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GERHARD NEUMANN

»Ich spreche überhaupt alle Sprachen, wie Ihr von früherher wißt«
Die Kunst des Anfangs in Karl Mays Romanen*


Theo Stammen zum 60. Geburtstag

Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat: - das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken - Kunst, Religion, Liebe, Stolz.

Friedrich Nietzsche

I

In Erich Auerbachs >Mimesis<-Buch gibt es jenes unvergeßliche Kapitel, in dem er schildert, was das epische Prinzip in Homers >Odyssee< zu leisten vermag:(1) wie Odysseus nach langer Fahrt nach Hause zurückkehrt, wie niemand ihn erkennt, wie die alte Schaffnerin Eurykleia (und frühere Amme des Odysseus) ihm das dem Gast geziemende Fußbad bereitet, wie sie mit ihrer Hand an seinem Schenkel die Narbe spürt, die er in seiner Jugend bei einem Jagdunfall empfing, wie der Schrecken des Erkennens sie durchfährt - und wie Homer nun nicht das in dieser Schrecksekunde kritisch werdende Geschehen dramatisierend zuspitzt, sondern statt dessen einen viele Verse langen Bericht über jenes längst vergangene Geschehen bei der Eberjagd einschiebt, einen Ursprungsmythos gleichsam, der in die Unterbrechung der Erzählung einspringt und dabei eigene künstlerische Gestalt und Präsenz gewinnt - Augenblick und Ganzes vermittelnd, ein episches Verweilen, das vibrierend den Bogen spannt zwischen Vergangenheit und Gegenwart ...

In Karl Mays Reiseroman >Am Rio de la Plata< stößt man zu Beginn des fünften Kapitels auf eine Szene, die mit ähnlichen Mitteln der Verzögerung - der Aufladung der Spannung, die in einer kritischen Situation eskaliert, und der Unterbrechung des Erzählvorgangs just in diesem Augenblick - das Prinzip epischer Darstellung zur Geltung bringt.

* Vortrag, gehalten am 31.10.1992 auf dem Symposium der Karl-May-Gesellschaft und des Germanistischen Seminars der Universität Bonn.


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Es geht in dieser Szene um eine jener legendären Bewährungsproben, die Karl Mays Helden immer wieder abzulegen haben, um ihre Stelle in der Welt zu sichern, ihr Ansehen vor den andern zu begründen. Die Passagiere eines den Fluß hinaufstampfenden La Plata-Dampfers vertreiben sich die Zeit mit Schüssen auf die am Ufer liegenden Alligatoren. Ihre Fehlschüsse fordern den Ehrgeiz des Ich-Erzählers heraus; er läßt sich von Bruder Jaguar, seinem Begleiter, zwei Tiere zeigen, die ihm als Ziel dienen sollen:

»Nun jetzt?« fragte der Bruder. »Ja«, antwortete ich. »Passen Sie genau auf!« Ich trat an den Bord und nahm das Gewehr halb auf. Der Fremde folgte mir, mit dem Ausdrucke großer Spannung im Gesichte, was eigentlich gar nicht begründet war, denn ein Krokodil zu schießen ist für einen Westmann kein Meisterstück. Die beiden Tiere lagen halb im Profil zu dem Schiffe, die beste Stellung für einen sichern Schuß. Es gab noch einige andere, welche auch auf sie schießen wollten; aber der entfernt stehende Yerbatero sah, daß ich das Gewehr in der Hand hatte, und rief ihnen zu: »Schießen Sie nicht, Sennores! Dort steht einer, der Ihnen zeigen wird, wie man treffen muß.« Aller Blicke richteten sich auf mich, was mir gar nicht lieb war, denn wenn die beiden Patronen, die ich geladen hatte, nicht ganz fehlerfrei gearbeitet waren, so schoß ich fehl und war blamiert. Jetzt war das Schiff so weit heran, daß der gegenwärtige Augenblick der geeignetste war. Ich warf nach Westmannsart das Gewehr an die Wange und drückte zweimal ab, scheinbar ohne genau gezielt zu haben, aber eben nur scheinbar. Der Prairiejäger drückt noch, bevor er das Gewehr aufnimmt, das linke Auge zu, um das Ziel zu visieren. Durch lange Uebung hat er die Geschicklichkeit erlangt, den Lauf sofort in die Sehachse zu bringen, ohne lange probieren zu müssen. In demselben Augenblicke, in welchem das Gewehr seine Wange berührt, liegt auch schon das Korn in der Kimme, und der Schuß kann abgegeben werden. Die ganze Kunst liegt eben nur darin, den Lauf sofort in die Sehachse zu werfen. Das erspart das lange Suchen und Visieren, durch welches der linke Arm ermüdet und wohl gar ins Zittern kommt. Der angehende Westmann steht stundenlang, um sich mit dem ungeladenen Gewehre einzuüben. Er wirft, indem er das linke Auge geschlossen und das rechte scharf auf das Ziel gerichtet hält, das Gewehr mit schnellem Rucke auf und nieder, bis er die Fertigkeit erlangt, den Lauf sofort auf das Ziel und das Korn in die Kimme zu bringen. Viele bringen es nie zu dieser Gewandtheit und sind dann schlechte Jäger, da oft das Leben davon abhängt, der erste am Schusse zu sein. Für andere freilich erscheint es unbegreiflich, daß jemand, ohne langsam anzulegen und scheinbar ohne sorgfältig zu zielen, das Ge-


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wehr geradezu emporwirft, augenblicklich abdrückt und - einen Nagel durch das Schwarze treibt. Die Schnelligkeit, mit welcher das geschieht, ist verblüffend, aber eben weiter nichts als das erklärliche Resultat einer langen und unermüdeten Uebung. So war es auch jetzt. Das Gewehr aufnehmen, zweimal abdrücken und es wieder sinken lassen, das war in einer Sekunde geschehen. Der erste Kaiman fuhr empor, that mit dem Schwanze einen Schlag und sank dann wieder nieder. Der zweite schoß vier oder fünf Schritte vorwärts, blieb dann halten, richtete den Kopf auf, sank auf die Seite, dann auf den Rücken und blieb so bewegungslos liegen. Beide waren tot. Lauter Beifall erscholl. »Zwei außerordentliche und meisterhafte Schüsse!« rief der Fremde. »Oder waren sie Zufall?« »Nein, Sennor. Sie waren kinderleicht«, antwortete ich.(2)

Die gleichen erzählerischen Strategien im homerischen Epos und in Karl Mays Romanen - aber eine Welt der Differenz in dem, was sie hier und dort besagen, welches Formgesetz in ihnen zur Geltung kommt. Während Homer einen Geschehenszusammenhang entfaltet, auf eine Krise zuspitzt und dann unterbricht, um einen neuen in sich gerundeten Erzählschub einzuleiten, der ein spannendes (und das Erzählte grundierendes) Ereignis nachträgt, um schließlich wieder in den ursprünglichen Erzählfluß einzumünden, unterbricht Karl May, gewissermaßen mitten im Schuß seines Helden, das sich dramatisierende Geschehen - der gegenwärtige Augenblick (war) der geeignetste -, um einen Kommentar einzuschieben, der das geschilderte Ereignis expliziert, das scheinbare Wunder vernünftig begründet. Diese Explikation beginnt als erlebte Rede des >Helden< Charley und wechselt unmerklich in einen exkursartigen Kommentar über, der von der höchsten Ebene des Textes her, nämlich der erzählenden Instanz selbst, verantwortet wird. Es ist der Autor Karl May, der - eine Personalunion mit dem erzählten Helden >Charley< bildend - dessen Handeln, das der Roman berichtet, erläuternd unterbricht: gewiß zur Belehrung des Lesers, aber auch und vor allem zur Beglaubigung der Autorität der erzählenden Instanz, durch Setzung eines >Wahrheitsindexes<.

Während Homer Erzählen in Erzählen einbettet, um die >Geschichte<, die ihm am Herzen liegt, im Spiel von Gegenwärtigkeit und Rückbesinnung zu verdoppeln und so allererst das epische Prinzip seines Erzählens zu etablieren; somit aber im Erinnern der Schaffnerin den Augenblick der Gegenwart an das Früher bindet und damit jene beiden Pole ins Licht rückt, die Odysseus durch seine Wiederkehr in der Heimat seinerseits zu verknüpfen sucht, dabei gleichzeitig das Fließen des Erzählstroms befördert und Naturwahrheit der Darstellung als ungebrochene, gelassen dahinströmende Gegenwart erschafft, entwirft Karl


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May das Modell einer kommentierungsbedürftigen Welt. Einer Welt, in der Wahrheit nicht durch Erzählen und Erinnern allein, sondern allererst durch Explikation des Erzählten, durch seine Übersetzung ins Vernunftgemäße und technisch Begründbare, durch Beglaubigung des Sich-Ereignenden mittels des schon Gewußten und Gekonnten zum Vorschein gebracht wird. Es ist eine Verdopplung des Erzählvorgangs in eine mimetische und eine reflektierende Schicht, die bei dem modernen Autor Gestalt annimmt - und damit erst recht die Fraglichkeit aller Beglaubigung ins Bewußtsein hebt; einer Beglaubigung, die bei Homer wie von selbst im Spiel von Erzählen und Erinnern zu gelingen scheint.

Diese merkwürdige Tatsache der Verdopplung des Schreibvorgangs in Erzählen und Kommentieren, die sich bei Karl May allenthalben, aber bevorzugt an den Anfängen seiner Romane beobachten läßt, gibt zu denken. Sie ist der Auslöser der folgenden Überlegungen.

II

Der französische Moralist Chamfort stellt in seinen >Maximes et anecdotes< wiederholt Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Zufall und Vorsehung an. An einer Stelle heißt es da: »Quelqu'un disait que la Providence était le nom de baptême du hasard; quelque dévot dira que le hasard est un sobriquet de la Providence.«(3)

Was dieser Aphorismus so unverbindlich zu einem Paradox zuspitzt, ist das gravierende Problem des Romans und seiner Darstellungsstrategien seit dem Ende des 17. Jahrhunderts; aber noch dem Roman des 19. Jahrhunderts macht es zu schaffen. Ob nämlich Kontingenz oder Providenz das lebensweltliche Geschehen regiert; ob das, was der Roman als die Welt zeigt, dem Zufall geschuldet wird oder - ganz im Gegenteil - einem Heilsplan im Sinne des »höheren Leitenden«, von dem Goethe gelegentlich spricht, zu verdanken ist, bildet die Crux romanhaften Erzählens seit Beginn der Moderne. Die Schwierigkeiten, die sich für den Romanautor hieraus ergeben, sind auch und gerade Schwierigkeiten des Anfangs: Wer verhilft, wenn Mythos und Theodizee versagen, dem Helden zum Sprung in das Geschehen, dem Autor zum Sprung in den Text? Der Sänger in der >Odyssee< kann sich noch leicht auf die Muse berufen. Sie möge, so sagt er, die Rückkehr des Odysseus singen, »ab wann es ihr beliebt«. Später ist es dann die Rhetorik, die in dieser Not einspringt. Es sind ihre schreibstrategischen Konzepte, die Hilfe bringen: zum Beispiel


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durch das Proömium, das diesen Absprung - oder Einsprung in die Schrift des Textes erleichtert.

Roland Barthes, in seiner schönen Abhandlung über die alte Rhetorik, hat denn auch richtig bemerkt: »La fonction du proème est donc (...) d'exorciser l'arbitraire de tout début.«(4)

Diese Schwierigkeit, den Anfang als etwas Notwendiges setzen zu müssen und aus ihm wie aus einem Keim das Ganze - und vor allem und zu guter Letzt den Schluß - zu entwickeln, ist wohl keinem Autor unbekannt. Die Romanciers haben alle Sorgfalt darauf verwendet, diese Schwierigkeit zu lösen. An ihren Anfängen zeigt sich ihre Meisterschaft, durch Erzählen den Zufall zu überlisten - und so >medias in res<: in den Text, in das Geschehen und in ihr Thema zu gelangen.

Valéry hat einmal zu Recht gefordert, man müsse eine Anthologie der Romananfänge der großen Autoren zusammenstellen; hieraus ließe sich eine Geschichte der Romankunst rekonstruieren.(5) Und Karl May? Gehört er auch in diese Reihe? Es ist wohl Ernst Bloch gewesen, der als erster auf die Kunst der Anfänge bei Karl May hingewiesen hat: bei jenem Karl Friedrich May, den er »einen der besten deutschen Erzähler« nennt und der, wie er fortfährt, »der beste schlechthin wäre, wäre er kein armer verwirrter Prolet gewesen«(6) - Bloch rühmt dabei zumal die unvergleichliche Exposition des Romans >Am Rio de la Plata<. Aber er rühmt - und das soll zu denken geben - auch die Kunst des Finales, im >Krumir< zum Beispiel, dem unvergeßlichen Verfolgungsritt über den Schott, über jene Salzkruste, unter der das grüne Wasser und der trügerische Treibsand lauern, die den fehltretenden Reiter zuletzt verschlingen.

Die Inszenierung des Beginns, der Bildungswunsch des verwirrten Proleten und die Schürzung des Finales: Dies sind die drei thematischen Bereiche, denen die Aufmerksamkeit zu gelten hat, wenn man Klarheit über die Kunst des Anfangs bei Karl May - als die Kunst zu schreiben schlechthin - zu gewinnen sucht.

Anfang und Ende und deren poetologische Verknüpfung als Kardinalproblem der Dichtung: Es ist dies eine Aufgabe, die schon Jean Paul in seiner >Vorschule der Ästhetik< beschäftigt hat. Und zwar im Hinblick auf den Romanschreibenden selbst, auf die Schreib- und Schöpfungssituation, in der er sich befindet. »Zwei Kapitel«, zeichnet Jean Paul sich auf, »müssen füreinander und zuerst gemacht werden, erstlich das letzte und dann das erste«.(7) Mit dieser wichtigen Produktionsregel des Romanschreibens (und ihrer ironischen Brechung) kommt man ziemlich weit, wenn man sich etwa des Konstruktionsplans und der schöpferischen Prinzipien von Prousts >Recherche< oder aber der Bau-


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form von Kafkas Roman >Der Prozeß< vergewissern wollte.(8) Schluß und Anfang stehen da in merkwürdiger entstehungsgeschichtlich bedingter Korrespondenz, sind beinahe gleichzeitig geschrieben und aufeinander zu organisiert, was manche problematische Konsequenz für das mittlere Stück zwischen Anfang und Ende mit sich bringt - schon Aristoteles hat diese Crux hervorgehoben.(9)

Bei Karl May verhält es sich damit ein wenig anders, und zwar aufgrund der besonderen Entstehungssituation seiner Texte; denn Karl Mays Romanschreiben, seine frühen Produktionen zumindest, sind auf das publizistische Organ Zeitschrift orientiert und damit zugleich auf die durch dieses Medium erzwungene Fortsetzungsstruktur. Wenn man verpflichtet ist, Tag um Tag Fortsetzungen zu liefern, so ist jedes Element dieser potentiell unendlichen Kette aus Fortsetzungsteilen Anfang und hinausgeschobenes Ende zugleich: ein sich täglich fortspinnendes Riesenwerk, das nur aus Anfängen und jeweils mühsam eingeknüpften Enden zu bestehen scheint, Enden, die zugleich einen neuen Anfang zuversprechen haben, wie die immer wiederholte, stereotype Formel >und so ritten sie weiter, neuen Abenteuern entgegen ... < suggestiv bezeugt.

Auch dies, daß es bei Karl May im Grunde nur Anfänge als Formen des hinausgeschobenen Endes gibt und daß die Enden, die irgendwann kommen, potentiell bereits seit je in diesen Anfängen schlummern, beliebig zu raffen wie in der Erzählung >Die Gum<, beliebig hinauszuschieben wie im berühmten Schlußteil des >Schut<, und damit also zumeist einem virtuosen Doppelspiel von Beschleunigung und Verlangsamung unterliegen, wird im folgenden mit zu bedenken sein.

In diesem Sinne beginne ich über Karl Mays Romananfänge zu sprechen, indem ich zum einen auf einen schönen Aufsatz von Günter Scholdt über Karl Mays Anfänge verweise, der im Karl-May-Sonderband von >Text und Kritik< erschienen ist,(10) und zum andern versuche, eine Reihe Karl-Mayscher Erzählanfänge nachzuerzählen und dadurch in ein helleres Licht zu rücken.

III

Der erste dieser Anfänge findet sich im Roman >»Weihnacht!«<, den Karl May im Herbst 1897 niederschrieb, und zwar als ein eigens für die Fehsenfeld-Reihe seiner Reiseerzählungen verfaßtes Buch, nicht als Fortsetzungsgeschichte.(11) >Weihnacht<, als ein mythisches Modell, repräsentiert die Idee des Anfangs schlechthin, die Geburt des Helden


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und Welterlösers, den Beginn des individuellen wie des universellen Schicksals, den Inbegriff des Heilsversprechens.(12)

Weihnacht! - heißt es da - Welch ein liebes, liebes inhaltsreiches Wort! Ich behaupte, daß es im Sprachschatze aller Völker und aller Zeiten ein zweites Wort von der ebenso tiefen wie beseligenden Bedeutung dieses einen weder je gegeben hat noch heute giebt.(13)

Am Anfang von Karls Mays Roman steht ein einzelnes Wort, mit Ausrufungszeichen aus dem Sprachfluß isoliert, wie ein Fanal - fast möchte man sagen: wie ein Stichwort im Lexikon. Ihm folgt eine Explikation, ein Kommentar und - eine Übersetzungsprobe (im Sprachschatze aller Völker). Wie ernst Karl May dieser Grundgestus des Übersetzens war, zeigt der ursprünglich erwogene Bandtitel >Christmas<, der dann versuchsweise in >Christfest< - eine fast homophone deutsche Übersetzung - und schließlich in >»Weihnacht!«< >übertragen< wird. Aus diesem Spiel von Setzung eines Stichworts und kommentierender >Über<-setzung entwickelt sich Mays ganzer Roman. Er wird, um ein Wort Lessings zu benutzen, aus diesem zu Anfang hervorgezauberten Einwortsatz, einer Holophrase, »herausgegrübelt«.

Auf diese Initialzündung folgen nun im ersten Kapitel des Romans zahllose weitere sich verdoppelnde Kommentierungs- und Übersetzungsakte. Karl May zitiert zur ethnologischen oder religionsgeschichtlichen Beglaubigung der Weihnachts-Idee, die, als kulturelle Strukturformel, ja das ganze Werk regiert, gleich anfangs zwei Bibelworte: Hiob 19, 25 und die Verkündigung der Engel aus dem Weihnachtsevangelium. Er kommentiert also den gesetzten Anfang - Weihnacht! - durch intertextuelle Verweise.

Diese Bibelworte nun aber hat der kindliche Ich-Erzähler und spätere Old Shatterhand seinerseits gleich zweimal übersetzt, in ein neues, anderes Zeichensystem übertragen. Denn er hat sie, wie schon das erste Kapitel ausweist, zunächst zu einem Gedicht gemacht; und er hat sie sodann zu einer Motette auskomponiert. Er hat sie in Literatur und Musik >übertragen<.

Die Tätigkeit des Komponierens ihrerseits wird nun - gewissermaßen antizipatorisch - in die Wahrnehmungsordnung des künftigen Westmanns Old Shatterhand, der der Knabe einmal sein wird, übersetzt: »Ein geübter Reiter der hohen Schule«, sagt der Kantor, »würde Ihre Motette ganz anders ein- und zugeritten haben«; und der junge Held antwortet: »Ja... ich sitze zu steif im Sattel und habe zwar körperliche, aber nicht auch geistige Fühlung mit dem Pferde ...« (Weihnacht 16).

Das Geld, das der jugendliche Held mit seiner Motette verdient hat, wird nun seinerseits einer Metamorphose unterzogen; es wird in eine


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Reise umgesetzt. Dies ist die Ausgangssituation beinahe aller Romananfänge Karl Mays: Ein Protagonist tritt auf den Plan, der aus dem Vertrauten ins Fremde geführt wird, sei es als Reisender oder als Forscher, als Vertriebener, als Abenteurer oder als Auswanderer, und dem es auferlegt ist, im Vergleich der beiden Welten das Eigene ins Fremde, das Fremde ins Eigene verstehend umzusetzen und dadurch seinen Weg - Spuren »lesend«(14) - durch diese Welt zu suchen. In >»Weihnacht!«< erscheint dieser Übersetzungsvorgang - als Aneignungsvorgang des Fremden - besonders sinnfällig, und zwar dadurch, daß er im ökonomischen Feld in Szene gesetzt wird. Die beiden Jungen wandern, den jeweiligen Umrechnungskurs des Tages nutzend, zwischen Sachsen und Böhmen hin und her, bald hier, bald dort ihre Tagesration an Geld ein- und umwechselnd.

Dieser Grenzwechsel - als monetärer Kurswechsel praktiziert - findet (topographisch umgemünzt) sein Gegenstück in den Karten, die die beiden Wanderer zur Orientierung benutzen. Statt der Landkarten von Sachsen und Böhmen, die notwendig wären, finden sich solche von Norwegen und Schweden einerseits, von Algier, Tunis und Tripolis andererseits in ihrem Gepäck. Der Übersetzungsvorgang erweitert sich - wiederum antizipatorisch im Hinblick auf die späteren Reisen Old Shatterhands - durch diesen initialen Mißgriff ins Geographische, jene exotische Gegenwelt der Heimat beschwörend, die zur Grunderfahrung der Mayschen Helden als Grenzwechsler, Grenzgänger und Auswanderer gehört und ihr Selbstgefühl wesentlich bestimmt.

Diese Übersetzungsvorgänge, diese Praxis des Hinüberwechselns in andere Wirklichkeits- und damit Redeordnungen, die den Mayschen Romananfang bestimmen, greifen aber auch auf das Personal dieser Anfänge über. Die beiden jugendlichen Helden haben ihre Heimat und Familiennamen in fremde und exotische Namen transponiert. Sie tragen sogenannte >Kneipnamen<, heißen Sappho und Carpio: der Dichter, als Frau verfremdet, und der Stumme, der ihm beigesellt ist. Sind doch das Griechische wie das Lateinische Schlüsselelemente des bürgerlichen Bildungssystems, dem die beiden Helden (die ja zugleich soziale Aufsteiger sind) - in einer Art Doppelbindung - sich verpflichtet fühlen und dem sie doch unablässig zu entrinnen suchen.

Diese fortgesetzte, im Geschehen von >»Weihnacht!«< sich auswirkende Transponierung und Umbenennung wird nun aber alsbald auch zum steuernden Prinzip der weiteren Ereignisse im Roman. Die beiden Helden einigen sich nämlich auf eine Sprechregel, die zugleich eine neue Ordnung der Lebenswelt begründet; sie beginnen in Reimen zu reden, sie stiften gleichsam eine >literarische< Ordnung der Welt. Die-


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sem Verhalten spiegelbildlich zugeordnet ist die Sprechregel des Wirtes Franzl, der seine deutsche Rede unermüdlich - und gut burschenschaftlich - durch lateinische Sätze, sogenannte >geflügelte Worte<, zu beglaubigen sucht: ubi bene, ibi patria oder habendi dabitur et abundabit.

Hier spätestens nimmt man wahr, welchem Ziel diese Übersetzungsakte dienen, die May als Proömium beim Erzählen seiner Romane und als Initialakte von deren Geschehen inszeniert. Sie sind Mittel der Weltbewältigung, der Organisierung der Lebenswelt durch den Formelschatz kulturellen Wissens, durch Transponierung ihrer Elemente in ein anderes Ordnung schaffendes Sprachsystem, einen anderen Code. Es ist gewissermaßen die >lex Büchmann<, die hier regiert. So wird der Bibeltext in deutsche Sprache übertragen; so wird das lebensweltliche Ereignis in Literatur und Musik transponiert, das Geld in eine Reise verwandelt. So wird Landschaft in Kartographie umgesetzt, eine Währung in die andere gewechselt, das Deutsche ins Lateinische und Griechische übertragen und umgekehrt. Es sind Inszenierungen von Erkenntnis, die dem Prinzip der Wahrnehmung durch Kommentierung dienen, dem enzyklopädischen Erkenntnismuster von Stichwort und Explikation, von Setzung und Übersetzung gehorchen. Diese Versuche der Weltbewältigung gehören in das Bildungsprogramm eines Helden, der aus einfachen Verhältnissen einen sozialen Aufstieg sucht; sie gehören in ein Bildungsprogramm, das darauf ausgerichtet ist, verschiedene Wahrnehmungsordnungen zu vermitteln, die Fähigkeit, sie zu entziffern und sie erkennend zu nutzen, erprobt-, sie sind schließlich einem Programm zuzurechnen, dessen wesentlicher Bestandteil das Nachschlagen in Lexika und das Erlernen und Beherrschen von Fremdsprachen ist: somit also der doppelte Bildungsgestus der bürgerlichen Kultur der Gründerjahre und ihrer beiden Garanten: des >Büchmann<-Zitatenschatzes und der >Fremdsprachenkorrespondenz<.

Der Romananfang zeigt aber schließlich auch, daß dieser Erwerb von Übersetzungs- und Kommentierungskompetenz nicht ohne weiteres jedem gelingt; daß im Grunde nur der künftige Old Shatterhand, der soziale >Aufsteiger<, imstande ist, die Vermittlung zwischen Bücherwelt und Lebenswelt zu leisten; daß er allein mit seinen Diskursen die Ordnung der Dinge nicht verfehlt, wie dies etwa sein Freund Carpio unablässig tut, und daß er allein aus seinen Wissensordnungen auszuwählen und die richtigen Einsichten zur Legitimierung seines Handelns zu gewinnen vermag.

An dieser Stelle der Eingangshandlung des Romans > »Weihnacht!«< treten die Auswanderer auf. Sie sind Repräsentanten und gleichsam


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Merkzeichen der universellen Übersetzungsstruktur, die Karl Mays Romananfänge regiert. Sie müssen, um als Auswanderer überleben zu können, die Leseregel der Verdolmetschung besitzen, mit der das fremde Land zu entziffern ist. Steht sie ihnen nicht zu Gebote, so gehen sie zugrunde. Im Roman >»Weihnacht!«< ist es eine doppelte Leseanweisung, mit der die Auswanderer zu Beginn ausgerüstet werden. Carpios Empfehlungsschreiben zum einen, das wirkungslos bleibt, Sapphos Weihnachtsgedicht zum andern, das ihnen den Weg nach Amerika öffnet: als letzte und höchste poetische Explikation des Stichwortes Weihnacht!, mit dem der Roman ja beginnt. Poesie als ethisches Instrument, das Wissen als handlungsleitendes Mittel: Mays Ankömmlinge im fremden Land bedürfen ihrer, um die doppelte Übersetzungsarbeit der Orientierung in der Neuen Welt zu leisten - durch Kommentierung des Geschehens und durch angemessenen Fremdsprachengebrauch. Ganz ähnlich übrigens präsentieren sich auch die Anfänge anderer Bücher Karl Mays: so die der Romane >Winnetou< und >Am Rio de la Plata<, so die der >Sklavenkarawane< und des Romans >Der Schatz im Silbersee<.

Das Abenteuer in Karl Mays Romanen beginnt damit, daß reisende Forscher oder eben Auswanderer - wie hier - den Boden des fremden Landes betreten, mit seinen Sitten, seiner Sprache und seiner Lebenswelt konfrontiert werden und in dieser Welt neue Sprach- und Geschehensordnungen zu erlernen haben - und zwar im Vergleich mit denjenigen, die sie schon beherrschen und von Haus aus mit sich führen! Denn in der Tat: In Karl Mays Romanen bringen diejenigen, welche Fuß zu fassen vermögen, diese Kommentierungs- und Übersetzungskompetenz bereits mit. Das Doppelprinzip von Handeln und Kommentieren ist ihnen gleichsam zur zweiten Natur geworden.

Das zweite Kapitel des Romans >»Weihnacht!«<, zugleich der zweite Anfang innerhalb dieses Romans, beginnt mit einem solchen Akt kommentierender Vergleichung. Der Knabe des ersten Kapitels ist zum Mann geworden - Das Leben hatte mich in seine strenge Schule genommen (Weihnacht 117). Aus Sappho wurde Old Shatterhand - und Dr. Karl May, der Autor des Buches. Dieser beginnt den Bericht über seine Erlebnisse im Wilden Westen mit dem Referat eines ethnographischen Werkes, das dem Autor May zugesandt worden war und über die Indianer Nordamerikas berichtet. Und er liefert zugleich die Widerlegung dieses Buches aus der Unmittelbarkeit der Anschauung, als eine im Erzählen geleistete Übersetzung ins Authentische gewissermaßen. Solche Richtigstellungen - als erneute Kommentierungen des Lexikalischen - gehören wesentlich zur Inszenierung des Anfangs, wie Karl


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May ihn liebt. Eine ähnliche Kommentierung nimmt beispielsweise auch der Protagonist im Roman >Die Sklavenkarawane<, Emil Schwarz, vor - ein deutscher Forscher, wie er im Buche steht. Sein Kontrahent, der arabische Scheich, geht davon aus, daß Schwarz ein Fremder sei und daher hilf- und orientierungslos. Dieser hält ihm entgegen: »Du bist der Ueberzeugung, daß ich die Verhältnisse des Landes nicht kenne ... (aber) in meiner Heimat gibt es Bücher und Bilder über alle Länder und Völker der Welt. Durch diese lernt man die Völker zuweilen besser kennen als diejenigen, welche zu ihnen gehören.«(15)

IV

Der Blick auf den Anfang eines anderen Romantextes aus Karl Mays Werk zeigt dann noch eine Reihe weiterer charakteristischer Merkmale: Ich meine den Beginn des von Ernst Bloch wegen seiner Exposition gerühmten Bandes >Am Rio de la Plata<. Der Ich-Erzähler ist ein deutscher Reisender, der sich zum erstenmal in Argentinien und Uruguay aufhält. Er hat, wenn der Roman einsetzt, die Grenze, die zwischen der Heimat und der Fremde liegt, bereits überschritten und betritt nun die Hauptstadt Uruguays, Montevideo. Er sucht den Weg in die fremde Welt, indem er im Hotelzimmer ein Buch über das unbekannte Land liest; ein Buch, das Spanisch geschrieben und von einem Franzosen verfaßt ist. So leistet er gleich zu Beginn Übersetzungsarbeit als Orientierungsarbeit.

Seine Position auf der Übergangsstelle zwischen den Welten ist dadurch charakterisiert, daß er, wie Karl May zu Beginn von >Winnetou I<, sich als unerfahrenen Menschen (Rio de la Plata 5) präsentiert: als Greenhorn(16) also - freilich im Sinne der für Mays Welt so charakteristischen Doppelung von Neuling und durch Bücher vollständig Informiertem, dessen Aufgabe es ist, die ihm erstmals begegnende Wirklichkeit durch Wissen zu kommentieren und mit Gewußtem zu vergleichen, durch richtiges Handeln zu erschließen, Lektüre von Spuren im Vergleich mit der Lektüre von Büchern in Weltbewältigung umzusetzen. Wesentlich hierfür ist, daß der Held perfekt zu dolmetschen versteht, den Lenguage Española (wie Karl May - freilich grammatikalisch selbst nicht ganz einwandfrei - bemerkt, Rio de la Plata 12) vollkommen beherrscht.

Zum Motor der Handlung wird nun im Roman eine Verwechslung des Ich-Erzählers mit einer politisch bedeutenden Persönlichkeit des Landes, dem Oberst Latorre - eine Verwechslung, die nicht zuletzt


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wegen des Helden vollkommener Sprachbeherrschung allererst möglich wird. Mit anderen Worten: ein Übersetzungsfehler, der den Einheimischen unterläuft und vom Erzähler allmählich im Lauf der Ereignisse korrigiert, ins Rechte gedacht wird. Dies geschieht durch eine Reihe von Entzifferungs-, Dechiffrierungs- und Transponierungsaktionen, die die Handlung des ganzen Romans durchsetzen und interpungieren. Ich hebe nur einige hervor. Da findet der Austausch von Visitenkärtchen, die die Namen der Protagonisten tragen, statt; da ist es der Held, der allein die musikalische Bildung besitzt, um die richtigen Orgelregister zu ziehen; das schlechte Spiel des Organisten wird durch sein Eingreifen korrigiert, und erst dann erklingt vollendete Musik - ein hochmetaphorischer Vorgang, der sich als zugleich dichtungs- wie handlungsleitend erweist. Da ist schließlich die entscheidende Wendung des Geschehens, als der Ich-Erzähler von dem Yerbatero ausgerechnet als Übersetzer engagiert wird. Ihm soll die Aufgabe zufallen, jene Quipus zu entziffern, die zum versenkten Schatz der Inkas, dem Handlungsziel des ganzen Romanwerks, führen. Quipu wird die geknüpfte Schnurschrift der Inkas genannt, die im Roman, mit Hilfe lateinischer Buchstaben, von einem Mönch bereits umgeschrieben wurde, und zwar - wie Karl May sachkundig hinzufügt - in die sogenannte >Ketschua<-Sprache, und die nun, in ständigem Vergleich mit der realen Wegspur, die durch die Landschaft und zu dem verborgenen Schatz führt, vom Ich-Erzähler dechiffriert werden soll.

Neben dieses Sprachhandeln - als angemessenes Übersetzen der geschehensleitenden Zeichen - tritt nun aber noch das lebensweltliche Handeln im eigentlichen Sinne-, auch dieses kennt Transponierungsakte, die - richtig ausgeführt - Beglaubigungskraft und Bewahrheitungswert erlangen. Es sind die wohlbekannten Geschicklichkeitsproben, die der Ich-Erzähler immer wieder abzulegen hat, um seine Kompetenz in der Lektüre und Beherrschbarkeit der Lebenswelt unter Beweis zu stellen.

Auch hier ist eine ganze Reihe von Beispielen hervorzuheben: das Beherrschen der Kleiderordnung zum Beispiel, die Benutzung des richtigen, gegen Dornen, Pfeile und Gift schützenden Lederwamses, das Vermögen des Zureitens eines ungezähmten Pferdes sodann, die richtige Ausführung des Lassowurfs, die Ableistung der berühmten Schwimmproben, die schon für den Winnetou-Konflikt so entscheidende Bedeutung gewonnen hatten, und die Beschleichungsproben, die vor Bruder Jaguar abgelegt werden. Zuletzt aber die alles entscheidenden Namensproben, jenes Sprechhandeln im ursprünglichen Sinne des Wortes, die Nennung des Namens, die in kritischen Augenblicken


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epatante Wirkungen zeitigt: Bruder Jaguar! - Old Surehand! - Old Shatterhand! All diese Bewährungsproben werden zuletzt natürlich in den höchsten, das ganze dargestellte Geschehen regierenden Vorgang überführt, nämlich den des Verfassens von Dichtung: Nicht zu Unrecht hält ja eine Dame den Ich-Erzähler für einen deutschen Poeta (Rio de la Plata 153).

Vielleicht verdeutlicht tatsächlich keine andere Exposition so klar wie diejenige des >Rio de la Plata<-Bandes das Grundprinzip der Mayschen Romankonzeption, deren Auslöser allemal ein Bewahrheitungsspiel ist. Es sind zu Beginn der Intrige drei Aussagen, drei Erfahrungen des Helden, die dieses Spiel in Gang bringen. »Ich bin ein Deutscher und lege auch im Auslande meine Nationalität nicht ab«, sagt der Held der Geschichte. »Mich interessieren die allgemein geographischen und ethnographischen Verhältnisse eines Landes. Auf andere Betrachtungen lasse ich mich niemals ein« (Rio de la Plata 156f.), fügt er hinzu. Und das Dritte, Mitentscheidende, bleibt, daß er, der Fremde, mit Latorre verwechselt wird und gleichzeitig zum Joker im Realisierungsspiel der fremden Lebenswelt werden soll. Das heißt aber, daß das Ich der Romane Karl Mays sich selbst treu zu bleiben vermag; es verdankt seine Identität dem Bildungsgang eines Deutschen, seinem lexikalischen Wissen, seiner poetischen Bildung und seiner Kenntnis fremder Sprachen. Es heißt ferner, daß dieses Ich durch seine vollkommene Beherrschung der Landessprache sich in der Fremde auch zu behaupten weiß; es besitzt die Fähigkeit, zu kommentieren und zu übersetzen und daraus vergleichend Handlungsregeln abzuleiten. Es heißt aber zuletzt, daß sich dieses Ich auch durch einen Übersetzungsfehler der ihm feindlichen Fremden nicht dazu verleiten läßt, das Double dieses Fremden zu spielen und sich so wehrlos den Spielregeln der unbekannten Welt zu unterwerfen.

Man könnte auch sagen: Der Anfang der Mayschen Romane ist dergestalt angelegt, daß er ein Bewahrheitungsspiel in Gang bringt, das im Zeichen fortgesetzter Übersetzungsvorgänge als einer Erkenntnisstruktur steht, deren Ziel die Aneignung des Fremden und die Fremdmachung des Eigenen zugleich ist: Formen vergleichenden Verstehens also, und zwar im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Diese Grundformel bildet den Keim des Anfangs, und sie wirkt noch bis in die Schlußphase des Geschehens hinein. So steht am Anfang des Bandes >Am Rio de la Plata< das Übersetzen eines ethnographischen Buches, am Ende des Fortsetzungsbandes >In den Cordilleren< aber der Versuch der Übersetzung der Quipu-Schnüre in ein handlungsleitendes und handlungslösendes Prinzip, ein Versuch, der freilich zuletzt im Sinne eines »höheren Leitenden«, wie Goethe sagen würde, mißlingt.


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Aufs Ganze gesehen läßt sich also behaupten, daß es in Karl Mays Romanen einerseits um das Übersetzen von Sprachzeichen aus einem Idiom in das andere geht, und zwar mit dem Ziel der Wahrnehmung der Ordnungen in der fremden Lebenswelt, der Entzifferung der Spuren, die in ihr gelegt sind; daß es in diesem Geschehen des Romans aber andererseits gerade auf das Versetzen der Figuren in die fremde Handlungs- und Lebenswelt ankommt. Protagonist dieser Vorgänge ist der Einwanderer, der als Forscher oder Grenzüberschreiter in Erscheinung tritt. Es ist der Held im Spannungsfeld von Eigenem und Fremdem, der seine Doublierung durch die fremde Lebenswelt zurückweist und durch seine Geschicklichkeit im Übersetzen seiner selbst in diese Welt gekennzeichnet ist, durch jene Eignungsproben nämlich, die in immer erneuertem Einsatz Bezeugungen seiner Bewältigungstechniken sind: das Beschleichen, das Lasso- und Bolawerfen, das Zureiten des Mustangs; Techniken, die er - zum Beispiel aus der Welt der nordamerikanischen Prärie oder derjenigen des Orients - in das Milieu der südamerikanischen Pampas versetzt und diese damit, gleichsam durch Einsatz der Geschicklichkeit seines Körpers, sich gefügig macht, sie dechiffriert. Aber es geht schließlich noch um ein Drittes: Übersetzungsakte des Autors Karl May sind nämlich zugleich Strategien, mit deren Hilfe er seine eigenen Schreibakte fortwährend kommentiert und transponiert, indem er sie an anderen Texten zu messen versucht: an den zu Rate gezogenen Reisebeschreibungen, Sprachbüchern und wissenschaftlichen Abhandlungen, also jenen Referenztexten, die zum Bildungsrepertoire des europäischen Bürgertums zählen. Dieser Vorgang ist, wie etwa die beeindruckenden Quellenuntersuchungen von Bernhard Kosciuszko und Ekkehard Koch zum >Rio de la Plata<-Band gezeigt haben,(17) vorwiegend am Anfang der Romane Karl Mays zu beobachten. Hier inszeniert er mit besonderer Sorgfalt das Doppelspiel von Ereignis und Kommentar, von Fremdsprache und Übertragung ins Deutsche, und zwar auf dem intertextuellen Hintergrund von Reiseberichten, geographischen und linguistischen Werken und anderen Quellenschriften, die ihm zur Verfügung standen. Was also auf der Ebene des im Text handelnden Helden als Verdopplung des Sprechaktes in Muttersprache und Fremdsprache, als Verdopplung des Handelns in Ereignis und Kommentar erscheint, wiederholt sich auf der Ebene des schreibenden Autors - der Instanz des Diskurses - als Verdopplung in fremdsprachlichen und deutschen Text, als Verdopplung aber auch in poetische Darstellung und wissenschaftliche Beglaubigung, in mimetischen und expositorischen Sprachduktus, in geschildertes Ereignis und vergleichenden Kommentar.


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V

Ein dritter Blick auf die Erzählanfänge Karl Mays muß den sogenannten >Orient<-Romanen gelten, zu denen wohl auch die in Nordafrika spielenden Geschichten gezählt werden können. Hier verdient der Band >Orangen und Datteln< besondere Beachtung, obwohl er im strengen Sinne nur eine Sammlung von Erzählungen, nicht aber einen zusammenhängenden Roman bietet. Aber gerade diese Zusammenstellung ist ja exemplarisch für die Maysche Erzählstruktur, die aus dem Episodenprinzip der Fortsetzungsromane hervorgegangen ist. >Orangen und Datteln< bildet eine Sequenz von Erzählungen, von relativ in sich abgeschlossenen Erzähleinheiten, die durch den e i n e n Protagonisten und das Prinzip immer sich erneuernder Anfänge miteinander verkettet sind. Ich möchte mich bei meinen Überlegungen auf die Geschichte >Die Gum<(18) beschränken. Diese Erzählung macht sich ein Prinzip zu eigen, das - als Anfangsgestus - viele Werke Karl Mays sich zunutze machen; denn >Die Gum< praktiziert schon mit ihrem Titel das Verdopplungsprinzip von fremdsprachigem Stichwort und Kommentar. Die Überschrift >Die Gum<, die den Text einleitet, ist dem Durchschnittsleser unverständlich und muß >erläutert<, ins Deutsche übersetzt werden. Damit wird bereits der Titel zu einer operativen Form des Anfangs, konzipiert nach dem Strukturprinzip von Lemma und lexikalischem Kommentar, dessen Erklärungsversprechen oft erst durch Lektüre der ganzen Erzählung definitiv eingelöst wird. Erst sehr spät erfährt man, daß >Gum< eine Raubkarawane ist, im Gegensatz zu Handels- oder Pilgerkarawanen oder gar der >Ghasuah<, einer >Sklavenkarawane<.

Dieses schon im Titel realisierte Strukturprinzip von Stichwort und Kommentar überträgt Karl May dann auch auf die vier Untertitel der Erzählung, die durch vier Modifikationen des Begriffs >-wür-ger< und dessen Widerpart >Bei< eine vierfach geflochtene Kette von Rätselwörtern und deren sukzessiver Auflösung bilden: Djezzar-Bei, der >Menschenwürger< - Assad-Bei, der >Herdenwürger< - Hedjahn-Bei, der >Karawanenwürger< - Behluwan-Bei, der >Räuberwürger<. Dieses Verfahren von Verrätselung und Dechiffrierung wiederholt sich mit den vier Kapitelanfängen der Erzählung; sie lauten Afrika! - Die Steppe! - Die Wüste! - Die Spiegelung! Dem jeweils mit Ausrufungszeichen versehenen suggestiven Stichwort folgt eine durch Wissensverweise und gelehrte Deskription fundierte Erläuterung.

Dieser durch die Titulatur exponierten >Ent-wicklung< des Anfangs - oder besser: des Geschehens aus dem Anfang - möchte ich noch etwas


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genauer nachgehen. Dem Keimwort >Afrika< im ersten Kapitel folgt ein Kommentar, der gleichsam das große ... ungelöste Rätsel (Gum 6) des Fremden und Exotischen eines anderen Kontinents ins >vertraute< Idiom der Welterfahrung des >Deutschen<, der der Held und sein Autor zugleich ist, zu übersetzen sucht. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Sprachkenntnis, das Verfügen über die arabischen Dialekte. Sie wiederum entstammt der >Weltläufigkeit< des Helden im wahrsten Sinne dieses Wortes. Der Ich-Erzähler hat nämlich mit Sir Emery Bothwell, einem englischen Globetrotter und Freund, in der amerikanischen Prärie gejagt und dort während der langen Ritte Arabisch gelernt. Nun beherrscht er es vollkommen und erwartet Bothwell, mit dem er sich in Afrika verabredet hat.

Diese Form der Weltbewältigung, die Kara Ben Nemsi, der erzählte Held, durch die arabische Sprache erlangt hat, macht Karl May, der schreibende Autor, seinerseits zum Strukturprinzip seiner epischen Darstellung, einem planvollen Alternieren von deutschem Text und dessen Rückübersetzung ins Arabische. Dadurch wird das Handlungsprinzip i m Text zugleich zum Darstellungsprinzip d e s Textes selbst, und zwar durch die Überlagerung und Durchmischung zweier Sprachschichten im Prozeß der Schrift: des Arabischen und des Deutschen.

Beispiele für jede dieser beiden Möglichkeiten, der mimetischen wie der poetologischen >Übersetzung<, sind rasch gefunden. So gestaltet sich das Prinzip der Setzung und Übersetzung im erzählten Text - als einer mimetischen Wiedergabe des Geschehens - auf folgende Weise. Nach der Tötung des Löwen durch Kara Ben Nemsi erheben die Araber ein großes Rachegeschrei: »Hamdulillah, Allah akbar, Preis sei Gott, der Herr ist groß . .. Hasa nessieb, das hat Gott geschickt,- der Kelb, der Hund ... ist tot ... El Thibb, der Schakal, und el Tabäa, die Hyäne, werden ihn fressen; el Büdj, der gewaltige Bartgeier, mag ihm das feige Herz zerhacken, und el Rhassahl, die Gazelle, mag ihn und seine Väter beschimpfen ... « usw. (Gum 64f.)

Dem gegenüber steht ein Beispiel für kommentierende Verdopplung im Erzählvorgang des Textes, den die Autorinstanz >Karl May< selbst verantwortet. Es wird die Episode geschildert, in der der moslemische Diener des Helden von dessen mitgeführtem Konservierungsspiritus trinkt und sich zur Rechtfertigung, da Alkohol ihm als Rechtgläubigem nicht erlaubt ist, linguistisch aus der Schlinge zu ziehen versucht: Er habe Ma-el-Zat - Wasser der Vorsehung, wie der Erzähler übersetzt - getrunken und keinen Wein. Dies kommentiert die Erzählerinstanz mit den Worten: Die Moslemin, welche sich im stillen dem Genusse des Weines und der Spirituosen hingeben, benennen dieselben


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mit den verschiedensten Namen, um ihr Gewissen zu beruhigen. Nach ihrer Logik ist der Wein nicht Wein, wenn er anders heißt. (Gum 88)

Dies ist nicht weniger als eine Meta-Theorie in nuce von Karl Mays strukturbildendem Übersetzungsmodell selbst: eine Theorie der Wirklichkeit und ihrer Konstruktion - nach ihrer Logik - durch Korrespondenz zwischen Sprache und Ereignis.

Parallel zu solchem sprechenden Dolmetschen - als einer Grundform der Meisterung der Lebenswelt - läuft ein Übersetzungsprinzip handelnder Weltbewältigung. Wenn zum Beispiel der Ich-Erzähler einen unbotmäßigen Tuareg mit einem Fausthieb niederstreckt, so heißt es gleichsam >übersetzend<: Es war dies ganz derselbe Jagdhieb, wegen dessen man mich in der Prairie Old Shatterhand genannt hatte. (Gum 28)

Im zweiten Kapitel der Erzählung >Die Gum< wiederholt sich die Anfangsinszenierung des ersten. Auf das Stichwort Die Steppe folgt eine doppelt kommentierende Übersetzung, diesmal freilich in zwei ganz andere Ordnungskonzepte hinüberführend als im ersten Kapitel: nämlich in das poetische und das geographische. Und zwar durch Zitierung eines Freiligrath-Gedichts - >Die Steppe<(19) - einerseits und durch Überführung des gesetzten Begriffs in einen geographischen Kommentar andererseits. Dieses Spiel der Transmissionen setzt sich fort, wenn der Erzähler die Fahrt in der Steppenpost mit der Talfahrt eines italienischen Vetturino von den Alpen herab vergleicht. Auch die beiden Diener, der Araber Hassan und der Deutsche Korndörfer, bequemen sich diesem Prinzip fortgesetzter Transponierung an; sie übersetzen die Erfahrung der Schrecken der Kutschfahrt in ihr jeweiliges Idiom. Dies wiederholt sich, wenn sie ihre Vor- und Nachnamen - sie besitzen den gleichen Vornamen Jussuf/Joseph - wechselweise in ihre Sprache übertragen.

Vollends parodistisch wird dieses Verfahren dann in Mays Texten mit dem Auftreten des >Sprachgenies< Frick Turnerstick, der, als der Übersetzungskünstler par excellence, die Endungsregel für das Chinesische erfunden hat - und zwar durch Anhängen von -ing und -ung an deutsche Wörter - und sich wundert, trotz dieser Kompetenz (die ja ganz und gar dem Mayschen Mimesis-Konzept entspricht) nicht verstanden zu werden. »Ich spreche überhaupt alle Sprachen, wie Ihr von früherher wißt« (Rio de la Plata 401), sagt er im Band >Am Rio de la Plata< zu seinem ehemaligen Gefährten Old Shatterhand. Durch Konfrontation des wahren Sprachkünstlers Kara Ben Nemsi - Karl May selbst behauptete, über vierzig Sprachen zu beherrschen - mit Kauderwelschlern wie Turnerstick oder Krüger-Bei wird das Prinzip der Über-


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setzung als Kernritual des Erkennens und Ordnens gleichsam konfigurativ beglaubigt und universalisiert.

Auch das dritte Kapitel der Erzählung >Die Gum< setzt mit der gleichen Doppelstruktur von Keimwort - Die Wüste! - und kommentierender Umsetzung ein, die hier durch einen zweiten Gedichttext Freiligraths(20) - >Der Löwenritt< - erfolgt. Und sie wird noch einmal im vierten Kapitel in Anwendung gebracht, das den Titel Die Spiegelung (es ist eine Fata Morgana gemeint) trägt und in dem Kara Ben Nemsi und Emery Bothwell zuletzt zusammentreffen. Auch diese Begegnung steht noch im Zeichen der Übersetzung, gleichsam als einer interkulturellen Transplantation. Sie erkennen einander nämlich am Waldruf Hallo-i-oh (Gum 126), den sie, wie es heißt, in Forst und Prärie Nordamerikas zu wechseln pflegten.

Vielleicht gibt es keine Erzählung Karl Mays, die schlüssiger nach dem Prinzip übersetzender Verdopplung konstruiert ist als die >Gum<: Denn im Grunde wird ja der Erzähltext in einem differenziert abgestuften Prozeß als ganzer einer solchen >Transponierung< unterworfen: in einer ersten Umsetzungssequenz aus dem Titelwort, in einer zweiten aus den vier Zwischentiteln, in einer dritten schließlich aus den vier Keimwörtern der Kapitelanfänge. Dieser Vorgang erklärender Textentfaltung geht von der für Karl Mays Welterfahrung zentralen Vorstellung der in die Wüste gelegten Spuren aus, einer alternierenden Abfolge von Wegen, Begegnungen und Erkennungsaktionen. Es sind Spuren von verschiedenen Karawanen - Raub-, Sklaven-, Handels- und Pilgerkarawanen -, die den Sand der Wadis durchziehen und ihrer Entzifferung harren: ein für Karl Mays Weltbild geradezu exemplarisches Realitätsmuster. Die Lektüre dieser Spuren, aufgefaßt als ein Übersetzen von Zeichen aus einem fremden in das vertraute Idiom, hat zwar handlungsstiftenden Charakter, sie geht aber zugleich weit darüber hinaus. Sie besitzt theoretische, ja geradezu semiotische Dignität. Alle Ereignisse, alle handlungsleitenden Impulse erscheinen wie imprägniert von Zeichen und deren wechselndem Verknüpfungsspiel. Besonders deutlich wird dies an dem Gegeneinander von fremden und eigenen >Erkennungsmarken<, dem Widerspiel zweier konkurrierender Codes gewissermaßen, aus denen Handlungswirklichkeit allererst erwächst. Der Ich-Erzähler erhält von einem der beiden >Gum<-Anführer - zum Dank für dessen Errettung vor dem sicheren Tode - ein Erkennungszeichen, das ihm künftig Schutz gewähren soll: die Anaïa (Gum 70), ein Zeichen, dessen arabischer Name, wie der Erzähler sofort hinzufügt, selbst wiederum Zeichen bedeutet. So beginnt das Übersetzungsspiel des Textes wie der von ihm erzählten Handlung also


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auch hier mit dem fremden Wort, dem Stichwort - als Sesam-öffne-dich - und seiner sukzessiven Erläuterung durch Übertragung. Mit Hilfe dieser Anaïa gelingt dem Spuren lesenden Helden zuletzt die Auffindung und Unschädlichmachung der verbrecherischen Karawane, indem er gleichsam die trügerische durch eine authentische Lektüre ersetzt. Demgegenüber entwickelt sich aber dann noch ein zweiter Vorgang der Zeichensetzung. Die von der Raubkarawane als Lösegeld erpreßten Ausrüstungsgegenstände und Waffen werden von ihrem Besitzer Latréaumont vor ihrer Auslieferung an die Erpresser mit Erkennungszeichen markiert; diese Zeichen entdeckt der Ich-Erzähler auf den Gegenständen bei der Raubkarawane wieder und vermag aufgrund dessen sein Entlarvungsspiel zu vollenden. Er folgt also einem doppelten Fährtengeflecht von >befreundeten< und >feindlichen< Zeichen, und zwar, indem er sie übersetzt und kommentiert und damit das bedrohliche Geheimnis der >Gum< schließlich entziffert, das ja in einem weiteren Verdopplungsspiel - der Doublierung des Führers und der dadurch erzielten irreführenden Qualität jener das Geschehen regierender Zeichen - gründet. Der Held wird zum Herrn der Handlung, indem er sich zum Herrn der Zeichen macht. Indem er - auch erzähltechnisch gesehen - den dunklen Namen >Gum< in den verständlichen der >Raubkarawane< zu übersetzen vermag, macht er diese zuletzt unschädlich.

Die drei Beispiele, die ich angeführt habe, verdeutlichen zur Genüge, in welcher Weise Karl Mays Prinzip der Inszenierung von Anfängen aus einem charakteristischen Sprachgestus, dem Prinzip der Verdopplung des Sprechaktes in die Artikulation von Ereignis und Kommentar, von Handlung und Meta-Sprache erwächst. Man könnte dies geradezu ein poetologisches Programm nennen: Karl May reizt seine Erzählanfänge aus einem Keim- oder Suggestivwort heraus, einem Fremdwort nicht selten, das eine Herausforderung an den Leser zur Entzifferung darstellt: sei es ein Titel wie >Die Gum<, sei es ein Einwortsatz wie Afrika!, sei es der Sprung mitten in die Sequenz eines arabischen Dialogs, der umstandslos in die Erzählung hineinführt, >medias in res< gewissermaßen - ein Satz, der sich alsbald seinerseits in der Übersetzung verdoppelt, wie dies etwa in der Erzählung >Christi Blut und Gerechtigkeit< geschieht, und damit das weitere Spiel der Erzählung aus sich entläßt:

»Chodeh t'avezschkeht; aaleïk sallam, u rahhmeht Allah - Gott bewahre dich; der Friede und die Barmherzigkeit des Herrn sei mit dir!« Scheich Melef, zu dem ich diese Abschiedsworte sprach, reichte mir die Hand von seinem Schimmel herüber. Der dünne Bart zuckte um seine


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schmalen Lippen, und die Haut seiner Augenwinkel legte sich in die kleinen Fältchen, die mir so wenig gefallen hatten. »Az kolahme tah; bu kalmehta ta siuh taksihr nakehm; atina ta, Ansziallah, kheïra - Ich bin dein Diener; ich spare nichts, um dir zu dienen; gebe Gott, daß dein Besuch ein glücklicher sei!« antwortete er. Dabei drückte er mir sehr freundschaftlich die Hand, und ein Seitenblick sagte seiner Begleitung, daß auch sie sich jetzt zu verabschieden hätte. »Chodeh scogoletah rast init -Gott stehe dir in deinem Vorhaben bei. Chodeh ezsch tah razschibiht -Gott sei zufrieden mit dir. Chodeh da-uleta ta mazen bekeht - Gott vermehre deinen Reichtum. Sallam aaleïk, jahrimen ahziz - Friede sei mir dir, mein teurer Freund!«(21)

Dieser Text ist in mehrfacher Hinsicht beispielhaft für Karl Mays Anfänge. Sie sind gekennzeichnet durch die Verdopplung des Sprachgestus, durch die Übersetzung des initialen Worts aus einer Sprache in eine andere, durch Übertragungsvorgänge aus einem kulturellen Ordnungsraster in einen anderen. Diesem Darstellungsgestus der Sprachverdopplung korreliert sind Leseakte, die der Erlernung des Verstehens von Welt dienen; Dechiffrieren wird hier als ein Übersetzen der Strukturen der Lebenswelt in Ordnungskonzepte verstanden, sinnfällig gemacht etwa im Entdecken des Geheimnisses der Sprachschnüre der Inka im Band >Am Rio de la Plata< oder der >Raubkarawanen<-Spuren im Wüstensand in der Erzählung >Der Krumir<: »Emir, ich habe viel von dir vernommen. Du fürchtest dich vor einer ganzen Schar von Feinden nicht, du hast den Sihdi es Saffiali getötet und Abu 'l Afrid überwunden; du kannst die Darb und Ethar lesen, wie ein Taleb (Gelehrter) im Buche liest. «(22)

Das Personal der Romane Mays insgesamt, namentlich aber die Hauptfiguren, sind in der Regel als Wechsler zwischen den Welten an Grenzübergängen postiert; sie partizipieren fast immer an zwei Bereichen-, sie sind >Shifter< zwischen zwei einander fremden Welten. So ist es nicht zuletzt ihre Position im Geschehensraum, die die handlungstragenden Figuren zugleich zu Übersetzungsträgern macht.

Das Verhalten dieser Personen, ihr Handeln und Agieren, ist weitgehend von Transponierungsakten verschiedenster Art bestimmt: namentlich aber von die Kulturgrenzen überspringenden Orientierungsakten wie den Geschicklichkeitsritualen, die man geradezu als Übersetzungen des Umgangs mit der fremden Realität in ein eigenes Idiom der Bewältigung verstehen könnte, als handelnde Kommentierung einer zu erobernden Lebenswelt.

Nun ist es zwar richtig, daß das beschriebene Verdopplungs- und Kommentierungsprinzip primär für Karl Mays Romananfänge Gel-


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tung beansprucht, aber entsprechend der besonderen Serienstruktur, die die Praxis seines Romanschreibens bestimmt, findet es sich analog auch bei zahlreichen Kapitelanfängen sowie bei in sich geschlossenen Erzählungen dieses Autors.

VI

Im Werk Karl Mays gibt es einen Romananfang, der darum besondere Beachtung verdient, weil er das beschriebene Exordial-Prinzip nicht nur seinerseits virtuos in Szene setzt, sondern zugleich auch metapoetisch und handlungslogisch transzendiert: also im Hinblick auf das Prinzip der poetischen Gestaltung einerseits, der Wahrnehmung und Erkennung von Welt andererseits. Poesie und Erkenntnis sind ja für Karl May nach der von ihm beanspruchten Leitformel der Personalunion von Held und Erzähler ein und dasselbe. Im Erzählmodus des berühmten Anfangs der >Winnetou<-Tetralogie wird dies unmittelbar sinnfällig. Bekanntlich setzt Karl May dort - und dies ist durchaus eine Besonderheit in seinen Texten - vor den Beginn des ersten Kapitels noch eine Einleitung. Sie beginnt - wie sollte es anders sein - mit einer Übersetzung: Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein ... (Winnetou 11) Dieser unvergeßliche Satz inszeniert Übersetzung als ein Umspringen des Wahrgenommenen in ein Gewußtes, der erzählenden Setzung in eine Metapher. Die explizierende Einleitungspassage steht also im Zeichen eines Kulturvergleichs - wobei Karl May, der Autor, aber sogleich hinzufügt, es sei keineswegs seine Absicht, eine ... gelehrte Abhandlung zu schreiben (Winnetou 12). Immerhin aber: Für die in Anschlag gebrachte Methode vergleichender Betrachtung - der Metapher als Erkenntnisprinzip - werden in der kurzen Vorrede sogleich zwei wissenschaftliche Argumente ins Feld geführt.

Da ist zunächst das ethnologische Interesse, das am Anfang beinahe aller Romane Karl Mays steht und auch hier in Anspruch genommen wird: Welch eigenartige Kulturformen - schreibt Karl May und insistiert damit auf dem Prinzip der Übersetzung als Medium der Fremdwahrnehmung - werden der Menschheit durch den Untergang dieser Nation verloren gehen (Winnetou 15). Es ist ein gründerzeitliches - man könnte auch sagen: ein spät-aufklärerisches - Interesse. Es stellt sich quer zu jenem Kulturpessimismus, der, in Nietzsches Schriften gipfelnd, nicht symmetrische Übersetzung, sondern fortgesetzte Verschiebung von Sprachzeichen zum Artikulationsprinzip der Moderne erklärt: ein dicht geknüpftes Netz von Gleichnissen ohne Wahrheitsgrund, ein


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»Heer von Metaphern« ohne mimetische Autorität.(23) Von der Wahrnehmungskrise der Jahrhundertwende und ihren Erkenntnisaporien, die sich in den Texten eines Hofmannsthal oder Maeterlinck artikulieren, bleiben Karl Mays Romane unberührt.

Für Karl May besitzt der Kulturvergleich keinen Fluchtcharakter, wie dies im Exotismus-Boom der Jahrhundertwende die Regel ist. Er gewinnt vielmehr erkenntnisbegründende Kraft. Und so kommt denn auch, in der Einleitung zu >Winnetou I, als zweites die Absicht zutage, mit allen Mitteln des Wissens und der Übersetzung dieser untergehenden Kultur Nordamerikas ein Denkmal zu setzen. Indianer selbst, so heißt es, ließ(en) sich nicht assimilieren (Winnetou 15); diese kulturerhaltende Aufgabe, als eine Erkenntnisarbeit, nimmt der deutsche Autor auf sich.

Was die Einleitung des >Winnetou<-Romans metapoetisch expliziert, nämlich das Erkenntnisinteresse am Fremden, das durch Übersetzung - durch Wahrnehmung und Kommentierung - erfahrbar gemacht wird, also die Verwandlung einer lebensweltlichen, ethnischen Realität in ein Denkmal bewahrender Menschheits-Erinnerung, setzt der eigentliche Beginn des Romans, das erste Kapitel, dann auch fiktiv in Szene.(24) Auch hier bringt schon der Titel die Dialektik von Stichwort (als Fremdwort) und Kommentar zur Geltung. Aus ihm wird das Geschehen des Romans herausgetrieben: Lieber Leser, weißt du, was das Wort Greenhorn bedeutet? (Winnetou 17) Auf diese Frage, dieses aufzulösende Rätselwort, folgt nun jene lange, von Generationen von Lesern beinahe auswendig gewußte Litanei von Übersetzungen und kommentierenden Transpositionen, die schließlich doch wieder in eine - komisch verzweifelte - Tautologie mündet, die Unmöglichkeit der Übersetzung bezeugend: Ein Greenhorn ist eben ein Greenhorn - - - und ein solches Greenhorn war damals auch ich. (Winnetou 18)

Auch hier hat die Person des Grenzgängers zwischen zwei Kulturen etwas von einer Scheidemünze zwischen den Währungen angenommen, etwas von einem Joker im Verstehensspiel - der Held (und Autor) des Romans ist gleichsam der Einsatz im Spiel der Wahrheit, das, gut aufklärerisch, zwischen den beiden Welten der Heimat und der Fremde gespielt wird. Eben dadurch gerät der Protagonist in Zugzwänge der Bewahrheitung, die zwischen Wissen und Handeln ihren Ort haben: den Büchern, die man im Kopf hat, und der Nase, die man ins Leben steckt, wie der Büchsenmacher Henry bemerkt. »Schießen ist nämlich schwerer als ... Ziegelsteine von Nebukadnezar lesen« (Winnetou 112), heißt es da.

Es geht also um Aufklärung, um ein Bildungsideal und um die Mittel


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des Erkennens des Fremden; eine Aufklärung, die aus enzyklopädischem Wissen erwächst und auf der Fähigkeit zu Übersetzungsakten beruht. Dieser Befund, daß in Karl Mays Romanen Aufklärung, Bildung, Ich- und Welterfahrung zur Disposition stehen, hat den Versuch nahegelegt, >Winnetou< in die Geschichte des deutschen Bildungsromans zu stellen. Wirft man einen Blick auf die Anfänge einiger dieser Romane, so offenbaren sich sehr verschiedene Grundmodelle, wie der Anfang des Menschen, der Anfang der Geschichte, der Anfang der Bildung und vor allem der Beginn des Erzählens in einer bürgerlichen Welt gedacht werden können. Goethes >Wilhelm Meister< zeigt am Anfang das dem Kind geschenkte Puppentheater, die festliche Situation des Weihnachtsabends, aus der die Idee des Theaters als Dispositiv des künftigen Lebensspiels des Protagonisten hervorgeht. Novalis läßt seinen >Ofterdingen< mit einem Verschmelzungstraum beginnen, den Sohn und Vater einander entgegenträumen, Erotisches, Bildungsgeschichtliches und Poetisches auf wunderbare Weise miteinander vermittelnd. Mörikes >Maler Nolten< setzt zwei Gemälde, zwei Bildformeln an den Beginn des Geschehens, die Handlungs- und Kommunikationsmuster des Romans imaginär antizipieren. Stifters >Nachsommer< entwickelt eine positive Genealogie, die Sohn, Vater und Ziehvater allmählich miteinander in Verbindung bringt und zu einer einzigen idealen Identitätsfigur verknüpft. Bei Gottfried Kellers >Grünem Heinrich< (in der frühen Fassung) ist in einem ersten Anfang (dem Blick auf den Zürichsee und seinen Quellfluß, den der Romanbeginn zeigt) Genealogie als Landschaft und Nation gedacht; in einem zweiten Anfang (dem Beginn der Jugendgeschichte) erscheint individuelle Genealogie gleich einem Schemen, das von vornherein zum Verlöschen bestimmt ist. Dieser (zweite) Anfang führt auf den Kirchhof mit den begrabenen Vorfahren, als sei es der fruchtbare Boden einer zu erwerbenden Zukunft; die bittere Ironie des Romans will es, daß der sterbende Held am Ende zu eben diesem Ort zurückkehrt. Bei Thomas Mann schließlich vergegenwärtigen die Anfänge seiner (parodistischen) Bildungsromane zuletzt nichts anderes mehr als die Selbstinszenierungen des Autors als Mythologe - in >Joseph und seine Brüder< - oder als Hochstapler - in den >Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull<.

In Nietzsches Gedankenwelt findet dieser Kulturpessimismus, der eine Bildung des Subjekts durch Erkennen der Welt sukzessive widerruft, seinen schärfsten Ausdruck. Auch Nietzsche entwickelt sein Erklärungsmodell kultureller Prozesse aus der Idee des Metaphorischen, der Übersetzung von Wahrnehmung in Sprache. Aber der Trieb zur Metaphernbildung, den auch er dem Menschen zubilligt, führt in


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seiner Deutung nicht mehr zu aufklärender Umsetzung des Wahrgenommenen in ein System der Erkenntnis, sondern zu einem nirgends begrenzten Meer von Metonymien ohne Wahrheitsfundament. >Wahrheit< degeneriert zu einer >Form der Tautologie<: »Die verschiedenen Sprachen, nebeneinandergestellt, zeigen, daß es bei den Worten nie auf Wahrheit, nie auf adäquaten Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen ( ... ) Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wird nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andre und neue.«(25)

Für Karl May scheint all dies - Kulturskepsis wie Zweifel an der Wahrheit und der Möglichkeit von Welterkenntnis - nicht zu gelten; bei ihm wird Übersetzung zum Prinzip der Erlangung von Wahrheit schlechthin. Seine Romananfänge sind von einer entschieden kulturoptimistischen Gebärde bestimmt, dem Glauben an die Entzifferbarkeit, die Übersetzbarkeit und die Erklärbarkeit der Welt. Dieser gründerzeitliche, man könnte auch sagen bildungsbürgerliche Glaube ist es, der sich im sprachlichen Gestus von gesetztem Stichwort und diesem folgender Explikation niederschlägt. Nur so kann ein Roman, der den Helden wie den Autor zu Bekennern der Wahrheit erklärt, beginnen. Es ist ein aufklärerischer Habitus, eine Formel, die Bildung aus dem Wahrnehmen des Fremden zu begreifen sucht, zur Vernunft gelangend aus dem Fundus kulturellen Wissens und aus der Fähigkeit zu universeller Übersetzung: ein souveränes Verfügen über das eigene und das fremde Register des Erkennens. Bildung erwächst für Karl May aus der (imaginierten) Souveränität, Fremdheit zu erfahren, und aus der dadurch gestifteten Beglaubigung der eigenen Identität; aus der Fähigkeit, dem Umspringen der Wahrnehmungsordnungen Erkenntnis und Weltbeherrschung zu entlocken. Die immer wiederkehrende Situation, in der Mays Helden sich zu ihrer Deutschheit bekennen, setzt diese Absicht deutlich ins Licht: als die Vermittlung des Fremden an das Eigene einerseits, und als die Anwendung des Eigenen auf das Fremde andererseits, in Übersetzungsakten immer von neuem erfahrbar, reflektierbar und realisierbar.

Man könnte sich nun fragen, ob diese Schlüsselfunktion des Übersetzungsaktes für das Bildungsprogramm in Karl Mays Romanen nicht ein grundlegendes Phänomen der deutschen Bildungsgeschichte überhaupt darstellt. In einer großangelegten Arbeit hat Rüdiger Scholz 1982 versucht, den >Faust<-Mythos in seiner Entwicklung zum Bildungsparadigma der Gründerjahre nachzuzeichnen, als unentwirrbare Verflechtung von Bildungskonzept und Glauben an den technischen


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Fortschritt.(26) Diese These von der Verdopplung von Mimesis und Wissen zum eigentlichen Gestus bürgerlicher Selbsterfahrung hat manches für sich. Faust erscheint danach als eine der wirkungsvollsten Schlüsselfiguren der Bildungsgeschichte, in deren Inbegriff Sprache als Wirklichkeitsorgan und technischer Fortschritt konvergieren, Übersetzung und wissenschaftliche Weltbewältigung ineinanderfließen. Faust, der den Anfang der Bibel »in sein geliebtes Deutsch« zu übersetzen beginnt, Faust, der im Akt des Übersetzens - einer vergleichenden, Ereignis und Kommentar zusammenführenden Erkenntnisstruktur - die Differenz, zugleich aber die Identität von >Wort< und >Tat< (seinen Alternativen bei der Übersetzung von >Logos< ins Deutsche) wahrnimmt und dieses Anfangsprinzip ihrer Vermittlung bis hin zu den Kolonisierungsunternehmungen des zweiten Teils der Tragödie und dem scheinbaren Triumph von Technologie und Kolonisation weiterführt; Faust ist es, der eine der Urszenen der deutschen Bildungsidee und der deutschen Bildungsgeschichte aufführt: die Anknüpfung menschlicher Selbstwerdung an die Doppelvorstellung von Übersetzen als Prozeß der Erkenntnis einerseits, Verklammerung des transponierenden Sprechaktes mit der Tat - als technischem Fortschritt - andererseits. Eben dieser Bildungsbegriff ist es, den Karl May aufgreift und in zahllosen Anfängen seiner Romane in immer neuen ethnologisch gefärbten Konstellationen und Konfigurationen erprobt: als einen Sprachgestus, der Erkenntnis aus der Differenz der Sprachen und ihrer Überbrückung ableitet; als einen Gestus, der zwischen Ereignis und Kommentar den Funken springen läßt; als einen Gestus des weiteren, der ein Geschehen aus sich entläßt, in dem der Held der Feder und der Held der Faust ein und derselbe zu sein scheinen; als einen Gestus schließlich, der zu einer Entzifferung der Spuren, einer Kunst des Lesens führt, die zwischen Lebenswelt und Bücherwelt nicht mehr unterscheidet. Wo war die Wahrheit zu suchen? In den aufgeschlagenen Büchern oder in der aufgeschlagenen Wirklichkeit? fragt Karl May in seinem Bekenntnisbuch >Mein Leben und Streben<; und er antwortet unumwunden und lakonisch: In beiden!(27)

Während der traditionelle Bildungsroman seinen Ausgang häufig von der kindlichen Sozialisation des Helden nimmt, läßt Karl May seine Romane vorzugsweise jenseits der Familie beginnen: mit Situationen der Ausreise, der Begegnung mit einer noch unbekannten Welt; mit dem Auswanderer zum Beispiel, dem Forscher, dem Abenteurer und deren Ankunft in der Fremde; mit jenem Augenblick also, in dem Aneignung der Welt als Erkundungs- und als Sprachakt einer sekundären Sozialisation erfahren wird, als Notwendigkeit orientierender


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Übersetzung aus einer fremden und in eine fremde Sprache zugleich. Genau genommen sind es bei Karl May drei verschiedene Typen von Figuren, in denen unterschiedliche Weisen solcher versuchten semiotischen Aneignung der Welt repräsentiert sind, Sprachbeherrschung und Weltbeherrschung in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden.

Zum ersten Typus gehören diejenigen, die in diesem die Lebenswelt erkundenden Spielen von Übersetzungen schlechterdings gar nichts verstehen. Sie treten ihrerseits in zwei verschiedenen Varianten auf: Im ersten Fall erscheint die Figur als weltfremder Dichter oder Gelehrter, als ein liebenswert in seiner Gedankenwelt Befangener. In diese Gruppe gehören alle Phantasten und versponnenen Poeten, die Karl Mays Szenarien bevölkern, alle Gelehrten, Wissenschaftler und Professoren, denen die Verknüpfung von Westmann-Existenz und Autorschaft (wie Old Shatterhand) nicht geglückt ist, bemitleidenswerte Figuren wie der Dichter William Ohlert in der Welt des >Winnetou<-Romans. Im zweiten Fall präsentiert sich die Figur des >Nichtverstehenden< als Aufschneider, hoffnungslos Selbstbefangener und Verblendeter, als Renommist, dessen Wahrnehmungsakte auf aggressive Weise ins Leere laufen, wie bei Hassan, dem arabischen Diener des Ich-Erzählers in der Geschichte >Die Gum<.

Der zweite Typus des >übersetzenden Helden< wird von denjenigen Gestalten in Karl Mays Romanen verkörpert, die mit dem fortgesetzt von ihren Lippen sprudelnden Kauderwelsch zwar eine komische Figur abgeben, aber sich dennoch in der fremden Welt zurechtzufinden wissen, wie das >Sprachgenie< Frick Turnerstick oder Krüger Bei, der zwar sein Deutsch gräßlich verstümmelt, aber dafür vorzüglich Arabisch spricht.

Der dritte Typus schließlich wird durch jene genialen Übersetzer repräsentiert, denen alle Idiome geläufig sind und die die Sprachen jeden Volkes, jeden Stammes, auf die sie bei ihrer Abenteuersuche stoßen, sogleich mit der Souveränität des Muttersprachlers beherrschen. In seiner vollkommensten Form ausgebildet erscheint dieser Typus natürlich in der für Mays Schreiben so entscheidenden Personalunion von Karl May, Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand.

VII

Im Blick auf das bisher Dargestellte möchte ich die These wagen, daß Anfangen, als eine Form des Weltverhaltens, der Grundgestus der Karl-Mayschen Romane, ja der Grundgestus seines Schreibens


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schlechthin ist: eines Schreibens, das den Aufbruch als Erkenntnisaugenblick in Szene setzt, als Abenteuer des Weltverstehens. Es scheint mir ein unverwechselbares Merkmal von Mays Exordialszenerien zu sein, daß in ihnen ein Erkenntnisgestus zur Geltung gelangt, der mit größter Sorgfalt und gründlicher intertextueller Absicherung ausgearbeitet wird und den Schluß des jeweiligen Textes - als einen freilich beliebig weiter hinausschiebbaren und okkasionell realisierbaren - wie im Keim immer schon mit enthält. Gegenüber diesem umsichtig in Szene gesetzten Anfang erweist sich der Aufbau des weiteren Romangeschehens als eher kunstlos. Hier dominiert das Serielle der Ereignisse, die beliebige Wiederholung von Grundmustern. Umkehrung und Variation bestimmen - innerhalb oft recht eng gezogener Grenzen - den Ablauf der Handlung.

Diese Kunst des Anfangs, die den Mayschen Romanen ihren Reiz verleiht, ist mikro- wie makrostrukturell wahrnehmbar und wirksam, und zwar in allen möglichen Abstufungen und Ausgestaltungen. Der für sie so kennzeichnende Doppelgestus von Wort und Kommentar - als ein Gestus, der zugleich stets die Kommentierungsbedürftigkeit der Welt impliziert - läßt sich allenthalben beobachten: beim Titel einer Erzählung so gut wie bei deren Zwischentiteln und Anfangsworten, an den Anfangssätzen von Büchern und Kapiteln ebensogut wie bei jenen Kapiteln, die durch ihre Gesamtstruktur selbst wieder die Exordialform eines Romanwerks bilden. Immer und auf allen Ebenen stellt sich - innerhalb des Textensembles - die so charakteristische Spannung zwischen Setzung und Explikation, zwischen Wahrnehmung und Kommentierung, zwischen Fremdheit und Eindeutschung her.

Die bisher von der Karl-May-Forschung in Anschlag gebrachten Charakteristika der Mayschen Anfänge, wie die Handlung oder Affekte stimulierende Landschaftsexposition; die konfigurative Vorwegnahme des Künftigen, die Raum- und Zeitsemantisierung und deren Besetzung durch Lichtphänomene; die auf immer neue Weise inszenierte Proairesis (initiale Unterscheidung und provozierende Stellung eines Rätsels also, die oft zu Beginn im Vorblick auf die Anlage des Ganzen erfolgen und, im Blick auf die endliche Lösung, dessen erzählstrategische Struktur prägen)(28); die einander abwechselnden Muster der >explicatio ab ovo< oder der Introduktion >medias in res<; schließlich die von May so häufig geübte dialogische Exposition erscheinen mir dabei nicht als isolierte oder gar einander durchkreuzende Konzepte; sie stehen vielmehr alle auf sehr genau kalkulierte Weise im Dienste des fundamentalen Exordialgestus von Setzung und Kommentierung, im doppelten Zeichen von Poetologie und Erkenntnisanspruch. Erst im Licht


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dieser doppelten Absicht erfolgt ihre Funktionalisierung und ihre Aufladung mit Bedeutung.

Wenn man diesen Fundamentalhabitus von Setzung und Kommentar - die doppelte Indizierung des Sprachflusses als Mimesis und als Reflexion - als gegeben nimmt,(29) so sind, was die literar- und kulturhistorische Einschätzung der Mayschen Exordialstrukturen angeht, vielleicht einige Präzisierungen und Abgrenzungen nicht ganz überflüssig. Man hat Mays Erzählanfänge gelegentlich - mit einem alten, von Fritz Leib benutzten Begriff(30) - als >parabatisch< bezeichnet, als durch Abschweifung, durch Beiseitereden, gleichsam durch >Daneben-Heraussteigen< des Erzählers bestimmt. So spricht Kosciuszko, mit Rückgriff auf Arno Schmidt, von »präludierende(m) Theoretisieren«(31). Ich habe in meinen Überlegungen zu zeigen versucht, daß Mays ethnographische, geologische, geographische, linguistische und sozialpolitische >Exkurse<, aus denen die Handlungsimpulse seiner Figuren herauswachsen, alles andere als Abschweifungen sind; sie stehen vielmehr im Dienste jenes Übersetzungsgestus, der bei May seinem Wesen nach eine Gebärde der Weltaneignung ist, gipfelnd in der angemessenen Vermittlung von Wahrnehmen, Handeln und Kommentieren. Nicht Ausflucht, Abschweifung oder läßliche Unzugehörigkeit ist in Karl Mays Aufbietung allen kulturellen Wissens in den Initialszenerien seiner Romane zu sehen, sondern der Versuch, dem Erzählcorpus seiner Romane einen spannungsvollen Aggregatzustand zu verleihen, der das Dargestellte im Licht zweier Präsentationsmodi erscheinen läßt: einer suggestiven mimetischen Vergegenwärtigung einerseits, einer im Kommentar sich bewahrheitenden Beglaubigung andererseits. Die fremden Namen, die im Text eingewebt sind, die Ketten eingeflochtener fremdsprachlicher Begriffe und Redefetzen haben nicht so sehr den Status von >Placebos<, wie man gemeint hat,(32) sondern eher von Fermenten, von Keimstellen also, aus denen dieser gedoppelte Wahrnehmungsgestus, diese zweifache Indizierung des Textes entbunden wird. Dabei geht es gewiß nicht darum, ob das von May in den Erzählvorgang eingebrachte Wissen tatsächlich die Wahrheit oder doch den zeitgenössisch erreichbaren Wissensstand in allen recherchierten Details repräsentiert, ob es ein bloßes Plagiat darstellt oder gar unvermerkt halb oder ganz Erfundenes ins Spiel bringt. Es geht vielmehr darum, daß hier eine Überzeugungsstruktur aufgebaut wird, die eminent rhetorischen Charakter besitzt, ein Kunstwerk der »Selbstüberredung«(33) in Szene setzt, das sich zugleich als eines der Fremdüberredung erweist, eben jenes unverwechselbare Pathos von Karl Mays Schreiben erzeugend, das wie vielleicht kein anderes >Verbürgung< bewirkt - ohne dieses Pathos


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hätte sich die jahrzehntelange Bewahrheitungs-Euphorie innerhalb der Leserschaft Karl Mays gar nicht aufrechterhalten und durch immer neue, aus dem Erzählgestus entbundene Überredungsschübe nähren lassen.

Wenn auf diese Art Handeln und Wissen einander gleichzeitig auf der Ebene des >geschriebenen< Helden und der Ebene des >schreibenden< Autors zugeordnet werden, so wölbt sich über beidem noch ein dritter, aller Anfechtung entrückter Himmel: das Empyreum einer unbedingten Legitimation der auf diese >dialektische< Weise inszenierten Wahrheit. Es ist kein Zufall, daß Karl May als Beglaubigungsinstanz seines Schreibens nicht etwa die traditionellerweise den Autor inspirierende Muse beruft, sondern ausgerechnet den Schutzengel:

Schüttelt vielleicht jemand lächelnd den Kopf darüber, daß ich von meinem Schutzengel rede? Lieber Zweifler, ich schmeichle mir ganz und gar nicht, dich zu meiner Ansicht, zu meinem Glauben zu bekehren, aber du magst sagen, was du willst, den Schutzengel disputierst du mir doch nicht hinweg. Ich bin sogar felsenfest überzeugt, daß ich nicht nur einen, sondern mehrere habe, ja daß es Menschen giebt, welche sich im Schutze sehr vieler solcher himmlischer Hüter befinden ... Mag man mich immerhin auslachen; ich habe den Mut, es ruhig hinzunehmen; aber indem ich hier an meinem Tische sitze und diese Zeilen niederschreibe, bin ich vollständig überzeugt, daß meine Unsichtbaren mich umschweben und mir, schriftstellerisch ausgedrückt, die Feder in die Tinte tauchen. Und wenn, was sehr häufig der Fall ist, ein Leser, der in die Irre ging, durch eines meiner Bücher auf den richtigen Weg gewiesen wird, so kommt sein Schutzengel zu dem meinigen, und beide freuen sich über die glücklichen Erfolge ihres Einflusses, unter welchem ich schrieb und der andere las.(34)

Der Schutzengel repräsentiert somit die dritte Instanz, die über den beiden anderen für Karl Mays Poetologie entscheidenden Autoritäten ihre beglaubigende Kraft entfaltet: über der Instanz der Faust und über der Instanz der Schrift.

Wenn der H a n d e l n d e in Karl Mays Texten - sei es nun Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi - dem regierenden Prinzip dieses Erzählens sich anbequemt, so kommentiert er sein Handeln, so erläutert er seine Strategien und begründet ihr Gelingen; wenn der S c h r e i b e r von Karl Mays Texten - also die Instanz des Autors selbst - diesem Habitus der Erzählung folgt, so kommentiert er sein eigenes Schreiben, so erläutert er die intertextuellen Bezüge, so zitiert und korrigiert er


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seine Gewährsmänner; wenn schließlich der L e g i t i m a t o r von Karl Mays Texten - also der Schutzengel in eigener Person, der an die Stelle der Muse tritt - den Text und das in ihm Beschriebene >kommentiert<, so vollzieht er einen Akt der Bekehrung; und zwar, indem er, in einem autoritativen Gestus, die Garantie für die Wirkung des Geschriebenen, als dessen Wirklichkeit bildende Wahrheit, übernimmt.

Diese Bekehrungen zum wahren Glauben des Christentums - durch die doppelte Indizierung des Sich-Ereignenden als Faktum wie als Kommentar in Szene gesetzt - sind das eigentliche Ziel der Romantexte Karl Mays, und zwar in dreifacher Ausrichtung. Sie sind zunächst das Ziel der im Romangeschehen geschilderten Handlungen und steuern auf die Bekehrung zum Beispiel Winnetous im Wilden Westen, Hadschi Halef Omars in Arabien zu: Winnetou, so zeigt es der Abschiedsaugenblick seines Todes, stirbt als Christ. Sie sind sodann das Ziel der Schreibakte, die die Gestalt einer fortgesetzten Selbstüberredung des Autors zu seinem Glauben annehmen - man könnte freilich auch sagen, ihr Ziel sei, wie Adolf Muschg es einmal ausgedrückt hat, das >Schreiben als Therapie<. Solche Bekehrungsakte sind aber zuletzt auch das Ziel der Leseakte, die im Heer der Leserschaft stattfinden und der Überredung des Lesers zu einer Liebes- und Friedensreligion dienen, jenem beispiellosen Akt rhetorischer Überzeugungsstiftung, wie er vor allem im Spätwerk Karl Mays und seinem letzten Wiener Vortrag grandios zum Ausdruck kommt.

Diese Legitimationsfrage - in ihrer dreifachen Orientierung auf die erfundene Figur, auf den schreibenden Autor und auf den Leser - war es wohl, die Karl May zeitlebens und bis zuletzt beschäftigt hat. Ich möchte fast behaupten, daß darin so etwas wie ein postmoderner Gestus wahrnehmbar wird. Wenn dieser Begriff des >Postmodernen<, bei aller Problematik, die ihm innewohnt, einen Sinn besitzt, so doch wohl den, daß im Zeitalter des Versagens der großen Erzählungen, wie Lyotard die übergreifenden Lebensmythen in ihrer literarischen wie ethnischen Suggestivkraft genannt hat, zwar alles von der Kultur gehäufte und gespeicherte Wissen wie vielleicht noch nie zuvor zur Verfügung steht, aber die Instanz fehlt, die das Machbare vom Unzulänglichen, das Tunliche vom Unvertretbaren scheidet.(35) Eben dieser prekären Frage scheinen sich mir die Romane Karl Mays zu stellen: der Frage nämlich, ob es gelingen kann, aus dem universell m ö g l i c h e n Tun das v e r a n t w o r t b a r e Handeln zu isolieren, und wie dies auf dem Hintergrund des verfügbaren Wissens möglich ist. Der Initialakt von Karl Mays Erzählen - die Verdopplung von Wahrnehmung und Kommentierung und deren Einbettung in eine Anstrengung der höhe-


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ren Legitimation - scheint mir jene Form zu sein, mit der sich Karl May dem Verantwortungsproblem der Literatur in der modernen Gesellschaft zu nähern suchte - in einer Welt, die sich längst der Botschaft Nietzsches von der Kultur als Metaphernheer ohne Eigentlichkeitsgrund anbequemt hatte, die von diesem in seiner Abhandlung >Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne< niedergelegt wurde. Karl May hat sich - naiv und unter dem Druck der Verhältnisse zugleich - der Frage nach der Wahrheit zwischen Fiktion und Faktizität aus wechselnden Antrieben unermüdet und unbeirrt gestellt. Er hat ihre Formulierung fortgesetzt variiert und den Versuch gemacht, sie poetologisch zu begründen. Er hat nach ästhetischen Mitteln gesucht, sie als Gestus des Anfangs in seinen Texten glaubhaft zu machen. Vielleicht ist gerade in diesem Scheitern sein Rang als Autor begründet.

VIII

Man könnte sich, wenn es um Bedeutung und Funktion der Anfänge im Werk Karl Mays geht, noch eine letzte Frage stellen: Wie nämlich der Roman, als das offenste und zugleich geschmeidigste Genre der Literatur, auf Umbrüche in der auf Ordnungskonzepte ausgerichteten Leitsemantik der Weltauslegung und deren Grundkategorien um 1890 reagiert. Die Signatur dieser Jahrzehnte um die Jahrhundertwende ist durch eine Reihe von Stichworten zu umreißen: Abbau eines theologisch-metaphysisch fundierten Weltbildes; Aufbau einer technologisch, darwinistisch oder gar sozialdarwinistisch bestimmten Weltdeutung; Entdeckung des Exotismus und Faszination durch ihn, wie sie vielleicht während der Pariser Weltausstellung von 1900 am deutlichsten zum Ausdruck kommt; Ausbildung kolonialistischer Tendenzen; noch einmal - trotz aller bedrohlichen Anzeichen - erneuerte Bekräftigung des Bildungskonzepts des neunzehnten Jahrhunderts und seiner Leitfigur, des >Faust<, die Weltschöpfung durch Sprache und Weltbeherrschung durch Technologie miteinander verknüpft; das Ereignis einer Wahrnehmungskrise nie dagewesenen Ausmaßes zuletzt, wie sie in diesen Jahrzehnten im technischen, im psychologischen, im philosophischen und im literarischen Bereich ihren Ausdruck findet.

Die Schlüsselfrage, um deren Beantwortung es mir zu tun ist, lautet: Steht Karl May mit seiner die Romane prägenden Exordialstruktur, der Verdopplung von Wahrnehmung und Kommentierung (und deren versuchter Einbindung in den Legitimationsgestus religiöser Bekehrung, der ja zugleich der Entwurf einer Theodizee ist), doch nur in der


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philosophischen Trivial-Tradition des neunzehnten Jahrhunderts, die seit nunmehr über hundert Jahren die säkularisierte Providenztheorie und ihren Optimismus unreflektiert fortschreibt?(36) Oder versucht er etwas darüber Hinausweisendes zu verwirklichen, indem er sein literarisches Schreiben - mit allen poetologischen Konsequenzen - in dem Dreieck von Wissenschaft, Abenteuer und Theodizee ansiedelt? Gewiß: Es ist unbezweifelt, daß auch Karl Mays Roman im Feld jenes >realistisch< kaum austragbaren Konflikts zwischen Kontingenz und Providenz steht, der die Schicksalssemantik der Romankultur der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts noch immer prägt: einer eher vom Zufall her bestimmten Ereignis- und Fabelstruktur einerseits, einer teleologischen Ausrichtung auf ein ideales Erzählziel andererseits, in dem sich unverhofft ein bündiger Geschehens- und Bedeutungsknoten schürzt - als ein salto mortale unter den Schutz eines >höheren Leitenden<. Aber es gibt eigene Strukturmuster Karl-Mayscher Prägung, die sich in dieses allgemeinere Problemfeld einzeichnen und es auf besondere Weise umprägen. Man könnte sagen, daß die Schicksalssemantik, die Karl Mays Romane auszeichnet, tatsächlich im Zeichen eines Dreigestirns steht:

Da ist zunächst eine spätaufklärerische, bürgerlich-gründerzeitliche Idee von vernünftigem Handeln; sie ist es, die im zweifachen Habitus von Agieren und Kommentieren - also von reflektiertem Handeln im eigentlichen Sinne - zum Vorschein kommt.

Da ist ferner das Ausleben von Grandiositätsphantasien, ein Phänomen, das seit jeher das Faszinosum und das Reprobandum zugleich der Mayschen Texte ausgemacht hat - wie in vergleichbarer Weise vielleicht nur bei Wagner und Nietzsche; es findet seinen Kulminationspunkt in der Idee von der In-Eins-Bildung von handelndem Helden und schreibendem Autor.

Und da ist zuletzt eine humanitäre Utopie, also dasjenige, was May die Menschheitsfrage zu nennen liebte, eine providentielle Konstruktion, die eng mit dem Allmachts- und Grandiositätsphantasma der >Helden<-Konzeption der Romane verknüpft ist. Nicht umsonst sagt Nietzsche einmal: »Kein Sieger glaubt an den Zufall.«

Es scheint mir, als hätte Karl May versucht, diese Dreiheit der Perspektivierung, in der das Problem literarischer Wirklichkeitsdarstellung der Moderne beschlossen liegt, in seinem Romanschreiben auch strukturell zu realisieren. Die von ihm mit hohem Anspruch ausgestatteten Anfänge erweisen sich als der Ort einer Propagation vernünftiger Aneignung der Lebenswelt im doppelten Zugriff von setzender Darstellung und kommentierender Reflexion. In ihnen bildet sich das auf-


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klärerische Konzept des >vernünftigen Handelns< als Form der Weltbewältigung aus. Die Romanhandlung selbst - und dies ist das zweite - ist der Schauplatz von weitschweifig sich auslebenden Grandiositätsphantasien, eine kontingente, beliebig verlängerbare Kette von Abenteuern, in der sich keine erkennbare Ordnung in der Alternation von Festnahme und Befreiung, von Glück und Mißlingen abzeichnet - eine Selbstinszenierung von suggestiver Leuchtkraft. Das Finale endlich, das Erreichen des Erzählziels also, erscheint dann im Zeichen einer Semantisierung auf höherer Ebene: im Sinne eines Heilsplans und seiner Erfüllung, einer verantwortlichen Weltordnung oder gar einer Theodizee - alle drei Aspekte aber, Heilsplan, Weltordnung und Theodizee, hineingezogen in den Sog jener Selbstüberredungsstrategien, die das Pathos Mayscher Texte ausmachen - ein immer wieder begonnener Anfang ohne Ende.

IX

Es scheint mir, als habe Karl May - mit diesen drei zu einer einzigen Struktur verbundenen Parametern von realistischem Tic (Goethe), von ausgelebter Grandiositätsphantasie und von utopischer Überhöhung - ein Muster geschaffen, das eine Antwort auf die ungelöste Dialektik von Kontingenz und Providenz im Weltbild um 1900 liefert: durch Ansiedlung menschlichen Handelns und seiner Darstellung nämlich im Konfliktfeld von wissenschaftlicher Weltordnung und Produktivkraft der Phantasie, der zuletzt ausweglosen, nur durch einen >Salto mortale in die Transzendenz< auflösbaren Doppelstruktur der Moderne im Spannungsbogen zwischen Mechanisierung und Schöpfertum, Auslöschung der Eigentümlichkeit des Subjekts einerseits und deren hypertropher Behauptung im Feld der Phantasie andererseits. Nur unter diesem Aspekt scheint es konsequent, daß der große Mittelteil der Mayschen Romane weder dem Beglaubigungspathos des Anfangs noch dem Erlösungsgestus des Schlusses unterliegt, sondern als ein Spielfeld der einfallsreichen Erörterung von Ordnungskonzepten sich erweist - denn was sind Grandiositätsphantasien anderes als imaginäre Exzesse der Ordnungsstiftung in einer chaotischen Welt? Anfang und Ende sind gleichsam die Lötstellen, die den Mayschen Roman an die ungelöste Problematik von Kontingenz und Providenz anheften; im Mittelfeld, das sich zwischen beiden erstreckt, haben jene Erprobungsspiele ihren Freiraum, die ein Simulakrum kindlicher Aufmerksamkeit auf die Welt sind. »Niemand will so viel Reformen durchführen wie Kin-


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der«, sagt Kafka. Vielleicht haben Kinder deshalb so lange die »kürzeren« und »längeren Gedankenspiele« Karl Mays (wie Arno Schmidt sie genannt hat) mitgespielt, weil sich in ihnen das Ereignis kindlicher Welterfahrung am treuesten abbildet und am leichtesten wiedererkennen läßt; das nie ermüdende Erproben neu gefundener Muster des Umgangs mit der Welt zuungunsten des einen, schon erprobten und zum Klischee erstarrten: das nie zu erschöpfende Abenteuer von Wiederholung, Findung und Verwandlung. Denn zwischen Kontingenz und Providenz gibt es tatsächlich - und Karl May hat dies offenbar gewußt - noch ein Drittes: die unermüdliche Kraft zur Metamorphose, die Lust der Phantasie. Zwischen der Realität des Gesetzten und dem Imaginierten der Utopie ereignen sich jene Spiele von Allmacht und Selbstverwaltung, die den grenzenlosen Zauber kindlichen Phantasierens ausmachen. Freud hat ihr Doppelgesicht wahrgenommen. Mit ihm könnte man sagen, daß es zuletzt doch das kindliche Lustprinzip ist, das Karl Mays Schreiben regiert - und sei es nur in der drohenden Maske des Realitätsprinzips, unter dessen Herrschaft das bürgerliche Zeitalter der Gründerjahre und seine scheinbare >Erwachsenheit< stehen.



1 Vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern 1959, S. 5ff.

2 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XII: Am Rio de la Plata. Freiburg 1894, S. 540f.; Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

3 »Jemand pflegte zu sagen, daß Vorsehung der Taufname des Zufalls sei; ein Frommer wird sagen, daß Zufall ein Spitzname der Vorsehung ist.« Chamfort: Maximes et anecdotes. Recueillies et publiées par un de ses amis. Préface d'Albert Camus. Paris 1961, S.58

4 »Dem Proömium fällt also gewissermaßen die Funktion zu, die Willkür jedes Anfangs zu exorzisieren.« Roland Barthes: L'ancienne rhétorique. In: Communications 16 (1970), S. 214 - Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988, S. 80

5 »Par besoin d'épurement, M. Paul Valéry proposait dernièrernent de réunir en anthologie un aussi grand nombre que possible débuts de romans, de l'insanité desquels it attendait beaucoup.« André Breton: Manifestes du Surréalisme. Paris 1962, S, 19. Zum Problem der Romananfänge vgl. Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968 - vgl. ferner: Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans. Hrsg. von Norbert Miller. Berlin 1965; hervorzuheben ist darin vor allem der Aufsatz von Volker Klotz: Muse und Helios. Über epische Anfangsnöte und -weisen, S. 11-36.

6 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1973, S. 170

7 Jean Paul: Werke. Fünfter Band. Hrsg. von Norbert Miller. München 1963, S. 263

8 Vgl. Gerhard Neumann: Franz Kafka: »Der Prozeß«. In: Lehren und Lernen. 16. Jg., Heft 3 (März 1990), S. 1-30.

9 Aristoteles hat in seiner >Poetik< zuerst die Frage nach dem inneren Zusammenhang von Anfang und Ende - im Hinblick auf die Tragödie - gestellt, und zwar als einem Verhältnis von Anfang, Ende und Mitte. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1984, S. 25 (Siebenter Abschnitt).


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10 Günter Scholdt: Und es ist wirklich wahr, Sidhi, daß du ein Giaur bleiben willst? Vorläufiges über Erzählanfänge bei Karl May. In: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1987, S. 101-126 (Sonderband Text + Kritik)

11 Autobiographisches Material, das ursprünglich für >Satan und Ischariot< vorgesehen war, wird - vermutlich zwischen September und November 1897 - zu einem neuen, für die Fehsenfeld-Reihe bestimmten Roman ausgearbeitet. Dieser erscheint zur Weihnachtszeit 1897. Vgl. Rainer Jeglin: Werkartikel >»Weihnacht!«<. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 272ff.

12 Zur Frage solcher Anfangsphantasien vgl. Gerhard Neumann: Karl Mays >Winnetou< - ein Bildungsroman? In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1988. Husum 1988, S. 10-37 - Ders.: »Heut ist mein Geburtstag ... «. Zur Bildung des Subjekts im Werk Goethes. In: Veröffentlichungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse (erscheint 1993).

13 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIV: »Weihnacht!«. Freiburg 1897, S. 1; Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

14 Vgl. Neumann: Karl Mays >Winnetou<, wie Anm. 12, S. 19ff.

15 Karl May: Die Sklavenkarawane. In: Der Gute Kamerad. 4. Jg. (1889/90). Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1984, S. 18

16 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou, der Rote Gentleman 1. Freiburg 1893, S. 7f.; Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

17 Bernhard Kosciuszko: »Man darf das Gute nehmen, wo man es findet.« Eine Quellenstudie zu Mays Südamerika-Romanen. In: Jb-KMG 1979. Hamburg 1979, S. 169-185 -Ekkehard Koch: Zwischen Rio de la Plata und Kordilleren. Zum historischen Hintergrund von Mays Südamerika-Romanen. In: Jb-KMG 1979. Hamburg 1979, S.137-168

18 Karl May: Die Gum. In: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. X: Orangen und Datteln. Freiburg 1894; Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Ausgabe.

19 Karl Mays Nutzung der Exotismus-Thematik, wie sie sich gerade in Freiligraths Werk abzeichnet, wäre auf kulturgeschichtlichem Hintergrund noch zu erörtern. Vgl. Anm. 24.

20 Eine Zusammenstellung aller von Karl May in seinen Kolportageromanen und Reiseerzählungen verwendeten lyrischen Texte bietet Hedwig Pauler: Deutscher Herzen Liederkranz. Lieder und Gedichte in Karl Mays Kolportageromanen. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft (S-KMG) Nr. 41/1983, und Deutscher Herzen Liederkranz. Lieder und Gedichte im Werk Karl Mays. Teil 2. S-KMG Nr. 60/1985.

21 Karl May: Christi Blut und Gerechtigkeit: In: May: Orangen und Datteln, wie Anm. 18, S.513

22 Karl May: Der Krumir. In: May: Orangen und Datteln, wie Anm. 18, S. 398

23 So Nietzsche in seinem Essay >Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne<. In: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Band III. Hrsg. von Karl Schlechta. München 1956, S. 314

24 Eine Studie über Karl Mays Ethnozentrismus und seine Situierung im Positivismus der Fremderfahrung der Gründerjahre, die gleichzeitig dessen ideologische Implikationen zu erörtern hätte, wäre ein Desiderat der May-Forschung. Die durch das Buch von Georges Devereux: From Anxiety to Method in the Behavioral Sciences. Den Haag-Paris 1967, in Gang gebrachten Überlegungen bieten hier einen methodischen Hintergrund.

25 Nietzsche, wie Anm. 23, S. 312

26 Vgl. Rüdiger Scholz: Die beschädigte Seele des großen Mannes: Goethes Faust und die bürgerliche Gesellschaft. Rheinfelden 1982.

27 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o.J. (1910), S. 137; Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul

28 Der Begriff der Proairesis stellt bei Aristoteles ein Element des Handlungsbegriffs dar: Handlung ist nur dasjenige, was aus Entscheidung hervorgeht. Roland Barthes hat diesen Begriff für die Textanalyse auf neue Weise fruchtbar gemacht, indem er Handlungscode (code proaïrétique) und hermeneutischen Code (code herméneuti-


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que (als ein System, innerhalb dessen »une énigme se centre, se pose, se formule, puis se retarde ei enfin se dévoile«) aufeinander bezieht. Roland Barthes: S/Z. Essai. Paris 1970, S.25ff.

29 Die Doppelung von Setzung und Kommentar ist von der Forschung bemerkt, aber verschieden bewertet worden, so etwa unter psychoanalytischer Perspektive. Bernhard Kosciuszko beispielsweise zitiert eine Beobachtung Arno Schmidts, die sich auf Poe bezieht, im Hinblick auf Karl May: »Die (...) Zweiteiligkeit seiner Schreibe, könnte der literarische Ausdruck einer, recht weit gegangenen, Entmischung der Persönlichkeitsinstanzen sein; und da entsprächen eben die >theoretischen Einleitungen< einer >Verbeugung<, besser einer >Entschuldijunk durch Verallgemeinerung<, zum Über=Ich hin.« (Arno Schmidt: Zettels Traum. Frankfurt a. M. 1973, S. 89, zit. nach Kosciuszko, wie Anm. 17, S. 183).

30 Günter Scholdt (wie Anm. 10, S. 104ff.) greift auf diesen Begriff zurück und beruft sich auf die Arbeit von Fritz Leib (der seinerseits auf Robert Riemann zurückverweist): Erzählungseingänge in der deutschen Literatur. Phil. Diss. Gießen, Mainz 1913.

31 Kosciuszko, wie Anm. 17, S. 185

32 Vgl. Annette Deeken: »Seine Majestät das Ich.« Zum Abenteuertourismus Karl Mays. Bonn 1983, S. 31.

33 Dieser Begriff wurde durch Erich Meuthen: Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert. Freiburg 1993 (erscheint demnächst), in die Romanpoetologie eingeführt.

34 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896, S. 150f.

35 Vgl. Jean-François Lyotard: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris 1979.

36 Vgl. Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Teil 1 und Teil 2. Tübingen 1988.


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