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HELMUT SCHMIEDT

Zwei Jahrzehnte danach:
Stand und Aufgaben der Karl-May-Forschung*



Man wird es gewiß nicht für die nachahmenswerte Tugend einer wissenschaftlichen Disziplin oder eines Teilbereichs darin halten, wenn sie sich immer wieder mit sich selbst statt mit ihrem Gegenstand beschäftigen. Man sollte aber auch nicht zufrieden sein, wenn eine derartige Reflexion über die Voraussetzungen, Leistungen und Zukunftsperspektiven der eigenen Arbeit gänzlich vermieden wird. Der Mittelweg ist hier, wie in vielen Fällen, golden: So wenig es einer Wissenschaft ansteht, sich selbst anstelle ihres Forschungsobjekts in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken, so sehr ist es geboten, daß sie sich nicht in besinnungslos vollzogenem Aktionismus erschöpft, sondern nachdenkt über die Art und Weise, in der sie ihr Geschäft betrieben hat und weiterhin betreiben soll bzw. betreiben kann. Wir kennen aus der schönen Literatur das Phänomen der poetischen Selbstreflexion, also das Nachdenken eines Textes über sich selbst; nichts anderes als eine solche Selbstreflexion ist auch für die angezeigt, die unter bestimmten Vorzeichen oder im Hinblick auf bestimmte Objekte über diese Literatur nachdenken - wie beispielsweise die Vertreter der Karl-May-Forschung.

   In ihrer jüngeren Geschichte hat es denn auch zu verschiedenen Zeitpunkten entsprechende Unternehmungen gegeben. 1970, im allerersten Jahrbuch unserer Gesellschaft, haben Hainer Plaul und Klaus Hoffmann gemeinsam eine knapp zwanzigseitige und rein sachlich, d. h. an den vorliegenden Materialien orientierte Bilanz veröffentlicht, auf deren Titel ich in demjenigen meines Vortrags zurückgreife.(1) Später haben Volker Klotz und Günter Scholdt(2) Überlegungen angestellt, die stärker methodisch ausgerichtet waren. Gert Uedings Handbuch und Martin Lowskys Metzler-Band(3) breiten auf überschaubarem Raum die Erkenntnisse aus, die wir bis um die Mitte der achtziger Jahre gewonnen haben, liefern also zumindest die Unterlagen für eine solche Selbstreflexion und leisten in manchen Passagen noch mehr; und es

*Vortrag, gehalten am 27. 9. 1991 auf der 11 . Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Wiesbaden.


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wäre noch einiges andere zu nennen, ich denke z. B. an die regelmäßigen Rechenschaftsberichte, die Claus Roxin anläßlich der alle vier Jahre fälligen KMG-Vorstandswahlen erstattet und die dann jeweils in einem Heft unserer >Mitteilungen< nachzulesen sind.

   Meine folgenden Überlegungen schließen sich z. T. an diese Arbeiten an, sind aber insofern auch etwas anders orientiert, als ich in sehr grundsätzlicher Hinsicht argumentieren möchte, mich also nicht an die Vorgaben zeitlicher oder thematischer Grenzen halten werde. Den Anlaß dazu geben mir der Umstand, daß die Karl-May-Gesellschaft nun schon mehr als zwei Jahrzehnte existiert und allem Anschein nach blüht und gedeiht, daß wir vor einem zur Besinnung mahnenden weiteren May-Gedenkjahr stehen, sowie einige Einwände gegen Entwicklungen in der May-Forschung, auf die ich später näher eingehen werde. Was - so könnte die pauschale Leitfrage zu meinen Überlegungen lauten - ist denn nun, alles in allem, zu halten von dem, was wir über Karl May und sein Werk herausbekommen haben, und was ergibt sich daraus für die Zukunft?

   Ich möchte meinen Gesamteindruck zunächst einmal ganz pointiert in zwei kurzen Erlebnisberichten zusammenfassen. Als ich vor einiger Zeit einen Artikel über die Erfolge des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit Karl May veröffentlicht hatte(4), sprach mich ein prominentes Mitglied unserer Gesellschaft darauf an: Er wolle meinen Ausführungen im wesentlichen zustimmen, aber daraus ergebe sich ein beträchtliches Problem; ich hätte überzeugend dargelegt, daß Karl Mays Werk mittlerweile unter nahezu allen sinnvollen Aspekten untersucht worden sei, daß man dabei die verschiedensten Wege beschritten und die unterschiedlichsten Ergebnisse zusammengetragen habe - aber wenn das alles stimme, wie könne es dann mit der Forschung zu May überhaupt noch weitergehen, zu einem Autor, der ja nun gewiß nicht von jener gleichsam unerschöpflichen Rätselhaftigkeit und Vieldeutigkeit wie beispielsweise ein Goethe oder Kafka sei? Müsse man nicht befürchten, daß die Karl-May-Forschung gerade aufgrund ihrer derzeitigen Intensität bald an das Ende ihrer Möglichkeiten gelangt, weil es nach Ausfüllung letzter kleiner Lücken - eigentlich nichts mehr zu kommentieren und erforschen gibt?

   Eine genau gegenteilige Erfahrung machte ein Student, der mich ebenfalls vor einiger Zeit ansprach. Er hatte sich dafür entschieden, eine Seminararbeit über den >Schatz im Silbersee< zu schreiben; daß viele hilfreiche wissenschaftliche Arbeiten zu Karl May vorliegen, wußte er, und da der >Silbersee< bis heute zu den berühmtesten, meistgelesenen Texten seines Autors gehört, nahm der Student als selbstverständlich


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an, daß gerade zu ihm eine große Zahl von Spezialuntersuchungen existiere. Aber er fand fast nichts; abgesehen von ganz wenigen, überwiegend kürzeren Arbeiten und den verstreuten Hinweisen in jenen Abhandlungen, die über Mays Gesamtwerk oder größere Teile davon berichten und den >Silbersee< hin und wieder eben auch zur Sprache bringen, entdeckte er keinerlei schriftlich fixierte Interpretationshilfen. Das ist, sagte er, als gäbe es die Thomas-Mann-Forschung in ihrem real existierenden Ausmaß und über die >Buddenbrooks< gäbe es gleichzeitig nichts - eigentlich unvorstellbar.

   Mir scheint, daß gerade die Zwiespältigkeit, die aus diesen beiden Äußerungen spricht, exemplarisch ist für den generellen Befund, den man zur Karl-May-Forschung heute formulieren kann. Einerseits gibt es in der Tat kaum einen Verfahrensansatz in der Literaturwissenschaft, den man nicht auf das Phänomen Karl May angewandt hätte: von geistesgeschichtlichen Zuordnungen bis zur literaturpädagogischen Prüfung, von positivistischen Recherchen zur Lebensgeschichte bis zur tiefenpsychologischen Werkdeutung, von ästhetisch-formalen Untersuchungen bis zur Erforschung der Wirkungsgeschichte. Andererseits gibt es zwar aus allen Schaffensperioden Mays Texte, die in sehr vielen Spezialuntersuchungen kommentiert worden sind - das >Waldröschen< aus der Kolportagezeit, >Winnetou I - III< aus der Zeit der Abenteuergeschichten, >Winnetou IV< aus dem Spätwerk -, aber es gibt eben auch solche wie den >Schatz im Silbersee<, mit denen sich bisher kaum jemand näher befaßt hat. Einerseits kann selbst der eifrigste Interessent das alles kaum lesen, was heute über May publiziert wird; andererseits gibt es weite Bereiche des Gesamtkomplexes Karl May, die einer terra incognita gleichen.

   Das ist gewiß zunächst einmal ein sehr erstaunlicher Befund, der den Umgang mit meinem Thema schwierig macht. Ich möchte es im folgenden behandeln, indem ich vier Leitfragen formuliere und mich mit ihnen auseinandersetze. Um nicht gar zu abstrakt und allgemein zu verfahren, werde ich jeweils in hohem Maße Beispiele heranziehen, die möglichst repräsentativ sein sollen.

   Die erste dieser Fragen lautet: welchen Ruf genießt Karl May heute in der literarisch interessierten Öffentlichkeit und bei jenen Literaturkennern, die nicht speziell gerade auf ihn abonniert sind? Dazu ist im Blick auf mein Thema gleich anzumerken, daß das öffentliche Bild von May gewiß nicht allein und nicht einmal in erster Linie durch die Forschung bestimmt wird; andere Aspekte wirken daran wesentlich stärker mit. Aber es ist zweifellos ein Ziel wissenschaftlicher Publikationen, möglichst viele Leser von der Triftigkeit ihrer Darlegungen zu überzeugen,


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und was die Karl-May-Gesellschaft betrifft, so gibt ihr ja schon die Satzung auf, in die Öffentlichkeit hineinzuwirken und dort am Bilde Mays zu arbeiten. Wir sollten unbescheiden genug sein, entsprechende Erfolge auch zu registrieren und zu unseren Gunsten zu verbuchen; mag unser Anteil, wie gesagt, gering sein, so ist er doch zweifellos in nennenswertem Ausmaß vorhanden, und das Thema gehört also zu der Bilanz, um die ich mich hier bemühen will. Aber welche Erfolge sind denn nun eigentlich zu registrieren?

   Ich meine, daß eine bestimmte Form jener Zwiespältigkeit, von der eben schon die Rede war, auch das ist, was das öffentliche Bild Karl Mays am stärksten prägt; das gilt bereits für die Zusammensetzung seiner Leserschaft. Es mehren sich die Zeichen, daß er und seine Helden bei jungen Lesern längst nicht mehr den gewaltigen Widerhall finden wie etwa noch in den sechziger und siebziger Jahren; die literarische Sozialisation scheint heute eher von Comics zu Jerry Cotton und Jason Dark und von da auf direktem Wege zu den voluminösen Büchern von Stephen King zu verlaufen, als daß viel Raum für Karl May bliebe; verschwunden ist das Interesse an ihm nicht, aber in dieser Altersgruppe insgesamt doch wohl zurückgegangen.(5) Dem steht gegenüber, daß May in zunehmendem Maße als ein wissenschaftlich relevantes Forschungsobjekt gewürdigt wird, daß er in den Augen der Erwachsenen generell an Ansehen gewonnen hat und damit Leserschichten zu erobern bzw. zurückzuerobern scheint, an die man bei ihm lange nicht mehr gedacht hat. Dazu paßt es, daß die Zeitungsartikel, die im Gedenkjahr 1987 über ihn publiziert wurden, so freundlich und gleichzeitig differenziert ausfielen wie keine anderen zuvor,(6) daß renommierte Verlage, von text + kritik bis Suhrkamp und Kröner, Bücher speziell über ihn veröffentlicht haben und daß er wie selbstverständlich auch in wissenschaftlichen Arbeiten auftaucht, die im Kern ganz anderen Dingen als Karl May gelten, handle es sich nun um Probleme des Welttheaters, der Theologiegeschichte oder der Schlangenfrau in der Literatur.(7) Vor wenigen Jahrzehnten noch wäre das alles undenkbar gewesen, und die Karl-May-Gesellschaft kann in hohem Maße damit zufrieden sein, daß offenbar immer mehr Menschen reifen Alters in Karl May jenen ernst zu nehmenden, der subtilen Untersuchung würdigen Schriftsteller sehen, den sie selbst in ihm zu erkennen meint. Überhaupt sind ja schon die Existenz und das üppige Gedeihen einer anderthalbtausend Mitglieder starken literarischen Gesellschaft eindrucksvolle Indizien für das hier in Rede stehende Interesse an May.

   Einerseits kann die KMG also zufrieden sein - aber es gibt eben auch noch die andere Seite. Man macht trotz allem immer wieder und


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immer noch die Erfahrung, daß die ernsthafte Beschäftigung mit Karl May als etwas Absonderliches gilt und von Spott bedroht ist. Wenn ich im Kollegenkreis ankündige, eine universitäre Lehrveranstaltung zu Karl May zu planen, brauche ich heute nicht mehr den Einwand zu befürchten, damit gehe die akademische Ausbildung vielleicht doch zu sehr unter das angemessene Niveau; ich kann aber damit rechnen, daß der eine oder andere Kollege eine - sei es spitze, sei es freundliche - kommentierende Bemerkung macht, die mir bei den meisten anderen Themen erspart bliebe, und es wird nicht immer darum gehen, daß nur der Paradiesvogel-Charakter des Themas hervorgehoben werden soll.

   Wie grob die Mechanismen sind, die nach wie vor einen Teil der öffentlichen Äußerungen zu May prägen, geht häufig gerade aus Überlegungen hervor, die ihn nur am Rande betreffen. In einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung zur >Ästhetik der letzten Dinge<, d. h. zu künstlerischen Darstellungen des Todes, findet sich ein kurzer Kommentar zur Sterbeszene Winnetous; er spart nicht mit hämischen Äußerungen, spricht z. B. vom »trivial verklärten Sterben«, von »religiöse(m) Schmalz« und vom »Bankrott des Erzählens« - der Befund mag hier unangetastet stehen bleiben, denn nicht auf ihn kommt es mir an. Dann ist ein Kapitel des Buches zu Ende; das nächste beginnt mit dem Satz: »Umgekehrt verfährt Thomas Mann im >Tod in Venedig<«;(8) umgekehrt, das heißt: ganz anders, deutlich abweichend vom Procedere Mays, und die anschließenden Erläuterungen lassen keinen Zweifel, daß der Analytiker qualitative Aspekte einschließt. In einer Zeitungsrezension zu dem Buch nun, die überwiegend abwertend ausfällt, wird zu dieser Stelle folgendes angemerkt: »Gewollte Originalität überall; auf die möglichst ausgefallene Verbindung kommt es an, Thomas Mann wird da schon einmal in einem Atemzug mit Karl May erwähnt.«(9)

   Was heißt das? Es kann dem Rezensenten eigentlich nicht entgangen sein, daß der zitierte Autor May und Mann keineswegs auf die gleiche Stufe stellt und ebensowenig die Sterbeszenen in >Winnetou III und im >Tod in Venedig< für gleichartig oder gleichrangig hält; das erste Wort des Mann-Kommentars spricht ja schon dagegen. Was bleibt, ist also allein der Umstand, daß von beiden Erzählern unmittelbar nacheinander die Rede ist. Der Rezensent sieht das offenbar als unziemlich an, nimmt daran Anstoß, daß ein Gedanke zu Karl May überhaupt in der Nähe eines Gedankens zu Thomas Mann auftaucht, mag dabei auch noch so sehr das Trennende betont werden; die Erwähnung »in einem Atemzug« - auf deren sachliche Implikationen der Rezensent mit keinem Wort eingeht - ist schon eine tadelnswerte »gewollte Origina-


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lität«. Hier zeigen sich tief verwurzelte Vorurteile, die wir im Blick auf andere May-Feuilletons für überwunden halten mögen, und es ergibt sich, wie schwankend das öffentliche Bild des Autors noch ist.

   Man kann zu diesen Einerseits-Andererseits-Beobachtungen wohl nur ein ausgesprochen unoriginelles Fazit formulieren: es hat sich einiges bewegt, aber es bleibt noch viel zu tun. Erstaunlich ist, in welchem Maße sich Karl May mittlerweile als eine ernstgenommene literaturgeschichtliche Persönlichkeit in der Wissenschaft und beim Erwachsenen-Publikum etabliert hat, aber es erscheint dann auch immer wieder bemerkenswert, wieviel Mißachtung ihm dennoch nach wie vor entgegenschlägt.

   Vielleicht ist es ein wenig origineller, aus diesem Befund einen zunächst sehr persönlichen Wunsch abzuleiten: ich wünsche mir eine umfangreiche, von kundiger Hand verfaßte, mit scharfen Worten nicht sparende Anti-May-Schrift. Karl May hatte zu Lebzeiten viele geschickt argumentierende Verächter gegen sich, während seine Verteidiger häufig gar zu bieder und einfallslos auftraten; das ist seinem Ruf für lange Zeit nicht gut bekommen. Heute sieht es demgegenüber so aus, daß fast alle, die ausführlich über ihn schreiben, seine lobenswerten oder zumindest interessanten, der differenzierten Kommentierung bedürftigen Seiten hervorheben; abwertende Kritiken werden in der Regel nur nebenbei, wie in der eben besprochenen Rezension, oder gar nur in der mündlichen Improvisation formuliert, so daß es ihnen meist an Überzeugungskraft gebricht. Obwohl also die Skepsis in bezug auf den Wert seines Werkes nach wie vor blüht, gedeiht sie nur still und im Untergrund. Um der Belebung der Diskussion willen wünsche ich mir, daß sich das ändere: Es möge einmal ein kompetenter Kommentator auf den Plan treten, der von May nichts hält, sich intensiv mit der May-Forschung beschäftigt und uns dann ausführlich darlegt, daß und warum sich an seinem Urteil nichts geändert hat, daß die Forschung aus einer Mücke einen Elefanten macht und May nichts weiter ist als ein Unterhaltungsschriftsteller profanster Art für kindliche oder eher noch kindische Gemüter. Erschiene eine solche Schrift, würden sich - wie seinerzeit bei Arno Schmidts >Sitara< - viele maßlos ärgern, obwohl wir doch allen Grund zur Freude hätten: Es gäbe endlich wieder einen May-Kommentar, an dem man sich ganz intensiv und grundsätzlich reiben könnte, und das wäre befruchtend für die weitere Diskussion, während wir unter den jetzigen Umständen immer nur auf eine diffuse, weitgehend unartikulierte und deshalb wenig inspirierende Abneigung reagieren können. Freilich will ich nicht verhehlen, daß man aus der bisherigen Nicht-Existenz eines solchen Kommentars sogleich wieder


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die für unsere Arbeit schönsten Schlußfolgerungen ziehen könnte: Offenbar mag niemand, der sich gründlich mit der May-Forschung befaßt hat, darauf insistieren, es handle sich um leeren Rummel und May sei eine ganz und gar belanglose literarische Größe; vielleicht entspricht es der Logik der Sache, daß Kritik an May heute fast nur als untergründiges Gemurmel oder in wenig aussagekräftigen Exkursen auftauchen kann.

   Damit bin ich nun schon fast bei meiner zweiten Frage angelangt. Habe ich vorhin überlegt, wie sich das Bild darstellt, das die breite Öffentlichkeit von May besitzt, so ziehe ich den Kreis jetzt enger: Wie beurteilen wir ihn denn, wir, d. h. insbesondere die Mitglieder und Mitarbeiter der Karl-May-Gesellschaft? Ich will natürlich nicht auf die Banalität hinaus, daß jeder einzelne ihn ein bißchen anders sieht bzw. andere Teile seines Werkes schätzt, während wir ihn aber insgesamt, gewissermaßen in der Summe, so sehr mögen, daß der herbeigewünschte Kritiker uns als seine liebsten Kontrahenten ansehen müßte; ich will auch nicht an dieser oder jener May-Arbeit Kritik üben und etwa im einzelnen monieren, daß man manchmal kulturgeschichtlich Bedeutendes womöglich ein wenig gewaltsam in Beziehung zu Karl May setzt, ohne über die Freude an solchen Verbindungen hinaus- und in den Bereich detaillierter Untersuchung einzudringen. Statt dessen geht es mir um zwei zentrale Aspekte; ich bezeichne sie mit den Stichworten Apologie und Vereinnahmung.

   Apologie: Günter Scholdt hat der Karl-May-Gesellschaft vor einigen Jahren in einem umfangreichen Aufsatz vorgehalten, daß sie ihrem Forschungsobjekt nicht selten mit zu großer Verehrung begegne;(10) zwar zog er die seriöse Ausrichtung der KMG-Arbeit und ihren in vieler Hinsicht reichen Ertrag generell nicht in Zweifel, aber er beklagte doch mancherlei hagiographische Tendenzen und den Mangel an kritisch-distanzierten Kommentaren.

   Man kann hier über die Proportionen, d. h. über das Verhältnis von Lob und Tadel, trefflich streiten; einzuwenden wäre etwa, daß über viele fragwürdige Facetten des Gesamtkomplexes May - von den Schattenseiten seiner Lebensgeschichte bis zu hanebüchenen Ungereimtheiten im Plot einiger Romane - überhaupt erst und nur in Arbeiten der Karl-May-Gesellschaft ausführlich und verläßlich berichtet worden ist. Zu berücksichtigen bleibt ferner, daß gewissermaßen naturgemäß Leser in literarische Vereinigungen zu jenen Schriftstellern eintreten, die sie besonders schätzen, und daß viele Kommentatoren am ehesten über etwas schreiben, das ihnen anregend und wertvoll erscheint; man wird nicht Mitglied in einer Karl-May-Gesellschaft, wenn


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man von Karl May nichts hält und daran auch nichts ändern will. Insofern ist eine gewisse apologetische Grundtendenz wohl jeder literarischen Gemeinschaft a priori eigen, und es kommt im Einzelfall darauf an, wie weit sie gedeiht und dem intellektuellen Anspruch auf Erkenntnisgewinn zuwiderläuft; daß die Karl-May-Gesellschaft da im Vergleich nicht schlecht dasteht, betont Scholdt selbst.

   Aber es gibt in diesem Zusammenhang doch einen Punkt, der besonders hervorgehoben werden muß. Ich habe den Eindruck, daß wir über jene Unterschiede in der Analyse und Bewertung der verschiedenen Teile des Mayschen Werkes, von denen vorhin als selbstverständlich die Rede war, nicht mit hinreichender Deutlichkeit verhandeln - zum Schaden unserer jeweiligen Argumente. Der Verweis auf das, was man weniger schätzt, ist bei uns in der Regel eine Sache von Fußnoten und Andeutungen; er wird zu selten zum Ausgangspunkt längerer Darlegungen, die dann wiederum Gegenstand intensiver Diskussion sein könnten.

   Ich will das an einem besonders markanten Beispiel belegen: an Mays Spätwerk. Es ist geradezu ein offiziöser Bestandteil der KMG-Bemühungen, einige von Mays Werken nach 1900 als den Gipfelpunkt seines Schaffens, wenn nicht gar als einen Höhepunkt der deutschen Literaturgeschichte überhaupt zu betrachten. Gemäß diesem Verständnis haben wir eine große Zahl von Aufsätzen und selbständigen Untersuchungen zum Spätwerk veröffentlicht, haben Diskussionen durchgeführt und bei alldem die verschiedensten Aspekte beachtet. Vieles ist da zusammengekommen, und das Resultat ist insgesamt durchaus beeindruckend. Aber irgendwie, scheint mir, fehlt es dem Gespräch über dieses Thema dennoch an Lebendigkeit und Intensität; wir könnten hier noch sehr viel energischer und engagierter zur Sache gehen. Es steht ja z. B. außer Zweifel, daß längst nicht alle Mitglieder unserer Gesellschaft und auch nicht alle diejenigen, die schreibend hervortreten, mit der Gipfelpunkt-Theorie einverstanden sind. Hin und wieder deutet sich das an, in Gesprächen, spontanen Diskussionsbeiträgen oder beiläufigen Bemerkungen in Arbeiten zu anderen Themen; aber das ist zu wenig, es ist gerade nur jenes Verfahren der untergründigen und nebenbei geführten Auseinandersetzung, das ich vorhin in bezug auf das öffentliche Bild Mays beklagt habe. Wenn es in den feuilletonistischen Äußerungen des Gedenkjahrs 1987 etwas gegeben hat, was den Intentionen der KMG kraß zuwiderlief, dann war es die Beurteilung des Spätwerks; wir sollten da nicht einfach mangelnde Kennerschaft unterstellen, sondern den Streit innerhalb unserer Vereinigung selbst führen, ausgestattet mit der festen Überzeugung von


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der Triftigkeit des je eigenen Urteils. Mag herauskommen, was will, so wird man doch erst dem Ergebnis einer solchen Auseinandersetzung optimale Überzeugungskraft zubilligen können; dabei ist es selbstverständlich weder wünschenswert noch denkbar, daß schließlich alle zum gleichen Urteil gelangen.

   Ich komme zum Stichwort Vereinnahmung, das mir im Augenblick noch wichtiger als das gerade besprochene zu sein scheint, in dessen unmittelbarer Nähe es freilich auch angesiedelt ist. Zur Erläuterung muß ich erst einmal ein wenig weiter in die Literaturgeschichte ausgreifen.

   Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein hat sich in der deutschen Kultur der Neuzeit die Überzeugung gehalten, literarische Werke hätten die Aufgabe, bestimmte vorgeprägte Gedanken, Ansichten, Glaubenssätze usw. zu vermitteln, seien es nun religiöse Dogmen oder moralische Lehrsätze; sie sollten das tun nach Maßgabe bestimmter Regeln über den Bau eines Dramas oder eines Gedichttyps, die literarische Gestaltung erschien als etwas Lehr- und Lernbares. Wir haben es hier mit einem Verständnis zu tun, das der Kreativität der Literaten von vornherein in doppelter Hinsicht Fesseln anlegte: Sie waren weitestgehend an vorgegebene Inhalte gebunden, und sie hatten ähnlich strenge Vorgaben in bezug auf die Form, mit der sie diese Inhalte vermitteln mußten; ihre Individualität spielte nur insofern eine Rolle, als sie sich in der persönlichen Ausfüllung des vorgegebenen Schemas artikulieren durfte, und wenn sie sich darüber hinaus bemerkbar machte, so geschah dies häufig eher gegen den bewußten Willen der Autoren. Die Literatur dient in diesem alten Verständnis im Grunde nur der Illustration von etwas, was sich auch außerhalb der Literatur ohne wesentliche Einbuße an Argumentationskraft sagen ließe bzw. was dort de facto gesagt worden ist; die künstlerische Gestaltung wird primär durch die Erwartung hervorgerufen, in diesem Gewand lasse sich der betreffende Inhalt an mehr Menschen wirkungsvoll vermitteln. Eigenständigkeit im tieferen Sinne beansprucht eine solche Literatur nicht, aber darüber hielt sich zu jener Zeit kaum jemand klagend auf. Es gibt im übrigen keinen Grund, aus diesen Beobachtungen sogleich abfällige Werturteile abzuleiten.

   Erst im 18. Jahrhundert ändert sich die Lage in der Substanz. Die späten Aufklärer und erst recht die Vertreter des Sturm und Drang und der Romantik - ich vereinfache jetzt natürlich komplexe Sachverhalte zu simplen Stichworten - wehren sich gegen die als Zwang empfundenen Vorgaben der Tradition. Sie vertrauen auf die originäre Schöpferkraft des einzelnen Dichters und wollen weitgehend ihm die Entscheidung über Form und Inhalt seiner Arbeiten überlassen. Hier wird ein


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weit in die Zukunft und bis in unsere Gegenwart wirkendes Ideal formuliert, das auf Subjektivität und Individualität setzt; man schreibt aus eigener Kraft und mit eigener Entscheidungsgewalt, statt lediglich einen anderweitig gezeichneten Rahmen auszufüllen. Insbesondere vertraut man auch darauf, daß das literarische Werk sich durch eine nur in ihm selbst zu gestaltende Energie auszeichnet, daß es seinen rein illustrativen Charakter verliert und eben nicht mehr nur sagt, was sich ähnlich treffend auch in sachlogischer Rede sagen ließe. Argwöhnisch betrachtet wird von vielen fortan jene Literatur, die sich weiterhin in den Dienst der puren Veranschaulichung stellt, und auf der anderen Seite existiert kaum ein gravierenderer Einwand gegen Kommentatoren als der, sie versuchten, literarische Werke für literaturfremde Zwecke zu instrumentalisieren bzw. - einfacher und mit unserem Stichwort gesagt - sie zu vereinnahmen. Gewiß sind die Übergänge in den Texten selbst und in der Art und Weise des Umgangs mit ihnen fließend. Generell aber läßt sich sagen, daß unsere maßgeblichen Geschmacksträger auch heute noch weitgehend die Individualität und Eigenständigkeit eines literarischen Werkes als hohes Qualitätsmerkmal ansehen und daß man einem Text kaum mehr schaden kann als mit dem Hinweis, das darin zu Entdeckende habe man schon vielfach anderswo gefunden.

   Die Geschichte der Karl-May-Rezeption ist voll der verschiedensten Vereinnahmungen und Indienststellungen. Unglücklicherweise hat May selbst damit schon angefangen: Bekanntlich pries er sein Werk im Alter als ideologische Stütze für den deutschen Obrigkeitsstaat. Später haben sich dann Marxisten, Pazifisten, Nationalsozialisten und viele andere auf May berufen, und noch im letzten Jahrzehnt war seine Rehabilitierung in der DDR offenbar davon abhängig, daß man die nach dortigem Verständnis >fortschrittlichen< Züge als hinreichend dominant herausstellen konnte. Vielleicht taugt der Begriff der Vereinnahmung nicht für alle diese Fälle, aber gewiß ist, daß ein großer Teil der May-Rezeption darin bestanden hat, Mays Werk auf diese oder jene Weise und in manchmal bester Absicht die ästhetisch-gedankliche Selbständigkeit abzusprechen, über die qualitativ gute Literatur nach avanciertem neueren Verständnis verfügen muß. Man mag sich damit trösten, daß die Rezeptionsgeschichte in diesem Punkt derart widersprüchlich verlaufen ist, daß der eine Instrumentalisierungsstrang den anderen tendenziell aufhebt; es bleibt aber die Aufgabe einer May-Forschung, die ihrem Gegenstand Ansehen eintragen will, jene Individualität deutlich herauszustellen.

Freilich darf man dabei nicht übers Ziel hinausschießen. Selbstver-


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ständlich ist Mays Werk nicht in ahistorischer Isolation entstanden, selbstverständlich reicht seine Individualität, wie hoch wir sie immer einschätzen mögen, nicht so weit, daß von Vorgaben durch die literarische Tradition, die äußeren Umstände der damaligen Zeit und anderes keine Rede sein könnte; das ist bei anderen Schriftstellern nicht anders, Originalität und Individualität sind in diesem Sinne relative Begriffe, und Arbeiten, die Mays Werk in einen historischen Kontext rücken und seine Bindung daran bezeugen, sind von hohem Wert. Aber wir bewegen uns auf gefährlichem Gelände: Wer in Mays Text nur den historischen Kon-Text und seine Bindung daran entdeckt, der schadet dem Ansehen des Werkes eher; und wenn sich herausstellen sollte, daß dieses Element zu Recht als das allein vorherrschende bestimmt wird, dann hat der Schriftsteller Karl May auch nur ein mäßiges Ansehen verdient.

   Man kann hier z. B. in die merkwürdige Situation geraten, daß uns unter künstlerischem Aspekt mißfällt, was uns unter moralischem, ethischem, sittlichem zusagt; Gesinnung und Ästhetik befinden sich dann - ein aus der Kulturgeschichte nicht eben unbekanntes Phänomen - in Widerspruch zueinander. Eine große Zahl neuerer Analysen legt etwa dar, wie zukunftsweisend im erfreulichsten Sinne manches von dem ist, was uns in Mays Weltbild begegnet: May setzt sich ein für die Rechte unterdrückter Völker, propagiert das Mitleid mit den Schwachen und die Hilfe für sie, wehrt sich gegen die Fremdbestimmung der Persönlichkeit, präsentiert sich als Gegner des Militarismus und vertritt - so der Befund eines Theologen - »ein modernes und zukunftsweisendes Ökumenekonzept«.(11) Kein Zweifel: es ist wichtig, diese Dinge herauszustellen, und es ist erfreulich, zu sehen, daß Mays Werk nicht jenen Kräften eng verbunden ist, die so mancherlei Unglück über die neuere Geschichte, speziell auch die Deutschlands, gebracht haben.

   Es ist erfreulich, aber - ich sage es sehr provozierend - es ist manchmal auch etwas langweilig. So sehr das Werk bei dieser Betrachtungsweise im Widerspruch zu vielen vorherrschenden Strömungen seiner Zeit stehen mag, so wenig lebt es dabei aus konstruktiven inneren Spannungen, und wo zu viel internes Einvernehmen, zu viel glatte Harmonie vorhanden ist, da geht es im Grunde doch recht öde zu. Mit anderen Worten: ästhetisch und intellektuell interessanter als das, was sich zum Einklang einer in heutiger Sicht aufs schönste progressiven Tendenz verbindet, sind die Züge des Werkes, die dieser Tendenz in die Quere kommen, und die Kollisionsstellen; sie existieren zum Glück in großer Zahl, und erst das Widerspiel bezeugt jene literarische Origi-


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alität, die Mays Ruf als den eines gewichtigen Schriftstellers sichern kann.

   Lassen Sie mich ein besonders plakatives und deshalb von mir auch nicht zum erstenmal angeführtes Beispiel geben!(12) May betont häufig, daß es fundamentale Rangunterschiede zwischen den verschiedenen Rassen und Völkern nicht gebe, daß man vielmehr überall auf der Welt gute und böse Menschen finde; diese Einstellung ist aller Ehren wert, zumal wenn man sie im historischen Zusammenhang des Imperialismus beurteilt. Es ist eine uns sympathisch berührende Außenseiterposition, die May hier einnimmt, aber auch eine, die ohne Mühe referiert und kommentiert werden kann und dann schon fast hinreichend verarbeitet ist. Interessanter wird sie, wenn May selbst ihr zuwiderhandelt: wenn er plötzlich doch die Selbstgefälligkeit und Eitelkeit des Europäers und Deutschen in Wort und Tat zustimmend ins Spiel bringt, wenn der Held abschätzig auf die Bewohner fremder Länder herabblickt und sie nach den gängigen Vorurteilen des Kolonialismus traktiert, wenn er also etwas tut, was er nach der anderslautenden Überzeugung seines Autors und seiner selbst gar nicht tun dürfte. Mit solchen Konstellationen bringt sich May in ein beträchtliches Argumentations- und Darstellungsdilemma, er ist literarisch in hohem Maße gefordert, und der ganze Komplex wirkt viel aufregender als die pure Bebilderung des Lehrsatzes, daß die Menschen aller Völker von gleichem Wert sind. Was ethisch nunmehr dubios erscheint, provoziert, wenn man es ernst genug nimmt, zu Reflexionen über die vielleicht unvermeidlichen Schattenseiten auch unserer besten Absichten, ermöglicht also Erkenntnisse von erheblich größerem Gewicht, als der reinen Feststellung edler Ideale zuzumessen wäre; darüber hinaus sperrt es sich gegen jegliche Vereinnahmung dieser oder jener Couleur.

   Man wird mir nun entgegenhalten, daß jene Schattenseiten im Blick auf unseren Autor aber doch gar nicht verschwiegen werden, daß mithin von einer Vereinnahmung Mays zumindest in der seriösen Forschung nicht mehr die Rede sein kann. Mein Gesamteindruck ist dennoch der, daß viele Kommentatoren gar zu schnell zufrieden sind, wenn sie die eine oder andere erfreuliche Seite Mays herauspräpariert und das etwa Störende als eine zu vernachlässigende Größe abgetan haben. Doch zeigt sich die Kunst Mays häufig gerade darin, wie er auf die selbst verursachten Störungen der von ihm angestrebten Harmonie reagiert.

   Ich wende mich der dritten Leitfrage zu. Es ist die, die wohl am unmittelbarsten das aufgreift, was man mit dem Titel meines Vortrags verbinden wird: Welche größeren Lücken gibt es noch in der May-Forschung?


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   Bei der Antwort will ich zwei Aspekte unterscheiden. Zunächst einmal kann man feststellen, daß zu manchen Dingen, die der Erschließung und Erörterung dringend bedürfen, nach wie vor nichts oder nur wenig vorliegt. So wissen wir über die Probleme und Abschnitte der Lebensgeschichte Mays mit höchst unterschiedlicher Intensität Bescheid; während etwa die Zeit der Old-Shatterhand-Legende ausführlich dokumentiert und kommentiert worden ist, geben andere Lebensphasen noch viele Rätsel auf. Zu einigen Werken Mays - ich habe es schon erwähnt - existiert eine beträchtliche Anzahl von Untersuchungen, zu anderen gibt es wenige oder fast gar keine. In diesem Zusammenhang sei auf ein ganz merkwürdiges Phänomen verwiesen: Jahrzehntelang haben die May-Forscher das legendäre >Buch der Liebe< für unwiederbringlich verloren gehalten, und ähnlich lange hat man über die geheimnisumwitterte Emma-Pollmer->Studie< nur dunkel und in vagen Andeutungen raunen können; nun liegen diese beiden so wichtigen und heiß ersehnten Werke endlich vor, sind seit Jahren jedermann zugänglich, aber eine gründliche Auseinandersetzung damit hat es - von wenigen Ausnahmen abgesehen - bisher nicht gegeben, obwohl doch bei der Lektüre der Texte niemand enttäuscht sein kann, was ihren Wert für das Verständnis Mays betrifft. Offensichtlich erscheint manchem potentiellen Kommentator Mays Umgang mit seinen Sujets hier so heikel, daß er sich damit lieber nicht befassen will; vielleicht sind es auch schon die Sujets selbst, die abschreckend wirken.

   Ich bin ferner - im Gegensatz zu anderen Mitgliedern unserer Gesellschaft - der Meinung, daß wir auch eine intensive Beschäftigung mit den diversen Seiten der außerliterarischen Karl-May-Rezeption nicht scheuen sollten, also mit dem, was durch Stichworte wie Bad Segeberg und Pierre Brice bezeichnet wird. Warum sollten wir für die Erscheinungsformen der populären Kultur kein Interesse aufbringen, wenn Karl May auch in diesem Bereich ein erstrangiges Forschungsobjekt ist? Es mag ja sein, daß da vieles mit dem, was er geschrieben hat, kaum noch in eine sachlich plausible Verbindung zu bringen ist; aber gerade in solchen Fällen stellt sich die Frage, wieso es dennoch an den Namen Mays geheftet wird, und da das nicht auf puren Zufall zurückzuführen sein dürfte, sollte dieser Komplex auch der Aufmerksamkeit des an May im engeren Sinne interessierten Beobachters nicht ganz entgehen.

   Die Geschichte der Literaturwissenschaft lehrt im übrigen, daß sich immer wieder neue Betrachtungsweisen im Umgang mit der Literatur entwickeln; insofern ist nicht zu befürchten, daß irgendwann einmal der Zeitpunkt kommt, an dem man über differenziert gestaltete litera-


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rische Werke und ihren Autor rein gar nichts mehr sagen kann. Sollte er im Falle Mays einmal kommen, so ergäben sich auch daraus Erkenntnisse über seinen Wert: Wir könnten ganz beruhigt die Akten schließen.

   Bei dem zweiten Aspekt der Frage nach derzeitigen Desiderata der May-Forschung geht es um den umsichtiger wertenden bzw. auswertenden Umgang mit dem, was schon herausgefunden und in ersten Kommentaren formuliert worden ist. In bezug auf die Werkanalyse habe ich vorhin schon Beispiele genannt; ich wünsche mir insbesondere eine lebendigere, weiter ausgreifende Diskussion um Mays Spätwerk. Aber auch bei anderen Themen wäre noch vieles zu besprechen; der Fülle des beigebrachten Materials zum Trotz ist mir z. B. immer noch rätselhaft, wieso die Öffentlichkeit über Jahre hinweg Mays schier aberwitzige Old-Shatterhand-Legende hat akzeptieren können.(13) Darüber hinaus gibt es in unserer Arbeit einige Deutungsmuster, die sich quasi unterderhand verfestigt und verselbständigt haben, obwohl die Sachverhalte, denen sie gelten, gewiß auch ganz anders beurteilt werden können; hier erscheint zumindest die Prüfung eines Umdenkens wünschenswert.

   Mein Beispiel führt wieder in die Nähe der Old-Shatterhand-Legende. Stellen wir uns einmal vor, es träte heute ein Herr von kleinwüchsiger Gestalt vor die deutsche Öffentlichkeit und erklärte stolz, sein Name sei Oskar Matzerath und er habe vor Jahrzehnten wirklich und wahrhaftig all das erlebt, was der Schriftsteller Günter Grass in seinem berühmten Roman >Die Blechtrommel< beschrieben hat, aber auch noch einiges mehr, das er nun gern noch schildern wolle. Stellen wir uns weiter vor, die Presse reagiere darauf mehrheitlich nicht etwa mit Spott und Ironie, sondern nehme die Sache ernst und huldige dem Pseudo-Matzerath auch da, wo er seine Phantasien immer üppiger und abstruser wuchern läßt; es käme zu einem regelrechten Matzerath-Kult, und die Angelegenheit nähme Formen an, die uns am gesunden Menschenverstand zweifeln ließen.

   Was würden wir in dieser Situation für die Aufgabe eines seriösen Journalisten halten? Wir wären zweifellos der Ansicht, hier sei radikale Aufklärung am Platze und der Unfug müsse als solcher unzweideutig entlarvt werden, am besten durch Recherchen zur wirklichen Lebensgeschichte des kuriosen Herrn; wenn einige Vertreter der Boulevardpresse dies mißverständen und dem falschen Helden zu sehr an die Gurgel führen, so fänden wir das nicht schön, sähen es aber unter den gegebenen Umständen als fast unvermeidlich an und zudem durch ihn selbst provoziert - eine Striptease-Tänzerin darf sich ja auch nicht be-


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klagen, wenn Männer sie anstarren. Falls >Oskar Matzerath< mal in diesem, mal in jenem Punkt vage nachgäbe, falls er erklärte, er habe das alles nicht so gemeint - obwohl er es ohne jeden Zweifel so gemeint hat -, falls er schließlich eine nebulöse Selbstinterpretation auch durch heimliche Hilfstruppen verbreiten, aber niemals die ganze Wahrheit erkennen ließe - falls es so weiter ginge, würden wir ihm wohl eine gewisse psychische Konfusion unterstellen, unseren Aufklärungswillen aber gewiß nicht grundsätzlich zügeln. Das journalistische Ethos gebietet, der Wahrheit nachzuspüren und der Vernebelung entgegenzutreten.

   Sie bemerken, worauf ich hinauswill: auf die Bewertung der Streitigkeiten, die in Mays letzten Lebensjahren ausgefochten wurden. Die Analogie zu dem von mir konstruierten Fall trägt natürlich nur begrenzt; sie erstreckt sich beispielsweise nicht darauf, daß der alte May sein Verhalten literarisch zu beglaubigen versucht hat. Insgesamt scheint sie mir aber geeignet zu sein, ein wenig an unserem Verständnis von Mays späten Kämpfen zu rütteln. Das einschlägige Deutungsmuster besagt etwa, daß May das im wesentlichen unschuldige Opfer einer in ihrem Kern bösartigen, inhumanen Serie von Angriffen, wenn nicht einer gezielten Kampagne, gewesen sei; bis in die jüngste Zeit ist von »Hetze«(14) und dergleichen die Rede. Lebius gilt als der Hauptschurke; andere May-Gegner kommen ein wenig besser weg, aber ihre Beteiligung an den Angriffen auf den alten, kränkelnden Schriftsteller gilt dennoch als kaum verzeihliche Sünde.

   Die konstruierte Matzerath-Geschichte kann vielleicht dazu beitragen die Akzente ein wenig anders zu setzen.(15) Wir haben uns heute daran gewöhnt, Mays Lebensweg als im Kern bewundernswerten Aufstieg von Ardistan nach Dschinnistan zu würdigen und die Old-Shatterhand-Legende vor und das schwankende Taktieren nach der Jahrhundertwende als ungeschickte Reaktion auf psychische Nöte und Zwänge zu erklären, ihm also für all das, was uns eigenartig und unsympathisch anmutet, zumindest mildernde Umstände zuzubilligen. Über diese Perspektive aber verfügten die damaligen Betrachter nicht, und May hat - verständlicherweise - wenig dazu getan, sie ihnen zu vermitteln; auch heute sollte man ihr nicht alle anderen Erwägungen unterordnen. May präsentierte sich als ein Objekt des öffentlichen Interesses, das er in den Jahren vor 1900 auf teilweise spektakuläre Weise zu manipulieren verstand und das er danach durch nicht gerade konsequent hilfreiche Darlegungen in Ratlosigkeit versetzte; bekanntlich hat er sich noch kurz vor seinem Tod an exponierter Stelle, in seiner Autobiographie, beispielsweise um ein klares Wort zu seinen angeblichen frühen Aus-


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landsreisen herumgedrückt. Daß dies alles zu Gegenreaktionen, zu Bemühungen um Aufklärung über die teils dreist, teils kläglich verborgene wirkliche Vergangenheit führen mußte, liegt auf der Hand, und wir können es keinem Publizisten verargen, wenn er sich an den Recherchen und Kommentaren beteiligte. Die maß- und skrupellose Enthüllungsgier eines Lebius wird dadurch nicht sympathischer; aber sie verliert vielleicht etwas von der ihr nachgesagten Abscheulichkeit, wenn wir uns vor Augen führen, daß sie ohne die wirkungsmächtige Verhüllungswut ihres Opfers nicht hätte gedeihen können.

   Ich will keineswegs auf eine Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses hinaus, und ich will auch nicht verhehlen, daß der Forscher nun gleich wieder auf eine Reihe differenzierter Äußerungen zu den späten Kämpfen um May verweisen könnte. Dennoch sollte die Denkfigur vom armen alten May und seinen schäbigen Verfolgern in Zukunft noch weniger selbstverständlich kolportiert werden, und ähnliche Wünsche ließen sich in bezug auf manches andere äußern, das als eine feste Größe die Beschäftigung mit Karl May bestimmt. Am Rande sei vermerkt, daß wir hier natürlich wieder das Thema der Apologie streifen.

   Andere Deutungsprobleme ergeben sich nicht aus wenig reflektierten und gar zu einseitigen Festlegungen, sondern daraus, daß zwei gegensätzliche Ansichten artikuliert worden sind und daß es dann einfach dabei geblieben ist, obwohl die Sache wichtig genug erscheint, gründlich besprochen zu werden. Ich nenne wiederum ein Beispiel. Im Jahrbuch 1972/73 der Karl-May-Gesellschaft erschien der bis heute vielleicht meistzitierte May-Aufsatz überhaupt, Hans Wollschlägers Abhandlung zu Mays quälender narzißtischer Isolation;(16) ein zentrales Glied des Gedankengangs bestand darin, der junge May sei von seiner Mutter aufs tiefste gekränkt und zurückgestoßen worden, mit katastrophalen Folgen für seinen Affekthaushalt. Ein paar Jahre später veröffentlichte ein anderer ausgewiesener Kenner der Mayschen Biographie, Hainer Plaul, einen Aufsatz, der zu dem gegenteiligen Resultat gelangte: May sei von der Mutter nicht etwa schlecht, sondern außerordentlich fürsorglich und liebevoll behandelt worden.(17) Wir haben es hier mit einem eklatanten Widerspruch zu tun - aber der ist bis heute nicht intensiv weiter besprochen worden. Ich verkenne nicht, daß man endgültige Klarheit ob des Mangels entsprechender Dokumente wohl niemals wird gewinnen können und daß mancher Forscher die Angelegenheit auch nicht für so ungeheuer wichtig halten mag. Aber immerhin geht es um ein Problem, das im Zentrum der tiefenpsychologischen Beschäftigung mit May und seinem Werk steht, und diese nimmt ja in


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der neueren May-Literatur einen hervorragenden Platz ein; da ist es denn doch erstaunlich, daß man eine solche Kontroverse zwischen zwei Experten weitgehend auf sich hat beruhen lassen. Auch dieses Beispiel lehrt, daß der May-Forschung der Diskussionsstoff vorerst nicht ausgehen wird.

   Ich komme zu meiner letzten Frage und sage gleich vorweg, daß sie zunächst ein wenig provozierend erscheinen wird. Sie lautet: sind die Karl-May-Forschung und gerade auch die Arbeit der Karl-May-Gesellschaft in den letzten Jahren nicht zunehmend langweilig geworden, und - wenn ja - warum ist das so, und was wäre dagegen zu tun?

   Zu dieser Frage bin ich nicht zuletzt angeregt worden durch mündliche und schriftliche Kommentare, die insbesondere Harald Eggebrecht unseren Tagungen und Publikationen gewidmet hat. Seine mehrfach wiederholte These lautet etwa, die ersten Jahre der KMG seien in intellektueller Hinsicht viel aufregender und unternehmungslustiger verlaufen als die jüngsten, da »sich nun die Literaturwissenschaft mehr und mehr ins Detail vertieft, die Biographen auch die letzten, periphersten Akten ausgraben, die Karl-May-Gesellschaft zufrieden auf vollendete Taten blickt«.(18) Beiträge wie der eben genannte Narzißmus-Aufsatz von Wollschläger oder die perspektivenreichen Darlegungen von Wolf-Dieter Bach seien Beispiele jener May allein angemessenen >fröhlichen Wissenschaft<, auf die die KMG einst so stolz war; den abenteuerlichen Geschichten Mays hätte die Abenteuerlust, die unorthodoxe geistige Beweglichkeit der damaligen Arbeit genau entsprochen. Mittlerweile aber sei das leider ganz anders geworden. Routine, Schablonenhaftigkeit und angestrengte Seriosität hätten um sich gegriffen; mehr und mehr werde May in das Prokrustesbett philologischer Konventionen gezwängt, der wachsende Einfluß von Literaturprofessoren mache sich in der KMG auf unheilvolle Weise bemerkbar. Heute herrsche in unserer Tätigkeit jene lähmende Langeweile vor, die ein herausragendes Merkmal der amtlichen Literaturwissenschaft sei, und von der inspirierenden Kraft unseres Forschungsgegenstandes bemerke man fast nichts mehr.

   Ich meine nicht, daß der Kritiker vollkommen und in jeder Beziehung unrecht hat; aber entgegenzuhalten wäre ihm erst einmal, daß jene Entwicklung zumindest in Teilen unvermeidlich ist. Als sich vor nun schon zwei Jahrzehnten die Mitglieder der Karl-May-Gesellschaft zu ihren ersten Tagungen trafen, als die ersten Publikationen erschienen, da war dies schon deshalb ungeheuer aufregend, weil hier etwas begonnen und Pionierarbeit geleistet wurde: Eine konzentrierte und organisierte May-Forschung größeren Ausmaßes hatte es bisher nicht -


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oder, wenn man gegenüber den alten Jahrbüchern der Zeit nach 1918 ein Auge zudrückt, lange nicht - gegeben, und so mußte schon das pure Faktum der Existenz und Tätigkeit einer Karl-May-Gesellschaft auf- und anregend erscheinen. Daneben ist der damalige Forschungsstand zu berücksichtigen. Zwar lagen, von Heinz Stoltes Dissertation bis zu Hans Wollschlägers Monographie,(19) einige bahnbrechende Arbeiten vor, aber sie hatten nur erst wenige Bausteine zusammentragen können, die der ausgiebigen Ergänzung und Verbindung bedurften - wie ausgiebig, das ist den seither erschienenen Schriften dieser und vieler anderer Autoren zu entnehmen. Erinnert sei ferner an die weitreichende Mißachtung, die die universitäre Literaturwissenschaft Karl May damals noch entgegenbrachte. May-Forschung zu treiben war unter solchen Umständen schon an sich ein Abenteuer, und daß sich dieses Abenteuer in teilweise unkonventionelleren Bahnen als später vollzog, liegt gleichsam in der Natur der Sache. Der KMG ist es dann gelungen, die Rahmenbedingungen ihrer Tätigkeit zu ändern, wie ich anläßlich meiner ersten Leitfrage schon angedeutet habe; das hatte zwangsläufig auch zur Folge, daß sich manche Charakteristika ihrer Gründerzeit allmählich verloren, denn Pioniergeist kann nicht mehr existieren, wenn man sich nicht mehr in der Pionierphase befindet. Das Aufregende der frühen Tätigkeit schleift sich ab, und wie wäre zu verhindern, daß an seine Stelle - auch - Routine tritt? Ich habe vorhin Eggebrechts Klage zitiert, daß sich die Forschung »mehr und mehr ins Detail vertieft, die Biographen auch die letzten, periphersten Akten ausgraben, die KarlMay-Gesellschaft zufrieden auf vollendete Taten blickt«; wohl wahr, aber was sollen wir denn anderes tun? Es gibt keinen literarischen Forschungsgegenstand, heiße er nun Goethe oder Brecht, bei dem die Entwicklung nicht tendenziell ähnlich verliefe. Insofern kann man zu Eggebrechts Vorhaltungen einwenden, daß die angebliche Erstarrung der May-Forschung zu beträchtlichen Teilen das unvermeidliche Resultat ihrer eigenen Erfolge ist; in dem Maße, in dem sie nach 1970 geglänzt hat, hat sie sich selbst ein wenig den Boden unter den Füßen weggezogen.

   Aber doch wohl in der Tat nur ein wenig! Bei näherem Hinsehen zeigt sich nämlich, daß es so furchtbar schlecht um die neueste Forschung und ihre Sucht nach Details auch wieder nicht bestellt ist. Ist es denn beispielsweise nicht aufregend, wenn ein renommierter Literaturwissenschaftler Mays >Winnetou< als Bildungsroman bespricht und ihn mit präziser Argumentation in große Zusammenhänge unserer Literaturgeschichte vom >Wilhelm Meister< bis zu >Das Parfum< einordnet?(20) Werden wir nicht intellektuell herausgefordert, wenn Gert


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Ueding Mays Neigung zu Wiederholungen im Kontext von Irritation und Dissoziation sieht, während die vorherrschende Meinung bisher dahin ging, sie als Einheit stiftendes tektonisches Element einzuordnen?(21) Ist es nicht - ich will mich nicht auf die inkriminierte Tätigkeit der Literaturprofessoren beschränken - ein glänzendes Beispiel für die fortdauernde Risikobereitschaft der KMG, wenn sie sich auf ihrer Tagung einem so heiklen Thema wie dem Bild der Juden bei Karl May stellt, dazu mit Rainer Jeglin einen Redner präsentiert, der der Verharmlosung und der opportunistischen Rücksichtnahme auf das Publikum unverdächtig ist, und wenn sie auch noch von vornherein eine öffentliche Diskussion über Thema und Vortrag einplant?(22) Und geschieht nicht - um auch ein Beispiel außerhalb der KMG zu nennen - etwas, das noch vor wenigen Jahren als blasphemische Verhöhnung der Germanistik angesehen worden wäre, wenn eines der renommiertesten literaturwissenschaftlichen Periodika unseres Landes einen vergleichenden - aber keineswegs gleichsetzenden! - Aufsatz über May und Franz Kafka bringt?(23)

   Ich kann bei alldem nicht erkennen, daß die Abenteuerlust aus der May-Forschung verschwunden oder auch nur wesentlich gesunken ist; und wenn man vorwurfsvoll einwendet, die zitierten Themen bewegten sich überwiegend im Rahmen gängiger germanistischer Untersuchungsinteressen, dann müßte man erst einmal nachweisen, daß diese hier nicht zu greifen vermögen. Entsprechendes gilt, wo es um Editionsfragen, fremdsprachige May-Ausgaben und dergleichen geht: Die Beschäftigung mit einem Schriftsteller hat nun einmal notwendig verschiedene Seiten, und wir können den ausführlichen Umgang mit einigen davon nicht deshalb vernachlässigen, weil es sich um eine eher >trockene< Materie zu handeln scheint, die nicht beständig spektakuläre Ergebnisse erwarten läßt. Im übrigen ist vor dem Gedanken zu warnen - und der findet sich nicht nur bei Kritikern der eben skizzierten Orientierung -, May sei ein derart exzeptioneller, einzigartig dastehender Schriftsteller, daß man mit ihm in jeder Hinsicht ganz anders verfahren muß als mit anderen Autoren; darin läge eine Mythisierung des Phänomens, die seiner Analyse und seinem Verständnis nicht dienlich wäre.

   Ich komme zum Schluß. Gewiß könnte man noch vieles andere zum Thema anführen: Man könnte beispielsweise einige der Dinge, von denen die Rede war, erheblich differenzierter betrachten, und man könnte sorgfältiger unterscheiden zwischen dem, was innerhalb, und dem, was außerhalb der Karl-May-Gesellschaft getan wird; nachzudenken wäre ferner über die konkreten Zukunftsaussichten, die sich durch die


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politischen Veränderungen in Deutschland für die May-Forschung ergeben, und über die Anregungen, die eine kontinuierlich gedeihende historisch-kritische Ausgabe und eine systematische Auswertung des Bamberger Archivs vermitteln würden. Aber auch ohne diese weiteren Ausgriffe scheint mir ein plausibles, wenngleich abermals nur wenig originelles Fazit möglich zu sein. Es lehnt sich eng an jenen Eindruck zur Zwiespältigkeit der Forschungslage an, von dem eingangs die Rede war: ungeheuer viel ist geleistet worden, aber es gibt dennoch ganz beträchtliche Lücken. Man kann diese Diskrepanz nun auch zu einem etwas harmonischer und optimistischer wirkenden Gedanken uminterpretieren: es ist so viel geschehen, daß wir jetzt erst recht sehen, wieviel in Zukunft noch geschehen muß.



1 Hainer Plaul/Klaus Hoffmann: Stand und Aufgaben der Karl-May-Forschung. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1970. Hamburg 1970, S. 181-197

2 Volker Klotz: Über den Umgang mit Karl May. Unter anderm: psychoanalytisch: unter anderm. In: Jb-KMG 1980, Hamburg 1980, S. 12-28; Günter Scholdt: Karl-May-Forschung und Karl-May-Gesellschaft. In: Jb-KMG 1987. Husum 1987, S. 258-295

3 Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987; Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987

4 Helmut Schmiedt: Karl May und die Literaturwissenschaft. Zur aktuellen Lage der Forschung. In: 75 Jahre Verlagsarbeit für Karl May und sein Werk. 1913-1988. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1988, S. 149-160

5 Konkrete Belege, Zahlen etwa, liegen mir dazu nicht vor. Der wiedergegebene Eindruck beruht auf Gesprächen, die ich insbesondere mit Deutschlehrern im Hinblick auf die Leseinteressen ihrer Schüler und mit Buchhändlern geführt habe.

6 Vgl. Erich Heinemann: Zum 75. Todestag Karl Mays. Große Presse-Artikel des Jahres 1987. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 75/1989.

7 Manfred Karnick: Rollenspiel und Welttheater. Untersuchungen an Dramen Calderóns, Schillers, Strindbergs, Becketts und Brechts. München 1980, S. 25-45; Klaus Johanning: Der Bibel-Babel-Streit. Eine forschungsgeschichtliche Studie. Frankfurt a. M.-Bern-New York-Paris 1988, S. 317-324; Silke Schilling: Die Schlangenfrau. Über matriarchale Symbolik weiblicher Identität und ihre Aufhebung in Mythologie, Märchen, Sage und Literatur. Frankfurt a. M. 1984, S. 249-253

8 Christiaan L. Hart Nibbrig: Ästhetik der letzten Dinge. Frankfurt a. M. 1989, S. 95f.

9 Thomas Rietzschel: Dank für die leere Seite. Ein Essay über das Unfaßbare in Literatur, Kunst und Musik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 5.12.1989, Nr. 282, S. 34

10 Scholdt, wie Anm. 2, S. 275ff.

11 Hermann Wohlgschaft: >Und Friede auf Erden!< Eine theologische Interpretation. In: Jb-KMG 1989. Husum 1989, S. 114

12 Vgl. die Beispiele bei Helmut Schmiedt: Karl May. Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt a. M. 31992, S. 158-166.

13 Ganz ähnlich Christian Heermann: Neue Aspekte und offene Fragen der Karl-May-Biographie. In: Jb-KMG 1990. Husum 1990, S. 143

14 Bernhard Kosciuszko: Im Zentrum der May-Hetze. Die Kölnische Volkszeitung. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 10. Ubstadt 1985

15 Vgl. Scholdt, wie Anm. 2, S. 283ff.

16 Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt.« Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972, S. 11-92


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17 Hainer Plaul: Der Sohn des Webers. Über Mays erste Kindheitsjahre 1842-1848. In: Jb-KMG 1979. Hamburg 1979, S. 12-98

18 Harald Eggebrecht: Vorbemerkung. In: Karl May, der sächsische Phantast. Studien zu Leben und Werk. Hrsg. von Harald Eggebrecht. Frankfurt a. M. 1987, S. 7

19 Heinz Stolte: Der Volksschriftsteller Karl May. Beitrag zur literarischen Volkskunde. Diss. phil. Jena 1936; Hans Wollschläger: Karl May in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1965

20 Vgl. Gerhard Neumann: Karl Mays >Winnetou< - ein Bildungsroman? In: Jb-KMG 1988. Husum 1988, S. 10-37.

21 Vgl. Gert Ueding: Das Spiel der Spiegelungen. Über ein Grundgesetz von Karl Mays Werk. In: Jb-KMG 1990. Husum 1990, S. 30-50.

22 Vgl. Rainer Jeglin: Karl May und der antisemitische Zeitgeist. In: ebd., S. 107-131.

23 Vgl. Ulf Abraham: Die Angst vor der Entdeckung und die Entdeckung der Angst. Ein Motiv bei Franz Kafka und Karl May. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 59/2. 1985, S. 313-340.


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