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HERBERT MEIER

Karl May und Jules Gérard, die >Löwentöter<



1

Eine der vielen Quellen, aus denen Karl May bei der Abfassung seiner Erzählungen schöpfte, war, wie bereits vor einigen Jahren an anderer Stelle ausgeführt worden ist,(1) der Franzose Jules Gérard, der »unerschrockene Löwentöter«(2) der Mitte des 19. Jahrhunderts in Nordafrika legendären Ruf genoß und insbesondere in den Werken >Le Tueur de Lions< (dt.: Der Löwentöter) und >La Chasse au Lion< (dt.: Die Jagd auf den Löwen) über seine Jagdunternehmungen berichtet hatte.

So aufsehenerregend die Jagdabenteuer und -erfolge Gérards seinerzeit auch waren, sein Name wäre, zumindest im deutschen Sprachraum, praktisch nicht mehr bekannt, wenn nicht Karl May ihm in seinem Werk ein, wenn auch bescheidenes, Denkmal gesetzt hätte. Natürlich hat es auch andere Autoren und Abenteuerschriftsteller im vorigen Jahrhundert gegeben, die den berühmten Löwenjäger Gérard, allerdings mehr am Rande, erwähnen, so z. B. Sir John Retcliffe (Hermann Goedsche) in seiner großen historischen Indianer-Erzählung >Puebla<.(3)

Anders ist es bei Karl May. Nicht, daß er den >Löwentöter< Gérard zum Mittelpunkt seiner Erzählungen gemacht hätte; May nennt den Namen Gérard vielmehr - und zwar mehrfach - im Zusammenhang mit >eigenen< spektakulären Löwen- und Pantherjagden in Nordafrika. Wir wissen heute, daß May dabei auch Sujets aus den Werken Gérards verwendet hat; er hatte ja jene fernen Länder nicht selbst bereist, sich zur Abfassung seiner geographischen und ethnographischen Beschreibungen jedoch, wie es sich für einen ordentlichen, wohlausgebildeten Lehrer geziemt, guter wissenschaftlicher Werke und seriöser Reisebeschreibungen bedient. Es mag auch sein, daß Mays erste Bekanntschaft mit dem Löwentöter in der Gefängnisbücherei von Schloß Osterstein(4) erfolgte. So beginnt die frühe Hausschatz-Erzählung >Unter Würgern<, die Geschichte, in der der Name Gérard erstmals, dafür aber mehrfach, erwähnt wird, wohl nicht zufällig mit einem Hymnus: Afrika! ... du Land meiner Sehnsucht!(5) wo unter stacheligen Mimosen der schlafende Löwe (röchelte),(6) und wohl nicht zufällig beklagte er: Mein Fuß war gefesselt [!], aber meine Seele eilte zu dir.(7)


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Indirekt, aber dennoch unverhüllt für den Kenner, gibt May zu verstehen, wie sehr er Gérard wegen seiner Jagdabenteuer in Afrika und seines Ruhmes als kühnen Löwenjäger bewundert, aber auch beneidet; dort nämlich, wo er von seinem englischen treue(n) Freund und Maat(8) erzählt: Emery Bothwell hatte mit einer Art von Eifersucht die Berichte über Gérard, den kühnen Löwenjäger, vernommen und war fest entschlossen, sich auf alle Fälle einige Mähnenhäute zu holen.(9)

Jules Gérard, der berühmte Löwenjäger: hätte er, May, das nicht in der Tat selbst sein können? Wie genau traf die von Dielitz gegebene Beschreibung Gérards auch auf May zu: »Er ist von mittlerem Wuchse und etwas schwach gebaut, aber in seinem unscheinbaren Körper lebt eine Heldenseele von seltener Kraft und ein menschenfreundliches Herz.«(10) Eine in der Tat verblüffende Parallele, die May ermutigte, es dem französischen Abenteurer gleichzutun; wenn auch nur auf dem Papier.


JULES GÉRARD
Le Tueur de Lions


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II

In der Zeit vom Dezember 1877 bis Januar 1878 wurde in >Frohe Stunden. Unterhaltungsblätter für Jedermann< im Verlag Bruno Radelli, Dresden, Mays kurze Erzählung >Die Gum< veröffentlicht. Sie spielt im Gebiet eben jenes algerischen Steppenplateaus, in dem auch Gérard seine Jagdabenteuer bestanden hatte. Wesentlicher Bestandteil der May-Erzählung ist die Jagd auf einen Löwen, deren ausführliche Schilderung in vielen Details die Anlehnung an die Berichte Gérards verrät. Der Name >Gérard< allerdings taucht in dieser frühen May-Erzählung nicht auf.

Zweieinhalb Jahre später hat May dann >Die Gum< in die wesentlich erweiterte, vier Kapitel umfassende Abenteuererzählung mit kriminalistischem Einschlag >Unter Würgern< überführt. Erst hierin hat er auch Gérard, den >Herrn des Löwen<,(11) wie er ihn u. a. nennt, mehrfach rühmend herausgestellt:

Es war der Wed-el-Kantara, in dessen Fluten Jules Gérard, der kühne Löwenjäger, seinen Tod gefunden hatte. An der Stelle, wo er in den Fluß gegangen war, hatte ihm eine vorüberziehende Abteilung französischer Truppen aus aufgehäuften Steinen ein einfaches Monument errichtet. Ich ließ halten.

»Hast du von Gérard, dem Löwentöter gehört, Josef?« fragte ich den Staffelsteiner.

»Versteht sich, Herr!« antwortete er. »Er war aan Franzos' und is endlich halt in das Wasser gestürzt und drin elend versoff'n.«

»Kennst Du den Emir-el-Areth, den >Herrn des Löwen< Hassan?« fragte ich auch den Kubbaschi.

»Er war ein Ungläubiger, aber beinahe so tapfer wie Hassan el Kebihr, « antwortete er stolz. »Er hat den >Herrn mit dem dicken Kopf< (den Löwen) des Nachts und ganz allein aufgesucht, um ihn zu töten; aber der Wangil-el- Uah (König der Oasen) hat ihn doch noch zerrissen und verzehrt, denn er war kein Moslem, sondern ein Mann aus dem Darharb (nicht muselmännisches Land).«

»Du irrst, Hassan. Der Emir-el-Areth wurde nicht von dem Löwen zerrissen, der eher hundert Moslemin als einen Christen erwürgt, sondern er starb hier in den Fluten des Wed-el-Kantara, und seine Brüder haben ihm dieses Denkmal erbaut. Nehmt eure Gewehre, ihr Männer; ihre Stimmen sollen seinem Geiste verkünden, daß der Wanderer den Gebieter des >Herrn mit dem dicken Kopfe< kennt!« ... Aus vier Läufen - denn auch der Führer fügte sich in meinen Willen - erklang eine dreimalige Salve zu Ehren des Löwenjägers, ein von den Felswänden wiederhallender Totengruß, welchen ein >Rifleman< dem andern brachte; dann ging der Ritt weiter nach dem Paß von Kantara.(12)

Hier ist anzumerken, daß Gérard zwar in Afrika in einem Fluß ertrunken ist, jedoch an ganz anderer Stelle, in einem Flusse in Westafrika nämlich, unweit der Grenze von Sierra Leone, wie auch de Rooy schon mitgeteilt hatte.(13) Karl May hat für seine Erzählung im wesentlichen


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den Reisebericht >Nach Algier und den Oasen von Siban in der großen Wüste Sahara. Ein Reisebuch durch Algerien< (Berlin 1866) von Gustav Rasch als Quelle benutzt, was Woiciech Kunicki in den Mitteilungen der KMG 61/1984 darstellte. Auf S. 293 behauptet Rasch, die Stelle im Wed-el-Kantara überquert zu haben, an der Gérard ertrank. Als Vorbereitung für die kommenden Panther- und Löwenjagden nahm May diese Information sicher gerne auf: konnte er doch damit geschickt dartun, daß er ein dem berühmten Franzosen gleichwertiger >Rifleman< war bzw. diesen noch übertraf. Einige Seiten später wird dies dem Leser schwarz auf weiß bestätigt:

»Sihdi, du bist der größte Jäger, den meine Augen gesehen haben; du bist noch größer als der Emir-el-Areth (Gérard), welcher der Herr des Löwen war. Wenn ich singe von den Siret el modschaheddin (Thaten der Kämpfer) und wenn ich erzähle von den Siret el behluwan (Thaten der Helden), so werde ich deinen Namen nicht vergessen, sondern ihn rühmen vor den Ohren der Gläubigen!«

Der Araber spricht gern fulminant und liebt es, seine Gefühle im Superlativ auszudrücken.(14)

»... Sihdi, du bist ein Held, ein großer Krieger! Wie viele Männer sind bei dir gewesen?«

»Keiner. Ich habe ganz allein mit dem Panther und seiner Frau gesprochen. «

»Ganz allein? Allah akbar, Gott ist groß, und du bist ein Akhu (Bruder, Genosse) des großen Emir-el-Areth, der im Wed-el-Kantara ertrank!«

»Ich bin ein Franke, wie er, und habe eine Büchse, welche dieselben Worte spricht, wie die seinige.«

»Ein Franke bist du und ein Jäger, wie der Emir-el-Areth?«(15)

Aufschlußreich sind auch die Gérard-Nennungen Mays in >Die Liebe des Ulanen<, erschienen in den Jahren 1883 bis 1885 in >Deutscher Wanderer<, herausgegeben im Verlag H. G. Münchmeyer:

» Welche Schwäche wäre das?«

»Eine ganz und gar eigenthümliche, wie man sie bei Damen wohl selten finden wird. Hast du von Gérard gehört?«

»Gérard? Welcher Gérard? Der General?« »Nein, der Löwentödter.«

»Der berühmte Saharajäger? Natürlich! Was ist mit ihm?« »Tante und Hedwig schwärmen für ihn.«

»Das ist sonderbar, aber nicht gerade unweiblich.«

»Mir aber desto unangenehmer, sintemal ich leider kein Löwenjäger bin.« »Ah! Die Kleine will nur einen Löwenjäger heirathen.«(16)

»Gérard ist jetzt in Aller Munde. Was Wunder also, wenn auch diese Beiden für ihn schwärmen!«(17)


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Nun, für Gérard geschwärmt hat mit Sicherheit auch Karl May, der wohl ebenfalls bedauerte, daß er leider kein Löwenjäger war. Gebhard konnte ihr treulichst secundiren, was sie in ein wahres Entzücken versetzte. Und als er nun gar sich innig vertraut mit den Erlebnissen von Gérard, dem Löwenjäger, zeigte, da hatte er ihre vollständigste Zuneigung sich erobert. »Sonst sind die Deutschen große geographische Ignoranten,« meinte sie. »Wie kommt es, daß Sie eine so rühmliche Ausnahme machen?«(18) Gebhard war also mit den Erlebnissen von Gérard innig vertraut,und wir dürfen getrost davon ausgehen, daß das auch auf den Autor der Geschichte zutrifft und daß auch dieser kein geographischer Ignorant war.

Eine weitere - und letzte - Erwähnung findet Gérard schließlich in der Kurzgeschichte >Ibn el 'amm<, die May im Januar 1887 im >Guten Kameraden< nach einer ihm vorgegebenen Bildvorlage veröffentlichte: Der Bewohner des Südens ist nicht so kaltblütig und geistesgegenwärtig wie der Nordländer. Daß nach Art und Weise der berühmten Löwenjäger Jules Gérard und Gordon Cumming ein einzelner Mann sich mutig und selbstvertrauend mit sicherer Büchse dem König der Tiere entgegenstellt, das ist ihm etwas Unerhörtes und Unbegreifliches. Zudem waren die Männer der Karawane nur mit alten Lunten- oder Steinschloßflinten bewaffnet, also höchst ungenügend solchen Tieren gegenüber.(19)

Diese kleine May-Erzählung, von der Forschung wenig beachtet, ist, was die von Gérard empfangenen Anregungen anbetrifft, eine wahre Fundgrube.

III

Um die Anregungen, die May bei der Lektüre der beiden Werke Gérards erhalten hat, aufzuzeigen, aber auch, um in etwa anklingen zu lassen, wie May es verstanden hat, aus den manchmal trockenen Sachangaben des >Löwentöters< interessante, ja fesselnde Handlungsabläufe zu gestalten, seien die verschiedenen korrespondierenden Motive nachfolgend im Wortlaut der beiden Autoren einander gegenübergestellt. Dabei erkennen wir, daß May die in Betracht kommenden Stellen nicht etwa schablonenhaft übernommen hat; er hat sie vielmehr variiert, nach seinen Vorstellungen umgeformt, nur das übernommen und ausgemalt, was ihm geeignet erschien, um die Fähigkeiten und den Mut des >Ich<-Helden herauszustreichen, um dessen Ansehen bei der einheimischen Bevölkerung (und beim Leser) noch zu steigern; genoß ja doch auch Gérard. in Nordafrika einen legendären Ruf.


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Zitiert wird im folgenden nach der deutschen Ausgabe des Gérard-Werks >La Chasse au Lion< (nachstehend >Chasse<) in der >Conversations- und Reisebibliothek< des Verlages von Carl B. Lorck, mit dem deutschen Titel >Der Löwenjäger<, Leipzig 1855, sowie dem >Guten Kameraden<, 11. Jg. (1896/97), mit den >Erzählungen des Löwentöters Gérard<; hierbei handelt es sich um umfangreiche Teile aus Gérards erstem Werk, dem >Le Tueur de Lions< (nachstehend >Tueur<).(20)

1. Das respektvolle Flüstern der Eingeborenen sowie ihre Scheu, das Wort >Löwe< zu gebrauchen, wenn vom (noch lebenden) Löwen gesprochen wird

>Gum<

Er war plötzlich sehr ernst geworden und trat mit geheimnisvoller Miene ganz nahezu mir heran. Die zwei hohl gebogenen Hände wie ein Sprach- oder Hörrohr an meine Ohren haltend, legte er den Mund an sie und flüsterte so leise, daß ich es kaum zu verstehen vermochte: »Kennst du Assad, den Aufruhrerregenden?« Ich nickte und blickte ihn erwartungsvoll an. »Kennst du Assad-Bei, den Herdenwürger?« fragte er in derselben Weise. Ich nickte zum zweiten Mal bejahend mit dem Kopfe, und erfuhr fort.- »Er ist unserer Herde gefolgt schon lange Zeit und hat uns die besten Tiere geraubt, erst in der vergangenen Nacht holte er wieder ein Rind für sich und seine Frau; aaïb aaleïhu, Schande über ihn!« Der leise Flüsterton war mir nicht unbegreiflich. Der Araber hat einen außerordentlichen Respekt vor dem Löwen; so lange das gewaltige Tier noch lebt, nennt er es mit den hochtrabendsten und ehrendsten Namen, um es ja nicht zu beleidigen und zur Rache herauszufordern; ist es aber getötet, so bewirft er es mit den demütigendsten Schimpfworten und thut ihm alle möglichen Beleidigungen an. (S. 58)

>Chasse<

»Seine Leute riefen ihn in diesem Augenblicke, er antwortete ihnen: >Geht nur voraus, ich komme nach<, dann sah er sich sorgsam nach allen Seiten um, als habe er mir etwas in tiefstem Vertrauen mitzutheilen, neigte sich nach meinem Ohr und sagte leise: >Er hat mir meine schönste Stute und zehn Stiere geraubt.< >Wer?< fragte ich in demselben Tone. >Er,< antwortete der Scheik und drohte mit der Faust nach dem Gebirge hin. >So nenne doch den Räuber!< setzte ich ungeduldig hinzu. >Der Herr mit dem dicken Kopfe.< Diese letzten Worte sprach er so leise, daß ich nur die letzten Sylben hörte, aber ich erriet das Uebrige leicht und konnte mich des Lachens nicht enthalten.« (S. 45f.)

Bei anderen Gelegenheiten allerdings schildert Gérard mehrfach, wie (z.B. bei Beratungen über einen zu unternehmenden Jagdzug oder nach dem Fangen eines Löwen in der Grube) durchaus auch schon vor dem Tode des Tieres sein Name genannt, er laut beschimpft und geschmäht wird:

»So oft sie in eine Lichtung gelangen, sammeln sich die Jäger da, stellen sich in Schlachtordnung auf und fordern den Löwen zum Kampfe heraus,


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Die Furcht, welche man vor ihm hegt, geht sogar so weit, daß man bei dem Entschlusse und der Vorbereitung eines Angriffes nur leise spricht; man meint, er könne es hören und dem Angriffe begegnen. Darum sprach der Alte so heimlich; Assad Bei, der Aufruhrerregende, der Herdenwürger, hätte ja sonst seine Worte vernehmen können.... »Be issm lillahi, um Gottes Willen, sprich leise!« bat der Alte ängstlich. »Wenn er es hört, so bist du verloren. Er kommt herbei und reißt dich in Stücke.« (S. 59) indem sie ihm nochmals alle Schmäh- und Schimpfworte entgegenschreien. Der Löwe aber bleibt ruhig im Verstecke auf dem Bauche liegen.«

(S.32)

Und nach dem Fangen des Löwen in der Grube: »Manche bringen sogar ihre Weiber, ihre Kinder und ihre Hunde mit. Es ist ja so süß einen Feind leiden zu sehen, von dem man nichts mehr zu fürchten hat und den man ungestraft schmähen und martern kann. Bemerkenswert ist dabei, daß die Frauen und die Kinder, namentlich aber die Frauen, am erbittersten und am grausamsten sind.«

(S. 15f.)

Karl May hat, wie man sieht, dem Motiv der Ängstlichkeit der Eingeborenen beim Sprechen über den Löwen - als Kontrast zu der Unerschrockenheit des >Ich< - erheblich größeres Gewicht beigemessen, als es Gérard tat. Auch in der kurzen Geschichte >Ibn el 'amm< räumt May diesem Thema relativ viel Raum ein: Saba-Bey ist der Löwe. Der Bewohner jener Gegenden scheut sich, den Namen des Löwen laut zu nennen. Er denkt, das Tier hört es und wird dadurch herbeigerufen. Darum machte Rakab es Seraf sofort eine warnende Handbewegung und antwortete leise: »Dachel Allah - um Gottes willen! Sprich nicht so laut, sonst kommt der Herr des Erdbebens gerannt, und holt uns beide aus dem Sattel! Er soll sein Lager hier in der Nähe haben; darum müssen wir ganz heimlich vorüberreiten. Sage den Leuten, daß sie kein Geräusch machen dürfen und die ersten Worte der achtundvierzigsten Sure beten sollen!« ... Nur zwei hatten ihre Besinnung nicht verloren, nämlich der tapfere »Hals der Giraffe« und Es Ssaghir, der Kleine. Der letztere sprang auf sein Pferd, um von allen gesehen zu werden, und rief mit schallender Stimme: »Flieht nicht, ihr Männer, ihr Helden! bleibt stehen, ihr Schurken, ihr Feiglinge, ihr Hunde! Nehmt eure Waffen, ihr Lieblinge, ihr Tapfern, ihr Elenden! Schießt auf den Ibn el 'amm! Er ist gekommen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern, um uns und unsere Esel zu fressen. Allah jenahrl hasa schejtan - Allah verdamme diesen Teufel!« Ibn el 'amm heißt »Vetter väterlicherseits.« So wird der Löwe genannt, wenn man sich scheut, das eigentliche Dingwort auszusprechen.(S. 6f.)


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2. Das Beschimpfen des toten Löwen

>Gum<

Meine Kugel war ihm in das Auge gedrungen - er war verendet. »Hamdulillah, Allah akbar, Preis sei Gott, der Herr ist groß!« erscholl es aus allen Kehlen. »Hasa nessieb, das hat Gott geschickt; der Kelb, der Hund, der Sohn von einem Hunde, der Enkel von einem Hundesohne ist tot; er ist schmachvoll gefallen, gestürzt und gestorben wie ein Ungläubiger, ohne Ruhm und Ehre. EI Thibb, der Schakal, und el Tabäa, die Hyäne, werden ihn fressen; el Büdj, der gewaltige Bartgeier, mag ihm das feige Herz zerhacken, und el Rhassahl, die Gazelle, mag ihn und seine Väter beschimpfen, ihn, der ohne Kampf und Gegenwehr aus dem Lande der Lebendigen gegangen ist. Er, der sich el Jawuhs, den Grausamen, nennen ließ, muß aus seinem Felle steigen. Holt die Hariri, die Musikanten, herbei; sie mögen auf der Nogara seine Schande trommeln und ihm mit der Rababa seine Schmach vorpfeifen!« So klang es jubelnd und verhöhnend von allen Seiten. Man trat den toten Körper mit den Füßen; man schlug ihn mit den Fäusten, stieß ihn mit den Kolben und spie ihn verächtlich an. (S. 64f.)

>Ibn el 'amm<

Nun fielen die Sieger über die Besiegten her, rauften sie, traten sie mit Füßen, spuckten sie an und gaben ihnen alle erdenklichen Schimpfnamen, an denen die arabische Sprache ja so reich ist. (S. 7)

>Chasse<

»Der Löwe, den ich erlegt hatte, war etwa drei Jahre alt, sehr fett und bereits vollständig ausgebildet wie ein alter. (...) Mit Tagesanbruch kamen mehr als zweihundert Araber, Männer, Frauen und Kinder, von allen Seiten herbei, um den gemeinsamen Feind in Sicherheit zu betrachten und zu schmähen.« (S. 48f.)

»Mit besonderem Eifer kamen die Weiber herbei, überschütteten sie [die erlegte Löwin] mit Schimpfreden und forderten die nun unschädlichen Klauen und Zähne heraus.« (S. 139)


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3. Der >Herr mit dem dicken Kopf< als Umschreibung des Wortes >Löwe<

Den Begriff >Herr mit dem dicken Kopf< verwendet May wiederholt." Auch Gérard gebraucht diese Bezeichnung häufig, z.B. in >Chasse<: »Die Worte eines Greises sind stets geachtet«, antwortete ich. »So höre mich an, mein Sohn. Wenn die Löwen in dieser Nacht kommen und >der Herr mit dem dicken Kopfe< (so nennen die Araber den ausgewachsenen Löwen) vorausgeht, so achte nicht auf die andern. Die Jungen sind schon zu groß, als daß der Alte sich noch um sie kümmere, aber alle verlassen sich auf den Vater. Darum empfehle ich Dir den >Herrn mit dem dicken Kopfe<.« (S. 45)

4. Der zu Tode verwundete Löwe ist noch ein gefährlicher Gegner

>Gum<

Selbst wenn es zum Tode verwundet ist, besitzt es noch so viel Lebenszähigkeit und Kraft, sich auf einen oder mehrere zu werfen, um sich vor seinem Verenden blutig zu rächen.

(S.59)

>Chasse<

»Hat der Löwe dagegen schon eine Kugel oder gar mehrere im Fleische, so zerreißt und tödtet er Jeden, den er packen kann, ja oft faßt er ihn mit den Zähnen, trägt ihn fort und schüttelt ihn heftig bis er andere Jäger bemerkt und diese anfällt. Ist der Löwe aber schwer, vielleicht tödtlich verwundet und er kann noch einen Menschen fassen, so packt er ihn mit aller Macht, zieht ihn unter sich, nimmt das Gesicht des Unglücklichen vor sich und scheint sich, wie die Katze mit der Maus, an seiner Todesangst zu weiden.« (S. 24)

5. Die arabische und die europäische Art und Weise, den Löwen zu jagen

Daß Gérard als einzelner Mann sich mutig und selbstvertrauend mit sicherer Büchse dem König der Tiere entgegenstellt, was dem Bewohner des Südens ... etwas Unerhörtes und Unbegreifliches (ist), konnten wir bereits dem weiter oben wiedergegebenen Zitat aus >Ibn el' amm< entnehmen.


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In der >Gum< schildert May die arabische Art der Löwenjagd wie folgt:

Der sonst so tapfere und unerschrockene Sohn der Wüste wagt es nämlich nie, wie der kühne europäische Jäger zu thun stets vorzieht, den Löwen allein anzugreifen. Es treten sämtliche waffenfähige Männer des Duars oder der Dachera (Gebäudedörfer) zusammen, suchen das Lager des Tieres auf, locken es durch lärmendes Rufen, Brüllen, Pfeifen, Schießen und Klappern aus demselben hervor und jagen ihm, sobald es erscheint, aus ihren langen, unsicher treffenden Flinten so viele Kugeln wie möglich in den Leib.

(S. 58f.)

Gérard beschreibt die Löwenjagd der Araber im Kapitel 2 von >Chasse< ausführlich:

»Gelangen sie an den Saum der Waldung, in welchem das Thier liegt, ohne daß die Tirailleurs dasselbe gesehen haben, so beginnen sie ein gewaltiges Geschrei, untermischt mit tausend Schimpfworten, welche ihrer Meinung nach den Löwen bewegen sollen sich zu zeigen. Bleibt er taub, so reizt man ihn dadurch noch unmittelbarer, daß man einige Kugeln dahinschießt, wo man ihn vermuthet. Solche Manöver dauern bisweilen mehrere Stunden und je länger sie währen, um so mehr zögern die Jäger mit dem Angriffe.« (S. 26)

Die steile Böschung grad mir gegenüber zog sich ein Gebüsch von Wacholder und stacheligen Mimosen hinan, welches von den Arabern umzingelt war. Es mußte den Löwen verbergen, denn die oberhalb des Gestrüppes Befindlichen rollten große Steine in dasselbe, um das Tier herauszutreiben. Die Männer schwangen ihre Flinten und tanzten dabei vor Aufregung und suchten sich durch kreischende Zurufe zu ermutigen. Ich empfing einen eigentümlichen Eindruck von dieser untaktischen Art und Weise, ein Wild zu jagen, welches sich am besten des Nachts, Auge in Auge und ohne Lärm erlegen läßt. (S. 62) »Das ist der entscheidende Augenblick, denn auf das Commando eines der Alten in der Schaar giebt ein Jeder Feuer und legt dann sein Gewehr bei Seite, um sich mit dem Pistol oder dem Yatagan zu bewaffnen. Europäische Jäger werden sich wundern, daß dreißig Schüsse auf zwanzig Schritte gegen ein Thier, das die Seite darbietet, nicht hinreichen sollen, dasselbe todt niederzustrekken. In sechs Fällen unter zehn fällt der Löwe wirklich nicht, denn es ist so schwer, ihm das Leben zu entreißen, daß er, wie viele Kugeln er auch erhalten haben mag, nicht stirbt, so lange das Herz oder das Gehirn nicht getroffen ist.« (S. 23)
Die Liebe des Ulanen<

»... Wir sind zu Sechzig ausgeritten, um ihn [den Löwen] zu tödten; er aber hat vier Männer von uns getödtet und viele verwundet, ohne daß wir ihn bestrafen konnten.« »Hast Du noch nicht gehört, daß oft ein einziger Franke ausgeht, um den Löwen zu schießen?« (S.866)

In >Chasse<, Kapitel 9, >Die rechte Löwenjagd in Algier<, empfiehlt Gérard u. a., den Löwen »Allein (...)« zu jagen (S. 100) und: »Warten Sie bis der Mond scheint, (...) es ist eine Thorheit, (...) in finsteren Nächten den Löwen zu jagen.« (S. 103)


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Die von May im Zusammenhang mit der Löwenjagd gern zitierten stacheligen Mimosen scheinen geradezu ein Musterbeispiel für eine Entlehnung von Gérard zu sein. Allein: die ließen sich in den beiden Werken Gérards nicht finden; allerdings spricht er vom »dichten, fast undurchdringlichen Gebüsch« (>Chasse<, S. 130). Hat May die mehr allgemein gehaltene Beschreibung Gérards phantasievoll ausgeformt?

6. Die Warnungen der Araber vor Antritt der Jagd

>Gum<

»Bist du toll, Sihdi,« lamentierte Hassan-el-Kebihr, »daß du dein Fleisch zerreißen und deine Knochen zermalmen lassen willst durch den >Herrn mit dem dicken Kopfe<, der mehr Kraft hat als zehn Scheitans, als hundertTeufel zusammengenommen? Du hast den Panther und sein Weib getötet, Assad-Bei aber spottet der Kugel und lacht deines Messers; sein Fell ist härter als der Schild des Nurab-aTor-el-Khadra.« (S. 59f.)

>Tueur<

»Ich sprang sofort ab und ging ihm entgegen, obgleich mich die Araber mit aller Gewalt davon abhalten wollten.« (S. 472)

>Chasse<

»Der alte Scheik bestand sehr dringend darauf, (...) mich in den Duar mit sich zurückzunehmen.« (S. 44)

7. Die Treffsicherheit der Helden

>Gum<

Wie ich später sah, war ihm [dem Panther] meine Kugel in das Auge gedrungen. (S.46)

... er stürzte mitten im Sprunge zur Erde ... Meine Kugel war ihm [dem Löwen] in das Auge gedrungen.

(S.64)

>Chasse<

»(...) er wollte einen zweiten Sprung thun als er, einen Zoll über dem rechten Auge getroffen, zusammenbrach.« (S. 109; auch S. 50)

>Tueur<

»Er (...) empfing, ehe er noch den Anlauf zu einem zweiten Sprunge nehmen konnte, die Kugel einen Zoll über dem rechten Auge, die ihn zu Boden streckte.« (S. 472)

Die Treffsicherheit der Helden à la Gérard nutzte May übrigens auch in seiner 1879 erschienenen Bearbeitung des >Waldläufer< als Mittel zur Unterstreichung der wunderbaren Fähigkeiten seiner (>guten<) Protagonisten: Bei Ferry wird der eine der beiden durstigen Jaguare »dicht


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am Gehirn getroffen«, während der andere, der »durch eine Kugel nicht hatte getötet werden können«, mit dem Messer einen Gnadenstoß erhielt, so daß er »seine Eingeweide durch eine ungeheure, mehr als einen Fuß lange Wunde verlor«.(22) Anders bei May: er läßt sowohl Bois-rosé als auch Pepe Dormillon durch je einen Meisterschuß die beiden Raubkatzen zur Strecke bringen, so daß zunächst »nicht die mindeste Spur von einer Verwundung« zu bemerken ist. Doch dann stellt einer der Anwesenden, Don Estevan, begeistert fest: »Wahrhaftig, jeder Schuß ins rechte Auge!... Euer Ruf sagt keine Unwahrheit; Ihr seid die besten Schützen, die ich gesehen habe!«(23)

8. Das Brüllen des Löwen

>Gum<

Es war mir wirklich, als zittere der Boden unter mir bei dem leise beginnenden, dann zu unbeschreiblicher Stärke an wachsenden und sich endlich in einem grimmigen Rollen verlierenden Gebrüll, welches der Araber so treffend mit dem Worte >Rad<, Donner, bezeichnet. (S. 63)

>Chasse<

»Das Brüllen besteht aus etwa einem Dutzend Tönen, die mit Seufzern anfangen, allmählich lauter werden und endigen, wie sie anfingen (...) Die Araber, deren Sprache reich an Vergleichen ist, haben für das Löwenbrüllen nur ein Wort und zwar rad (Donner).« (S. 12)

Ebenfalls im >Waldläufer< wird der Ablauf des Brüllens der beiden Raubkatzen (obwohl es sich nicht um Löwen handelt) von May dem bei Gérard beschriebenen angeglichen: es erscholl jetzt seitwärts von den Lagernden ein tiefes, grunsendes Brummen, welches schnell in eine höhere Tonlage überging und zu einem entsetzlichen Brüllen wurde.(24)

9. Der Araber entschließt sich nur ungern zur Jagd auf den Löwen

>Gum<

Er fürchtet die Stärke und Zähigkeit des Königs der Tiere und läßt sich lange Zeit von ihm berauben, ehe er sich zu einem Angriffe entschließt, der bei der gebräuchlichen Weise der Araber meistens mehrere Menschenleben kostet. (S. 58)

>Chasse<

»(...) aber man thut acht bis zehn Tage lang nichts gegen den Räuber. Erst wenn er recht empfindlichen Schaden angerichtet hat und es auch nicht gewiß zu sein scheint, ob er weiter wandert, unternimmt man es, ihn zu verjagen.« (S. 19)


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10. Der bramarbasierende Araber mit der riesigen Goliathgestalt, der sich dann jedoch als Hasenfuß entpuppt

>Gum<

Er war so hoch und breit gewachsen, daß mir beinahe ein Ausruf des Erstaunens entfahren wäre, und sein langer, dichter Vollbart, verbunden mit dem Umstande, daß er bis unter die Zähne in allen möglichen Waffensorten stak, gab ihm ein höchst martialisches Aussehen. (S. 15)

Ich begann zu ahnen, daß der gute Hassan el Kebihr trotz seiner riesigen Gestalt und des Waffenarsenals, welches er um sich hängen hatte, ein höchst unschädliches Menschenkind sei. Die Wüste hat ihre Renommisten ebenso wie die Bierbank oder der Salon. (S. 17)

»Aus deinem Munde spricht die Angst, und deine Rede trieft von Furcht, Hassan. Allah hat ein Weib geschaffen und ihm deine Gestalt gegeben!« (S. 60)

>Tueur<

»Ein anwesender Araber, eine Art Herkules, sagte mir zornig: >Hierher kommt er in der Nacht und mitten unter Männer, die du hier siehst. Das ist ein Bart, nicht wahr?< und dabei faßte er seinen Vollbart mit der Hand; >und meinst du, daß dies der Arm eines Mannes sei?< fuhr er fort und entblößte seinen muskulösen Arm; >und hältst du uns für Weiber, daß du uns vorfabeln willst, du werdest dich dem Löwen stellen, wenn er unser Hab und Gut verschlingt, was wir geschehen lassen müssen? Höre, am Tage, an dem du den Löwen töten wirst, soll der Bart fallen und ich will deine Magd sein!< Nach diesen Worten verließ der Mann stolz das Zelt.«

(S.442)

>Chasse<

Gérard spricht von den »riesenhaften Männern (...), welche Pferdekraft, aber Weibermuth haben«. (S. 54)

11. Die konischen Kugeln

>Gum<

Ich war meiner Büchse sicher ... jede der aus ihr geschossenen konischen Kugeln hatte bisher ihre Schuldigkeit gethan. (S. 61)

>Chasse<

»Beide Gewehre werden mit konischen Kugeln mit Stahlspitzen geladen.« (S. 98)

Sowohl in der >Chasse< (S. 110) als auch im >Tueur< (S. 472) erwähnt Gérard mehr beiläufig: »Ich lud später mit länglichen Eisenposten statt mit Bleikugeln« und »(ich ...) sah (...), daß meine Kugeln keine ausreichende Eindringungskraft hatten; von da an zog ich den Stangenpfosten [müßte wohl korrekt >Stangenposten< heißen. H.M.] der gewöhnlichen Kugel vor.« Der Nordafrika-Reisende Heinrich Freiherr von Maltzan weiß sogar zu berichten, daß Gérard bei seinen Löwenjagden »Explosionskugeln« verwendet habe. Wir kommen noch darauf zurück.


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12. Das sofortige Zurhandnehmen des Messers nach dem Schuß auf den Löwen

>Gum<

- ich drückte los und sprang sofort zurück, das Messer aus der Scheide ziehend. (S. 64)

>Tueur<

»Ich wartete, meinen Dolch in der Hand, auf dem Boden knieend, ab, bis sich der Rauch [nach dem Schuß auf den Löwen] verzog.« (S. 458)

»Ich faßte meinen Dolch und stieß ihn heftig in die Schläfe des Löwen [nach dem Schuß nämlich].« (S. 473)

Entsprechend verhalten sich auch, mit dem Bowiemesser zwischen den Zähnen,(25) die beiden Jaguar-Töter in der May-Fassung des >Waldläufer<: Zwei Schüsse krachten wie einer, und im Nu hatten die Schützen die Büchsen weggeworfen und die Messer ergriffen.(26)

IV

Dem aufmerksamen Leser Gérards bzw. Karl Mays wird es u.U. gelingen, weitere Motive aufzufinden, die May den beiden Werken Gérards entlehnt hat. >Hochinteressant< freilich erscheint die Feststellung, daß sich May, vielleicht in noch stärkerem Maße, von den dem Werk >La Chasse au Lion< beigegebenen Bildern des berühmten französischen Illustrators Gustave Doré hat inspirieren lassen. May schätzte Doré als genialen Zeichner und hat ihn auch in seinem Werk erwähnt.(27) Drei der insgesamt elf Abbildungen mögen dafür als Beispiel dienen, wie May die von Doré im Bild festgehaltene Situation in seiner Erzählung umgesetzt hat.

... und jetzt trat er hervor, nicht plötzlich, nicht nach Katzenart springend und schnellend, sondern langsam, mit sicheren, majestätischen Schritten. Die reiche, dunkle Mähne hing ihm wirr um Kopf und Vorderleib; den stark bequasteten Schwanz zog er lang gestreckt hinter sich her; es war wirklich ein prachtvoller Anblick, das edle, gewaltige Tier so selbstbewußt und ruhig inmitten der schnell auf seinen Leib gerichteten Gewehre stehen zu sehen und es wollte mir wirklich scheinen, als bemerke ich ein verächtliches Funkeln der großen rollenden Augen.(>Gum<, S.62)


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Le lion passe majesteusement devant eux.
[Übers.: Der Löwe geht majestätisch an ihnen vorbei]

Zwei von ihnen lagen unter seinen Tatzen ... Einer von ihnen hatte seine Flinte noch nicht abgeschossen. Mutiger als die anderen, deren größter Teil sich nach der Salve zur Flucht gewandt hatte, blieb er stehen, zielte und drückte los. (>Gum<, S. 63f.)


C'est ordinairement un parent de la victime qui se dévoue.
[Übers.: Meist ist es ein Verwandter des Opfers, der sich aufopfert]


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Ihm die beiden Vordertatzen auf die Brust setzend, stieß es ein zweites, wo möglich noch erschreckenderes Brüllen aus als vorher. Im folgenden Momente mußte der Mann zerrissen sein. In eiligen Sprüngen lief ich hinzu und kniete nur wenige Schritte von dem Löwen nieder. Dieser bemerkte mich und trat von seinem Opfer zurück, ein Umstand, welcher nur außerordentlich selten vorzukommen pflegt. Ich legte an. Es war nicht Furcht und nicht Angst, was ich in diesem Augenblick empfand; es giebt keine Bezeichnung für das Gefühl, welches jede Faser in mir anspannte. Die rollenden Augen glühten mir vernichtend entgegen, der Schwanz krümmte sich verräterisch; die kraftvollen Pranken zogen sich zum Sprunge zusammen, ein kurzes Zucken ging über den sich niederduckenden Leib ...(>Gum<, S. 64)


Je visai à la tempe, et je pressai la détente ... le coup ne partit pas.
[Übers.: Ich zielte auf die Schläfe, und ich drückte auf den Abzug ... der Schuß ging nicht los.]

Ein Gesichtspunkt allerdings schält sich bei einem Vergleich der May-Handlung mit den Bildunterschriften heraus: May hat keineswegs die von Gérard beschriebene und von Doré im Bild festgehaltene Situation unmittelbar für seine Erzählung verwendet. Er hat vielmehr allein das Bild Dorés auf sich wirken lassen und den empfangenen Eindruck in s e i n e Handlung umgesetzt. Wir wissen, daß sich May durch ihm vorgegebene Bilder sogar zu umfangreichen kompletten Erzählungen hat inspirieren lassen.(28)


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Soweit die >Sujets<, die May für die Schilderung seiner Löwenjagd bei Gérard entlehnt und insbesondere in seiner Hausschatz-Erzählung >Unter Würgern< (Buchausgabe: >Die Gum<) verarbeitet hat.

In dem Bestreben, die ursprüngliche Kurzgeschichte >Die Gum< (1878) zu einer größeren Abenteuer-Erzählung zu erweitern, hat May in >Unter Würgern< zu der bereits früher geschilderten Löwenjagd u. a. noch das Abenteuer einer Jagd auf den schwarzen Panther hinzufabuliert. Die Jagd auf den Panther beschreibt Gérard ja ebenfalls in seinem Buch >La Chasse au Lion<. Während Gérard den Panther allerdings als ein zwar »listiges, gewandtes, geduldiges«, jedoch bei allem »harmloses und furchtsames Thier« beschreibt, weiß May zu berichten, daß der Panther... beinahe noch gefürchteter ist, als der Löwe.(29) In diesem Falle dürfte es Gérard sein, der die Gefährlichkeit des Panthers bewußt herabspielte, um als Löwenjäger desto heldenhafter dazustehen. Denn als Pantherjäger hatte nicht er, sondern ein anderer Franzose, Bonbonnel, sich einen Namen gemacht. Heinrich von Maltzan jedenfalls schrieb: »Dieses Raubthier ist der Panther, ein in Wirklichkeit nicht minder gefährliches Thier als der Löwe (...) Seine Instincte sind sogar noch ein gut Theil grausamer, denn der Löwe zerfleischt gewöhnlich nur das eine Thier, das er fressen will. Der Panther dagegen findet im Morden selbst seine Lust (...)«(30) und »Durch Bonbonnel wurde die Pantherjagd zu Ehren gebracht (...).«(31)

Wer aber ist nun dieser Jules Gérard?

V

> Le Tueur de Lions<, zu deutsch >Der Löwentöter<: damit ist also Jules Gérard gemeint, auch der >Löwenjäger< genannt. Sein Name tauchte in Deutschland in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts immer wieder in den unterhaltenden Familienzeitschriften und Reisebeschreibungen im Zusammenhang mit spektakulären Erlebnissen bei der Löwenjagd auf; seriöse wissenschaftliche Blätter berichteten von seinen Expeditionen, >Meyer's neues Konversations-Lexikon< (1868) erwähnt den »berühmten Jules Gérard« gelegentlich der Beschreibung des felis leo, des Löwen, seiner Verbreitung und Lebensweise; das von Gérard verfaßte Werk >La Chasse au Lion< (es wurde, wie bereits erwähnt, von dem berühmten französischen Illustrator Gustave Doré mit packenden Abbildungen versehen) wurde in Übersetzung zweimal in Deutschland veröffentlicht, und die Knabenzeitschrift >Der Gute Kamerad< brachte 1896 im 11. Jahrgang, in dem auch Karl May seinen


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>Schwarzen Mustang< erstmals abdrucken ließ, große Teile aus Gérards erstem Werk, dem >Le Tueur de Lions<. Und wie sieht es heute, mehr als 120 Jahre nach dem Tode des zu seinen Lebzeiten hochgeachteten und hochgeehrten Mannes, aus?

Im >Institut Français de Hanovre<, dem eine französisch-sprachige Bibliothek von immerhin rd. 15 000 Büchern angegliedert ist, ist Jules Gérard nicht bekannt. Die hilfreiche Bibliothekarin konnte trotz gewissenhaften Suchens in der sorgfältig nach Titeln und Verfassern gegliederten Kartei weder den Namen Jules Gérard noch seine beiden Werke auffinden. Auch in dem vom Institut Français benutzten umfänglichen Nachschlagewerk >Les livres disponibles< (Ausgabe 1979) ist Gérard nicht verzeichnet. Man muß schon großes Glück haben, wenn man eines der damals in bibliophiler Aufmachung erschienenen Werke des Löwenjägers in einem deutschen Antiquariat entdecken will. Das in deutscher Übersetzung unter dem Titel >Der Löwenjäger< erschienene Buch >La Chasse au Lion< scheint nur noch in ganz wenigen Exemplaren in einigen öffentlichen Bibliotheken vorhanden zu sein; zur >Einsichtnahme nur in den Räumen der Bibliothek<. Im Verlag Rocher soll jedoch soeben (1992) von Jules Gérard das Werk >Chasseurs de Lions en Algérie< herausgekommen sein.

Man geht wohl nicht fehl mit der Feststellung, daß der Name Jules Gérard bei uns kaum noch bekannt wäre, hätte nicht Karl May ihn mehrfach erwähnt und so dafür gesorgt, daß er nicht in Vergessenheit gerät.

VI

Zu einer Beschäftigung mit Jules Gérard gehört ein kurzer Abriß der Geschichte und der geographischen Gegebenheiten Algeriens, des Teiles von Nordafrika, in dem Gérard innerhalb von 11 Jahren 25 Löwen erlegte und bei der einheimischen Bevölkerung legendären Ruhm erwarb. Ludwig Schneller gibt uns (1905) einen knappen, aber informativen Bericht über den historischen Hintergrund:

»Ums Jahr 1000 blüht zum ersten Male Algier auf, die Gründung des arabischen Fürsten Zeiri, und sieben Jahrhunderte hindurch dauert die arabische, maurische und türkische Herrschaft. Jahrhunderte lang sind die Herren von Algier die kühnsten aller Piraten, der Schrecken aller seefahrenden Nationen des Abendlandes. Tausende von christlichen Gefangenen, Seeleute, Kaufherren, Gelehrte, sind dort drunten in jenem Hafen, wo ich heute angekommen bin, als Sklaven gelandet worden, und manche edle christliche Frau und Jungfrau wurde auf den


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stolzen Piratenschiffen als schöne Beute heimgebracht, um im Harem ihres rohen Räubers den Rest ihres Lebens zu verseufzen.

Alle Kriegszüge des Abendlandes unter Kaiser Karl V. und Ludwig XIV. konnten die Korsarenherrschaft nicht brechen, und es will uns heute fast wie ein Märchen klingen, daß sich noch vor wenig mehr denn 80 Jahren die algerischen Seeräuber bis in die Nordsee wagten, und daß christliche Mächte wie Italien, Sardinien, Portugal, Hannover, Hamburg, Bremen, Dänemark, Schweden und selbst England den Seeräubern jährlich einen Tribut von Hunderttausenden zahlten, um ihre Schiffe vor ihren Angriffen sicherzustellen.

Erst im Jahre 1827 nach einer beängstigend langen Pause ging abermals ein Szenenwechsel vor sich und machte der Mißwirtschaft der türkischen Beis und unabhängigen Deis ein Ende. Der Dei hatte in einem Schreiben an den König von Frankreich Zahlung von Getreidelieferungen verlangt, die Algier während des ägyptischen Feldzuges an den General Bonaparte ausgeführt hatte. Bei einem Empfang der europäischen Konsuln auf der Kasba, dem Kastell, das heute noch von der höchsten Höhe Algiers drohend zum Meere herunterschaut, fragt der Dei, ob die Antwort des Königs nicht bald käme. Der Franzose erwidert stolz: »Ein König von Frankreich wird sich nicht dazu erniedrigen, einem Dei von Algier einen Brief zu schreiben.« Dem Dei schießt das Blut in den Kopf, er schlägt den Konsul mit seinem Fliegenwedel ins Gesicht und ergeht sich in heftigen Schmähungen gegen den König von Frankreich. Der Franzose aber macht Kehrt und verläßt mit unheildrohender Miene die Burg.

Das ist der berühmte Fächerschlag, der für Algier das Ende seiner Herrschaft, für Frankreich den Gewinn einer seiner schönsten Kolonien bedeutete. Eine mächtige französische Flotte ging vor Algier vor Anker. Wohl verschanzte und verteidigte sich der Dei mit seinen Tapferen droben hinter den schwarzen Mauern der festen mittelalterlichen Kasba. Aber den furchtbaren Mündungen der Kanonen, welche auf Festung und Forts gerichtet waren, konnte er nicht widerstehen. Er mußte sich ergeben und verlor Krone und Reich.

Seit jener Zeit weht die französische Fahne von der Kasba und ihren Wällen, und das arabische Reich gehorcht seitdem, wenn auch widerwillig und mit mühsam verhaltenem Grimm, der großen europäischen Westmacht, vor deren Toren es gelegen ist.«(32)

In geographischer Hinsicht wird Algerien vom Atlasgebirge geprägt, es handelt sich um ein 2300 Kilometer langes, von der Küste von Tunis bis zur atlantischen Küste Marokkos reichendes Gebirgsmassiv, von dem, ausdehnungsmäßig, etwa die Hälfte auf das hier interessierende algerische Steppenplateau der Schotts entfällt. Im Norden wird dieser - von den Franzosen >Hauts Plateaux< bezeichnete - zwischen 800 und 1100 Meter hohe Gebirgswall, das >Hochland der Schotts<, vom sog. Tell-Atlas (auch Kleiner Atlas genannt) mit seinen bis über 2000 Meter großen Erhebungen begrenzt; südlich der im Osten 80 Kilometer, im Westen bis 170 Kilometer breiten Hochebene befindet sich die Kette des


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Großen oder Sahara-Atlas, der im Dschebel Aures mit 2328 Metern seine größte Höhe erreicht.

Das eigentliche anbaufähige Gebiet ist, wenn man einmal von den Oasen der Wüste absieht, das sog. >Tell<, das >Culturland Algeriens<, wie es Schweiger-Lerchenfeld(33) im Jahre 1886 bezeichnet hat. Es beschränkt sich auf den Küstenlandstrich und den nördlich gelegenen Teil des Tell-Atlas. Die Hochebene mit ihren warmen Sommern und sehr kalten Wintern wird geprägt durch die typische Steppenflora mit Weidekräutern und Halfa-Gras. Demzufolge ist hier auch in gewissem Umfange die Viehzucht möglich. Wer könnte diese Region der Steppe anschaulicher und lebendiger beschreiben als Karl May:

Die Steppe! -

Im Süden des Atlas, des Gharian und der Gebirge von Derna liegt sie, von welcher Freiligrath so treffend sagt:

»Sie dehnt sich aus von Meer zu Meere;
Wer sie durchritten hat, dem graust.
Sie liegt vor Gott in ihrer Leere
Wie eine leere Bettlerfaust.
Die Ströme, die sie jach durchrinnen,
Die ausgefahrnen Gleise, drinnen
Des Kolonisten Rad sich wand,
Die Spur, in der die Büffel traben -
Das sind, vom Himmel selbst gegraben,
Die Furchen dieser Riesenhand.«

Von dem Gebiete des Mittelmeeres sich bis zur Sahara erstreckend, also zwischen dem Sinnbilde der Fruchtbarkeit, der Civilisation und dem Zeichen der Unfruchtbarkeit, der Barbarei, bildet sie eine breite Reihe von Hochebenen und nackten Höhenzügen, deren kahle Berge wie die klagenden Seufzer eines unerhörten Gebetes aus traurigen, öden Flächen emporsteigen. Kein Baum, kein Haus! Höchstens ein einsames, halb verfallenes Karawanserai bietet dem Auge einen wohlthätigen Ruhepunkt, und nur im Sommer, wenn ein armseliger Pflanzenwuchs den sterilen Boden durchdringt, wandern einige Araberstämme mit ihren Zelten und Herden zur Höhe, um ihren mageren Tieren eine kaum genügende Weide zu bieten. Im Winter aber liegt die Steppe vollständig verlassen unter der Decke des Schnees, welcher auch hier trotz der Nähe der glühenden Sahara mit seinen Flockenwirbeln über die erstorbene Einöde fegt.

Nichts ist rundum zu schauen als Sand, Stein und nackter Felsen. Kieselbruch und scharfes Geröll bedeckt den Boden, oder wandernde Ghuds (Dünen) schleichen sich, von dem fliegenden Sande genährt, Schritt um Schritt über die traurige Fläche, und wo sich irgend einmal ein stehendes Gewässer zeigt, da ist es doch nur ein lebloser Schott, dessen Wasser in seinem Becken liegt, wie eine tote Masse, aus welcher jeder frische, blaue Ton verschwunden ist, um einem starren, unbelebten


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und schmutzigen Grau zu weichen. Diese Schotts vertrocknen während der Sommerhitze und lassen dann nichts zurück als ein mit Steinsalz geschwängertes Bett, dessen stechende Reflexe den Nerv des Auges töten.

Einst hat es auch hier Wälder gegeben; aber sie sind verschwunden, und nun fehlen die segensreichen Regulatoren der feuchten Niederschläge. Die Betten der Bäche und Flüsse, Wadis genannt, ziehen sich im Sommer als scharfe Einschnitte und wilde, felsige Schluchten von den Höhen herab, und selbst der Schnee des Winters vermag ihr grausiges Gewirr nicht genugsam zu verhüllen. Schmilzt er aber unter der Wärme der plötzlich eintretenden heißen Jahreszeit, so stürzt sich die brausende, tobende und donnernde Wassermasse ganz unvorhergesehen mit weithin hörbarem Brüllen zur Tiefe und vernichtet alles, was nicht Zeit findet, die schleunige Flucht zu ergreifen. Dann faßt der Beduine an die neunundneunzig Kugeln seines Rosenkranzes, um Allah zu danken, daß er ihn nicht dem Wasser begegnen ließ, und warnt die Bedrohten durch den lauten Ruf »Flieht, ihr Männer, der Wadi kommt!«

Durch diese zeitweilige Flut und die stehenden Wasser der Schotts werden an den Ufern der Seen und Wadis dornige Sträucher und stachelige Mimosen hervorgelockt, welche die Kamele vermöge ihrer harten Lippen benagen können, unter deren Schutze aber auch der Löwe und der Panther schlafen, um von ihren nächtlichen Razzias auszuruhen. - (>Gum<, S. 32ff »)

Mit der Eroberung der Stadt Algier Mitte 1830 befand sich nun freilich das Hinterland noch keineswegs im Besitz der Franzosen; sie mußten es erst in langwierigen und z. T. auf beiden Seiten mit großer Grausamkeit geführten Kämpfen erobern. Symbolfigur und Hauptorganisator des Widerstandes der einheimischen Stämme war der Emir von Mascara, Abd el Kader. Von 1832 bis 1847 währte sein Kampf gegen die Franzosen, ehe ihn diese gefangennehmen und nach Frankreich schaffen konnten.(34)

Während dieser unruhigen Zeit der immer wieder aufflackernden Kämpfe und Erhebungen gegen die französischen Eindringlinge kam auch Gérard nach Algerien. Als Freiwilliger machte er im dritten Spahi-Regiment verschiedene Feldzüge mit. In seiner freien Zeit betätigte er sich als Jäger, um den Eingeborenen gegen die Löwenplage zu helfen. Durch seinen Mut und seine Tollkühnheit sollte er schon bald zu Ruhm und Ehren kommen.

VII

1872 berichtete die Encyclopédie Larousse über Jules Gérard: »Gérard (Cécile-Jules-Basile), genannt der LÖWENTÖTER, französischer Offizier, geboren in Pignans (Var) am 14. Juni 1817, gestorben im


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Sherboro-Land im Juni 1864. Mit 24 Jahren trat er als Freiwilliger in das Spahi-Corps ein. Von kleiner Statur und einer scheinbar zarten Konstitution, ließ nichts in seinem Äußeren, seiner Stimme und seiner anmutigen Figur etwas von der Kaltblütigkeit und der Energie erahnen, die er schon bald unter Beweis stellen sollte. Ausgestattet mit einer unvergleichlichen Kühnheit, gleichzeitig aber auch mit einer stetserprobten Geschicklichkeit, begab er sich auf die Jagd auf die gefürchteten Löwen, die die verschiedenen Bereiche unserer algerischen Kolonie verheerten, und er hatte dabei in einem derartigen Maße Erfolg, daß sein Name rasch geradezu volkstümlich wurde und zwar nicht nur bei uns [den Franzosen], sondern auch bei den arabischen Einwohnern, die ihn den >Schrecklichen Franzosen< nannten. Innerhalb eines Zeitraumes von 11 Jahren erlegte er 25 Löwen.«(35)

Über sich selbst, wie er zu dem Beruf kam und wie er erstmals den Boden Afrikas betrat, berichtet Gérard in >Le Tueur de Lions< in dem Kapitel >Ma Vocation<:

»Mit zehn Jahren jagte ich mit einem alten Schießprügel die Spatzen, die mir im Garten meines Vaters das Obst streitig machen wollten, und (...) die Katzen, die mir die Spatzen streitig machten. Ich versammelte alle Kinder unseres Bezirks um mich, um Krieg zu spielen. Mit sechzehn hätte ich bereits Unterrichtsstunden im Fechten und im Faustkampf geben können. Eines Tages sah ich auf einem Kirchweihfest, wie ein Kerl, ein wahrer Herkules, eine Frau auf brutalste Art und Weise mißhandelte: die Menge stand im Kreis darum herum und niemand schritt ein. Ich schob mich zwischen die Ärmste und den Kraftprotz und sagte zu diesem: >Du Feigling! Laß sogleich diese Frau zufrieden oder ich schlage Dich sofort selbst zusammen!< Der ausgewachsene Kerl wurde von dem Knaben in seine Schranken verwiesen und mit Hohngelächter von der Menge verfolgt: die Frau war gerächt und machte sich voller Dankbarkeit aus dem Staube. Indessen brannte ich darauf, meine Kräfte anderweitig zu erproben als bei Prügeleien. Ausgestattet mit einem festen Willen und einem grenzenlosen Selbstvertrauen nahm ich mir vor, von nun an von meinen Fähigkeiten nur Gebrauch zu machen, um zu dem Ziel zu gelangen, das zu erreichen ich mir vorgenommen hatte. Den größten Gefahren, die sich mir darbieten könnten, die Stirn zu bieten, mit allen Mitteln diejenigen zu suchen, die sich partout nicht finden lassen wollten, um schließlich ein würdiges Oberhaupt meiner Familie zu werden und den Meinen eine bessere Zukunft zu bieten; das war sie, meine fixe Idee. Es war der Hintergrund, vor dem ich mich als Freiwilliger bei den Spahis verpflichtete und am 19. 6. 1842 bei Bône an Land ging. Wie die meisten der jungen Leute, die nach Afrika gehen, glaubte ich, daß die Gelegenheit, mich auszuzeichnen, nicht lange auf sich warten lassen würde ( ... ).«(36)


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Gérard beschreibt dann, wie er zunächst von einem Offizier als Ordonnanz, besser ausgedrückt: als Bursche, zur Betreuung der Pferde, Instandhaltung der Waffen und zum Stiefelputzen vereinnahmt werden sollte. Weiter bemühte sich ein Rechnungsführer, ihn als Schreiber zu gewinnen. Es gelang Gérard, alle diese >Angriffe< abzuschmettern. Er schreibt: »Man gab mir alsdann Waffen, ein Pferd, ein komplettes Zaumzeug. So ausgerüstet von Kopf bis Fuß gab es nichts anderes, als hinauszuziehen in den Krieg!«(37)

Nach einer einführenden Schilderung von Land und Leuten Algeriens gibt Gérard einige Anmerkungen zu den damaligen kriegerischen Ereignissen in Nordafrika-, doch den weitaus überwiegenden Teil seines Buches widmet der >Löwentöter< seinen Erlebnissen bei der Löwenjagd, wie sie der >Gute Kamerad< 1896 in deutscher Übersetzung der Jugend zugänglich machte.

Besondere Aufmerksamkeit verdient das Kapitel XII des >Le Tueur des Lions< mit der Überschrift >Histoire d' un enfant trouvé (>Geschichte eines Findelkindes<). Diese Berichterstattung erregte damals, vor über 130 Jahren, auch in Deutschland Aufsehen, und die >Gartenlaube< gab sie im Jahrgang 1855 wieder. Diese Anteilnahme erweckende Schilderung des Lebensweges eines von Gérard aufgelesenen Löwenkindes gibt zugleich einen interessanten Einblick in die Mentalität und charakterliche Veranlagung des >Löwentöters<. Der Bericht aus der >Gartenlaube< wird als Anhang wiedergegeben.

Gelegentlich zweier mehrmonatiger Urlaubsaufenthalte in Frankreich (Dezember 1847 bis Sommer 1848 sowie Spätsommer 1853) trug sich Gérard übrigens mit dem Gedanken, eine stationäre Löwenschau einzurichten. Diese Pläne, für die er auch einflußreiche Persönlichkeiten zu gewinnen suchte, zerschlugen sich jedoch.

Der >Larousse< fährt in seiner Berichterstattung über Gérard fort: »1855 kehrte Gérard mit dem Rang eines Unter-Leutnants nach Frankreich zurück und erhielt in der Folge die Kapitäns-Schulterstücke; bereits 1847 war er zum Ritter der Ehrenlegion ernannt worden. Im Oktober 1860 errang er beim nationalen Schießwettkampf in Vincennes den großen Preis im Wert von über 11000 Franken. Seit jener Zeit hielt Jules Gérard, sei es durch eigene Veröffentlichungen bzw. die seiner Freunde, das öffentliche Interesse an seinen waidmännischen Erfolgen wach; eine Art schwärmerisches Interesse knüpfte sich an seinen Namen, als plötzlich die Nachricht von seinem Tode bekannt wurde.«(38)

So spektakulär und erfolgreich Gérards Abenteuer als >Löwentöter< in Algerien verlaufen sind, so sehr waren seine späteren Unternehmun-


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gen als Forschungsreisender in Westafrika von Mißgeschick und Unheil überschattet. Der >Larousse< berichtet hierüber:

»Der unerschrockene Löwentöter hatte sich an die Westküste Afrikas begeben, um, ausgestattet mit Instruktionen der Königlich Geographischen Gesellschaft zu London und versehen mit Empfehlungsschreiben mehrerer englischer Persönlichkeiten, eine Forschungsexpedition in das Innere des Landes durchzuführen. Zunächst hatte er sich vorgenommen, die Gebirgskette des Kong in Nord-Guinea aufzusuchen, die zur damaligen Zeit von noch keinem Europäer durchquert worden war. In den letzten Monaten des Jahres 1863 hatte er England verlassen , kam in Wyddah an und drang von dort aus in das Königreich Dahomey ein, von wo auch seine Briefe datiert waren. Nachdem er vergeblich versucht hatte, durch Dahomey in das Innere Afrikas vorzudringen, ging er nach Sierra Leone, wo ein englisches Kriegsschiff für ihn bereitgestellt wurde und ihn in die Gegend des Flusses Gallinas brachte. Einige Tage, nachdem er an Land gegangen war, verlor er sein sämtliches Gepäck, und er zog sich in das Sherboro-Land zurück, wo die dort befindlichen Franzosen ihn neu ausstatteten. So brach er dann im Monat Mai 1864 von dem Dorf Begboom auf, als er nach einem zweistündigen Marsch erneut vollkommen ausgeraubt wurde. Er sah sich zur Rückkehr gezwungen, nahm sich aber vor, das Ende der Regenzeit abzuwarten, bevor er sich wieder in Marsch setzte. Aber da seine Mittel und Vorräte vollkommen erschöpft waren, wollte er trotzdem nach Sierra Leone zurückkehren. Er, der mit so fürchterlichen Gegnern gekämpft hatte und sich mehr als einmal unter den Tatzen eines Löwen hatte schon sterben sehen, ertrank bei der Überquerung des Flusses Jong, der durch die Regenfälle stark angeschwollen war.«(39)

VIII

Gérard hat mehrere Buchveröffentlichungen hinterlassen, von denen >Le Tueur de Lions< und >La Chasse au Lion< auch in Deutschland bekannt wurden. Beide Werke sind etwa zeitgleich Mitte der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts erschienen. >Le Tueur de Lions< wurde zuerst im Feuilleton des >Moniteur universel< (1854 oder 1855) veröffentlicht. Die erste Buchausgabe erschien 1855 bei Hachette, Paris; sie war gewidmet Herrn Léon Bertrand, dem Direktor des >Journal des Chasseurs<. Die Widmung ist datiert: >Constantine, den 1. August 1855<. Das Buch erlebte bis 1910 zwanzig Folgeauflagen. Eine besonders schöne, mit Goldschnitt versehene großformatige Ausgabe dieses


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Werks wurde 1892 im Rahmen der >Bibliothèque des écoles et des familles< des Verlags Librairie Hachette et Cie., Paris, veröffentlicht; sie war ausgestattet mit 32 z.T. ganzseitigen Stichen und Textbildern. Noch 1920 brachte der Verlag dieses Buch in Neuauflage auf den Markt.

Die andere Veröffentlichung Gérards, >La Chasse au Lion<, erschien als Erstausgabe 1854 unter dem Titel >La Chasse au Lion et les autres Chasses de L'Algérie< im Verlag des >Journal des Chasseurs<, Paris; sie besaß vier nicht besonders attraktive Holzschnitte eines Unbekannten. 1855 folgte dann die Buchausgabe mit den 11 Stichen von Gustave Doré sowie einem Porträt des Verfassers im Verlag Librairie Nouvelle, Paris, >Gewidmet in respektvoller Ergebenheit und tiefer Dankbarkeit dem Grafen Randon, Divisiongeneral und Generalgouverneur von Algerien von Jules Gérard, Leutnant im 3. Spahi-Regiment<. Der Verlag brachte noch im selben Jahr (1855) eine weitere, kleinformatige Auflage heraus. Während der >Tueur< in chronologischer Reihenfolge den Werdegang Gérards schildert - Kindheit, Eintritt in die Armee, Zeit in Nordafrika bis etwa 1853/54 (wobei die dortigen Erlebnisse auf der Löwenjagd breiten Raum einnehmen), zwischenzeitliche Aufenthalte in Frankreich - ist >La Chasse au Lion< eine systematisch aufgebaute Darstellung der Jagd in Nordafrika allgemein, auf Groß- und Niederwild bis hin zur Falknerei; allerdings nimmt auch in diesem Werk die Jagd auf den Löwen - die Gérard berühmt machte - den weitaus größeren Raum seiner Schilderungen ein.

>La Chasse< erlebte in Frankreich eine Neuherausgabe im Jahre 1874 als Gemeinschaftsausgabe der Verlage Michel Lévy frères, Paris, und Librairie Nouvelle, Paris. Sie brachten auch eine Ausgabe mit erhöhter Anzahl der Bildbeigaben (23) heraus, die elf Stiche von Doré waren mit dabei.

Weitere Buchveröffentlichungen Gérards folgten in den Jahren

1860 - >L'Afrique du Nord, description, histoire, armée, populations, administration et colonisation<
- >Exploration du Sahara et du continent africain<

1862 - >Les Chasses d'Afrique<
- >Le mangeur d'hommes<
- >Voyages et chasses dans l'Himalaya<

1877 - >Mes dernières chasses<(40)

Die Werke Gérards wurden außer ins Deutsche auch in andere Sprachen übersetzt, z. B. ins Englische (Jules Gérard: >Lion Hunting<. London o.J.: Bill and Daldy).


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Das deutsche Lesepublikum hatte schon frühzeitig die Möglichkeit, die Jagdabenteuer Gérards kennenzulernen: Bereits 1855, also noch im Ersterscheinungsjahr von >La Chasse au Lion<, veröffentlichte der Verlag von Carl B. Lorck, Leipzig, im Rahmen seiner >Conversations- und Reisebibliothek< eine deutsche Übersetzung dieses Werkes unter dem Titel >Der Löwenjäger<. Die Übersetzung aus dem Französischen besorgte Dr. August Diezmann, der auch ein Vorwort beisteuerte. Einige Jahre nach dieser ersten Veröffentlichung in deutscher Sprache, im Jahre 1863, erschien ein weiterer Abdruck desselben Buches in Deutschland und zwar als Band 1 der >Bibliothek für Sport und Jagd<, Leipzig.

Auch das andere Werk Gérards, >Le Tueur de Lions< wurde, zumindest in seinen wesentlichen, die eigentliche Löwenjagd betreffenden Teilen, ins Deutsche übertragen: Im elften Jahrgang des >Guten Kameraden< (Jg. 1897, Okt. 96 bis Sept. 97), erschienen in den Lieferungsheften 32-37 sechs Folgen >Erzählungen des Löwenjägers Gérard<. Im selben Jahrgang finden sich weitere Jagd-Beschreibungen: eine Adlerjagd, eine Bärenjagd in Lappland, ferner ein Bericht vom Walfischfang. Ohne Zweifel werden die abenteuerlichen Berichte Gérards bei den Lesern der illustrierten Knaben-Zeitung Anteilnahme geweckt haben, auch wenn die Schilderungen insgesamt etwas langatmig sind und unübersichtlich wirken.

In seiner Anthologie >Ost und West< - erste Auflage 1855, fünfte Auflage 1889 - widmet Theodor Dielitz im Abschnitt >Skizzen aus der Berberei< das 16. Kapitel unter dem Titel >Der Löwenjäger< Jules Gérard. Bei der Wiedergabe der (ersten drei) Löwenabenteuer Gérards aus dem >Tueur< hat Dielitz »sowohl im Stoff als in der Darstellung sehr bedeutende Änderungen vorgenommen« .(41)

Die >Gartenlaube< berichtete mehrfach über Gérard, den »berühmten Löwentödter«, und seine »Anleitung zur Löwenjagd«.(42) 1872 veröffentlichte der Forschungsreisende Heinrich Freiherr von Maltzan (u. a. >Meine Wallfahrt nach Mekka<, Leipzig 1864(43)), ebenfalls in der Gartenlaube, einen umfangreichen Beitrag >Jagd-Romantik in Nordafrika< .(44) Er befaßt sich darin ausführlich mit Gérard, dem »ersten berühmten Löwenjäger«, und seiner »ganz neuen und tollkühnen Verfahrensweise« bei der Löwenjagd.

Die eingeborenen Araber, die Gérard von dem Verwüster ihrer Herden befreite, »verehrten ihn« - so von Maltzan - »fast wie ein übernatürliches Wesen, einmal seines Muthes, den sie nur einer göttlichen Inspiration zuschrieben, dann seiner nie ihr Ziel verfehlenden Waffen wegen, deren überraschende Eigenschaften sie natürlich mit ihm selbst


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in Verbindung brachten und für einen wunderwirkenden Kraftausfluß dieses außerordentlichen Mannes hielten«.

Von Maltzan weiß dann allerdings noch über einen verblüffenden Aspekt der Löwenjagd bei Gérard zu berichten, der freilich dazu angetan wäre, das hohe Ansehen des >Löwentöters< ein wenig herabzusetzen. Er schreibt: »Gérard (... war) nicht nur (...) seines Schusses gewiß, wenn er nur den Löwen recht zu Gesicht bekam, sondern er konnte auch hoffen, ihn augenblicklich zu tödten. Er war nämlich im Besitze der sogenannten >Balle Decisme<, einer Explosionskugel, die eigens für solche Fälle von dem Pariser Büchsenmacher, dessen Namen sie führt, erfunden worden war. Diese Erfindung war nothwendig geworden, da man beobachtet hatte, daß selbst der tödtlich getroffene, aber durch eine gewöhnliche Kugel verwundete Löwe nicht auf der Stelle stirbt, sondern in den meisten Fällen noch eine halbe, oft eine ganze Minute lebt und die Kraft behält, um auf seinen Verwunder loszuspringen, auf dessen Körper er dann freilich bald verendet, aber nicht ohne ihn fürchterlich zerfleischt oder selbst getödtet zu haben.«(45)

Die Verwendung dieser Explosionskugel durch Gérard wäre nun in der Tat eine bemerkenswerte Sache; nur, Gérard erwähnt sie in seinen Jagdbeschreibungen nicht. Statt dessen spricht er, falls er seine Kugeln überhaupt erwähnt, von den »konischen Kugeln«, von >Eisen- oder Stangenposten< (s. oben Abschnitt III, Ziffer 11). Mit den »konischen Kugeln« geht ja auch das >Ich< bei Karl May auf die Löwenjagd. Das Jagdgewehr im >Tueur< ist, wie schon de Rooy berichtet(46) sehr ausführlich von Gérard beschrieben worden, und Karl May kennt neben dem zweiläufigen >Bärentödter< bzw. >Büffeltödter< noch den 25schüssigen Henrystutzen, aber von >Explosionskugeln< ist in beiden Fällen nicht die Rede.

Die sich insofern ergebenden Fragen bedürfen der Klärung, denn ein Verschweigen der Explosionskugel durch Gérard wäre unredlich gewesen, wäre doch die Löwenjagd dem Leser der >Chasse< oder des >Tueur< mit Sicherheit nur noch halb so aufregend und gefährlich erschienen.

Die Antwort findet sich im >Larousse< unter dem Stichwort >Balle foudroyante<:

»Balle foudroyante« [wörtl. etwa: »niederschmetternde Kugel«]. Name, den der Pariser Büchsenmacher Devisme einer von ihm erfundenen Explosionskugel gegeben hat, die speziell für die Jagd auf gefährliche Raubtiere und Großwild bestimmt ist. Tatsächlich handelt es sich nur um eine weiterentwickelte Granat-Kugel, perfektioniert zu einem Instrument mit der verheerendsten Wirkung.


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Diese Kugel besteht aus einer Kupferhülse, deren Länge zwischen 60 und 110 mm variiert -je nachdem, welches Raubtier gejagt werden soll -und deren mittlerer Bereich äußerlich von einem Blei-Lager ummantelt ist [es folgt eine nähere Beschreibung des Aufbaus und der Wirkungsweise der balle foudroyante]. (...) Die b. f. wurde auf Betreiben von Jules Gérard erfunden. Es war 1857, als dieser berühmte Löwentöter, der sich in die gefährlichen Situationen zurückversetzte, in denen er sich mehrfach befand, wenn das getroffene Raubtier nicht sogleich tot war, und noch unter dem Eindruck des schrecklichen Schicksals mehrerer seiner Jagdgefährten, Devisme bat, nach einer Möglichkeit zu forschen, die es, bei der wildesten Bestie den ganzen Mut und Lebenswillen schlagartig zerstörend, sie wie auch immer mit der Schnelligkeit des Blitzes zerschmetternd, ihr nicht mehr erlaubte, sich, nachdem sie getroffen war, noch einmal aufzuraffen, damit das Leben des Schützen, der bei dieser gefährlichen Jagd immer in besonderer Weise gefährdet ist, bewahrt würde. Devisme machte sich sofort an die Arbeit, und einige Tage genügten ihm, um das Geschoß zu entwickeln, das oben beschrieben wurde.« [Es folgt eine Beschreibung der Verwendung der b.f. in Algerien, Ägypten, Indien und dem südlichen Afrika und -je nach Kaliber - bei der Jagd auf den Löwen, Bären, das Nashorn, den Elefanten und schließlich sogar bei der Waljagd].(47)

Gérard hat, wie ersichtlich, also keineswegs die Verwendung der Explosionskugel bei seinen Löwenjagden verschwiegen, es gab sie vielmehr zu jener Zeit, als sich Gérard in Nordafrika befand (Juli 1844 bis Ende 1855) noch gar nicht. Von Maltzan, dessen Darstellung der Löwenjagd durch Gérard insofern nicht korrekt ist, hat mit Sicherheit den Mut und die Leistung Gérards nicht schmälern wollen. Er ist einfach einer falschen bzw. unvollständigen Information aufgesessen, wie auch die Schreibweise des Namens des französischen Büchsenmachers nicht »Decisme« sondern »Devisme« ist. Laut Katalog der Bibliothèque Nationale gibt es zu diesem Thema als Sonderdruck von sieben Seiten eine Schrift von Gérard unter dem Titel >La balle foudroyante<, entnommen dem Journal des Chasseurs vom 15. 3. 1857.

Der gelernte Buchhändler, Berichterstatter, Sensationsreporter, Schriftsteller und Afrikareisende Hans Wachenhusen, der, wie Bernd Steinbrink aufzeigt, ebenfalls Einfluß auf Karl May gehabt hat(48) widmete 1860 in seinem >Buch der Reisen<(49) ein Kapitel ebenfalls der Löwenjagd. Auch in seinen Reisebildern >Jagdzüge in Afrika<, veröffentlicht in dem von ihm selbst redigierten Familienbuch >Der Hausfreund<(50) schildert Wachenhusen das Zusammentreffen mit einem Löwen. Anders aber als bei Gérard kennt Wachenhusen offensichtlich nur die >arabische< Art der Löwenjagd: er findet sich zur Teilnahme an einer vom französischen Gouverneur von Algier veranlaßten Löwenjagd erst dann (und immer noch unter Bedenken) bereit, als »zweihun-


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dert Reiter und nicht mehr als vierundzwanzig Schützen zu Fuß« gegen das arme Tier zu Felde ziehen; ein Unternehmen, bei dem »die Bestie [die man nicht einmal zu Gesicht bekam] mit dem Leben davon kam, ganz wie wir selbst«, wie er »bescheidener Weise und um allen Täuschungen vorzubeugen«, schon »im Voraus bekennt«.(51) Wir würden heute sagen: die Sache ging aus wie das Hornberger Schießen!

Der Vollständigkeit halber sei auch noch eine Schweizer Gérard-Ausgabe erwähnt, die kurz nach der Jahrhundertwende erschienen sein dürfte: in der Reihe >Schweizer Jugendbücher<, Verlag Orell Füßli in Zürich, erschien als 3. Bändchen >Jules Gérard, Löwen- und Pantherjagden< mit vier Abbildungen. Die Übersetzung besorgte Ernst Reinhard in Bern, der zugleich Herausgeber der Reihe war. Er merkt an: »Die Schweizer Jugendbücher wollen der Jugend wertvolle Literatur zu billigem Preise vermitteln. Sie pflegen neben der künstlerischen und wissenschaftlichen Jugendschrift besonders das gute Abenteuerbuch.« Der Herausgeber hat offensichtlich solche Abschnitte aus >La Chasse< ausgewählt, die ihm für ein Jugendbuch besonders geeignet erschienen. Es handelt sich, wie auch bei dem 50 Jahre früher von Dielitz herausgegebenen Buch, um eine sehr freie Übersetzung mit vielen Straffungen, die aber dem angesprochenen Leserkreis durchaus angemessen erscheinen.

Der Tod Gérards wurde 1865 in >Petermanns Mitteilungen< mit kurzen Worten angezeigt: »Jules Gérard, der bekannte Löwenjäger und Afrika-Reisende, der im Sommer 1864 vergebens versuchte, nach den Quellen des Niger vorzudringen, ertrank im September (?) auf dem Rückweg von Big-Boom nach Sierra Leone im Joug.«(52)

Gemeint ist der in den Sherboro-Kanal mündende Fluß Jong, auch Dschong geschrieben. Ausführlicher ließ sich im selben Jahre die im Verlag der Cotta'schen Buchhandlung erschienene Zeitschrift >Das Ausland<(53) über die letzten Reisen und das Ende Gérards aus. Zwei Jahre später, im Jahre 1867, druckte dieselbe Zeitschrift einen von Gérard am 21. Juli 1864 geschriebenen Brief unter der Überschrift >Gérards letztes Lebenszeichen< ab. Er berichtet in diesem an einen Herrn Huchard gerichteten Schreiben über seine Kontaktaufnahme mit Bagon, dem obersten Häuptling des Kasso-Landes, und seine Vorstellungen, dort Handelsstationen einzurichten.(54)


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IX

Bei der Behandlung des Themas >May und Gérard< sollte der Vollständigkeit halber erwähnt werden, daß auch ein bedeutender französischer Schriftsteller den Namen Jules Gérard als Löwentöter erwähnt und damit, wenn auch sehr am Rande, für die Nachwelt festgehalten hat: »(...) lieferte jede gewünschte Erklärung [bezüglich der Art und Weise, wie ein Löwe in freier Wildbahn zu erlegen ist]. Er hatte Jules Gérard gelesen und verstand sich auf die Löwenjagd, als hätte er nie etwas anderes gemacht. So sprach er auch mit großer Beredsamkeit davon.«(55) Hier ist nicht etwa die Rede von Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi, sondern von Tartarin aus Tarascon. Alphonse Daudet, der berühmte französische Autor, hat das >Löwentöter<-Motiv in seinem meisterhaften komisch-satirischen Roman >Les aventures prodigieuses de Tartarin de Tarascon< als handlungstragendes Element verwendet; wenn auch in ganz anderer Weise, als Karl May es tat. Während es May darauf ankam, seinen Ich-Helden in glaubhafter Weise spannende Löwen- und Panther-Abenteuer à la Jules Gérard bestehen zu lassen, war Daudet von vornherein darauf aus, mit dem >Löwenjäger< Tartarin einen komischen >Helden< und weltfremden Träumer zu schaffen; eine Figur, die einen ganzen Menschenschlag - den seiner südfranzösischen Heimat - in unvergleichlicher Weise karikieren, seinen Hang zu großen Gesten und noch größeren Worten in liebenswürdiger Weise verspotten sollte. Steckt nicht auch und insbesondere in Karl May ein gut Teil jenes Tartarin?

Auf die »geistige Verwandtschaft zwischen dem großmäuligen Phantasten Tartarin von Tarascon und dem Niebesiegten aus Sachsen«, ja auf »weit engere Bindungen«, gar »eine Verwandtschaft ersten Grades« wies schon 1965 Werner Raddatz hin.(56) Zum Beweis listet er eine Reihe interessanter Sujets auf, die sich gleichermaßen sowohl bei May als auch bei Daudet im >Tartarin< finden. Der von Raddatz angedeuteten Möglichkeit, hier »auf Mays echtes >Repertorium< gestoßen (zu sein)«, wird man nur sehr bedingt folgen können.

Auch Otto Forst-Battaglia machte übrigens darauf aufmerksam, daß May Daudet und seinem Tartarin »manche Züge abgelauscht« habe.(57)

Daudet läßt in seiner Erzählung sogar den Panther-Jäger Bon(m)bonnel in persona auftreten, und - wie Jules Gérard - bemüht sich Tartarin, den Panther als weniger gefährliche »größere Katze« abzuwerten. Daudets Skizze >Chapatin le tueur de lions< entstand 1863 als Vorstufe zum >Tartarin<, dem Daudet 1869 seine endgültige Form gab. Ähnlich Mays >Unter Würgern< erschien auch der >Tartarin von Taras-


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con< zunächst in Fortsetzungen in einer Zeitung, bevor er (1872) als Buch verkauft wurde.

Wie bei Karl May ist auch bei Alphonse Daudet mancher autobiographische Zug in seine Erzählung eingeflossen; es wäre reizvoll, den über das gemeinsame (und doch so unterschiedliche) Aufgreifen des Jules-Gérard- und Löwentöter-Motivs hinausgehenden Ähnlichkeiten im Lebenslauf der beiden Schriftsteller einmal nachzuspüren: beide werden, nur zwei Jahre auseinander, als fünftes Kind ihrer Eltern geboren, die Armut der Eltern, der (relativ) kleine Körperwuchs, der Mangel bzw. die Sehnsucht nach Elternliebe, der leicht aufbrausende Vater, die enttäuschte, in sich gekehrte Mutter, die Schriftstellerei als Mittel der Selbstbehauptung, als Möglichkeit, sich Anerkennung und Beliebtheit zu erringen, die Versuche engster Verwandter und Verehrer, unliebsame Tatsachen zu vertuschen, Dokumente zu vernichten und Textstellen zu verfälschen, usw. usw. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wollte man den vielen Übereinstimmungen wie auch den ohne Zweifel vorhandenen Unterschieden in der Vita beider Schriftsteller im einzelnen nachgehen, das ist Stoff für eine Spezialarbeit.(58)

X

Karl May hat, wie dargelegt, das Motiv der Löwen- und der Pantherjagd häufig in seinen Reiseerzählungen verwendet bzw. gestreift und auch Jules Gérard verschiedentlich erwähnt. Unmittelbares Ergebnis seiner Lektüre Gérards wie auch der damit in Zusammenhang stehenden Doré-Illustrationen waren aber die Jagdabenteuer in den frühen Texten >Die Gum< in den >Frohen Stunden< sowie der ausgereifteren Fassung von >Unter Würgern< im Deutschen Hausschatz. Ihnen bzw. dem großen Fabulierer aus Radebeul verdanken wohl die meisten deutschen Leser ihre Bekanntschaft mit dem, den Cartery in seinem Lied >Gérard ou le tueur de lions< besingt:

Peuple français, chantons ici la gloire
d'un brave héros, du valeureux Gérard,(59)

dem einst berühmten

Löwenjäger Jules Gérard.


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Für die Bereitstellung von Unterlagen und Hinweisen, die zur Bereicherung und Verbesserung der vorstehenden Arbeit wesentlich beitrugen, ist ganz besonders den Herren Dr. Ferdinand de Rooy, Den Haag, und Peter Richter, Dresden, zu danken, sowie Dr. Siegfried Augustin, München; Bernhard Kosciuszko, Köln; Rudi Möbius, Hannover; Heinz Neumann, Bietigheim-Bissingen; Dr. Hainer Plaul, Berlin; Prof. Dr. Claus Roxin, Stockdorf; Dr. Friedrich Schegk, München; Dr. Ulrich Freiherr von Thüna, Bonn; Hermann Wiedenroth, Langenhagen.



A n h a n g

Bericht der >Gartenlaube< von 1855 über Jules Gérard und sein »enfant trouvé« nach der Schilderung in >Le Tueur de Lions<:

Biographie eines Löwen und Offiziers in der franz. Fremdenlegion.

Von den abenteuerlichen Franzosen Algeriens ist keiner besser bekannt als Monsieur Gérard, genannt der Löwen-Tödter. Seine Geschicklichkeit, sein Glück und sein Muth verdienen, daß er über Gordon Cumming, den südafrikanischen Nimrod, gestellt werde. Gérard hat unlängst seine Jagdabenteuer veröffentlicht, die in ihren Details äußerst spannend und interessant, im Ganzen aber freilich fast alle auf endliche Erlegung des Löwen oder auf ziemlich monotone Lebensrettung »bei einem einzigen Haar« hinauslaufen. Folgendes Abenteuer ist aber, wenn nicht das effektvollste, so doch das entsprechendste, ich möchte sagen, humanste, und giebt die Biographie, statt die Erlegung eines Löwen. Jetzt, wo der Mensch von der immer reinern Wein einschenkenden Naturwissenschaft genöthigt wird, von der Höhe seiner »geistigen« Privilegien vor den Thieren bescheiden herabzusteigen und die wegen ihrer »Geistlosigkeit« verachteten Thiere näher zu sich heranzuziehen und würdigen zu lernen, wird man auch für das Leben und die treue Freundschaft eines »Königs der Wildniß« die gehörige Theilnahme fühlen.

Im Februar 1846, erzählt Gérard, schickte der Commandeur von Ghelma, Monsieur de Tourville, zu mir und theilte mir mit, daß der Kabylenstamm »Beni-Bughal« meinen Beistand gegen eine Löwin wünsche, welche unter ihren Heerden schreckliche Verwüstungen anrichte, um ihre Jungen zu mästen. Ich ritt sofort mit dem Sheik zu der Zeltenstadt des Stammes am Fuß des Jebel Mezrur-Berges. In der Abenddämmerung recognoscirte ich das Gehölz, in welchem die Löwin logirte. Sehr bald fand ich eine junge Löwin, etwa einen Monat alt, nicht größer als eine gute Katze. Ich wickelte sie in meinen Burnus und brachte sie in die Zeltenstadt, ritt dann zurück in die Nähe der Höhle, wo die Löwin ihre »Wochen« hielt, setzte mich unter einen Korkbaum und wartete im Dickicht, nachdem ich mit meinem Dolche so viel freien Raum gehauen, daß ich meine Büchse handhaben konnte. Es ward Nacht. Mein Plan war einfach, der Löwin sofort das Gehirn auszublasen, wenn sie ihren Kopf zeige. Ich horchte gespannt durch die dicke Finsterniß. Einen Bären, der zuerst die schauerliche Stille unterbrach, erkannte ich bald an seinem schweren Tritt. Auch ein Schakal, der um die Höhle nach Leckerbissen der jungen Löwen schnüffelte, konnte mich


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mit seinem leichten, listigen Schritt nicht täuschen. Nach einer Weile aber glaubte ich mein Opfer deutlich zu hören, wie es durch das Dickicht rauschte, und die Knochen eines Schafes zerknackte, um es den Kindern mundrecht zu machen. Ich wartete zwei Stunden in der größten Aufregung und konnte den Arm nicht mehr halten. An den Korkbaum lehnend, wartete und wartete ich immerfort in der Hoffnung, die großen glühenden Augen der Löwin durch's Dickicht aufleuchten zu sehen. Vergebens und abermals vergebens. Daß es immer wieder mäuschenstill ward, erhöhte nur meine Aufregung, die in der Erinnerung an frühere Abenteuer ohnehin nervös genug war. Mit furchtbarer Anstrengung suchte ich die dicke Finsterniß zu durchdringen, und die um den Verlust ihres einen Kindes rasende Löwin mit gestrecktem Halse, zurückgelegten Ohren und wuthzitterndem Körper zu entdecken, um ihrem Sprunge zuvorzukommen. Die Phantasie hatte in dem Dunkel völlige Herrschaft über mich. Obgleich es beißend kalt war, lief doch der Schweiß von meiner Stirn. Ich zitterte vor Furcht und habe keine Ursache, es zu leugnen. Doch kam mir der Einfall, auf den Baum zu klettern, eines Jägers zu unwürdig vor, so daß ich dadurch gerade mein Selbstvertrauen wieder gewann. Und was war ich wüthend auf mich, als ich endlich nicht nur das Rauschen und Rascheln wieder hörte, sondern auch das jämmerlich nach der Mutter quäkende Junge, den Bruder zu der schon gefangenen Schwester! Bald hatte ich meinen kleinen knurrenden Quälgeist in der Tasche und strauchelte drei Stunden lang durch Dick und Dünn nach dem Duar (der Zeltenstadt) suchend, oft unterbrochen durch vermeintliches Schnauben und Heulen der Löwin, die die Witterung ihrer Jungen verfolge.

Mein Erstes im Duar war, die beiden jungen Löwen - Bruder und Schwester, zu vergleichen. Ersterer war ein feiner Kerl und mindestens ein Drittel größer als letztere. Ich taufte ihn zu Ehren des Jägerschutzheiligen »Hubert«, seine Schwester »Hubertine«. Hubertine war sehr misanthropisch und kratzte und zischte Jeden an, der ihr zu nahe kam. Hubert dagegen guckte Tag für Tag mit einem ruhigen, aber erstaunten Blick umher, als könne er aus der Geschichte gar nicht klug werden, sei aber entschlossen, noch dahinter zu kommen. Die braunen, schlanken Araberinnen wurden nicht müde, ihn zu liebkosen und seine natürliche Liebenswürdigkeit zu belohnen. Sie banden eine Ziege und ließen ihn saugen. Erst benahm er sich sehr ungeschickt, aber als er erst gekostet, schien er sofort zu begreifen, daß dies die ihm bestimmte Amme sei. Er schloß sich kindlich an sie an und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Wie am ersten Abend legte er sich jedesmal, wenn er müde war, auf meinen Burnus und schlief so ruhig als wäre er bei »Muttern«. Hubertine profitirte nichts von der Klugheit und Liebenswürdigkeit ihres Zwillingsbruders; sie blieb menschenscheu, bis sie am Zahnen starb, einer Periode, die überhaupt wohl eben so viel Löwen- als Menschenkindern das Leben kostet.

Die Löwin war trotz allen Nachforschungen nicht zu finden. Endlich erfuhren wir von einem Schäfer, daß sie mit einem dritten Jungen das Gebiet verlassen habe. Diese Nachricht stellte »Ruhe und Ordnung« im Stamme Beni-Bughal wieder her, und ich ging mit Hubert nach Ghelma zurück, wo er sofort der Liebling des ganzen Lagers ward, besonders Lehmann's, des Trompeters, mit deutscher Sentimentalität, Bibart's, des Grobschmidts und Rustan's, des Spahis.

Es ward für ihn ein besonderes Register angelegt, worin seine Dienste und Vergehen pünktlich protokollirt wurden. Er ward in dem Charakter eines Cavalleristen, der auf Einreihung wartet, eingetragen. Ich mache aus den Protokollen blos folgende Auszüge:


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April 20, 1846. Am Geburtstage Hubert's (als er nämlich drei Monate alt war) stand die Eskadron im Hofe des Hauptquartiers, um verlesen zu werden. So wie Lehmann das Zeichen bläs't, springt Cavallerist Hubert, in sein Zimmer eingeschlossen, an's Fenster und brüllt: Ici! (Hier!) wird aber nicht gehört und als fehlend notirt. Der Offizier commandirt: Marsch! Lehmann trompetet und Hubert springt herunter durch's Fenster und marschirt mit ab auf den Exercierplatz. Für diesen Diensteifer wird die Notirung: »Abwesend« gestrichen.

Mai 15. Hubert tödtet seine Amme, die alte Ziege, und wird dafür zum »Reiter erster Klasse« ernannt.

September 8. Hubert machte einen Ausfall auf den Marktplatz und jagte sämmtliche Araber in die Flucht. Tödtet bei dieser Gelegenheit mehrere Schafe und einen Esel, wirft einen Wächter zu Boden und ergiebt sich Niemandem als seinen Specialfreunden, Lehmann, Rustan und Bibart. In Anerkennung dieser Beweise jugendlicher Tapferkeit wird er zum Supernumerar-Offizier ernannt und ihm eine eiserne Ehrenkette um den Hals zuerkannt, an welcher er als beständige Schildwache an die Thürpfoste des Pferdestalles angelegt wird.

Januar 16, 1847. Ein Beduine schleicht um die Ställe. Hubert, ihn für einen Räuber haltend, zerreißt seine Kette und hält ihn am Boden fest, bis er den Gefangenen in einem sehr »unheilen« Zustande an einen Offizier abliefert. Für diese That bekommt Hubert den Titel: »Farben-Sergeant« und zwei Ketten um den Hals. Im April tödtet er ein Pferd und schlägt zwei Soldaten nieder. So steigt er zu dem Range eines wirklichen Offiziers und wird in einen Käfig gesperrt.

Armer Hubert! Und ich, sein bester Freund, war commandirt, ihn in's Gefängniß zu bringen. Die Behörden, so lange nachsichtig gegen ihn wegen seiner Liebenswürdigkeit, durften jetzt ihre Güte nicht weiter ausdehnen. Es gab blos eine Wahl zwischen Todesstrafe oder lebenslänglichem Gefängniß. Mein erster Gedanke war, ihn flüchten zu lassen. Aber an Umgang mit Menschen gewöhnt, hätte er leicht zurückkehren, einen dummen Streich machen und dann getödtet werden können. So schloß ich die eisernen Stäbe vor ihm. Während der ersten Monate seiner Strafe ließ ich ihn gewöhnlich des Nachts heraus und spielte Versteckens mit ihm. Er war dann immer so glücklich und ausgelassen zärtlich, daß er mich oft drückte, wie der feurigste Liebhaber. Aber eines Abends umarmte er mich mit solcher Gewalt, daß er mich vielleicht erwürgt haben würde, hätten mich meine Kameraden nicht aus seinen liebkosenden Armen befreit. Ich weiß, er meinte es gut, denn er zeigte weder Klauen noch Zähne, nur daß er nichts von dem Uebermaße seiner Kraft gegen menschliche Glieder wußte, und dies in dem Uebermuthe seiner Zärtlichkeit nicht berechnete. Aber ich sah deshalb auch ein, daß er von jetzt an nur mit der stärksten Kette um den Hals und an den Käfig geschmiedet herausgelassen werden könnte. Seitdem ward er traurig und launisch. Ein Offizier bot mir 3000 Francs, aber ich konnte es nicht über's Herz bringen, ihn zu verkaufen, wie bisher die Felle erlegter Löwen. Der Offizier wollte ihn dem Könige von Sardinien schenken. Dies erinnerte mich an den Prinzen von Aumale, dem ich Dankbarkeit für manche Beweise von Güte schuldig war. Ich bot ihm meinen Freund Hubert, falls er ihm eine gute Stelle im zoologischen Garten von Algier verschaffen wolle.

Hubert verließ Ghelma im Oktober 1846 zum größten Leidwesen der Damen, gegen die er stets besonders galant und liebenswürdig gewesen, zur Verzweiflung Lehmann's, der sich dudeldick betrank, um den Schmerz des Scheidens besser tragen zu können, und mit Bibart solchen Lärm machte, daß Beide arre-


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tirt werden mußten, um Hubert ohne Opposition und Empörung fortschaffen zu können.

In Algier fand man Hubert zu groß und majestätisch für Algier. So beschloß man, ihn in den zoologischen Garten von Paris zu bringen, und gab mir den Befehl, ihn dahin zu begleiten. Armer König der Wüste! Ja wohl warst du zu majestätisch für das unglückliche Leben, zu welchem man dich jetzt verurtheilte!

Auf dem Schiffe hatte Hubert Erlaubniß, zu seiner Mahlzeit (in der Regel einem zehnpfündigen Beefsteak) an der Kette aus dem Käfig herauszukommen. Sobald ich öffnete, sprang er freudig heraus, streichelte an mir herum, um seine Dankbarkeit zu beweisen, legte sich zu Tische und streckte sich dann aus in die Sonne, um friedlich zu blinzeln und zu verdauen. Er wußte bald ziemlich genau, wenn die ihm so vergönnte Stunde um war, denn er ging freiwillig in seinen Käfig zurück und ließ sich von Jedermann, besonders gern von schönen Händen, an den Ohren kraulen. So vergingen die letzten Tage unseres freundschaftlichen Zusammenlebens. In Toulon trennten wir uns. Noch sah ich ihn einmal in Marseille, aber nicht mehr denselben. Er sah so trostlos und unglücklich aus. Zwar leuchtete die Freude aus seinen Augen auf, als er mich erblickte, aber zugleich starrte er mich so vorwurfsvoll fragend an: Warum hast Du mich verlassen? Wo bin ich? Wohin soll ich? Wirst Du mit mir kommen? Seine traurigen Blicke thaten mir weh. Ich entfernte mich, aber da wüthete er so fürchterlich in seinem Käfig und donnerte so Mark und Bein erschütternd, daß Alle in seiner Nähe mit blassen Gesichtern flohen. So wie ich mich wieder nahte, ward er ruhig und drückte sich an die Gitter, daß ich ihn streicheln möchte. Ich streichelte ihn so lange, bis er einschlief und ich mich langsam entfernte. Schlaf in Vergessenheit deiner Leiden, edles Thier! Schlaf ist Balsam für deine Leiden, so gut wie für unsere.

Drei Monate später kam ich nach Paris. Mein erster Besuch galt meinem Freunde Hubert im Jardin des Plantes. Ich ärgerte mich mit Staunen über die kleinen Käfige der wilden Thiere und den Gestank, den wohl Hyänen und Schakale vertragen, nicht aber Löwen, denen Reinlichkeit Leben ist. Sofort wandte ich mich an den Minister Geoffroy de Saint Hilaire, der die nöthigen Verbesserungen versprach, die aber in der Februarrevolution untergingen.

Unter diesen traurigen Eindrücken kam ich vor dem Käfig meines Freundes Hubert an. Er lag gleichgültig im Halbschlummer und blickte zuweilen nachlässig und verächtlich auf die ihn umdrängende Menge. Plötzlich schlug er mit dem Kopfe in die Höhe, die Augen funkelten, die Muskeln seines Gesichts zitterten: er hatte die Uniform »seines Regimentes« gesehen. Doch erkannte er mich noch nicht. Unfähig, meine Bewegung noch länger zurückzuhalten, trat ich zu ihm und steckte die Hand durch das Gitter. Es war ein Anblick, der mich erschütterte und alle Anwesenden rührte. Er sah mich lange, lange fest und prüfend an, beroch meine Hand, sah mich wieder an, klarer, zärtlicher und schien nur noch auf ein Zeichen zu warten, ob ich's auch sei. Ein Wort und es war ihm klar. »Hubert, alter Bursche!« rief ich freudig. Mit einem furchtbaren Satze sprang er gegen die Eisenstäbe, daß sich einige bogen. Meine Freunde und das Publikum flohen im größten Entsetzen. Nobles Thier, selbst deine Freude verbreitet Schrecken. Hubert stand aufrecht und schüttelte die Eisenbarren, daß Alles umher krachte und wackelte. Er sah glorios aus, jeder Zoll der wahre Löwe, donnernd mit seinem erhobenen Krachen in Freude und Schmerz. Er leckte


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meine Hand mit seiner rothen Zunge so sanft und preßte die Tatzen durch die Gitter, mich zu umarmen. O, er liebkoste mich so gewaltig aus seinem starken Löwenherzen! Wie sollt' ich wieder fortkommen? Zwanzig Mal ging ich, aber so wie er mich aus den Augen verlor, zitterte Alles umher von seinen Sprüngen und brüllenden Donnern. Zwanzig Mal kehrt' ich um, ihm begreiflich zu machen, daß ich wieder käme. Doch nichts wollt' ihn trösten. So mußt' ich ihn endlich toben lassen, daß es eine halbe Stunde lang hinter mir her donnerte und krachte. Ich besuchte ihn fast jeden Tag auf mehrere Stunden, aber jedesmal traf ich ihn müder und melancholischer. Die Aufseher im Garten riethen mir, seltener zu kommen, da er sonst wahrscheinlich das Heimweh bekommen werde. So kam ich seltener, bis ich an einem schönen Maimorgen von dem Wärter mit folgenden Worten empfangen ward: »Sie brauchen nun wohl nicht mehr zu kommen, Monsieur, Hubert ist todt.«

Ich eilte hinweg mit dem Gefühle, als hätt' ich den treuesten Freund verloren und komme oft zurück in Gedanken der Reue, daß ich ihn aus der Freiheit der Berge stahl, um ihn von Civilisation und Kerker tödten zu lassen. O, ihr Löwinnen des Atlas, nie in meinem Leben werde ich wieder eure Kinder stehlen! Besser, sie mit einem ehrlichen Jägerschusse zu tödten, mit einem Blitze in der Freiheit des Waldes unter ihrem heimathlichen Himmel, statt sie in die Gefangenschaft des Nordens zu schleppen. Das Blei des Jägers ist nobler, als das Blei der Langeweile und des ausgedehnten Schmerzes über die verzehrende Schwindsucht des Kerkers.«



1 Ferdinand C. de Rooy: Karl May und der Löwenjäger Jules Gérard. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 44/1980, S. 31f.

2 Vgl. Pierre Larousse: Grand Dictionnaire Universel du XIXe Siècle. Paris 1872 (Übersetzung des Verfassers).

3 Sir John Retcliffe: Puebla oder Die Franzosen in Mexiko. (Der Schatz der Inkas). Bd. 1. Berlin 1865 (Verlag C. S. Liebrecht), S. 250 und 271

4 Karl May saß vom 14. 6. 1865 bis 2. 11. 1868 im Arbeitshaus Schloß Osterstein in Zwickau eine Gefängnisstrafe ab.

5 Karl May: Unter Würgern. In: Deutscher Hausschatz. V. Jg. (1878/79), S. 607; Reprint in Karl May: Kleinere Hausschatzerzählungen. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg/ Regensburg 1982 - In der Buchausgabe erhielt die Erzählung wieder den Titel >Die Gum< Karl May: Die Gum. In: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. X: Orangen und Datteln. Freiburg 1894, S. 3f. - Künftig wird nach der Buchausgabe zitiert.

6 Ebd., S. 3

7 Ebd.

8 Ebd., S. 4

9 Ebd., S. 6

10 Ost und West. Neue Land- und Seebilder, für die Jugend bearbeitet von Theodor Dielitz. Berlin 1889, S. 173

11 May: Gum, wie Anm. 5, S. 39 12 Ebd., S. 38ff.

13 de Rooy, wie Anm. 1, S. 31

14 May: Gum, wie Anm. 5, S. 48f. 15 Ebd., S. 57

16 Karl May: Die Liebe des Ulanen. Dresden 1883-85, zitiert nach dem Reprint der Buchausgabe. Dresden 1901/02; Hildesheim-New York 1972, S. 809

17 Ebd., S. 810

18 Ebd., S. 850


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19 Karl May: Ibn el 'amm. In: Der Gute Kamerad. 1. Jg. (1887), S. 7; Reprint in: Karl May: Der schwarze Mustang. In: Der Gute Kamerad. 11. Jg. (1896/97). Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1991

20 Zu den Seitenzahlen am Ende der May-Zitate siehe Anm. 5, 16 und 19.

21 May: Gum, wie Anm. 5, S. 39 (zweimal), S. 60 und S. 66

22 Gabriel Ferry: Der Waldläufer. (Neudruck nach der Übers. von O. Füllner). München o.J. (Verlag Lothar Borowsky), S. 44 - Zur Frage, ob Karl May diese Übersetzung für seine Waldläufer-Bearbeitung benutzte, vgl. Roland Schmid: Nachwort. In: Gabriel Ferry: Der Waldläufer. Für die Jugend bearbeitet von Carl May. Stuttgart (1879). Reprint Bamberg 1987, S. N3, der Füllner als Vorlage annimmt; dagegen argumentiert Hanswilhelm Haefs: Karl Mays »Waldläufer«. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 80/1989, S. 15-23.

23 Ferry/May: Der Waldläufer, wie Anm. 22, S. 92

24 Ebd., S. 85

25 Ebd., S. 90

26 Ebd., S. 90f.

27 So in: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. 1: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892, S. 100, und Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XX: Satan und Ischariot I. Freiburg 1897, S. 24

28 Vgl. Erich Heinemann: Einführung. In: May: Der schwarze Mustang, wie Anm. 19, S.236.

29 May: Gum, wie Anm. 5, S. 47

30 Heinrich Freiherr von Maltzan: Jagd-Romantik in Nordafrika. In: Die Gartenlaube. 1872, S. 156-60 und 175ff. (158)

31 Ebd., S. 159

32 Ludwig Schneller: Bis zur Sahara, welt- und kirchengeschichtliche Streifzüge durch Nordafrika. Leipzig 1905, S. 4f.

33 Amand von Schweiger-Lerchenfeld: Afrika - Der dunkle Erdteil im Lichte unserer Zeit. Wien-Pest-Leipzig 1886, S. 668

34 Daten und interessante Einzelheiten aus dem Leben Abd-el-Kaders in: Schweiger-Lerchenfeld, wie Anm. 33, S. 669-78

35 Larousse, wie Anm. 2

36 Jules Gérard: Le Tueur des Lions. Paris 1892 (Bibliothèque des écoles et des familles), S. 3 (Übersetzung des Verfassers)

37 Ebd.

38 Larousse, wie Anm. 2

39 Ebd.

40 Dictionnaire de biographie française. Paris 1982, S. 1223

41 Dielitz, wie Anm. 10, S. 170ff.

42 Die Gartenlaube. 1866, S. 112

43 Dieses Werk Maltzans, der mit zwei seiner Bücher auch in Mays Bücherei vertreten ist. stellt möglicherweise eine Quelle für Karl Mays Schilderungen der Mekka-Episode in >Durch Wüste und Harem< dar. Vgl. Inge Fortas: Karl May und Heinrich von Maltzan. In: M-KMG 77/1988, S. 41-46, und 78/1988, S. 36-40.

44 Vgl. Anm. 30.

45 Maltzan: Jagd-Romantik, wie Anm. 30, S. 158

46 de Rooy, wie Anm. 1, S. 32

47 Larousse, wie Anm. 2, S. 125; für den Hinweis auf diese Stelle danke ich Ulrich von Thüna.

48 Bernd Steinbrink: Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Tübingen 1983, S.177

49 Hans Wachenhusen: Das Buch der Reisen - Die interessantesten und neuesten Reiseabenteuer. Zweiter Theil: Afrika. Berlin o.J. (1860), S. 81-87

50 Der Hausfreund. Illustrirtes Familienbuch. 6. Bd., redigirt von Hans Wachenhusen, Wien o.J.

51 Wachenhusen: Buch der Reisen, wie Anm. 49, S. 81

52 Petermanns Mittheilungen. 1865, S. 27


- 228 -

53 Das Ausland. 1865, S. 72

54 Das Ausland. 1867, S. 238f.

55 Alphonse Daudet: Tatarin von Tarascon. In: Ders.: Tartarin von Tarascon/Tartarin in den Alpen. Zürich 1979 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur), S. 46

56 Werner Raddatz: Das abenteuerliche Leben Karl Mays. Gütersloh 1965, S. 102ff. Für seinen Hinweis danke ich Claus Roxin.

57 Otto Forst-Battaglia: Karl May. Traum eines Lebens - Leben eines Träumers. Bamberg 1966, S. 116

58 Den Ausführungen über Daudet liegt das informative Nachwort von Hugo Meier zu der Anm. 55 angeführten Ausgabe zugrunde.

59 »Franzosen, laßt uns jetzt den Ruhm eines mutigen Helden besingen, des tapferen Gérard«; im übrigen vgl. Dictionnaire, wie Anm. 40.


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