugen!« Und sich direct an den Monarchen wendend, fragte er: »Königliche Majestät, ist es mir erlaubt, mit meinem Sohne zu sprechen?«

   Es war ein sonderbarer Fall, ein Ausnahme-Fall; aber der Monarch kannte den alten Ehrenmann und nickte ihm Gewährung zu. Dann fragte der Förster seinen Sohn:

   »Hier an der Stelle, an welcher er liegt, hat ihn die Kugel getroffen?«


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»Ja,« antwortete Gustav. »Zwei Kugeln sind es gewesen.«

   »Pah! Dann wird mir das Herz leicht. Du bist der Mörder nicht, denn bei Dir hätte es eine Kugel gethan. Wo sind sie hergekommen?«

»Von hier heraus.«

»Wo warst Du?«

   »Ich stand hier neben ihm. Er hatte mich gestern beleidigt. Wir trafen uns hier; er war zur Einsicht gekommen und bat mir die Beleidigung ab. Da kamen die Kugeln.«

   »So hat Einer geschossen, dem an Eurer Aussöhnung nichts gelegen war, oder der gerade das, worüber Ihr Euch veruneinigt, auch gern haben wollte. Erzähle!«

   Gustav erstattete so ausführlich Bericht, wie es ihm möglich war. Als er geendet hatte, blieb selbst dem Amtmanne nichts zufragen übrig. Der alte Forstmann aber sagte:

   »Junge, tritt einmal her zu mir! So, gerade vor mich her! Nun guck' mir in die Augen! Fest, ruhig und offen! Ah, Du kannst es ja noch! Du schlägst die Augen nicht nieder! Du bist unschuldig! Dein Vater kennt Dich! Hättest Du nur mit der Wimper gezuckt, so wärest Du der Mörder, und ich hätte selbst Gerechtigkeit geübt, hier und sofort. Siehst Du, da mit der Doppelbüchse: eine Kugel für Dich und eine für mich. Dann war es schnell aus mit uns und mit der Schande. Da Du aber unschuldig bist, so gehe mit Gott. Sie führen Dich in das Gefängniß; aber das thut nichts! In unserem Lande giebt es einen guten König und gerechte Richter, und über uns wacht der liebe Gott, und Dein alter Vater und Deine alte Mutter werden für Dich beten!« (48f.)

Hier haben wir eine jener dramatisch zugespitzten Szenen, zu denen die Handlung immer wieder einmal zu komprimieren eines der Gütezeichen des Schriftstellers Karl May ist; und eben deshalb lassen sich ja auch seine Geschichten ad infinitum als Schauspiele auf Festspielbühnen erfolgreich verwenden.

   Und übrigens: Philologie, sagt man, ist die Kunst, in einer kleinen Texteinheit wie dieser ein ganzes Weltbild gespiegelt zu finden. Und da gäbe es hier mancherlei zu interpretieren, auch wenn man das Lob des guten Königs und der gerechten Richter als Schutzbehauptungen eines Autors betrachten muß, der nicht mit behördlicher Kritik in Konflikt geraten will. Nun, der König ist ja zur Stelle, und dennoch wird der Unschuldige sogleich ins Gefängnis geworfen als ein für die ehrbare Gesellschaft >verlorener Sohn    Aber wir halten uns an die Figur des Vaters. Das ist ein anderer als der in der biblischen Parabel. Jener verzeiht einem schuldig gewordenen Sünder, dieser unser knorriger Ehrenmann aus dem Walde würde einen schuldigen Sohn stante pede aus der Welt wegschießen und sich selber gleich mit. Wenn mich nicht alles täuscht, hat sich Karl May mit dieser Figur von dem Meister Anton aus Hebbels >Maria Magdalena<


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beeinflussen lassen, der ja auch schwört, er würde, falls seine Tochter schuldig sei, »den ganzen Kerl wegrasieren«. Hebbels Dramen scheint May ja gut gekannt zu haben, denn ähnlich hat er an anderer Stelle des Romans (141) die Figur seiner >Judith< ausdrücklich mit Bezugnahme auf Hebbels Judith-Figur charakterisiert.

   Daß sein Sohn nicht schuldig sein kann, das weiß Vater Brandt aber natürlich schon aus dem sicheren Gefühl seines Herzens heraus. Er  k e n n t  seinen Sohn. Und weil er ihn kennt, weiß er auch sogleich, daß allein die Tatsache, daß der Mörder zweimal hatte schießen müssen, um sein Opfer zu treffen, das absolut sichere Indiz dafür ist, daß jedenfalls sein Sohn Gustav der Täter nicht gewesen sein kann, denn er, Gustav, hätte es mit  e i n e m  Schuß geschafft. Eine Schlußfolgerung, wie man sieht, schon ganz in der Manier des Old Shatterhand! Noch ein zweites Indiz verschafft er sich, diese Augenprobe, gemäß der volksläufigen Anschauung, wonach einer, der schuldig ist, >einem nicht mehr ins Auge blicken< kann. Gustav kann es, aber weder dieses väterliche Experiment noch die Sache mit den zwei Schüssen sind Argumente, die vor dem Richter zählen können. So verliert dieser Vater seinen Sohn, und, wie es scheint, wird der verurteilt und hingerichtet werden, ohne doch, wie in der biblischen Parabel, »gesündiget in den Himmel und vor dir« zu haben.

   Doch wider alle Erwartung, so will es die göttliche Gerechtigkeit ebenso wie die Logik und das Gesetz der Kolportage, wird Gustav Brandt befreit. Ein Schmied ist es, der gelegentlich eines Bahntransports den Bewacher überwältigt und dem Gefangenen aus seinen Handschellen hilft; und der Kenner von Mays Biographie weiß sogleich: dieses hat das Leben selbst geschrieben. Denn einst war der Delinquent Karl May während eines Transportes seinem Bewacher entsprungen und der Schmied Weißpflog, sein Pate, hatte ihn von der eisernen Fessel befreit.

   Von nun ab verschwindet der verlorene Sohn Gustav Brandt aus dem Gesichtskreis der Erzählung. Was ihm weiterhin zustößt, wird nicht (wie man bei einem Karl May vielleicht erwarten könnte) in exotischen Geschichten ausgebreitet. Nein, als vom zweiten Kapitel an in der Residenz ein sagenumwobener Fürst von Befour auftaucht und beginnt, als der omnipotente >Fürst des Elends< geheimnisvoll zu wirken, erfährt man, daß dieser verlorene Sohn kein Vermögen verpraßt, sondern ein unermeßliches und anscheinend unerschöpfliches gewonnen hat: Diamantenfelder in Madagaskar und Borneo, ein Fürstentum in Indien. Und nun geht er an die Aufklärung des Verbrechens, den Beweis seiner Unschuld und die Überführung der Verbrecher. Aber


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ebenso stürzt sich der Geheimnisvolle in den Kampf gegen Not, brutale Ausbeutung, soziale Ungerechtigkeit und dabei, insbesondere, zur Befreiung der so zahlreichen anderen verlorenen Söhne.


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Der wichtigste aus der Schar dieser Verlorenen ist ohne Zweifel derjenige, der uns zunächst unter dem Namen Robert Bertram begegnet, Adoptivsohn eines inzwischen todkranken Schuhmachers, dessen Familie im äußersten Elend vegetiert. Er selbst freilich ist ein junger Dichter, der mit einem Buch unter dem Titel >Heimaths-, Tropen- und Wüstenbilder. Gedichte von Hadschi Omanah< einigen Erfolg gehabt hat, aber von seinem Verleger schmählich um Honorare betrogen wird. Es ist ja ganz unverkennbar, daß in dieser Figur der Autor Karl May sich selber eingestaltet hat, und schon der Titel des fiktiven Buches liest sich wie ein Programm seiner eigenen Schriftstellerei; auch der Terminus »Hadschi« in seinem Pseudonym läßt aufhorchen. Während May seinen Robert Bertram Tropen- und Wüstenbilder dichten ließ, und natürlich ohne je solche exotischen Länder gesehen zu haben, vielmehr hungernd in einem Elendsquartier hausend, hatte er schon selber im >Deutschen Hausschatz< sein Traum-Ich als Kara Ben Nemsi durch die Wüste reiten lassen. Beide also schuf er ziemlich gleichzeitig, den Kara und den Robert, den einen als Mythenheld, den anderen eher als den >real-existierenden< May in seiner frühen Schriftstellerzeit zu Hohenstein-Ernstthal. Im ausbeuterischen Buchhändler Zimmermann des Romans erkennen wir übrigens den Verleger Münchmeyer wieder, auch einen deutlichen Wink an diesen, mit den Honoraren nicht hinterm Berg zu halten. Aber ob Münchmeyer das je gelesen hat, wird man bezweifeln dürfen.

   Daß Robert Bertram als Lyriker Erfolg hat und zu Ruhm kommt, das ist natürlich auch ein unerfüllter Traum des jungen Karl May gewesen, und sicherlich mit großem Vergnügen schiebt er seinem Doppelgänger zitatweise eigene Gedichte unter. Einiges erfahren wir übrigens auch bei dieser Gelegenheit darüber, welche Literatur auf den jungen Karl May besonders eingewirkt hat. Daß es vor allem auch Ferdinand Freiligrath gewesen ist, kann nicht überraschen, denn eben Freiligrath hatte sich in seiner frühen Lyrik seine Motive aus exotischen Fernen, aus Afrika und dem Orient, genommen, und diese seine >Gedichte< (1838) waren ein großer Publikumserfolg gewesen. Später allerdings wurde Freiligrath einer der bedeutendsten politischen Lyriker in der


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Epoche der Revolution von 1848. Aufschlußreich für Mays Stellung zu dem als Revolutionär offiziell gescholtenen (ja zeitweise vor polizeilicher Verfolgung emigriert gewesenen) Altmeister aus der Generation der Achtundvierziger ist da vor allem eine Szene, die erhellt, wie May in Wahrheit zur aufklärerisch-demokratischen und sozialen Geistesströmung seiner Zeit gestanden hat - im Gegensatz nämlich zu Vorwürfen, die ihn gerne zum reaktionären Gartenzwerg einschrumpfen lassen möchten. Da kommt Seidelmann, entsetzlicher Frömmler und Halsabschneider in einer Person, um die geschuldete Miete einzutreiben. Doch Geld ist nicht da. Robert sitzt bei der Arbeit, er schreibt. Ich zitiere:

»Ich schreibe Noten, Herr Vorsteher.«

   »Das ist ein einträgliches Geschäft. Wie kann man dabei hungern und die Miethe schuldig bleiben!«

   »Das ist leicht erklärlich. Ich habe zweihundertundvierzig Bogen zu schreiben, ehe die Sammlung beendet ist; dann erst erhalte ich Bezahlung. Morgen Nachmittag werde ich fertig. Marie wird um dieselbe Zeit fertig. Sie hat an dieser Stickerei gegen zehn Monate gearbeitet, Tag und Nacht, möchte ich sagen. Morgen Abend erhalten wir Beide Geld.«

   »Warum nicht eher, da Sie doch bereits am Nachmittage fertig werden?«

   »Sehen Sie sich unsere Kleidung an. Können wir am Tage so ausgehen?«...

   »Schön! Wenn morgen die Bezahlung unterbleibt, wird der Herr Baron Sie vor die Thür setzen. Was für Noten schreiben Sie denn ab?«

   Er langte hin und ergriff das Blatt. Fast erschrocken warf er es wieder hin und rief:

   »Liebeslieder! Liebeslieder! Und da reden Sie von Elend, von Arbeit und Hunger?«

   »Liebeslieder?« sagte Robert. »Ich will Ihnen zeigen, daß dies kein Liebeslied ist.«

   Er nahm das Blatt auf und las:

»0 lieb, so lang Du lieben kannst!
O lieb, so lang Du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo Du an Gräbern stehst und klagst!«

   Er warf das Blatt zornig wieder auf den Tisch und fragte:

   »Nennen Sie das ein Liebeslied, Herr Seidelmann?«

   »Was sonst, mein Lieber, was sonst?«

   »Nein und tausendmal nein! Ferdinand Freiligrath ist der Dichter. Er meint hier die göttliche Liebe, welche sich durch den Menschen am Mitmenschen offenbaren soll. Wollte Gott, daß seine Diener sich auch dieser Liebe befleißigten, anstatt für freiherrliche Hausbesitzer die Cassirer des Miethzinses zu sein!«

   Der Vorsteher machte eine Geberde des Abscheus.

   »Freiligrath, der Revolutionär, der Gottesleugner! Und auf die Diener Gottes schimpfen Sie. Ich sehe, daß Sie keine Milde verdienen. ...« (116f.).


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Indem Robert Bertram in dieser Auseinandersetzung als einer gezeigt wird, der ebenso leidendes Opfer wie empörter Kritiker der herrschenden Verhältnisse ist, beginnt der Erzähler den gewaltig ausholenden Bogen einer Handlungssequenz, die in engstem Zusammenhang mit Sieg und Rehabilitierung Gustav Brandts auch diesen verlorenen Sohn wieder dahin bringt, wohin er rechtens gehört. Denn er ist, ihm selber unbekannt, der Sohn des vor zwanzig Jahren ermordeten Barons und der eigentliche, echte Erbe der Baronie: Robert von Helfenstein. Verlorengegangen ist er als Säugling. Der Verbrecher Franz hatte das Helfensteinsche Schloß abbrennen lassen, um den in der Wiege liegenden Knaben in den Flammen umkommen zu lassen. Aber die gedungenen Brandstifter hatten vor solchem Mord zurückgescheut, ein eben verstorbenes und begrabenes Kind aus dem Friedhof geholt und im Schloß untergeschoben, den echten Adelssproß indessen als Findelkind vor der Tür eines Waisenhauses abgelegt. So kam er als Adoptivsohn ins Schuhmacherhaus. Daß der aus dem Grabe gestohlene Knabe auch in die Reihe der verlorenen Söhne gehört, was noch eine besondere Rolle in der weiteren Geschichte spielt, sei hier nur eben erwähnt. Er sei der Dritte hier in meiner Reihe.

   Mit dem jungen Dichter aber geht es, was unser Thema betrifft, ganz besonders zu: Nachdem er schon als Robert von Helfenstein >verloren< gegangen war, geht er ein zweites Mal als Robert Bertram verloren. Das heißt: er gerät, lebensgefährlich zusammengeschlagen, als mutmaßlicher Verbrecher ins Gefängnis. Interpretiert man die Geschichte, warum er hineinkam, so zeigt sich, daß da wieder ein Stück Schicksalsbewältigung des Autors Karl May vorliegt. Einst hatte May sich nach dem gewaltsamen Tode des Barbiers Emil Pollmer, eines Onkels seiner späteren Frau (und seinerseits ein >verlorener Sohn<), auf den Kriegspfad begeben, um ein vermutetes Verbrechen aufzuklären, und war eben dafür wegen Amtsanmaßung ins Gefängnis geraten. Ähnlich will Robert Bertram durch sein mutiges Eingreifen ein Verbrechen verhindern und wird eben deshalb als Verbrecher ins Gefängnis gesperrt. Ein schreckliches Mißgeschick, das erst der >Fürst des Elends< wieder zum Guten wenden kann.


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Die Verdoppelung des Verlorenen-Sohn-Motivs auf eine einzige Figur wie im Falle Robert Bertram alias von Helfenstein offenbart, mit welcher Intensität den Erzähler dieser ganze Lebenskomplex, der ja der


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seinige war, innerlich bedrängte. Wann immer er ansetzte, einen neuen Strang der Fabel in seinen Romanteppich einzuknüpfen, es reizte ihn immer wieder, die Geschichte vom verlorenen Sohn Karl May zu erzählen, seine wahrhaftig >unendliche Geschichte<. Ein besonders durchsichtiger Fall ist in dieser Beziehung der des jungen Mechanikers Wilhelm Fels. Hierzu ist an die Affäre zu erinnern, durch die der Junglehrer Karl May einst aus seiner bürgerlichen Existenz geworfen wurde und ins Gefängnis geraten war. Er hatte unberechtigterweise die Uhr und wohl auch eine Pfeife seines Stuben-Mitbewohners mit sich genommen, als er in die Weihnachtsferien nach Hause gefahren war. Dieser sah die Gelegenheit, den unbequemen Stubengenossen loszuwerden, und machte Anzeige wegen Diebstahls. Sechs Wochen Gefängnis waren die Strafe für ein Vergehen, das nach Lage aller Umstände gar kein Diebstahl, sondern nur die unberechtigte Benutzung fremden Eigentums war, das ganz ohne Zweifel dem Eigentümer nach wenigen Tagen zurückgegeben worden wäre.

   Was dem jungen Wilhelm Fels zustößt, ist dieselbe Geschichte, in ein anderes Sachgebiet versetzt, verfremdet, aber in seinem autobiographischen Gehalt transparent. Was May einst als schäbige Bosheit seines Denunzianten empfunden hatte, das wächst sich im Fall des Wilhelm Fels freilich zu einer planvollen Intrige aus, bei der Franz, der Bösewicht aller Bösewichter, Gangsterchef und falscher Baron von Helfenstein, der Mafia-Boß sozusagen, den naiven jungen Mann höchstpersönlich zu Fall bringt. In der Maske eines englischen Lords bestellt er bei Fels eine Maschine, die dieser erfunden hat, und verspricht, einen hohen Preis dafür zu zahlen. Fels macht sich ans Werk. Aber zur letzten Vollendung fehlt es ihm an Material. Mittellos, wie er ist, entnimmt er die Eisenstücke dem Lager des Geschäftes, in dem er angestellt ist, mit der Absicht, sogleich nach Empfang des Geldes für seine Maschine das Entnommene zu bezahlen. Aber es kommt, wie es kommen muß. Der falsche Lord erscheint, um sich nach der bestellten Maschine zu erkundigen. Es ist Marie, Wilhelms Freundin, die ihm in Wilhelms Abwesenheit in allerbester Absicht das Entscheidende verrät: »Wilhelm ist arm. Er kann das theure Material, welches er zu Ihrer Maschine braucht, nicht kaufen. Er hat es sich aus den Vorräthen seines Prinzipales geborgt, aber ohne dessen Erlaubniß. Wenn dieser es bemerkt, so wird Wilhelm gar als ein Dieb gelten können. Darum wollte er Sie bitten, und ich thue es hier in seinem Namen, ihm doch einen Vorschuß zu zahlen, damit er das Geld für das Material entrichten kann.« Er blickte sie vom Kopfe bis zu den Füßen an und sagte: »Ich werde ihm, wenn ich komme, das Geld bringen. Adieu!« (207)


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   Fröhlich ob dieser Aussicht und in der Überzeugung, ihrem Freunde gedient zu haben, bleibt Marie zurück, wohingegen der Leser sogleich erfährt, was Franz, der Bösewicht, wirklich bezweckt:

   »Dieser Fels ist einer der geschicktesten Arbeiter. Ich kann ihn gebrauchen, wie keinen Zweiten. Aber unehrlich muß er erst gemacht werden! Jetzt endlich habe ich ihn in den Händen! ... Er soll noch heute arretirt werden! Muß er sich dann einmal unter die Diebe zählen lassen, so erhält er keine Arbeit mehr und fällt mir zu! ...« (Ebd.)

   So geschieht es: Wilhelm Fels, der vierte verlorene Sohn, landet im Gefängnis. Die Identität zwischen seinem Fall und dem Fall Karl Mays offenbart sich uns in dem einen Wort, das Marie gebraucht. Wilhelm hat sich das Material nur geborgt, ebenso wie sein Verfasser sich einst etwas >geborgt< hatte. Und wenn man schließlich erfährt, wie hoch die Strafe für Wilhelm Fels ausfällt: nämlich sechs Wochen Gefängnis (1038), so lohnt sich ein Blick in Karl Mays Autobiographie >Mein Leben und Streben<, wo man liest: Dieb! Ich wurde nach Chemnitz vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schloß und Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt.(7)


7

Der fünfte in der Schar der verlorenen Söhne ist Wilhelm Heilmann. Mit ihm geht es besonders merkwürdig zu, insofern nämlich, als auch in seiner Figur, wie bei Robert Bertram, das Leitmotiv in der Verdoppelung erscheint. Wir erfahren von seinem ersten Fall, der ihn unschuldig ins Zuchthaus brachte, aus dem, was er am Tage seiner Entlassung dem ebenfalls gerade entlassenen Petermann erzählt:

   »... Lachen Sie oder heulen Sie, ganz wie es Ihnen beliebt. Aber ein Spitzbube bin ich doch nicht ... Und doch hat man mir wegen Diebstahles zwei Jahre Zuchthaus gegeben!« ... »Wie ist denn das gekommen?« »Nun, ich hatte eine Geliebte; ein Anderer wollte sie auch. Wir waren Beide Buchbinder und arbeiteten bei demselben Meister. Eines Tages wurde diesem der Kasten aufgebrochen und sein ganzes Geld gestohlen. Die Polizei kam und fand das Geld - ganz tief unten in meiner Lade versteckt.« (1008)

   So einfach ist das also. So kann man unschuldig zum verlorenen Sohn werden. Karl May kann sich nicht genug tun mit seinen Unschuldigen im Kerker. Die Gefängnisse stecken voll von ihnen, und unaufhörlich sind Kräfte am Werk, unschuldige Söhne verlorengehen zu lassen, von


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den vielen verlorenen Töchtern in unserem Roman noch einmal ganz abgesehen.

   Ich möchte, meine verehrten Zuhörer, die Geschichte des Wilhelm Heilmann, des soeben aus dem Zuchthaus Entlassenen, nicht erwähnen, ohne Ihnen eine kleine und scheinbar unbedeutende Szene vorzutragen, die - wie mir scheint - bei aller Schlichtheit von einer fast schmerzhaften Intensität ist: winziges Meisterstück eines Erzählers, der erlebt haben könnte, was er erzählt.

Als Petermann den Bahnhof erreichte, war es noch zu früh zum Zuge. Er konnte noch kein Billet bekommen, suchte darum die Bahnrestauration auf und ließ sich ein Glas Bier geben - das erste seit vier Jahren.

   Er hatte kaum einige Minuten da gesessen, so kam ein zweiter Gast [Heilmann], ein junger Mann, der höflich grüßte und bei seinem Anblicke zu stutzen schien. Auch Petermann kam es vor, als ob er ihn bereits einmal gesehen habe.

   Der junge Mann kam näher und fragte:

   »Würden Sie mir erlauben, bei Ihnen Platz zu nehmen?«

   »Ich kann nichts dagegen haben. Hier setzt sich ein Jeder dahin, wo es ihm beliebt.«

   »Das heißt, besser wäre es, ich suchte mir einen anderen Platz? Nicht wahr?«

   »Nehmen Sie es, wie Sie wollen!«

   »Nun, ich gestehe Ihnen, daß ich zu Ihnen komme, weil ich mich für Sie interessire.«

   »Ah! Warum?«

   Der Andere setzte sich, ließ sich ein Glas Bier geben und sagte dann, als der Kellner sich wieder entfernt hatte:

   »Bemerken Sie die Falten, welche Sie in Ihrem Anzuge haben, mein Herr?«

   »Wozu diese eigenthümliche Frage?«

   »Weil mein Anzug dieselben Falten hat. Wenn ein Rock Jahrelang in einem Sacke steckt, ohne nur einmal angezogen zu werden, so sollte er doch vorher wenigstens ausgebügelt werden. Daran denken aber diese hohen Herren Beamten nicht.« (1006f.)

Ich breche hier ab mit meinem Zitat. Wer kann, frage ich mit einiger Ergriffenheit, eine solche Szene schreiben, wenn sie nicht ein Stück Leben seines eigenen Lebens ist!

   Mit Wilhelm Heilmann aber geht es zum zweiten Male hinab ins Inferno des Zuchthauses. Ohnehin steht er unter Polizeiaufsicht, und die Schreckenserfahrungen mit dieser sind ganz gewiß denen des Autors Karl May nacherzählt. Der einzige, an den er sich wenden kann, ist sein uralter Pate. Doch der liegt dem Sterben nahe, vernachlässigt von dem jungen Paar, das ihn aus der Wohnung in den Oberboden verbannt hat, um ihn dort umkommen zu lassen. Heilmann hilft ihm heimlich, holt


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ihm zu essen und kauft auf des Paten dringlichstes Begehren ihm für zwei Gulden eine uralte Taschenuhr ab. Es ist eine etwas komplizierte Geschichte, und man bemerkt, es hat den Erzähler Karl May einige Umstände gekostet, bis nach des Paten Tode die Taschenuhr vom bösen Erben vermißt und auf dessen Anzeige hin von der Polizei bei einer Durchsuchung im Besitz Heilmanns gefunden wird. Erneut wird er gefangengesetzt. Die Uhr, die verhängnisvolle Uhr, da ist sie denn wieder, das Schreckensding, das einst den jungen Lehrer Karl May in sein eigenes Inferno gebracht hatte.

»Herrgott! So bleibe ich gefangen?«

   »Ja, weil des Diebstahls im Rückfalle angezeigt.«

   »Aber ich bin unschuldig!«

   »Daß [!] muß die Untersuchung ergeben. Auf alle Fälle aber mache ich Sie darauf aufmerksam, daß die Uhr fast gar keinen Werth besitzt, die Strafe also nicht sehr hoch bemessen werden kann. Zu dieser Strafe aber kommt, falls Sie für schuldig erklärt werden, die Rückfallsquote, welche ein ganzes Jahr beträgt.«

   »Herr Commissar, ich kann nur versichern, daß ich abermals unschuldig bin. Werde ich wieder verurtheilt, so kann es keinen gerechten Richter mehr geben. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich habe als Mensch gegen meinen alten Pathen gehandelt. Wird mir dies mit abermaliger Zuchthausstrafe vergolten, so - ah, ich will still sein, denn je unglücklicher ich bin, desto größer ist die Freude Dessen, dem ich das zu verdanken habe.«

   »Sind Sie wirklich unschuldig, so wäre es unrecht, zu verzweifeln. Sie erhalten Gelegenheit, sich zu vertheidigen. Jetzt aber werde ich Sie abführen lassen. Ich hoffe, daß Sie sich ruhig in Ihr Schicksal fügen, anstatt sich dasselbe durch Renitenz zu verschlimmern!«

   Der Commissar klingelte, und Heilmann wurde in eine Zelle des Polizeigefängnisses gebracht. Er hatte nicht einmal einen vollen Tag die wiedererlangte Freiheit genossen. (1038)

Wir fügen hinzu: Auch in Karl Mays Roman hat seine Existenz nicht einmal einen vollen Tag gedauert. Sein literarischer Schöpfer hat es damit bewenden lassen, daß man Heilmann in die Zelle des Polizeigefängnisses geführt hat. Und dann hat er, der stets in Eile seine Feder rührende Autor, seinen Wilhelm Heilmann total vergessen. Vielleicht kann man sagen, er hat ihn >verdrängt<, diesen Unglücksmenschen mit der Taschenuhr, wie man eben Böses aus der Erinnerung, nachdem es aufgetaucht war, gerne schnell wieder überspielt.


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8

Und nun Karl Petermann, der Mann mit den verräterischen Falten in seinem Rock, der sechste in unserer Reihe der Verlorenen. Zwar ist er kein junger Sohn mehr nach seinen vier Jahren Gefangenschaft, und seinerseits ein Vater, der nach seiner Entlassung eine verlorene Tochter suchen muß. Unter den Unschuldigen aber ist er, möchte man sagen, der allerunschuldigste. Denn er hat sogar ein Geständnis abgelegt für eine Tat, die ein anderer begangen hat. Als allzu getreuer Diener der Adelsfamilie Scharfenberg, deren Verwalter er gewesen war, hatte er eine Unterschlagung des jungen Leutnants Bruno von Scharfenberg auf sich genommen, um dessen Ehre und die seiner Familie zu schützen. Fünf Jahre Gefängnis hatte er dafür als Strafe eingehandelt, im Gefängnis sich durch mustergültige Führung das Vertrauen der Direktion erworben, war als Schreiber beschäftigt gewesen und darum mit einem Straferlaß von einem Jahr und einem Vertrauenszeugnis vorzeitig entlassen worden. Aus der Gefängniszeit Karl Mays hat sich in dieser Figur wohl das unverstellteste Autobiographische eingestaltet. Die großartige, so detailgenaue Erzählung von der Entlassung des Gefangenen mit der Nummer 306 aus dem Gefängnis Rollenburg muß man auf den Seiten 994 und 999 nachlesen, um - leicht verfremdet - die Entlassung des Sträflings Karl May aus dem Arbeitshaus Osterstein am 2.11.1868 anschaulich vor Augen zu haben. Petermann ist wie May als Schreiber für die Verwaltung beschäftigt gewesen, und die Ermäßigung der Strafe um ein Jahr sowie die Ausstellung eines Vertrauenszeugnisses stimmen genau überein. Nicht ohne tiefere Bedeutung ist, daß auch Petermann mit Vornamen  K a r l  heißt und die Absicht hat, Schriftsteller zu werden, um über das Thema ... : Die Liebe in ihren socialen Beziehungen zu schreiben. (1067f.)


9

Als Karl Petermann durch das Gefängnistor in die Freiheit schreitet, heftet sich eine Gestalt an seine Fersen mit den Gebärden eines Bittstellers.

»Petermann!« erklang es in bittendem Tone.

   »Herr Baron!«

   »Nicht so, nicht so! Sie ahnen nicht, was ich gelitten habe!«

   »Aber Sie ahnen ungefähr, was ich leiden mußte?«

   »Ich wollte ja zuspringen, aber Sie selbst hatten mir den Weg dazu versperrt.«


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   »Womit denn?«

   »Durch Ihr Geständniß.«

   »Ach so! Nun, ich habe dieses Geständniß mit meiner Ehre, meiner Stellung und vier Jahren Zuchthaus bezahlt.«

   »Ich werde Alles, Alles vergelten!«

   Petermann musterte den Lieutenant vom Kopfe bis zu den Füßen.

   »Wirklich?« fragte er. »Wollen Sie das?«

   »Ja, gewiß!«

   »So sagen Sie mir doch einmal, wie Sie das anzufangen gedenken!«

   »Da sollen Sie mir rathen.«

   »Nun, was meine Stelle werth war, das läßt sich ja taxiren; aber was zahlen Sie mir für meine verlorene Ehre? ... Und für die Tage der Gefangenschaft. Für den stillen Harm, der mich verzehrte, für die Knechtschaft und Erniedrigung, die ich zu tragen hatte, für Alles, Alles, was sich unmöglich beschreiben läßt?«

   »Seien Sie nicht zu grausam!«

   »Waren Sie weniger grausam? Ich habe Stunde für Stunde gewartet, daß Sie kommen würden. Ich gestand die That ein, aber ich war überzeugt, daß Sie kommen würden, um dieses Geständniß umzuwerfen - vergebens! ... Wir sind geschiedene Leute, Herr Baron!« (1005f.)

Hier haben wir ihn also, den siebenten verlorenen Sohn, den Leutnant Bruno von Scharfenberg. Diesmal keinen Unschuldigen, vielmehr einen Sünder wie in der biblischen Parabel. Er hat den Vater bestohlen, ein Vermögen an eine Mätresse und durch Spielschulden verloren, ist schließlich in einem Ehrenhandel zu einem sogenannten amerikanischen Duell gezwungen worden, einem Verfahren, in dem durch Würfeln ermittelt wird, wer von beiden Kontrahenten sich selbst zu erschießen hat; und er hat verloren. Noch dazu ist er durch seine Spielsucht in solche Schulden geraten, daß er einer Geldfälscherbande zum Opfer gefallen ist und für sie falsche Banknoten in Verkehr bringt. So wird er schließlich verhaftet. Nun wäre nach dem biblischen Muster gewiß der Punkt erreicht, daß der verlorene Sohn reuig umkehren und dann die göttliche Barmherzigkeit in Gestalt eines gütigen und alles verzeihenden Vaters tätig werden sollte. Aber nein, auch in diesem Fall eines echt schuldig Gewordenen geht es nicht wie im Lukas-Evangelium.  D i e s e r  Vater hier ist ein gar gestrenger und adelsstolzer Herr, der dem auf Abwege geratenen Sohn stets als ein so erschreckendes Vorbild erschienen ist, daß er, Bruno von Scharfenberg, gar nicht erst auf den Gedanken gekommen ist, an diesen könnte er sich um Hilfe wenden. Er hatte es nie gekonnt.

   So weiß denn der Vater nicht viel von seinem Sohn. Paradoxerweise ist es gerade der auf der Flucht befindliche Erzbösewicht Franz, der ihm die Wahrheit bringt.


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»... Ich kann wohl tödten und Anderes, hier aber sage ich die Wahrheit! ... Zunächst ist er des Kindesmordes angeklagt, der Herr Lieutenant. ... Wissen Sie nicht, daß jene Editha von Wartensleben wieder aufgetaucht ist? Sie hat ihr Kind ermordet... Man beschuldigt ihn noch ganz anderer Sachen... Er hat seinen Ehrenschein wiederholt nicht eingelöst... Er ist in Folge dessen mit dem Oberlieutenant von Hagenau ein amerikanisches Duell eingegangen. Die Würfel haben gegen Ihren Sohn entschieden. Binnen zweier oder dreier Tage muß er sich das Leben nehmen, wenn er nicht angespuckt sein will... Und ferner ist er Falschmünzer... Vielleicht wird er bereits heute noch arretirt.«

   Da richtete sich der Major stolz auf. Er sagte:

   »Ich durchschaue Sie! Sie wollen sich meine Hilfe durch diese Märchen erkaufen. Aber Sie sollen keinen Erfolg haben. Mein Sohn ist gedankenlos, meinetwegen auch leichtsinnig, ein Verbrecher aber ist er nicht!«

   »Ganz wie Sie wollen!... Ich gebe Ihnen den Rath, sofort nach der Residenz zu fahren. Vielleicht können Sie ihn noch retten. Lösen Sie die Falsificate ein.«

   »Also doch, doch, doch!«

   Der alte, brave Kriegsmann griff sich nach dem Kopfe. Es wurde ihm roth, blau, schwarz vor den Augen. Es war ihm, als ob er in ein Meer versinke, als ob hohe Wogenberge auf ihn einstürmten. Er gab noch einen leisen, ersterbenden Laut von sich und sank dann auf den Boden nieder. Er war ohnmächtig. (1874f.)

Was in diesem unserem Falle die Beziehung zwischen Vater und Sohn betrifft, so verhält es sich zu dem in der biblischen Parabel auf eine merkwürdige Weise. Sehr wohl ist auch dieser Sünder in der Aussichtslosigkeit seiner Lage einer, der zutiefst bereut, was er getan hat; aber indem er ins Kriminelle geraten ist, wie ja einst May selber, ist für ihn, der für Adels- und Offiziersehre einzustehen hätte, ein Weiterleben in dieser seiner Welt nicht möglich. Der Punkt, an dem Umkehr mit einem >pater peccavi< noch möglich gewesen wäre, muß ihm weit überschritten erscheinen. Es ist zu spät! Und auf der anderen Seite: der Vater, aus seiner Ohnmacht erwacht, ist sehr wohl gleich dem biblischen willens, dem verlorenen Sohn Hilfe zu bringen, aber auch dieses - nach einer so langen Entfremdung und Sprachlosigkeit zwischen beiden - wird nun zu spät kommen. Hören Sie, wie der Erzähler in einer dramatischen Szene das Schicksal dieses verlorenen Sohnes enden läßt. Staatsanwaltschaft und Richter haben dem Gefangenen auf seine Bitte erlaubt, in ihrer Begleitung noch einmal seine Wohnung aufzusuchen, um, wie er vorgibt, dort sein Geständnis zu dokumentieren.

Als das Licht das Wohnzimmer Scharfenberg's erhellte, füllte er die Gläser, präsentirte die Cigarren und sagte:

   »Bitte, verschmähen Sie es nicht! Es ist das letzte Mal, daß ich Jemandem etwas anbieten darf.«

   Sie wollten ihn nicht kränken und erfüllten also seine Bitte. Dann fuhr er fort:


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   »Geben Sie mir einige Minuten Zeit! Ich werde hier an meinem Schreibtische einige Zeilen schreiben, die ich Ihnen dann zur Prüfung vorlege.«

   Er setzte sich hin, nahm Papier und Feder zur Hand und begann zu schreiben. Das Geräusch, welches die Feder auf dem Papier hervorbrachte, war das Einzige, was gehört wurde. Er schrieb nur einige Zeilen; dann schob er das Papier von sich ab, öffnete ein Schubfach und nahm ein Miniaturportrait aus demselben. Er betrachte es lange, lange Zeit. Dann sagte er:

   »Das war meine Mutter! 0, Mutter, meine Mutter!«

   Die Thränen rannen ihm über die Wangen; er trocknete sie, schob das Portrait in der Gegend des Herzens unter die Weste und gab dann den Beiden die geschriebenen Zeilen hin.

   »Bitte, meine Herren! Dies ist es, was ich hier noch schreiben wollte.«

   Sie blickten Beide zugleich auf das Papier und lasen:

   »Ich bekenne meine Schuld und bereue sie. Vater und Oheim mögen mir verzeihen! Gott sei mir gnädig! Fluch aber dem Baron Franz von Helfenstein! Er war der Teufel, der mich in die Hölle des Spieles entführte. Ich war zu schwach zum Widerstehen. Gute Nacht!«

   Seine Hand zuckte in das Schubfach, aus welchem er das Bild genommen hatte - ein stählernes Glänzen - ein dünnes, gar nicht sehr lautes Krachen - den kleinen Revolver in der Rechten, legte er den Kopf nach hinten. Mitten auf seiner Stirn befand sich ein kleines, kaum erbsengroßes Loch. Er war - - todt!

   Die beiden Anwesenden hatten keine Bewegung gemacht; sie blickten einander nur kurz und verständnißvoll an. Dann ergriff der Staatsanwalt die Hand des Lieutenants, lauschte eine Minute und sagte:

   »Vorüber!« ...

   Sie hatten nicht das Rollen eines Wagens gehört. Auf der Treppe wurden Schritte laut. Die Thür öffnete sich, und herein trat der alte Major ...

   »Guten Abend, meine Herren!« sagte der Alte. »Sie sind wohl auch da des amerikanischen Duells wegen? Es darf nicht stattfinden. Warum soll der Stamm der Scharfenberger erlöschen? Was haben Sie da? Zeigen Sie das Papier!«

   Er nahm es aus der Hand des Assessors und las. Als er fertig war, blickte er sie verständnißlos an, sah wieder auf die Zeilen und wiederholte:

   »Gott sei mir gnädig! Gute Nacht!«

   Erst jetzt schien er den Sohn zu erblicken. Er trat zu ihm, ergriff seine Hand und beugte sich nieder zu seinen Lippen, um sie zu küssen. Kaum aber hatte sein Mund denjenigen des Sohnes berührt, so fuhr er empor, heftete den tödtlich erschrockenen Blick auf das Angesicht des Sohnes, berührte mit dem Finger das Loch in der Stirn und sank dann langsam, ohne einen Laut von sich zu geben, auf den Boden nieder. Der Schlag hatte ihn getödtet. (1884f.)


10

In der Reihe der motivverwandten Episoden, die wir bisher betrachtet haben, ist - wie man schon bemerkt haben wird - die von Sohn und


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Vater Scharfenberg besonders herausgehoben. Alle anderen Söhne, die auf die eine oder andere Art verlorengingen, waren unschuldig oder, wie im Falle des Mechanikers Fels, fast unschuldig und mußten doch ins Gefängnis. Dies literarpsychologisch aus Biographischem des Verfassers herzuleiten und zu deuten ist nicht schwer: Karl May hat niemals aufgehört, die ihm im Zusammenhang mit der verhängnisvollen Uhrengeschichte zuteil gewordene Gefängnisstrafe, die ja ein lebenslanges Berufsverbot einschloß, als ihm angetanes Unrecht, sich selber als an einem wirklichen Diebstahl völlig unschuldig zu betrachten. Und wie man aus heutiger Sicht sagen muß: Es  w a r  ein schreiendes Unrecht an einem naiven und weltfremden Neunzehnjährigen. In diesem Sinne mag man den Erzähler mit seinen Figuren identifizieren.

   Anders im Falle Scharfenberg, wo der verlorene Sohn tatsächlich ins Kriminelle abgleitet, und doch hat auch in diese Figur Karl May etwas vom Leben seines eigenen Lebens eingestaltet. Ins Kriminelle war auch er am Ende geraten. Daß hier das Motiv Falschgeld auftaucht, ist auch verräterisch. Und aus dem Abschiedsbrief des Leutnants liest man, was May von sich selber sinngemäß anderswo auch eingestanden hat: Ich bekenne meine Schuld und bereue sie ... Ich war zu schwach zum Widerstehen. Noch etwas ist auffallend an der tragischen Schlußszene. Es ist nicht der Vater, an den der Verlorene mit Schmerz und Liebe denkt. Das Bild der  M u t t e r  legt er an sein Herz, ihr gelten seine Tränen: Das war meine Mutter! 0, Mutter, meine Mutter! Ich möchte meinen, auch hier spricht Karl May mit dem Mund seiner Romanfigur. Karl Mays Mutter starb am 15. April 1885, und nach der uns zugänglichen Chronologie muß dieser Romanteil etwa um diese Zeit geschrieben worden sein.

   Betrachtet man die Scharfenberg-Episode als Ganzes, so stehen wir vor einem paradoxen Sachverhalt. Einerseits ist sie ihrer Erzählstruktur nach der biblischen Parabel am nächsten verwandt: Wir haben den echten, schuldigen Sünder, wir haben seine echte Reue, wir haben den zur Hilfe entschlossenen Vater. Und anderseits läßt der Erzähler - im schärfsten Gegensatz zur biblischen Fassung - hier keine Barmherzigkeit eingreifen, sondern den Konflikt tragisch enden.

   Wir wollen die Reihe der verlorenen Söhne hiermit abschließen. Es gäbe noch einige weitere Varianten, wenn man vollständig sein wollte, darunter sogar das Furchtbarste, Infernalischste des ganzen Romans überhaupt, das Todesschicksal des kleinen Knaben, der uns nur als der >kleine Schubert< genannt wird: Sein Vater, der ihn nicht ernähren kann, verkauft ihn für ein paar Gulden, er gerät in die Hände einer Artistengruppe und kommt auf gräßliche Weise um. Nichts mehr davon!


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Ich will vielmehr versuchen zusammenzufassen, was ich mit den hier exemplarisch vorgeführten Episoden beabsichtigt habe. Das ist zuerst, einen Blick zu öffnen in das, was man die >innere Werkstatt< eines Erzählers nennen könnte. Wir begreifen die Egozentriertheit des schöpferischen Menschen, der den Stoff seiner Phantasie immer aufs neue aus sich selber speist, der sich selber und sein Leben erzählen muß, auch wenn er seiner bewußten Absicht nach ganz fremde Schicksale zu behandeln meint.

   Anderseits kann man erkennen, wie aus solcher Egozentrizität heraus eine mir durchaus als genial erscheinende Fähigkeit zu variieren, zu verfremden, ins Epische auszubreiten, hervorgeht. So ist denn das immer wieder abgewandelte Motiv vom verlorenen Sohn poetologisch das Leitmotiv oder Leitthema des ganzen Romans; was übrigens in den Figuren der >verlorenen Töchter< eine parallel laufende Reihe zur Seite hat. Das gehört zu dem, was Rudi Schweikert das »artistische Erzählen« Karl Mays genannt hat.(8) Hierzu meinerseits einen Beitrag zu liefern, habe ich Mays Texte recht ausführlich zitiert. Sie zeigen, so meine ich, einen großartigen Erzähler, insbesondere wenn es ihm darum geht, Handlungen zu kraftvoll dramatischen Szenen zu konzentrieren. Die letzte Scharfenberg-Szene steht da vor uns, plastisch wie auf einer Bühne. Ganz gewiß: Kolportageromane stehen nicht hoch im Kurs. Ihre notwendigerweise in die Länge gezogene Handlung schleppt Leeres, Ödes und Langweiliges mit sich. Aber immer wieder zeigt sich die Klaue des Löwen, und ein Meister meldet sich zu Wort. Das gilt auch, aufs Ganze gesehen, von der Tatsache, daß ein Weltpanorama entstanden ist, wie man es ähnlich voller Düsternis und Schrecken und gezeichnet mit so bitterer, scharfer und auch satirischer Sozialkritik in keinem anderen zeitgenössischen Werk noch einmal finden kann. Die goldregnende und heilende Segenshand des Fürsten des Elends und der >gute König< - das stammt aus dem Traum-Schaum des Märchens: Wischt man den hinweg, so haben wir, was dieses Werk wirklich ist: einen erschütternden Sozialroman seiner Epoche.



1 Werner Brettschneider: Die Parabel vom verlorenen Sohn. Das biblische Gleichnis in der Entwicklung der europäischen Literatur. Berlin 1978

2 Karl May: Der verlorene Sohn. Dresden 1883-85. Reprint Hildesheim-New York. (Seitenangaben im Text beziehen sich auf diesen Reprint.)

3 Vgl. Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o.J. (1910), S. 172-177.

4 Volker Klotz: Woher, woran und wodurch rührt >Der verlorene SohnDer verlorene Sohn<. Tagtraum und


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Versuch der literarischen Bewältigung persönlicher Existenzprobleme des Autors. In: Jb-KMG 1981. Hamburg 1981, S. 88-135

5 Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 397-404

6 Heinz Stolte: Karl Mays >Ardistan und Dschinnistan< und sein Weltfriedensgedanke. In: Jb-KMG 1988. Husum 1988, S. 83-98

7 May: Leben und Streben, wie Anm. 3, S. 107

8 Siehe den Beitrag Rudi Schweikerts in diesem Band.


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