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HELMUT SCHMIEDT

Literaturbericht I



Zu den heiklen Erbschaften weniger gewichtiger Art, die die DDR im kulturellen Bereich hinterlassen hat, gehört zweifellos der Umgang mit Karl May. Jahrzehntelang war er im deutschen >Arbeiter-und-Bauern-Staat< verfemt, galt er als Repräsentant eines reaktionären, z. T. imperialistischen Denkens; zu Beginn der 80er Jahre aber wurde er, wie manch andere historische Koryphäe, als Vertreter einer immerhin bürgerlich-progressiven Humanität rehabilitiert, was freilich ebensowenig jedermann erfreute, wie dies, auf der anderen Seite, die vorherige Tabuisierung getan hatte.

   So liegt es nahe, daß zur Zeit der >Wende< Bilanz gezogen wird: Was soll man denn nun wirklich - da die Zeit der May-Unterdrückung Geschichte und seine Rezeption Normalität geworden ist - von diesem Autor halten, mit dem man sich lange Zeit derart schwer tat? Mitte 1990 haben gleich zwei literaturwissenschaftliche Fachzeitschriften der DDR Abhandlungen dazu veröffentlicht; bei der einen handelt es sich um eine umfangreiche Stellungnahme zur neueren Forschungsliteratur um May,(1) bei der anderen um eine Rezension der Biographie Christian Heermanns (1988).(2) Beide Texte konzentrieren sich also nicht von vornherein auf das eben skizzierte Thema, aber im Schwerpunkt der Argumentation geht es dann doch insbesondere um das Pro und Contra zu May unter politisch-weltanschaulichen Aspekten.

   Gerhard Henniger bezeichnet Heermanns Arbeit generell als »für einen großen Leserkreis interessant und brauchbar« (1054) und stützt dieses pauschale Lob durch eine Reihe detaillierter Begründungen. Breiten Raum nehmen dennoch die Einwände ein, und deren »wichtigster« ist es, Heermann habe die »Widersprüchlichkeit im Leben und vor allem im Werk Mays« nur »ungenügend herausgearbeitet« (1052). Statt die persönlichen und politischen Irrwege - der Verfasser erinnert an Mays Loblied auf den >Löwen Sachsens< - deutlich zu kommentieren, verschleiere Heermann sie mit anteilnehmenden, entschuldigenden Worten, und in Ergänzung dazu interpretiere er manches gewaltsam im Sinne seines auf gesellschaftliche Fortschrittlichkeit orientierten May-Bildes: »Die Bereitschaft Mays, als Zeuge für den >Vorwärts< gegen Lebius vor Gericht aufzutreten, macht deshalb noch lange aus


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May keinen der Sozialdemokratie politisch nahestehenden Menschen« (1053), wie Heermann suggeriere.

   Erheblich weiter greift, wie gesagt, der Literaturbericht von Regina Hartmann aus, der einen großen Teil der in den 80er Jahren erschienenen größeren May-Arbeiten, bis hin zum >Winnetou<-Band von Sudhoff und Vollmer (1989), zur Sprache bringt. Hier werden denn auch die verschiedensten Probleme berührt, z. B. die Frage nach der >Trivialität< und dem >Realismus< der Romane Mays, nach ihren »künstlerischen Mitteln« (488) und nach der Reaktion der DDR-Leser. Die Verfasserin gelangt in ihrer Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur zu durchweg may-freundlichen Urteilen, und am Ende resümiert sie: »Die eigentliche Leistung des Schriftstellers Karl May (...) liegt in der Ambivalenz seiner Wertungen« (490). Gemeint ist damit etwas Ähnliches wie bei Henniger, nur wird es hier mit deutlicher Zustimmung aufgenommen: daß May seine literarische »Utopie ständig unterläuft, indem er ihre Widersprüchlichkeit und letztlich ihr Scheitern zeigt« (489).

   Beide Kommentatoren stimmen darin überein, daß einlinige politisch-gesellschaftliche Urteile May nicht gerecht werden: Weder >Linke< noch >Rechte< sollten ihn demnach ohne weiteres für sich reklamieren; bei Hartmann kommt der weitere Gedanke hinzu, daß die mit der Entdeckung einer konstruktiven Widersprüchlichkeit verbundene »Feststellung der Mehrdimensionalität« letztlich bei der Linken, bei den »Leser(n) unseres Landes« (490) besser aufgehoben sei als bei ihren Antipoden, weil sich aus ihr Anstöße für ein produktives Weiterdenken ergeben könnten.

   Auch mir scheint, daß Widersprüchlichkeit und Ambivalenz das sind, was zumindest einen großen Teil des Mayschen Werkes im Innersten prägt, daß es sich dabei aber keineswegs um Charakteristika mit abwertender Konnotation handelt, sondern um die Säulen einer literarischen Darstellung, die dem einförmigen Denken in schlichten Alternativen oder halbherzigen Kompromissen strikt zuwiderläuft und eben damit - das große Wort sei hier gestattet - als >Kunst< ganz ernstgenommen werden muß. Diese Übereinstimmung stellen Henniger und Hartmann auch schon selbst heraus, und so habe ich bei der Lektüre das Vergnügen gehabt, mich in beiden Fällen als exponierten Gewährsmann (Henniger 1054: »Wenn ich auch zu manchen Passagen in Schmiedts Buch Widerspruch anzumelden habe (...)«) zitiert zu finden, im Falle Hartmanns sogar mit dem mittlerweile weithin wohl nicht mehr uneingeschränkt als solches empfundenen Kompliment, einige meiner Überlegungen korrespondierten »mit theoretischen Auffassungen der marxistischen Literaturwissenschaft« (489).


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   Ein Aspekt allerdings fehlt in beiden Abhandlungen, der bei der Besprechung von Forschungliteratur aus der DDR eigentlich nicht unbeachtet bleiben dürfte: Was dort publiziert wurde, war in besonders hohem Maße nicht nur dem Ideal der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung verpflichtet; es nahm, implizit oder explizit, auch teil an den aktuellen Kämpfen um May, und diese politisch-pragmatische Perspektive des Plädoyers für einen in der Verbreitung seines Werkes mutmaßlich weiterhin gefährdeten Autor hat gewiß Folgen für die jeweilige Argumentation gezeitigt, wie dies z. B. seinerzeit bei unserer Besprechung von Heermanns Biographie auch schon angedeutet wurde (vgl. Jb-KMG 1990, 330f.). Es wäre interessant, darüber gerade von Autoren, die aus der DDR stammen, Näheres zu erfahren. Regina Hartmann und Gerhard Henniger haben lange vor dem Ende der DDR selbst über Karl May publiziert; ein Skeptiker mag da vermuten, daß sie über die einschlägigen Mechanismen weitaus besser informiert sind, als ihre jetzigen Kommentare über Heermann und andere vermuten lassen. Ob ihnen dies im Sinne eines Vorwurfs anzurechnen ist, kann hier freilich nicht entschieden werden, denn aus den Veröffentlichungsdaten der beiden Texte läßt sich ja nicht exakt auf deren Entstehungszeit schließen, die ihrerseits wiederum entsprechenden Aufklärungsbemühungen noch entgegengestanden haben mag.

   Bei der Diskussion um diese Probleme sollte man allerdings nicht vergessen, wo der Schwerpunkt der in der DDR betriebenen May-Forschung lag: im Bereich der detaillierten biographischen und bibliographischen Recherche, für die Namen wie Klaus Hoffmann und Hainer Plaul stehen und die zumindest weitgehend frei blieb von irreführenden Akzentuierungen politischer Provenienz. Beispiele für diese Arbeitsrichtung fanden sich auch in jüngster Zeit, z. B. in den Publikationen der beiden Gedenkstätten in Radebeul und Hohenstein-Ernstthal, von denen diesmal die >Informationen Nr. 4< aus Mays Geburtsort genannt werden sollen.(3) Sie geben eine Reihe von Autographen und Bildern wieder, die dort im Rahmen einer Sonderausstellung zu sehen waren; ein kleiner Aufsatz gilt Max Welte, den May in seiner >Studie< als Liebhaber Emmas bezeichnet hat.

   Christian Heermann, dessen Name auch im folgenden noch auftauchen wird, hat wenige Jahre nach seiner Biographie wieder ein neues May-Buch veröffentlicht: >Karl May, der Alte Dessauer und eine >»alte Dessauerin«<.(4) Bei der letztgenannten Titelfigur handelt es sich um Mays aus Dessau gebürtige zweite Ehefrau; das Buch enthält eine unter verschiedenen Gesichtspunkten gestaltete Schilderung seiner Beziehungen zu dieser Stadt. Es beginnt mit einem Abriß der Lebensge-


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schichte Mays, dann folgt ein längeres Kapitel über den >Alten Dessauer<, Leopold I., Fürst von Anhalt-Dessau, dem May zwischen 1875 und 1883 gleich neun Humoresken gewidmet hat und über den er auch später noch einmal arbeiten wollte; zwei dieser Texte, >Ein Stücklein vom alten Dessauer< und >Der Amsghändler<, sind am Ende des Buches abgedruckt, während Heermanns Ausführungen zum einen der Historie des Protagonisten und zum anderen Mays Umgang damit gelten. Ein ausführliches Kapitel zur Lebensgeschichte Klara Mays folgt.

   Sieht man von den an der speziellen Dessauer-Thematik interessierten Lesern ab, die umfassend informiert werden, so dürfte der Klara-Aufsatz die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Klaras Wirken an der Seite Mays und nach seinem Tod ist bekanntlich von der Forschung überwiegend als recht zwiespältig beurteilt worden; man neigt weithin zu der Ansicht, es habe sich im Lauf der Zeit immer unerfreulicher gestaltet, sei es nun bezüglich ihres Verständnisses vom Umgang mit Mays Hinterlassenschaft, ihrer Neigung zum Nationalsozialismus oder gar der Verknüpfung beider Aspekte. Heermann bietet zu alledem eine Reihe bemerkenswerter Details dar, die in ihrer Mehrheit dem Kenner zwar nicht neu sind, in der komprimierten Zusammenstellung aber doch ein sehr eindrucksvolles Bild Klara Mays vermitteln, wie es in dieser Ausführlichkeit und Präzision bisher nicht zu finden war. Leider fehlen - eine Folge wohl des populärwissenschaftlichen Elements, das diese Schrift dominiert - die exakten Quellennachweise; die an sich verdienstvolle Abhandlung ist deshalb für künftige Arbeiten weniger brauchbar, als man es sich wünschen möchte.

   So wie man Heermanns Buch nicht recht zu beurteilen vermag, wenn man von den Voraussetzungen einer heimatgeschichtlichen Publikation absieht, die der in Dessau ansässige Verlag im Sinn hatte, so kann man auch die jetzt anzuzeigende Schrift nicht angemessen schätzen, wenn man von dem Hintergrund ihrer Entstehung nichts wissen will. Die USA haben Mays Bevorzugung Nordamerikas als Handlungsschauplatz stets mit Desinteresse honoriert: Die Bemühungen, ihn dort mit Hilfe amerikanischer Ausgaben populär zu machen, fanden keine Resonanz, und die wenigen Publikationen, die im Land der einstigen >dark and bloody grounds< über ihn erschienen, blieben weitgehend folgenlos. Nun aber ist immerhin die - meines Wissens - erste nordamerikanische Doktorarbeit über Karl May zu verzeichnen.(5)

   Die Verfasserin Susanne Lanzl fragt speziell danach - der zweite Teil ihres Titels deutet es an -, ob und gegebenenfalls wie Karl May auch heute noch als Gegenstand des Schulunterrichts von Belang sein kann. Dies ist aber nicht so zu verstehen, daß sie ihre Überlegungen in


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das Korsett literaturpädagogischer Betrachtungen im engsten Sinne zwängte; vielmehr bildet »das Bestreben, Karl-May-Literatur anhand verschiedener Kriterien auf ihre Unterrichtsrelevanz hin forschend abzuklopfen« (171), nur den Orientierungsrahmen für eine ganze Reihe unterschiedlich ausgerichteter Darlegungen. Dabei geht es im ersten Teil um die im herkömmlichen Verständnis didaktischen Aspekte - >Identifikation mit dem Helden< und >Der Kampf mit den Trieben< sind zwei Kapitel überschrieben -, im zweiten um May im politischen Kontext seiner Zeit - Kolonialpolitik, Darstellung der Indianer und des Militärs sind hier Stichworte - sowie im dritten um Karl May und den Faschismus; einige Exkurse, beispielsweise zur May-Rezeption in der DDR, kommen ergänzend hinzu. Bei strittigen Fragen gelangt die Verfasserin überwiegend zu Befunden, die für May sprechen; am Ende steht der Gedanke, Mays Werk bleibe in verschiedenster Hinsicht »aktuell« (179), so daß Frau Lanzl für die weitere Beschäftigung damit in den Schulen plädiert, obwohl sie die gerade bei amerikanischen Schülern gewiß vorhandenen Widerstände keineswegs verkennt.

   Die Verfasserin hat sich intensiv in die Forschungsliteratur eingearbeitet und befaßt sich mit deren Thesen auf durchweg anregende Weise, so daß der Leser kaum Grund zum Tadel findet; nur gelegentlich unterlaufen ihr Fehler, z. B. die Verwechslung der ersten mit den letzten >Silberlöwe<-Bänden (132). Eigene Akzente setzt sie indessen - über die Auswahl der Schwerpunkte und die Kommentierung des Vorgefundenen hinaus - kaum, von weniger gewichtigen Einzelheiten abgesehen, wie einem Vergleich (55) der erotischen Ausstrahlungskraft Winnetous mit jener der New Kids on the Block, der popmusikalischen Idole für zehn- bis vierzehnjährige Mädchen in der Saison 1990/91. Die Arbeit liest sich am besten als ein gigantischer, zuverlässiger, anregender und sehr individuell strukturierter Forschungsbericht, und diese Eigenart ist wohl das, was man unter den skizzierten Umständen von der ersten amerikanischen Karl-May-Dissertation am ehesten erhoffen konnte.

   Um einen Forschungsbericht eigener, aber anderer Art handelt es sich in gewissem Sinne auch bei einem Buch von Burghard Bartos: >»Old Shatterhand, das bin ich«<.(6) Es setzt die Reihe romanhafter Karl-May-Biographien fort, die mittlerweile schon eine beträchtliche Tradition ausgebildet hat und zuletzt durch Otto Kreiners >Der Schatten< (1989) bedient wurde. Dem kundigen Leser hat Bartos' Arbeit nichts Neues zu bieten; sie unterscheidet sich von manchen ihrer Vorgänger aber aufs erfreulichste dadurch, daß sie sich im Kern ihrer Darlegungen auf belegbare Daten und Fakten stützt und so ein im wesentlichen mit


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den Erträgen der biographischen Forschung übereinstimmendes Bild - daher die obige Etikettierung als eine Art Forschungsbericht - vermittelt. Das Urteil >im wesentlichen< schließt freilich ein, daß es an Mängeln in Details nicht fehlt; Christian Heermann hat bereits in einer Rezension der >Sächsischen Zeitung< vom 15.11.1991 moniert, daß Bartos Karl May beispielsweise fälschlich die Autorschaft an >Fürst und Junker< zuschreibt (132) und ihn im Zuchthaus Waldheim ausführlich schriftstellern läßt (46f.), was aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls nicht korrekt ist.

   Bartos erzählt Mays Lebensgeschichte kurz und schmucklos. Er hegt keine literarischen Ambitionen nach dem Vorbild Kreiners oder auch Erich Loests, ein Wortspiel um das >Einschlagen< - im doppelten Sinne des erfolgreichen Arbeitens für ein großes Publikum und der Geste, bei der sich zwei Personen die Hand reichen (47) - ist schon ein Gipfelpunkt dessen, was er an Kunstfertigkeit investiert. Aber der schlicht gehaltene Text versinkt auch nicht in Banalitäten. Bartos schreibt anschaulich, präzise und mit dem Blick für größere Zusammenhänge; so führt er manches Merkwürdige im Verhalten des alten May darauf zurück, der habe sich schwer getan mit der Einsicht, die »Welt in seinem Kopf« sei »weniger wahr als diese Welt dort vor der Haustür« (123) - ein Gedanke, der um so plausibler wirkt, als zuvor die Bewältigung der Nöte im realen Leben durch die Kraft der Phantasie eindringlich mit analogem Vokabular fixiert wurde: »Er schrieb sich eine Welt auf dem Papier.« (47) Daß der Text ausgiebig mit der Schilderung von Gestik und Mimik und mit wörtlicher Rede operiert - unter gründlicher Benutzung des Sächsischen -, ist ein zentrales Element des Genres und als solches nahezu unvermeidlich. Zur sachlich-nüchternen Seite des Buches gehört demgegenüber, daß es mit einer zehnseitigen Zeittafel zur Vita und einem immerhin achtzehn Titel umfassenden Literaturverzeichnis endet.

   Das streng sezierende Urteil könnte beanstanden, Bartos' Arbeit sei weder Fisch noch Fleisch: Für eine seriöse Biographie verfahre sie zu freizügig mit ihren Materialien, zu einem eigenständig-literarischen Umgang mit der Lebensgeschichte, wie sie Kreiner und Loest versucht haben, reiche es auf der anderen Seite auch nicht. Dem wäre entgegenzuhalten, daß es gewiß eine große Zahl von Lesern - zumal von jugendlichen Lesern, für die das Buch wohl in erster Linie gedacht ist - gibt, die sich nur in, Umrissen über Mays persönliches Schicksal informieren möchten und nicht gleich auf entlegene Einzelheiten oder gar auf eigenwillige Deutungen poetischer Provenienz erpicht sind; ihnen ist mit Bartos' Darlegungen geholfen. Sie geben nicht mehr vor, wie


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einst Dworczak schon in seinem Titel, über >Das Leben Old Shatterhands< (1935) zu berichten, wenn sie über seinen Autor informieren, sondern setzen die Gleichschaltung von Held und Autor in Anführungszeichen, machen sie also sogleich als Zitat kenntlich.

   Das Verhältnis Arno Schmidts zu Karl May hat sich mittlerweile zu einem eigenen kleinen Forschungszweig entwickelt. Nachdem Hans Wollschläger kürzlich eine Gesamtdarstellung gegeben hat, die sich auf bisher weithin unbekannte Daten und Fakten stützt und zum großen Teil psychologisch ausgerichtet ist - etwa in der Deutung der >Sitara<-Tiraden (vgl. Jb-KMG 1990, 12-29) -, fragt nun auch Martin Lowsky, der sich vor einiger Zeit schon Teilkomplexen des Themas zugewandt hat (vgl. Jb-KMG 1989, 278f., und Jb-KMG 1991, 369), generell nach >Karl Mays Wirkung auf Arno Schmidt<.(7) Daß er ein exzellenter Kenner beider Autoren ist, kommt der Untersuchung natürlich sehr zugute; so gelingt ihm der detaillierte Nachweis, wie »Stoffe, Bilder und Räumlichkeiten« (256) Mays ihre Spuren bei Schmidt hinterlassen haben, vom Motiv des Landvermessers über die Gesprächskonstellationen in Schmidts Funk-Essays bis zu markanten Begriffen und Vokabeln, die Schmidt von May übernommen hat. Aber es geht nicht um die Feststellung schlichter Wiederholungen; Lowsky deutet auch an,  w i e  Schmidt mit den Mayschen Vorgaben verfährt, und die Eigenständigkeit des jüngeren Autors geht demnach so weit, daß er z. B. »die didaktische Verwendung eines Motivs bei May in ihr Gegenteil wendet« (259). Mays Texte sind ein Spielmaterial gewesen, dessen sich Schmidt auf die verschiedenste Weise, aber fast stets mit großem Engagement bediente.

   Den Hintergrund dieser umfassenden, in Schmidts gesamtem Werk nachzuweisenden Affinität, die sich ständig im Kampf mit sich selbst befindet und davon profitiert, bildet für Lowsky eine Übereinstimmung von geradezu existentieller Dimension: »Zu leben bedeutete für beide, sich in Phantasieräumen zu bewegen. Hier wie dort finden wir auch die Geschlossenheit der einzelnen phantasierten Romanwelten, eine Geschlossenheit, die bei May oft märchenhaft und anheimelnd auftritt, während sie bei Schmidt eher frustrierend ist« (255f.). Wolfgang Koeppen, den Lowsky mit Zustimmung zitiert, hat es so formuliert: »Zwei glückliche Männer, hinter Butzenscheiben und Blumentöpfen die Wüste« (274).

   Es scheint, daß wir über die psychologischen Implikationen des merkwürdigen Verhältnisses zwischen den beiden Schriftstellern nun gründlich informiert sind; um so wichtiger ist es, die literarischen Folgen im Werk Schmidts genauer zu prüfen, und dazu vermittelt Lowskys Aufsatz die bisher umfassendsten Erkenntnisse und Anregungen.


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   Zwischen dem, was in den Arbeiten eines Künstlers, und dem, was in ihrer Rezeption geschieht, bestehen manchmal die erstaunlichsten Beziehungen. So ist es bei Schmidt, so ist es auch bei Karl May, und eine besonders kuriose Übereinstimmung zwischen seinen Texten und den Leistungen der jüngeren May-Forschung liegt zweifellos darin, daß hier wie dort immer wieder Wünsche in Erfüllung gehen, an deren Verwirklichung vorher kaum jemand gedacht hätte. So wie Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi selbst in ausweglos erscheinenden Situationen doch noch einen Rettungsweg findet, an dessen Ende die Bösen bestraft und die Guten belohnt werden, so sehen sich die May-Experten regelmäßig mit Publikationen beglückt, mit deren Zustandekommen vorher wohl nur die wenigsten gerechnet hätten: Wer hätte beispielsweise in den 70er Jahren zu hoffen gewagt, daß binnen kurzer Zeit die gesamte Fehsenfeld-Reihe und selbst die geheimnisvolle, skandalträchtige >Studie< Mays durch Reprints allgemein zugänglich gemacht werden würden, wer hätte sich vorgestellt, daß es so etwas wie Uedings Handbuch und Plauls Bibliographie jemals geben würde?

   Auch Arno Schmidt hat bekanntlich die verschiedensten Wünsche in bezug auf Karl May gehegt; sehr viel davon ist zu seinen Lebzeiten nicht realisiert worden. Jetzt immerhin ist ein Anliegen in Erfüllung gegangen, das Schmidt - der Umschlag des anzuzeigenden Buches zitiert es - so ausgedrückt hat: »Wie wichtig wäre nicht ein >MAY=Lexikon<; eins der schnurrig=anregendsten Nachschlagewerke der Weltliteratur: eine >Allgemeine Deutsche Biografie< ersten Ranges!« Nun liegt es also tatsächlich vor: das >Große Karl-May-Figurenlexikon<, rund 800 Seiten stark und im Äußeren etwa einem Brockhaus-Band vergleichbar.(8)

   Man kann zunächst einmal nur staunen über die unendliche Mühe, die sich der Herausgeber Bernhard Kosciuszko und seine fünfzehn Mitarbeiter gemacht haben. Sämtliche bisher bekannten literarischen Texte Mays einschließlich ihrer verschiedenen Varianten sind durchforstet worden - Kosciuszko schätzt, daß es sich um ca. 40000 Druckseiten« (V) im Satzspiegel der Fehsenfeld-Edition handelt -, alle darin auftauchenden und auch die lediglich genannten Figuren, soweit sie nur irgendwie Konturen gewinnen, sind registriert worden, und am Ende der Arbeit steht ein Werk, mit dessen Hilfe der Leser rasch nachschlagen kann, wer wo in Mays Texten - »von der kleinen Dorfgeschichte bis zum Spätwerkepos, vom Possenfragment bis zum Kolportageroman« (V) - auftaucht, wie er beschrieben wird und was er im wesentlichen tut.

Das Lexikon ist alphabetisch nach den Anfangsbuchstaben der Figu-


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rennamen geordnet. Sein Anhang erlaubt es aber auch, die in einem einzelnen Werk auftretenden Personen mit einem einzigen Blick zu erfassen. Agiert eine Person unter verschiedenen Namen, so sind sie alle verzeichnet. Irrtümer bei der Namensnennung werden ebenfalls dokumentiert. Bei historischen Persönlichkeiten werden ergänzend die Lebensdaten mitgeteilt. Die Länge der Artikel richtet sich im wesentlichen nach der Bedeutung der Figur und der Häufigkeit ihres Auftretens. Um einen Eindruck von der Art und Weise zu machen, wie May mit seinen Gestalten verfährt, werden vielfach aussagekräftige Zitate eingefügt.

   Am umfangreichsten sind verständlicherweise die Ausführungen zu den zentralen Figuren Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi, Winnetou, Halef und Marah Durimeh geraten; sie haben sich sogar zu selbständigen Aufsätzen von eigenem Wert entwickelt, als deren Verfasser in der Mehrheit der Fälle Christoph F. Lorenz zeichnet. Diese Abhandlungen fassen nicht nur viele Einzelheiten zusammen, die bisher in verschiedenen Arbeiten zur Charakterisierung des Mayschen Werkes verstreut waren, sie vermitteln auch, indem sie die literarische Genese der Figuren detailliert nachvollziehen, einen intensiven Einblick in die Entwicklung des Schriftstellers Karl May.

   Auf Hinweise zum interpretierenden Verständnis der Figuren wird weitgehend verzichtet, doch hin und wieder finden sie sich. Zumeist handelt es sich um kurze Erläuterungen aus biographischer Sicht, und bei mancher dieser Stellen mag sich dann zumindest der unvorbereitete Leser - wenn er z. B. im Shatterhand-Beitrag erfährt, »die ganze Romanhandlung« des >Bärenjäger< lasse sich »als Auseinandersetzung des Schriftstellers Karl May mit seinem Verhältnis zu seinem Vater interpretieren« (482) - eher überrascht als aufgeklärt fühlen. Andere Hinweise zur Analyse gelten literaturhistorischen Zusammenhängen - >Winnetou I< verbinde »Züge des goethezeitlichen Entwicklungsromans mit Motiven des Abenteuerromans und den Gesetzmäßigkeiten der Legende« (486) -, strukturellen Eigenheiten des jeweils in Rede stehenden Textes oder der Symbolik im Spätwerk.

   So sorgfältig das Ganze erarbeitet worden ist: jeder Leser wird wohl, wenn er sich darum bemüht, Grund zu Beanstandungen finden, darunter - wie Rudi Schweikert in einem Beitrag für die Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 92/1992 darlegt hat - vielleicht auch zu solchen von grundlegender Natur; mir ist zusätzlich beispielsweise aufgefallen, daß König Albert von Sachsen nicht registriert ist, der Held des Huldigungsgedichts >Der Löwe Sachsens<. Aber diese Mängel, die bei derart gigantischen und vielfältiger Koordinierung bedürftigen Unternehmen


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immer wieder auftauchen, können den Wert des Lexikons nur begrenzt schmälern. Bedenkt man, daß Figurenlexika im deutschsprachigen Raum eine kaum gepflegte Gattung sind, so wird man diese neue Großtat der May-Forschung erst recht würdigen.

   Mancher Außenstehende mag das voluminöse Buch für nicht mehr als das eindrucksvolle Produkt schnurriger Liebhaberei halten, das vielleicht zur Unterhaltung für naive Gemüter taugt, sonst aber nichts leistet. Doch das wäre ein kurzsichtiges Urteil. Abgesehen davon, daß die Namensgebungen eines Autors, die sich im Falle Mays jetzt umfassend und konzentriert verfolgen lassen, alles andere als belanglos und folgenlos für das Verständnis seiner Texte sind, bietet das Figurenlexikon eine Orientierungshilfe, die nicht hoch genug einzuschätzen ist: Die Grundvoraussetzung zum ertragreichen Umgang mit einem literarischen Werk ist es ja, daß man inhaltlich darüber verfügen kann, und bei 40000 Druckseiten wird sich ein Wegweiser wie der vorliegende fortan erst recht als unentbehrlich erweisen. Kosciuszkos opus magnum ist das vorläufig letzte Stück einer Reihe von Publikationen, mit denen Mays Schriften in ihren sozusagen materiellen Seiten aufgearbeitet werden; dazu gehören des weiteren die Stichwortregister von Hansotto Hatzig, die große Bibliographie von Hainer Plaul und das - oben schon erwähnte - Handbuch mit seiner Übersicht zur Ereignisfolge in sämtlichen einschlägigen May-Texten. Es gibt nicht viele deutschsprachige Schriftsteller, deren Werk vergleichbar präzise erfaßt und katalogisiert ist.

   Die Krönung dieser Seite des Umgangs mit Karl May wäre natürlich die Vervollständigung der historisch-kritischen Edition, mit deren Herausgabe Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger vor einigen Jahren begonnen haben. Leider scheinen sich jedoch die Befürchtungen, die im vorjährigen Literaturbericht angedeutet wurden, erst einmal zu bestätigen: Die Reihe kommt nicht recht voran. Zwar sind einige Bände in der Taschenbuchserie erschienen, aber da diese den Editorischen Bericht nicht mehr enthält, kann man ihr das in Anspruch genommene Etikett kaum noch zuerkennen; allenfalls ist von einer Leseausgabe zu sprechen, die sich als wohlfeiles Nebenprodukt der Arbeit an der historisch-kritischen Edition empfiehlt. Wie sorglos im übrigen die Taschenbuchreihe letzthin betreut wurde, läßt sich beispielsweise daraus entnehmen, daß auf den vorderen Blättern des 1991 erschienenen >Cordilleren<-Bandes ein Hinweis gegeben wird, der Editorische Bericht sei im gleichen Band der parallelen Bibliotheksausgabe zu finden, während er unmittelbar danach im Inhaltsverzeichnis für das vorliegende Buch angekündigt wird und darin am Ende dann doch fehlt.


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   Ein Band der Bibliotheksausgabe immerhin ist im Berichtszeitraum (bis November 1991) erschienen: >Winnetou II<.(9) Er enthält - was durchaus der Konzeption der Ausgabe entspricht - keinerlei Angaben zur Textgeschichte und zu den damit verbundenen Fragen, und nicht einmal ein Hinweis, ob hier eine frühe oder eine späte Fehsenfeld-Version zugrunde gelegt ist, findet sich; der Leser wird diesbezüglich auf die Editorischen Berichte in >Winnetou III< und >Winnetou IV< verwiesen, deren Publikation bei der Niederschrift dieses Berichts ebensowenig absehbar ist wie die des >Schut<, der die seit langem ausstehenden Erläuterungen zum Orientroman bringen soll. Auch >Winnetou II< bietet ein Umschlagbild von Michael Sowa, das insofern ins Schwarze trifft, als es zwei Indianer in erbittertem Kampf zeigt und sich damit treffend insbesondere zur blutrünstigen Old-Firehand-Episode im zweiten Teil des Buches fügt; auf dem Bild zum ruhigeren >Winnetou I< blickt dagegen ein mit der Silberbüchse ausgerüsteter Solist eher nachdenklich vor sich hin.

   Da also über die Zukunft der historisch-kritischen Ausgabe vorerst weiterhin Ungewißheit besteht, verdienen die Reprint-Veröffentlichungen um so mehr Aufmerksamkeit, und auf diesem Gebiet herrscht weiterhin Hochkonjunktur. Erstaunlicherweise geht es dabei nicht einmal nur um Texte von May selbst.

   Rudolf Lebius ist Mays erbittertster publizistischer Gegner gewesen, und der Höhepunkt seiner Attacken war eine Schrift mit dem harmlos klingenden Titel >Die Zeugen Karl May und Klara May< (1910): ein, im Urteil Wollschlägers, »Zusammendruck zahlreicher Gerichtsakten und Aufsätze zum >Fall May<, effektvoll tendenziös gekürzt, auch gefälscht, und mit entsprechender Kommentierung versehen« (Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, 172f.). Lebius hatte damit freilich so weit überzogen, daß May juristisch intervenieren und wenige Wochen nach der Veröffentlichung ein Verbot der Weiterverbreitung des Buches erwirken konnte. Seitdem gehörte >der Lebius< zu den heikelsten und mysteriösesten Schätzen der May-Forschung: Alle haben von ihm gehört, die meisten verabscheuten ihn, kaum einer kannte ihn genau, und hin und wieder fanden sich Zitate daraus.

   Mit der Aura des Geheimnisvollen hat es nun - und das ist gut so, zumal alle persönlich betroffenen Personen längst tot sind - ein Ende: Michael Petzel und Jürgen Wehnert legen als Band 1 der >Veröffentlichungen aus dem Karl-May-Archiv< einen Nachdruck vor.(10) Die Lektüre bestätigt, daß es sich im Blick auf die Vita Mays um ein Quellenwerk ersten Ranges handelt, dessen Zeugnissen freilich stets nur unter Vorbehalt zu trauen ist: eine Aufgabe, die sich beim gegenwärtigen


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Stand der biographischen May-Forschung und mit dem Rückgriff auf Mays mittlerweils ebenfalls allgemein zugänglichen Schriftsatz an das Königliche Landgericht, der Lebius mehr als 500 genau ausgewiesene >gewissenlose Behauptungen<, >Lügen<, >Fälschungen<, >raffinierte Bosheiten< und >lnfamien< vorhält, gewiß leichter lösen läßt als in früheren Jahrzehnten. Bei manchen Details wird allerdings wohl auch heute noch selbst der bestinformierte Kenner kapitulieren, wenn man ihn nach der Wahrheit fragt. Die Einführung von Jürgen Wehnert, die zunächst einen Überblick zur Lebensgeschichte Lebius' und zum Gesamtkomplex seiner Auseinandersetzungen mit May vermittelt, gibt einige sehr instruktive Hinweise, wie das Buch am ertragreichsten zu lesen sei; als Beispiel für die Themen, bei deren Erschließung es sich als besonders hilfreich erweist, führt Wehnert namentlich »die Umstände seiner [Mays] Ehescheidung, sein Verhältnis zum Spiritismus, die Affäre um seinen Doktortitel« (XV) an.

   Nicht von Karl May stammt auch die Romanvorlage eines großformatigen, umfangreichen Reprints, für den Karl Serden und Wolfgang Dörr verantwortlich sind: >Fürst und Junker. Roman aus der Jugendzeit des Hauses Hohenzollern<; es handelt sich um jenen Text des Autors Friedrich Axmann, der 1875/76 im ersten Jahrgang des >Deutschen Familienblattes< erschien, von Karl May unter dem Titel >Der beiden Quitzows letzte Fahrten< in den >Feierstunden am häuslichen Heerde< fortgesetzt und schließlich von Dr. Goldmann abgeschlossen wurde.(11) Bei der Lektüre von Serdens >Vorbemerkung< scheint es freilich zunächst, als habe man wohl auch in >Fürst und Junker< einen von May verfaßten Roman vor sich: Serden erneuert und ergänzt seine bereits an anderen Stellen skizzierte Vermutung, Friedrich Axmann sei nichts anderes als ein weiteres Pseudonym Karl Mays. Als wesentliches Indiz dafür wird der Umstand gewertet, daß ein Autor mit Namen Axmann in Adreßbüchern nicht nachgewiesen werden konnte; aber dann folgt der >Vorbemerkung< noch ein Zusatz >Nach Redaktionsschluß<: Im Wiener Adreßbuch von 1876 ist ein Schriftsteller Friedrich Axmann verzeichnet, wie sich gerade erst herausgestellt hat. »Das Rätsel um die Person Axmann scheint somit gelöst« (XXII): May und Axmann sind zwei verschiedene Personen, >Fürst und Junker< stammt nicht von Karl May. Der Wert des ansehnlichen Reprints wird durch diese Entdeckung nur unwesentlich beeinträchtigt: Zum einen muß die Trivialliteraturforschung für jedes Exempel ihres Forschungsbereichs dankbar sein, das dem weit verbreiteten Schicksal der Unzugänglichkeit entrissen worden ist, und zum anderen begegnet der May-Experte hier einem Roman, der speziell Aufschluß gibt über das literarische Umfeld,


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in dem sich Karl May als Autor und Redakteur zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn bewegt hat. Im übrigen bietet der Reprint auch noch »drei kürzere Erzählungen aus fremder Feder« (XVI), betitelt >Die Tochter des Rabbi<, >Der Tausch<, >Bildhauer und Edelmann<, sowie Mays >Inn-nu-woh<, >Old Firehand<, >Ein Stücklein vom alten Dessauer< - das auch in Heermanns oben angezeigtem Buch enthalten ist -, >Die Fastnachtsnarren< und >Auf den Nußbäumen<.

   Die Karl-May-Gesellschaft legt als siebten und letzten Reprint aus der Reihe >Der Gute Kamerad< den >Schwarzen Mustang< vor.(12) Dieser Band ist insbesondere deshalb sehr willkommen, weil es sich hier um eine Arbeit Mays handelt, die von der nun schon zwei Jahrzehnte andauernden Welle der Nach- und Neudrucke seiner Texte bisher nicht erfaßt wurde und überdies von den Bearbeitern der Bamberger Ausgabe besonders kraß mißhandelt worden ist; man kann diese Bemerkung insofern wörtlich nehmen, als die Hauptschurken bei May mit einer Tracht Prügel glimpflich davonkommen, während in der >Halbblut<-Version der eine aufgehängt und der andere zu Tode gestürzt wird. Die Kürze des >Mustang<-Textes bot Gelegenheit, auch noch anderes in den Reprint aufzunehmen: Im zweiten Teil des Bandes finden sich die dreizehn kleineren Erzählungen Mays, die der >Gute Kamerad< zwischen 1887 und 1891 veröffentlichte, sowie ein großer Teil der Spalten >Fragen und Antworten/Anzeigen<, in denen auf Karl May Bezug genommen wurde. In dieser Rubrik teilt die Redaktion beispielsweise »Kastor und Pollux« mit, deren Brief sei zur >Villa Bärenfett< geschickt worden, aber »bis jetzt soll die Klingel noch nicht wieder ausgesteckt sein, Hobble ist also immer noch unterwegs. Sind selber gespannt, wie und wo das Kerlchen wieder zum Vorschein kommt« (360). Der - mit Erläuterungen von Hansotto Hatzig und Erich Heinemann versehene - Band erlaubt es also, ein wenig an den Beziehungen teilzunehmen, die sich zwischen der populären Zeitschrift und ihren jungen Lesern entwickelten, und so ist das Ganze nebenbei auch eine aufschlußreiche kulturgeschichtliche Dokumentation. Etwas mißlich erscheint es, daß das Inhaltsverzeichnis erst nach Hatzigs >Einführung< und einem weiteren Blatt eingefügt ist; man übersieht es dort leicht, und der Band wirkt dann weniger überschaubar, als er tatsächlich ist.

   Der Bamberger Karl-May-Verlag hat bekanntlich zu Beginn der 80er Jahre einen mit reichhaltigen Nachworten von Roland Schmid ergänzten Reprint der Freiburger Ausgabe publiziert, der weithin die gebührende Anerkennung fand. Diese Serie ist 1991 noch einmal aufgelegt worden, diesmal aber unter Verwendung der Titelbilder von Sascha Schneider. May hatte, als seine Bände zwischen 1904 und 1910 in


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dieser Ausstattung erschienen, wohl so etwas wie ein Gesamtkunstwerk im Sinn: Der symbolischen Deutung, mit der er jetzt großen Teilen seines Werks begegnete, sollte durch die entsprechenden Bilder des damals nicht ganz unbekannten Künstlers Nachdruck verliehen werden. Das Unternehmen mißlang jedoch in kommerzieller Hinsicht, die Auflage der Reihe in dieser Gestalt blieb klein; um so verdienstvoller ist, daß der Karl-May-Verlag die Raritäten nun wieder zugänglich macht, und zwar in einer technischen Perfektion, die die der alten Bildwiedergaben noch übertrifft. Freilich handelt es sich in gewissem Sinne auch um ein etwas kurioses Unternehmen: Da man zum einen ohne Veränderungen auf die Buchblöcke der Reprint-Erstausgabe zurückgegriffen hat, die ihrerseits die Fehsenfeld-Erstausgaben bot, die Schneider-Bilder zum anderen aber bis einschließlich Bd. 27 Textfassungen zierten, die May in Kleinigkeiten noch einmal gegenüber den Erstausgaben geändert hatte, ist ein Zwitter entstanden, eine Reihe von May-Bänden, bei denen die Ausstattung und der Inhalt den Originalen jeweils entsprechen und die es dennoch in dieser Zusammenstellung vorher nie gegeben hat. Lothar Schmid weist im Begleitheft der Neuausgabe darauf hin, daß unter diesen Umständen z. B. der erste Band >außen< >Durch die Wüste< und >innen< >Durch Wüste und Harem< heißt.

   Dieses Begleitheft,(13) das auch Texte von Christoph F. Lorenz und dem Sascha-Schneider-Experten Hans-Gerd Röder enthält, vermittelt einen kurzen Überblick zur Zusammenarbeit zwischen May und Schneider. Ihren besonderen Wert erhält die kleine Schrift dadurch, daß sie einige bisher unbekannte Briefe Mays an Fehsenfeld und Schneider bietet, in denen nicht nur im engeren Sinne von der Neuausstattung der Fehsenfeld-Bände die Rede ist, sondern auch von grundsätzlicheren Fragen. May fügt da den Bemühungen um eine Selbstdeutung, die sein Alter durchziehen, einige neue Aspekte hinzu, beispielsweise das eigenartige Bekenntnis, er liebe und bewundere gute Akte. Ja ich schreibe sogar Akte, nichts als Akte (29), und die Erklärung, von jeher sei seine Lieblingsgestalt die Sphinx. ... Wer Alles gesagt hat, der wird begriffen. Und wer begriffen worden ist, der ist todt! (30)

   Der rührige Christian Heermann hat, über die erwähnten Veröffentlichungen im >Dessauer<-Buch hinaus, einen weiteren frühen Text Mays zugänglich gemacht: den 1879 erstmals erschienenen >Waldkönig<.(14) Zwar ist diese umfangreiche Erzählung in den letzten Jahren bereits nachgedruckt worden (vgl. Jb-KMG 1981, 355ff.), aber die Präsentation im Neusatz eines preiswerten Taschenbuchs mag nun wohl ein breiteres Publikum ansprechen, zumal es sich um eine spannende


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Geschichte handelt, die auch literarisch zu den besseren unter Mays ersten Arbeiten gehört. Sie mischt, wie Heermann im >Nachwort< andeutet, Elemente der Dorfgeschichte mit solchen des Kriminalromans und bietet mit ihrem Helden eine jener heroischen Gestalten, mit denen sich May an das spätere Genie Old Shatterhand herantastet. Das Schmugglerdrama um den Waldkönig weist in dieser und anderer Hinsicht bereits Züge der berühmten Mayschen Abenteuergeschichten auf, antizipiert ferner manches, was sich im >Verlornen Sohn< findet, und wird damit lesenswert auch für den, der sich für die literarische Entwicklung des Schriftstellers Karl May in ihren größeren Zusammenhängen interessiert.

1 Regina Hartmann: Auf Spurensuche ... Zur Kontroverse um Karl May in der jüngsten Forschungsliteratur. In: Zeitschrift für Germanistik. 11. Jg. (1990), Heft 4, S.485-491

2 Gerhard Henniger: (Rezension zu) Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Berlin 1988. In: Weimarer Beiträge. 36. Jg. (1990), Heft 6, S. 1051-1054

3 Karl-May-Haus. Informationen Nummer 4. Hrsg. vom Karl-May-Haus Hohenstein-Ernstthal (1990)

4 Christian Heermann: Karl May, der Alte Dessauer und eine »alte Dessauerin«. Dessau 1990

5 Susanne Lanzl: Durch die Wüste der Rezeption oder: Karl May als Lerninhalt. Diss. phil. New York 1991

6 Burghard Bartos: »Old Shatterhand, das bin ich.« Karl May. Hamburg 1991

7 Martin Lowsky: Heldengeschichten. Über Karl Mays Wirkung auf Arno Schmidt. In: Zettelkasten 9. Aufsätze und Arbeiten zum Werk Arno Schmidts. Arno Schmidts Hausgötter. Erste Folge. Von Johann Gottfried Schnabel bis James Joyce. Hrsg. von Thomas Krömmelbein und Martin Lowsky. Frankfurt a. M. 1991, S. 254-274

8 Großes Karl-May-Figurenlexikon. Hrsg. von Bernhard Kosciuszko. Paderborn 1991

9 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 13: Winnetou II. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1991

10 Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Ein Beitrag zur Kriminalgeschichte unserer Zeit. Hrsg. von Michael Petzel und Jürgen Wehnert. Lütjenburg 1991; Reprint der Ausgabe Berlin-Charlottenburg 1910

11 Friedrich Axmann: Fürst und Junker. Roman aus der Jugendzeit des Hauses Hohenzollern . Hrsg. von Karl Serden und Wolfgang Dörr. Ubstadt-Weiher 1990; Faksimile aus: Deutsches Familienblatt. 1. Jg. (1875/76)

12 Karl May: Der schwarze Mustang. In: Der Gute Kamerad. 11. Jg. (1896/97); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1991

13 Karl May und Sascha Schneider. Empor zum Licht! Zur Entstehungsgeschichte der Sascha-Schneider-Titelbilder für die Gesammelten Reiseerzählungen Karl Mays. Hrsg. von Lothar Schmid. Bamberg 1991

14 Karl May: Der Waldkönig. Eine Erzählung aus dem Erzgebirge. Hrsg. von Christian Heermann. o. O. 1990


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