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HELMUT SCHMIEDT

Literaturbericht



Gedenkjahre, Jahre, in denen man sich anläßlich >runder< Zeitspannen seit dem Geburts- oder Todesdatum auf prominente Persönlichkeiten besinnt, erweisen sich in der Regel als eine fruchtbare Zeit für die Produktion von Gedrucktem: Selten wird mehr über den Betreffenden publiziert, selten mehr über ihn und - sofern es sich um einen Schriftsteller handelt - von ihm gelesen. Diese Erfahrung hat sich bei Karl May 1987, im Jahr seines 75. Todestages, eindrucksvoll bestätigt, und sie bestätigt sich auch 1992, da hundertfünfzig Jahre seit seiner Geburt und achtzig seit seinem Tod vergangen sind. Vor dem Berichterstatter liegt ein ansehnlicher Stapel neuer Bücher zu May.

Dasjenige von Jörg Kastner empfiehlt sich in Titel und Untertitel als so etwas wie eine Gesamtdarstellung: >Das Große Karl May Buch< behandelt >Sein Leben - Seine Bücher - Die Filme<.(1) Der Inhalt ist entsprechend weit strukturiert. Auf eine kurze >Einleitung< folgen ein biographischer Abriß, eine Übersicht zu Mays Werken und ein Teil, in dem May-Filme von den Produktionen der frühen zwanziger Jahre bis zum Puppenfilm >Die Spur führt zum Silbersee< (1986-89) vorgestellt werden; eine Abhandlung >Karl May auf Bildschirm und Bühne<, eine Zeittafel >l50 Jahre Karl May<, ein >Ausblick< auf mögliche weitere May-Verfilmungen, >Nützliche Adressen für Karl-May-Freunde< -vom Archiv der Karl-May-Gesellschaft bis zum Schauspieler Ralf Wolter - sowie ein Literaturverzeichnis runden den 332 Seiten starken Band ab.

Die pure Aufzählung der Kapitel täuscht freilich insofern, als sie über die Proportionen nichts aussagt: »Der Schwerpunkt liegt (...) auf den Karl-May-Filmen« (16), die Seiten 99 bis 275 und einige andere gelten allein diesem Thema. Kastner hat umfangreiche Materialien insbesondere zu der populären Serie der 60er Jahre ausgewertet: Er listet die Namen der Mitarbeiter des jeweiligen Produktionsteams auf, stellt wichtige Personen - Schauspieler, Regisseur, Drehbuchautor, Komponist - detailliert vor, faßt die Handlung zusammen und schildert die Dreharbeiten und die Resonanz, auf die der Film stieß. Das Ganze läßt sich als eine ausführliche und anschauliche Ergänzung zu Christian Unuckas Dokumentation (vgl. Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft


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(Jb-KMG) 1982, 286ff.) interpretieren, und auch der kommt auf seine Kosten, der sich vom Blick hinter die Kulissen Amüsement unterschiedlichsten Grades verspricht, man liest da z.B. von den Mühen des >Schut<-Regisseurs Siodmak, mit Darstellern zu arbeiten, die Kara Ben Nemsi nicht kennen (vgl. 175), von »Fanny Hill im Wilden Westen« (232) und von Dreharbeiten, die »einem mittleren Feldzug« (152) gleichen. Über die spezielle Ästhetik dieser Filme, über die besondere künstlerische Gestaltung erfährt man indessen kaum etwas; nach wie vor steht eine entsprechende Analyse aus, und das ist insbesondere im Hinblick auf die May-Western zu bedauern, die ja doch - was immer man von ihnen letztlich halten mag - eigene Konturen besitzen, mit denen sie sich vom klassischen Hollywood-Western ebenso unterschieden wie von den italienischen Produktionen des Django-Typs.

Wir haben es mit einer populärwissenschaftlichen Arbeit zu tun, die von vornherein gar nicht beansprucht, besondere Akzente im analytischen und interpretatorischen Bereich zu setzen. Sie ist z.T. auch in den Passagen, die nicht den Filmen gelten, recht detailliert ausgefallen - etwa in der dreiteiligen Bibliographie der Werke Mays -, neigt jedoch manchmal leider dazu, dem uneingeweihten Leser die Anstrengungen des Zweifels zu ersparen, wo sie eigentlich angebracht wären: daß ein Dienstmädchen Emmas um 1890 ein Kind von Karl May bekam (vgl. S. 42), daß Fritz Lang »zum Bekanntenkreis« (107) Mays gehörte, und Hitler im Publikum des Wiener Vortrags saß (vgl. S. 117) - das sind Äußerungen von mehr oder weniger spekulativer Art, die aber ohne gedankliche Fragezeichen präsentiert werden. >Das Große Karl May Buch< ist, alles in allem, am ehesten denjenigen zu empfehlen, die sich von Pierre Brice und Lex Barker attrahieren lassen und mit Hilfe der instruktiven Hinweise, die Kastner gibt, dann vielleicht auch in andere Bereiche des Gesamtkomplexes Karl May eindringen können.

Wer seine Karl-May-Begeisterung nicht den Filmen, sondern den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg verdankt, wird mit einer anderen Publikation gut bedient: einem großformatigen, 83 Seiten umfassenden Bildband über die dortige Aufführungsreihe.(2) Er vermittelt zunächst einen Überblick zur Geschichte der Stadt Bad Segeberg und ihrer Freilichtbühne, widmet - was Spötter vielleicht gar nicht vermutet hätten - einige Seiten speziell Karl May und dokumentiert dann ausführlich die May-Inszenierungen von 1952 bis 1990; dabei werden Statistiken über Vorstellungs- und Besucherzahlen ebenso vorgelegt wie Inhaltsangaben zu den Dramatisierungen. Am eindrucksvollsten wirken natürlich die zahlreichen Fotografien, die vom brennenden Helldorf-Settlement über metertief stürzende Stuntmen und prominente


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Besucher bis zu den Werbeplakaten alles zeigen, was dieses Buch zu einem Segeberg-Souvenir erster Ordnung macht. Der inzwischen offenbar endgültig vom Winnetou-Amt zurückgetretene Pierre Brice, der in den 80er Jahren die Zuschauerzahlen gewaltig in die Höhe trieb, wird dabei nicht einmal besonders eindringlich in den Vordergrund gerückt, doch zeigt ein Vergleich zwischen den wenigen Aufnahmen von ihm und den Bildern aus den 60er Jahren, die bei Kastner zu finden sind, daß er - wie etwa auch der inzwischen verstorbene Anthony Perkins als Norman Bates - zu den bemerkenswerten Schauspielern gehört, die über Jahrzehnte hinweg in bestimmten Rollen äußerlich kaum altern.

Während Kastner und der Segeberger Band es vor allem mit den populären Erscheinungen der Rezeption zu tun haben, widmet sich eine neue Veröffentlichung von Christian Heermann - jenem Autor, der in den Literaturberichten der letzten Jahre so häufig auftaucht wie kein anderer - den eher intellektuell und literarisch orientierten Seiten des Umgangs mit May: Er stellt >Literarische Reverenzen für Karl May< zusammen.(3) Den >Zeitzeugnissen<, die mit dem bekannten Brief Peter Roseggers an Robert Hamerling beginnen, folgen Parodien, Erzähltexte von Leonhard Frank, Curt Goetz und Ottokar Domma, in denen Namen Mayscher Figuren Verwendung finden, Gedichte, die »zumeist als Ausdruck der Verehrung« (185) gelesen werden können, und Auszüge aus analytischen Arbeiten von Adolf Droop, Arno Schmidt, Heinz Stolte, Gert Asbach, Hans Wollschläger, Carl-Heinz Dömken, Hainer Plaul und Claus Roxin. Den Auseinandersetzungen, die nach dem zweiten Weltkrieg in der Ostzone bzw. der DDR um Karl May geführt wurden, gelten die Zeugnisse des Kapitels >Geschmähter May<, während pointierte Äußerungen >Von Adenauer bis Zuckmayer< die Reihe der Zitate abschließen.

Das Thema des Bandes wird hier nicht zum ersten Mal aufgegriffen: Erich Heinemanns Sammlung >Über Karl May< (1980), die unter dem neuen Titel >Dichtung als Wunscherfüllung< in der KMG-Reihe >Materialien zur Karl-May-Forschung< ebenfalls 1992 in erweiterter Form neu erschienen ist, und die verschiedenen Sonderhefte der KMG, die >Karl Mays Spuren in der Literatur< verfolgen, befassen sich mit dem gleichen Gegenstand. So gibt es denn auch eine beträchtliche Zahl von Überschneidungen in den jeweils ausgewählten Texten: Heermanns Quellenhinweise beziehen sich sogar in mehreren Fällen direkt auf Heinemann, Wilhelm Matthießens >Karl Mays wunderbare Himmelfahrt< von 1916 taucht beispielsweise im Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 70/1987 als Faksimile, bei Heermann im Neusatz (57ff.)


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auf. In der Grundkonzeption wirkt Heermanns Publikation wie eine Mischung aus den anderen: Heinemann bringt eine gewaltige Anzahl kürzerer Texte, die Sonderhefte enthalten zumeist längere Passagen bzw. komplette Arbeiten, und Heermann bietet teils das eine, teils das andere; mit der Gliederung des Ganzen und den fünfzehn Seiten über den >Geschmähten May< setzt er eigene Akzente. Unter philologischen Vorzeichen erscheint indes der Umgang mit den Quellen teilweise ein wenig problematisch: Es wird manchmal auch da aus zweiter oder dritter Hand zitiert, wo dies nicht zwingend ist. Ein bemerkenswertes Diktum des expressionistischen Lyrikers Georg Heym (170) etwa wurde, dem Quellennachweis zufolge (195), Heinemanns Sammlung entnommen; schlägt man dort nach, stellt sich heraus, daß auch für diese Wiedergabe nicht die relevante Heym-Edition, die allerdings genannt wird, herangezogen wurde, sondern ein Aufsatz aus den >Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft<, der die betreffende Passage enthält.

Christian Heermann hat, gemeinsam mit Wolfgang Hallmann, auch >Reisen zu Karl May< unternommen. Dabei geht es aber nicht, wie einst bei Peter Groma und anderen, darum, den Spuren literarischer Helden im Orient oder in Nordamerika zu folgen; es handelt sich vielmehr um Besuche an Mayschen Erinnerungsstätten in Ostdeutschland.(4) Das Buch, 310 Seiten stark, ist ein detaillierter Reiseführer, ein Karl-May-Wegweiser von B, wie Berlin, bis Z, wie Zwickau, der all jene Orte vorstellt, die Stationen der Lebensgeschichte Karl Mays bildeten. Im Mittelpunkt stehen natürlich Hohenstein-Ernstthal und Radebeul, aber es werden auch viele Stätten vorgestellt, die nur eine flüchtige Beziehung zu May aufweisen, z.B. Oberwiesenthal, die höchstgelegene Stadt Sachsens, die May 1911 während eines Kuraufenthalts in einem nahegelegenen Radiumbad besucht hat.

Die Artikel des von Franz Hofmann eingeleiteten Bandes geben in der Regel Auskunft über die allgemeine Geschichte des jeweiligen Ortes, schildern Mays Beziehungen zu ihm und vermitteln schließlich spezielle Hinweise zu einzelnen Häusern, Straßen und Plätzen, die mit May verbunden sind. Viele Abbildungen und einige Ausschnitte aus Stadtplänen erleichtern zusätzlich die Orientierung, so daß jeder Interessierte nunmehr mühelos Karl Mays Wegen durch seine Heimat folgen kann. Außerordentlich erfreulich ist es, daß der ausgewiesene Forscher Heermann sich nicht auf oberflächliche Andeutungen zum jeweiligen Abschnitt der Vita beschränkt, sondern die Fülle seines Wissens ausbreitet; so ergibt sich gleichsam unterderhand eine weitere Karl-May-Biographie, die freilich nicht in einem Stück, sondern verstreut in vielen Mosaiksteinchen präsentiert wird.


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Vieles von dem, was sich bei Kastner, in dem Segeberger Bildband und der Zitatensammlung Heermanns findet, wird auch von Klaus Farin behandelt.(5) Verständlich erscheint dies schon deshalb, weil der Verlag mit seinem Buch eine Reihe >taschenführer populäre kultur< eröffnet: Da muß von den May-Filmen und Freilichtspielen zwangsläufig ausführlich berichtet werden und davon, daß der Autor selbst schon seinen Ruhm mit einer gewissen Virtuosität zu inszenieren verstand. Die Rede vom >Popstar< Karl May - deren Urheberschaft, wenn ich recht sehe, bei Peter Krauskopf u. a. mit seinem Artikel im ZEIT-Magazin 27/1991 liegt - schließt freilich nicht aus, daß auch andere, viele werden sagen: ernstere Dinge zur Sprache kommen: die May-Rezeption zu den Zeiten des Dritten Reichs und der DDR, einige Grundprobleme im Verständnis des Werkes - »Karl May machte uns zu Antirassisten« (47) heißt es lapidar, als Mays Bild von der Geschichte Amerikas zur Sprache kommt -, die Höhen und Tiefen der Mayschen Lebensgeschichte, die Textbearbeitungen des Karl-May-Verlags und die May-Forschung, die unter anderem in einer kleinen kommentierten Bibliographie gewürdigt wird. Kurzum: auch dies ist eine Art Gesamtdarstellung des Phänomens Karl May, die aber quantitativ weniger einseitige Akzente setzt als diejenige Kastners. Sie wird ergänzt durch eine 40seitige Sammlung von Schilderungen persönlicher Leseabenteuer, die eigens für diesen Band verfaßt wurden und z.T. von prominenten Personen, wie dem Grafiker Klaus Staeck und dem Politologen Iring Fetscher, stammen; daß dieses Kapitel mit dem Wort »Fans« (112) überschrieben ist, besagt nicht alles, aber einiges.

Farin bringt die bizarren Seiten seines Untersuchungsobjekts anschaulich zur Geltung, er argumentiert umsichtig und kenntnisreich, aber auch, wie das obige Zitat schon andeutet, mit einem unverhohlenen Drang dazu, sich selbst >einzubringen<: Indem er leutselig von eigenen Eindrücken und Erfahrungen im Umgang mit May plaudert, will er das Interesse des Lesers wecken. Im gleichen Sinne ist der Stil der Arbeit insgesamt angelegt: Der Autor weicht schwierigen Problemen nicht aus, skizziert sie aber mit leichter Hand, flott, munter, modern-modisch; von »Krimi-Power« (46) ist die Rede, vom >Outen< (vgl. 51), das Kapitel über die Textbearbeitungen ist »May l i g h t« (89) überschrieben, und man muß zumindest ahnen, was »Madonna mit Marilyn Monroe« (90) zu tun bzw. nicht zu tun hat, um dessen Einleitung zu verstehen. Manch älterem Leser wird eine solche Darstellungsweise unangemessen erscheinen, manchem unseriös; aber es gibt heute gewiß ein potentielles May-Publikum, das gerade durch einen solchen Stil, eine solche Argumentationsweise am ehesten auf seine Spur gelockt


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werden kann, und so hat das Verfahren auf seine Art gewiß nicht weniger Berechtigung als die bieder-solide oder die an ambitionierter Wissenschaftlichkeit orientierte Rhetorik in anderen Arbeiten, die für die Beschäftigung mit May werben. Ernsthaft zu beanstanden ist es nur da, wo der Hang zur knalligen Etikettierung sachlich Fragwürdiges zeitigt; daß Arno Schmidt »der literarische Ziehvater der bundesdeutschen Linksintellektuellen« (51) war, sollte sich der Leser besser nicht einprägen, und von einem »designierten Vorsitzenden der Karl-May-Gesellschaft« (157) kann, wie der Berichterstatter sicher weiß, entgegen Farins Feststellung auch keine Rede sein.

Hin und wieder tauchen in amerikanischen Zeitschriften Artikel auf, die gegen die im Land des ehemaligen Wilden Westens herrschende Unkenntnis in bezug auf Karl May gerichtet sind; Jeffrey Sammons (vgl. Jb-KMG 1982, 297f.) und Colleen Cook (vgl. Jb-KMG 1983, 251f.) haben sich in diesem Sinne betätigt, und nun plädiert auch Thomas Scherer für eine intensive Beschäftigung mit May: in einer Zeitschrift, die den hübschen Namen >Schatzkammer< trägt und sich vor allem an Deutschlehrer verschiedener nordamerikanischer Bildungseinrichtungen wendet.(6) Der Verfasser setzt an bei der gewaltigen Popularität, die May hierzulande genießt, verweist auf entsprechende Defizite in den USA, erklärt sie mit den ausgeprägt autobiographischen und der deutschen Kultur des späten 19. Jahrhunderts verhafteten Elementen des Mayschen Bildes von Amerika und läßt dann eine kurze, aber informative Einführung zu Leben, Werk und Wirkung des Schriftstellers folgen. Überzeugend wirkt sie vor allem deshalb, weil Scherer es nicht bei allgemeinen Darlegungen beläßt, sondern anhand einer neunseitigen Vorstellung des Romans >»Weihnacht!«< anschaulich zeigt, um was es in den Amerikaromanen geht und wie sie beschaffen sind. Vermutlich wird auch diese instruktive Abhandlung nicht viel an dem Desinteresse in den USA ändern, aber sie mag immerhin einigen Lesern, die sich engagieren wollen, wertvolle Anregungen und Informationen vermitteln.

Daß ein Autor, dessen populärste Figur keineswegs arischer Herkunft ist, im Dritten Reich zumindest mit Teilen seines Werkes hoch geschätzt und von Hitler persönlich empfohlen wurde, ruft Manfred K. Kremer noch einmal in Erinnerung.(7) Zur Erklärung des merkwürdigen Phänomens führt er verschiedene Überlegungen an: Erstens erschien die Heroisierung eines Indianers möglicherweise deshalb relativ unproblematisch, weil »eine direkte Konfrontation mit einem indianischen Rassenproblem nicht antizipiert wurde«; zweitens »war die Figur Winnetous dermaßen stilisiert und ikonisiert, daß seine Rassenzuge-


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hörigkeit dadurch völlig überlagert wurde« (445); drittens schließlich habe sich der nationalsozialistische Umgang mit May vor allem »auf eine Glorifizierung des Heldenideals« bezogen, hinter dem die Bedenken gegenüber den pazifistischen und anderen inopportunen Zügen in Mays Weltbild zurücktraten. »Sehr gelegen« in dieser für die Machthaber dennoch etwas heiklen Situation seien die Romane um den - historischen - Shawnee-Häuptling Tecumseh gekommen, die Fritz Steuben alias Erhard Wittek, ein Autor mit »stramme(r) nationale(r) Gesinnung« (446), seit 1930 veröffentlichte; Steuben habe insbesondere Tecumsehs »Eigenschaften als Führer« (448) hervorgehoben und ihm wohl nicht zuletzt damit in der NS-Zeit große Popularität verschafft. Abschließend verweist Kremer darauf, daß der in Winnetou wie in Tecumseh partiell wiederbelebte Topos des >edlen Wilden< zwar in Europa, niemals aber in Nordamerika, dem historischen Bezugspunkt dieser Fälle, großen Widerhall fand: eine Beobachtung, die sich nahtlos an Überlegungen des vorigen Absatzes anschließt.

Ein bemerkenswertes Produkt des Gedenkjahrs war auch die Neuauflage des zuletzt 1975 erschienenen Buches >Ich<, nunmehr - nach dem Tod des bisherigen Herausgebers Roland Schmid - herausgegeben von Lothar Schmid.(8) Der über Jahrzehnte hinweg immer wieder veränderte Band war stets so etwas wie ein Indikator dafür, wie es der Karl-May-Verlag mit der May-Forschung hielt, und unter diesem Aspekt darf man sich zunächst einmal auch die neue Fassung ansehen. Das Ergebnis ist überaus erfreulich: Heinz Stolte legt in seinem Vorwort zu Recht dar, laß das Buch »heute in eine weithin entspannte geistige Atmosphäre hinausgeht«, daß es nicht länger eine »Schutzschrift« (11) sein müsse, sondern »sine ira et studio (...) Analyse, Erklärung, Erläuterung« (12) in den Vordergrund stelle.

Nicht, daß nun alles zum besten stünde; man kann sich z.B. weiterhin daran stoßen, daß »die vorliegende Textfassung der Selbstbiographie« nur »weitestgehend auf die Urausgabe« (270) zurückgreift und daß über die heftig umstrittene Bearbeitungspraxis des Verlags - die doch über Jahrzehnte hinweg ein Herzstück seiner Tätigkeit war - auch jetzt noch nur kurz und in formelhaften Wendungen Auskunft gegeben wird. Vieles aber hat sich zu seinem Vorteil verändert; das beginnt bei etwas so Banalem wie der angemessenen Erwähnung von Namen, die in früheren Ausgaben ein Tabu zu sein schienen - vgl. S. 388 mit dem entsprechenden Passus der Version von 1975, der die Mitarbeit von Hans Wollschläger und Hansotto Hatzig verschweigt -, führt über Aktualisierungen und Korrekturen in den beibehaltenen Arbeiten -etwa bei der Datierung der Werke Mays - und endet bei der Auswech-


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selung ganzer Texte. Entfallen sind die unter dem Gesamttitel >Spiegelbilder< stehenden Beiträge von Ludwig Aub, Ludwig Klages und Richard Engel sowie die beiden Aufsätze >Scham und Maske< bzw. >Das Tragische im »Karl-May-Problem«< von Karl-Hans Strobl. Statt dessen wurden drei zeitgenössische Texte zum Komplex >Karl May in Wien< - gemeint sind der Vortrag vom März 1912 und sein Umfeld - aufgenommen sowie abschließend Claus Roxins Arbeit über >Karl May, das Strafrecht und die Literatur<, sie wird hier, wenn ich recht sehe, schon zum vierten Mal seit 1978 - in überarbeiteter Form - gedruckt, ist aber derart umfassend angelegt und anschaulich bis in die Details, daß man sich eine bessere Einführung in die fortgeschrittene May-Forschung kaum wünschen kann.

In neuer, veränderter Auflage ist auch die als >Großer Karl-May-Bildband< bekannt gewordene Dokumentation von Gerhard Klußmeier und Hainer Plaul erschienen; über die Meriten der Erstausgabe ist seinerzeit an dieser Stelle ausführlich berichtet worden (vgl. Jb-KMG 1980, 193ff.).(9) Da in die Grundkonzeption des Werkes nicht eingegriffen wurde - das Vorwort der Neuausgabe weist darauf hin, man habe sich nur bemüht, »die Qualität mancher Abbildungen in der Wiedergabe« (3) zu verbessern, Angaben zu aktualisieren und Druckfehler zu beseitigen -, gelten die einschlägigen Bemerkungen unverändert weiter. Es ist nun aber noch ein Kapitel hinzugekommen, »in dem vor allem werksgeschichtlich bedeutsame Ereignisse aus der Zeit nach Mays Tod dokumentiert und museale Erinnerungsstätten vorgestellt werden« (3). Diese rund zwanzig Seiten unter dem Titel >Nachruhm< bilden eine wertvolle Ergänzung: Es geht hier um die verschiedensten Aspekte der Wirkungsgeschichte, von der Tätigkeit des Karl-May-Verlags bis zu den May-Filmen, vom Umgang der DDR mit May bis zur historisch-kritischen Ausgabe. Auch mancherlei Kurioses ist zu entdecken: Der Lehrer Wilhelm Fronemann z.B., der May 1934 wegen seiner gar zu wenig und 1948 wegen seiner gar zu sehr nationalsozialistisch eingefärbten Weltanschauung angriff, wird mit einem Bild aus dem Jahr 1932 präsentiert - in einem Gespräch ausgerechnet mit E. A. Schmid (289)! Das Buch ist weiterhin ohne Einschränkung empfehlenswert: Es dient der seriösen, analytischen Beschäftigung mit May, und es unterhält zugleich aufs beste den, der sich den schlichteren Genüssen des Schmökerns hingeben möchte.

Um eine überzeugende Verbindung von Information und Dokumentation einerseits, Unterhaltung und Vergnügen andererseits geht es auch in den beiden Ausstellungen des Radebeuler Karl-May-Museums, >Indianer Nordamerikas< und >Karl May - Leben und Werk<;


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diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die 1992 neu erschienenen Informationsschriften dazu. Der >Kurzführer< durch beide Ausstellungen bietet einen groben, alles in allem aber durchaus informativen Gesamtüberblick, wozu nicht zuletzt die z.T. farbigen Abbildungen und die markanten Auszüge aus May-Texten beitragen.(10) Die 120 Seiten starke Schrift speziell über die >Indianer Nordamerikas<, die genauso ansehnlich ausgestattet ist, wächst sich dagegen schon zu einer eigenen völkerkundlichen Arbeit auf hohem wissenschaftlichen Niveau aus: Ihre Erläuterungen zu den Exponaten fallen so gründlich aus, daß sie tiefe Einblicke in die Kulturgeschichte der nördlichen Indianer gewähren.(11) Über eine von Klaus Hoffmann verfaßte Arbeit zur Geschichte des Karl-May-Museums ergibt sich auch in dieser Schrift wieder eine enge Verbindung zu May selbst. Wer sich als hingebungsvoller Leser Träumen von den dark and bloody grounds überlassen will, scheint in der »Villa Shatterhand« und im Blockhaus >Villa Bärenfett< ebenso auf seine Kosten zu kommen wie derjenige, dem es um die Mehrung seines Wissens und die analytische Perspektive geht.

Gesamtdarstellungen und Einführungen, Dokumentationen zur Wirkungsgeschichte, die Neuauflage von Standardwerken, ein Reiseführer, aktualisierte Museumsführer: das Gedenkjahr 1992 hat sich in der Tat als fruchtbar für Publikationen um Karl May erwiesen. Dennoch fiele die Bilanz ein wenig enttäuschend aus, wenn es bei den bisherigen Hinweisen bleiben müßte. Mißt man sie an den Aufgaben der May-Forschung, so betreffen sie ja überwiegend Arbeiten, die als Bestandsaufnahme, als Übersicht zu dem, was schon da ist, konzipiert wurden, nicht aber selbst - bei all ihren Verdiensten - den analytischen Umgang mit May energisch vorantreiben wollen. Zum Glück hat es im Berichtszeitraum jedoch auch solche Publikationen gegeben: erstmals erschienene umfangreiche Abhandlungen, die mit einigem Recht beanspruchen, neue Wege zu weisen. Die beiden Arbeiten von Worm und Ilmer, die hier zu nennen sind, fallen in den Bereich der psychologisch-biographischen Forschung.

>Karl Mays Helden< hat Heinz-Lothar Worm untersucht-, welchen Schwerpunkt er dabei setzt, geht aus dem Untertitel hervor, der auf »Tiefenpsychologisches, Biographisches, Psychopathologisches und Autotherapeutisches (...) am Beispiel der ersten drei Bände des Orientromanzyklus« verweist.(12) Wir haben es hier also mit jener Tradition der May-Forschung zu tun, die primär nach den Verbindungen zwischen der Lebensgeschichte und dem Werk fragt. Worm greift vieles daraus auf, bemüht sich aber auch von vornherein um entschieden eigene Akzente.


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Zunächst einmal widmet er sich der Persönlichkeit Mays unter dem Aspekt des Enneagramms. Das Enneagramm »versteht sich als dynamische Typologie, die neun verschiedene Charaktertypen umschreibt« (10); Karl May entspreche deren achtem, er gehöre damit zu den >Bauchmenschen<: »Ihr Gravitationszentrum liegt im Unterleib, wo das >Rohmaterial< unserer Existenz angesiedelt ist: der Machtinstinkt, unsere Sexualität, die Triebe« (12). Das zweite Kapitel behandelt >Karl May im Spiegel der Genielehre< (22ff.), das dritte die von Hans Wollschläger diagnostizierte narzißtische Störung. Der Leser wird in allen Fällen umfassend über die tiefenpsychologischen Konzeptionen belehrt, die dem jeweiligen Blick auf May zugrunde liegen.

Ähnlich verhält es sich mit der Einleitung des Hauptteils: Hier wird die analytische Psychologie C.G. Jungs als Wegweiser der folgenden Untersuchung vorgestellt. Deren Anliegen ist es, das Personal aus >Durch Wüste und Harem<, >Durchs wilde Kurdistan< und >Von Bagdad nach Stambul< detailliert zu kommentieren, und so werden dann auf rund 150 Seiten von Hamd el Amasat bis zum namenlosen Sohn eines in Edreneh erschossenen Polizisten nahezu sämtliche (männlichen) Figuren im Blick auf die Rolle untersucht, die sie vor dem Hintergrund der vielfältigen Nöte ihres Autors spielen. Worm erweist sich dabei als ein umsichtiger Beherrscher seines Metiers, ein Analytiker, dem kaum etwas entgeht und dem zu allem, was er beobachtet, etwas einfällt; daß er gelegentlich Verbindungslinien zu anderen kulturgeschichtlichen Phänomenen zieht und immer wieder zu bedenken gibt, der Maysche Text sei an dieser Stelle mehrdeutig, nimmt den skeptischen Leser gewiß zusätzlich für ihn ein.

Die Konsequenz, mit der er zu Werke geht, ist eindrucksvoll: Keine niedergesunkene Pfeife, die als Symbol nachlassender Potenz oder dergleichen gedeutet werden könnte, bleibt ihm verborgen; wenn sich Reiter im Gebirge »in einzelne Trupps« teilen, mag das »auf die Lieferungsromane hindeuten, die vom Autor in einzelnen Abschnitten hintereinander fertigzustellen und beim Verlag abzugeben waren« (185); »Hamd el Amasat, der Mörder, ist zweifellos die personifizierte narzißtische Wut primär über den Buchhalter Scheunpflug« (236); »die Figur des Mutesselim kann als Personifikation des [nach einem Wort von Arno Schmidt] Langstrecken-Onanisten begriffen werden« (163), der Kurde Dohub dagegen »als phantasierter Prototyp des selbstbewußten, mutigen Jünglings« (162), und »die Horde wilder Pferde und Reiter, die auf Kara Ben Nemsi einstürmen, steht symbolisch für wilde, kulturlose Triebhaftigkeit« (133). In einigen Fällen leitet der Verfasser aus den Textbeobachtungen Hypothesen zu ungelösten Problemen der


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Lebensgeschichte Mays ab. So scheint ihm der junge Begleiter Hamd el Amasats »durch sexuelle Hyperaktivitäten entkräftet« (90) zu sein, und nach einigen weiteren Überlegungen ergibt sich die Frage, ob der Junglehrer May dem Buchhalter Scheunpflug sexuell gefällig gewesen und dessen merkwürdiges Verhalten in der Affäre um die Taschenuhr mit diesem heiklen Aspekt zu verbinden sei.

May erstelle erstens »literarische Verarbeitungen real existierender Personen«, gestalte zweitens Ach-Fragmente zu literarischen Figuren um«, lasse drittens »archetypische Vaterbilder erstehen«, personifiziere viertens Triebkräfte und forme fünftens »Figuren aus, die als Träger narzißtischen Wunschpotentials angesehen werden können« (228): so sieht die Bilanz aus, zu der Worm in der Zusammenfassung sein er Analysen gelangt. Er führt weiter aus, das Auftreten der Figuren sei so organisiert, daß der Roman zum »Bericht eigener innerseelischer Entwicklungen Karl Mays« werde, die mit der »Anpassung an die Außenwelt« (237) beginnen und mit der - freilich labilen - Neuorientierung nach der Enttäuschung »über die emotional unbefriedigende Beziehung zu Emma« enden; zu diesem Verfahren gehöre auch, daß der Autor die Widersacher seines Ich-Helden »bis auf ganz wenige Ausnahmen zunächst entmachten und demütigen, schließlich aber symbolisch kastrieren (läßt)« (239). Daß eine solche literarische Tätigkeit im Dienst einer Selbsttherapie steht, daß May damit versucht, »sich im Alltag psychisch im Gleichgewicht (zu halten)« (270), legt im Rückgriff auf die Ausführungen der einleitenden Kapitel der letzte Teil der Arbeit noch einmal ausdrücklich dar.

Worms voluminöse Studie ist der bisher umfangreichste Versuch, einen einzelnen Text Mays tiefenpsychologisch zu deuten. Wer von dieser Methode nichts hält oder der Ansicht ist, die Psyche des Autors sei eine Quantité négligeable beim Umgang mit dem Werk und lenke von Wichtigerem ab, wird sie dementsprechend mit wenig Freude lesen. Die Anhänger jener Analysetradition hingegen erhalten viel Stoff zur Diskussion, und dies allein macht das Buch schon wertvoll. Ob die Typologie des Enneagramms, die Genielehre, das Narzißmus-Verständnis und die Befunde zu Mays Text in der Argumentation hinreichend plausibel miteinander verbunden werden, ob die Ausführungen zu den einzelnen Figuren und die Schlußfolgerungen, die der Verfasser daraus zieht, in allen Einzelheiten überzeugen: das sind Fragen, die nur bei einem gründlicheren Kommentar, als er in diesem Rahmen möglich ist, präzise zu beantworten wären. Außer Zweifel steht indes, daß die Arbeit einen hervorragenden Platz in der Geschichte der psychologisch-biographischen May-Forschung verdient.


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Ihren Vorzügen zum Trotz drängen sich zwei Einwände auf, die nicht nur auf Peripheres zielen. Zum einen wäre eine präzisere und ins Grundsätzliche gehende Klärung des Verhältnisses zwischen dem Autor Karl May und der Welt seiner Phantasie wünschenswert. Gewiß gibt es dazu viele triftige Hinweise, etwa im Kapitel über den Traumcharakter des Werkes (77ff.). Dennoch verfängt sich Worm gelegentlich in den Fallstricken der komplexen Beziehung zwischen empirischem Leben und literarischer Fiktion. So bekennt er sich einmal ausdrücklich zu dem Gedanken, die Persönlichkeit des Autors und sein Werk seien, »wenn auch voneinander abhängig, so doch voneinander verschieden« (29); demnach sollte man sich - was Worm an vielen Stellen auch tut - davor hüten, zwischen einer literarischen Figur und ihrem Autor ohne weiteres ein Gleichheitszeichen zu setzen. Leider verzichtet Worm gelegentlich auf eine solche Differenzierung und argumentiert dann, als könne man Beobachtungen zu May und zu seinem Protagonisten auf eine Ebene stellen. Besonders auffällig erscheint dies in den Ausführungen zu Mays Charaktertyp: Da werden abwechselnd Hinweise zum Verständnis Mays und zu dem Kara Ben Nemsis gegeben, und erst deren Addition bestätigt den Grundgedanken der Einordnung; so wird die mit dem Typus verbundene »Neigung, für die Schwachen Partei zu ergreifen« (14), mit dem Blick auf Kara Ben Nemsi bestätigt, die gleichfalls charakteristische Suizidgefahr aber unter Hinweis auf Karl May. Hier wäre wohl doch eine größere Trennschärfe der Argumentation angebracht gewesen.

Der Gedankenreichtum, zu dem sich Worm durch seine Beobachtungen anregen läßt, wirkt, wie schon gesagt, imponierend. Manchmal aber ist der Verfasser nicht vor selektiven Wahrnehmungen gefeit: Er registriert dann von vornherein nur das, was sich passend zu seinen Überlegungen fügt. Auch dafür bietet das Enneagramm-Kapitel anschauliche Beispiele. Zu dem Typus >Bauchmensch<, dem May zugerechnet wird, gehört »eine gewisse Konzeptionslosigkeit (...); er tue sich schwer, einem klaren Plan zu folgen und ihm treu zu bleiben«. Worin bestätigt diese Eigenart, indem er auf die »Zufälligkeit«, »Planlosigkeit« und »Spontaneität« der Reisen Kara Ben Nemsis als »Grundlage des literarischen Gestaltungsprinzips Karl Mays« (13) verweist: ein nicht abwegiger Gedanke, der aber gänzlich die wichtige Rolle ignoriert, die in vielen Abenteuern die sorgfältige Ausarbeitung und die präzise Umsetzung großangelegter Pläne - man denke nur an den grandiosen Sieg der Haddedihn im >Tal der Stufen< - spielen. Erinnert man sich darüber hinaus an die reichhaltige Forschungstradition, die in Mays Held einen Erben der Aufklärung sieht, so wird erst recht


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erkennbar, daß der Verfasser seine These an dieser Stelle nur dadurch uneingeschränkt stützen kann, daß er bestimmte Seiten des Werkes außer acht läßt. Der Leser wird Worms Studie also mit Gewinn lesen, sollte es aber auch mit einiger Vorsicht tun.

Während es bei Worm in erster Linie um eine Textanalyse mit reichhaltigen Ausgriffen in die Lebensgeschichte Mays geht, liegen die Dinge in Walther Ilmers Arbeit genau andersherum.(13) Der Verfasser ist bekanntlich schon früher mit einer Reihe psychologisch-biographischer Untersuchungen hervorgetreten, und er zieht nun quasi die Summe aus ihnen, orientiert sich dabei aber erst einmal an der Chronologie der Vita Mays. Was dabei herausgekommen ist, läßt sich vielleicht am ehesten mit dem etwas saloppen Schlagwort Psycho-Biographie etikettieren: eine gründliche Übersicht zur Lebensgeschichte, die zwar auch die äußeren Daten und Fakten referiert, im wesentlichen aber die mit ihnen verknüpften seelischen Entwicklungen verfolgen will und dabei auch die besondere Rolle der literarischen Schriften untersucht.

Ilmer erhebt nicht den Anspruch, substantiell neue, gar spektakuläre Einsichten zur Grundbefindlichkeit Mays gewonnen zu haben; vielmehr orientiert er sich weithin an bekannten Deutungsmustern, wie sie, etwa in bezug auf Mays narzißtische und pseudologische Neigungen, seit längerem existieren. Die Besonderheit der Untersuchung liegt nun aber, zum ersten, darin, daß diese Erklärungen nicht zur Durchleuchtung einzelner Lebensabschnitte oder punktuell bemerkbarer Verhaltensweisen herangezogen, sondern im Blick auf Mays gesamte Lebensgeschichte fruchtbar gemacht werden; das hat, mit solcher Entschiedenheit und Ausführlichkeit, bisher niemand getan. Zum zweiten fragt Ilmer gleich umfassend nach den Beziehungen zwischen Leben und Werk, wobei er über die Rekonstruktion oberflächlicher Korrespondenzen, wie sie in der Forschungsliteratur üblich sind, weit hinaus gelangt: Er prüft, wie vielfältig May die tiefsten seelischen Nöte literarisch verarbeitet, wie dann aber auch die literarische Verarbeitung wiederum Konsequenzen für das empirische Leben zeitigt. Drittens schließlich gewinnt die Arbeit dadurch Konturen, daß sie auf der Basis des Zusammenspiels von psychologisch orientierter biographischer Sicht und gleich ausgerichteter Textdeutung Licht in einige Bereiche der Lebensgeschichte zu bringen versucht, über die wir bisher nur wenig wissen: ein ambitionsreiches Unterfangen, das wohl in erster Linie für die Aufmerksamkeit verantwortlich ist, die die Arbeit auf sich ziehen wird.

Der Verfasser verhehlt nicht, daß er ein Bewunderer Karl Mays ist: Er schätzt einen großen Teil seiner Schriften als literarisch vorzüglich


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ein und spricht voller Respekt und z.T. geradezu mit Ehrfurcht von der Leistung eines Menschen, der sich gegen alle widrigen inneren und äußeren Dispositionen immer wieder durchzusetzen vermag und sich dabei ein Werk abringt, das bis heute Millionen Leser in seinen Bann zieht und auch so manchen gestrengen Kommentator entzückt. Aber eine rein apologetische Schrift ist dennoch nicht entstanden: Es finden längst nicht alle Arbeiten Mays Gnade vor den Augen dieses Lesers - und zwar im Hinblick sowohl auf künstlerische Qualitäten als auch auf die Eigenheiten in der Verarbeitung des biographischen Materials -, und die intensiven Erläuterungen, warum May dies widerfahren und er jenes unternommen habe, münden bei weitem nicht in eine uneingeschränkte Exkulpation, in Schönfärberei. Um >Tragik und Triumph< gehe es, sagt der Untertitel des Buches, und die Polarität zwischen diesen beiden Begriffen, so formelhaft die Zusammenstellung auch klingen mag, verweist recht genau auf die fundamentale Zwiespältigkeit, die Ilmers Untersuchung beständig und allerorten rekonstruiert: Die gleichen psychischen Konflikte, die die Person quälen, stimulieren ertragreich den Schriftsteller; während sein Verhalten gerade noch außerordentlich klug und umsichtig erschien, weist es sich im nächsten Moment durch hanebüchene Mißgriffe aus; neben die Arbeit an einem hochrangigen Werk tritt in engster Nachbarschaft die an einem von ganz anderer Dignität - man könnte diese Liste lange fortsetzen und dabei bis in Kleinigkeiten differenzieren, und die Überzeugungskraft, mit der Einer die auseinander klaffenden Phänomene in ihrer Interdependenz erläutert, zählt nicht zu seinen geringsten Leistungen.

Was ist am Ende von alldem zu halten? Man muß sich vor einem abschließenden Urteil wohl erst einmal darauf besinnen, daß die psychischen Prozesse eines Menschen, der vor langer Zeit gelebt hat, im strengen Sinne nicht >beweisbar< sind, daß man ihre Erklärung immer nur mit einer relativen Präzision betreiben kann und dabei auch noch angewiesen ist auf die Triftigkeit der psychologischen Lehren, auf deren Grundlage man argumentiert, im vorliegenden Fall sind dies - man denke an den Narzißmus-Komplex - insbesondere einige Axiome der Psychoanalyse, ohne daß Ilmer als untertäniger Schüler Freuds zu betrachten wäre. Unter derartigen Vorzeichen wirken jene Passagen, in denen die Darlegungen sich weitgehend in vorgegebenen Bahnen bewegen und vorhandene Deutungsmuster aufgreifen bzw. ihre Anwendung geringfügig verändern, durchweg überzeugend; man merkt dem Text in nahezu jeder Zeile an, daß er die Frucht einer sich seit Jahrzehnten fortentwickelnden, intensiven Beschäftigung mit der Person Mays und ihrem Umfeld ist. Von den Überlegungen, die mit


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größerer Radikalität Neuland erschließen wollen, erscheinen einige frappierend und so plausibel, wie es in diesem Rahmen überhaupt vorstellbar ist; das gilt etwa für die famose Erläuterung des Namens Halef Omar, die auch in philologischer Hinsicht mit beträchtlicher Akribie entwickelt wird (84ff.). Anderes mutet gewagt oder fast spekulativ an, wie die Vermutung über Einzelheiten des psychischen Zusammenbruchs, der May auf der Orientreise traf. Aber der Autor sichert sich doppelt ab, indem er zum einen auch hier alles anführt, was seine Überlegungen stützen könnte, und zum anderen von Anfang an die einschlägigen Stellen entsprechend ausweist: Da heißt es z.B., etwas sehe »so aus, als (ob)« dies und jenes geschehen sei (21), anderes bleibt »rein hypothetisch« (30), und manche Überlegung taucht nur in der Form von Fragen auf. Wer immer die Tragfähigkeit der weit ausgreifenden Erläuterungen anzweifelt: Leichtfertigkeit kann er dem Autor nicht vorwerfen.

In einem nicht ganz unwesentlichen Punkt freilich gibt Ilmer diese Zurückhaltung auf. May erwähnt in seiner Autobiographie bekanntlich den Besuch eines Puppentheaters, den er als Knabe unternommen haben will, und schildert den tiefen Eindruck, den eine Inszenierung des >Faust<-Volksbuchs bei ihm hinterließ; der Besuch als solcher erscheint nach den Recherchen, über die Hainer Plaul in der kommentierten Ausgabe von >Mein Leben und Streben< berichtet, durchaus wahrscheinlich. Ilmer gelangt in diesem Zusammenhang zu der Überzeugung, so habe sich »bereits in dem Kinde« die Erkenntnis festgesetzt, »daß er wie dieser Faust ist, weil er empor will ins Helle, dieweil das Häßliche unablässig an ihm zerrt« (18); auch eine solche Identifizierung des phantasiereichen und sensiblen Kindes mit einer eindringlich vorgeführten Kunstfigur ist plausibel. Für den Biographen wird dies nun aber zum Anlaß, Mays weiteren Lebensweg immer wieder im Rückgriff auf den Faust-Mythos zu erläutern: Faust ist die stetige Bezugsfigur, wenn es um das extreme Auswuchern des >Hohen< und des >Niedrigen< geht, May wandert »auf schmalem Grat zwischen Hölle und Himmel« (56), stürzt zeitweise »in alle Höllen« (179), »entkleidet« sich an anderer Stelle als »>Dr. Faustus Karl May< (...) mächtiger Schlacken« (192), und einmal ist er sogar »Schöpfer, Faust, Erzengel, Angeklagter, Mephisto und Richter in einer Person« (185).

Karl May hätten diese Etikettierungen gewiß gefallen, denn das Verständnis von sich selbst als einer in extremer Steigerung exemplarischen Persönlichkeit, das er zumindest im Alter entwickelte, findet hier eindrucksvolle Fixpunkte; es mag sich daher aufdrängen, die radikalen Wechselfälle seiner Vita entsprechend zu fassen. Eine Biographie, die


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ohnehin schon so viel riskiert, läuft aber Gefahr, ein wenig den Boden unter den Füßen zu verlieren, wenn sie ihren Erklärungen zu sehr das Modell eines Mythos aufträgt: Man könnte ihr vorhalten, bei »Himmel«, »Hölle« und allem, was dazugehört, handele es sich um poetische Bilder, deren reale Substanz im Detail nicht recht zu erkennen sei. Andererseits mag man einer Arbeit, die ihre Leser im Text auch durch ausführliche Literaturhinweise und am Ende durch eine sorgfältig gegliederte Bibliographie unterrichtet, also weitestgehend nach den Kriterien seriöser Wissenschaftlichkeit verfährt, gewisse poetische Exkurse, wie sie hier und in anderen Zusammenhängen auftauchen, durchaus zugestehen wollen, zumal sie oft genug durch unmißverständliche, >eigentliche<, klare Worte ergänzt werden.

Alles in allem gebührt Ilmers Arbeit das Verdienst, eine neue Form der May-Biographie auf den Weg gebracht zu haben und dabei unser Wissen teils überzeugend ergänzt, teils durch anregende Hypothesen herausgefordert zu haben. Insofern ist sie von allen hier besprochenen Publikationen aus dem Umfeld des Gedenkjahrs diejenige, die am ehesten dem oben skizzierten Unbehagen entgegenwirkt.

Der Vollständigkeit halber sei es dem Berichterstatter erlaubt, an dieser Stelle auch noch auf zwei eigene Arbeiten zu verweisen, die letzthin außerhalb des Publikationsbereichs der KMG erschienen sind, sowie auf zwei neue Bände der im Auftrag der KMG veröffentlichten >Materialien zur Karl May-Forschung<:

- In dritter Auflage liegt - abermals geringfügig überarbeitet und mit leicht verändertem Titel - die Buchfassung meiner Dissertation vor. Zum ursprünglichen Text vgl. die Rezension von Heinz Stolte im JbKMG 1978, 285ff., zur zweiten Auflage die von Bernd Steinbrink im Jb-KMG 1988,429ff.(14)

- Den besonderen Eigenheiten des amerikanischen Schauplatzes in Mays Abenteuerromanen und den Differenzen in den Schilderungen Nord- und Südamerikas gilt mein Aufsatz >Die beiden Amerika im populären Roman: Karl May<. Er findet sich in einem Sammelband, der die Referate einer interdisziplinären Tagung über >Nord und Süd in Amerika. Gemeinsamkeiten - Gegensätze - Europäischer Hintergrund< enthält.(15)

- Den Beziehungen zwischen der Lebensgeschichte Mays und seiner Romanwelt geht Gerhard Linkemeyers >Im Schatten des Schut< nach.(16) Die Untersuchung ist zu lesen auch als Ergänzung zu der oben besprochenen Arbeit Worms.

- Mit Fragen der Erzähltechnik und -struktur befaßt sich Werner Kittstein.(17) Das Thema wird hier erstmals in bezug auf May - am Bei-


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spiel des Romans vom >Geist des Llano estakado< - derart ausführlich behandelt.

Eine kuriose Entwicklung nahm im Berichtszeitraum die historisch-kritische May-Edition, über deren wechselhaftes Schicksal die Literaturberichte der letzten Jahrbücher ausführlich informiert haben. Man hätte sich vorstellen können, daß sie gerade im Gedenkjahr sichtbare Fortschritte machen würde. Dem war aber nicht so: Die >Bibliotheksausgabe<, die allein das genannte anspruchsvolle Etikett verdient, stagnierte weiterhin. Abgesehen von einigen Taschenbüchern - darunter immerhin das bisher schwer greifbare Frühwerk >Der beiden Quitzows letzte Fahrten< -, gab es allerdings außerhalb des Haffmans-Verlags bemerkenswerte Aktivitäten in Zusammenhang mit jener Edition.

Gleich dreiunddreißig Bände einer >Züricher Ausgabe< sind erschienen; sie »folgt«, wie es in der Werbung heißt, »der historisch-kritischen Ausgabe«.(18) Deren Herausgeber haben - unter Benutzung der bei Haffmans schon vorliegenden und im Vorgriff auf die in den editorischen Details dort noch zu erarbeitenden Bände - die populärsten Romane Mays für dieses Projekt zusammengestellt, und zwar im Rahmen einer reinen Leseausgabe, die auf philologische Berichte genauso verzichtet, wie es die Haffmans-Taschenbücher tun. Rein äußerlich entspricht die >Züricher Ausgabe< weitgehend der bisherigen >Volksausgabe< bei Haffmans; nur stammen die Umschlagbilder nunmehr von Klaus Dill, was einen deutlichen Zuwachs an >action< mit sich bringt. Die frühere >Volksausgabe< scheint jetzt zu entfallen, der Haffmans-Verlag ändert binnen weniger Jahre also ein weiteres Mal seine Publikationsregeln in Sachen May, was ihm gewiß Jubelbriefe in großer Zahl eintragen wird.

Die Auswahl der Texte und die Werbung, die »33 unverwüstliche, unsterbliche Erzählungen voll Spannung und Abenteuer - in der ganzen Frische und Fülle ihrer ursprünglichen Gestalt« anpreist, lassen vermuten, um was es letztlich bei der >Züricher Ausgabe< geht: Sie enthält 26 Bände der Fehsenfeld-Reihe - das Spätwerk ab >Am Jenseits< fehlt (wie übrigens auch die »andere(n) Erzählungen«, die der Einband des >Schwarzen Mustang< für sein Inneres verheißt) sowie die >Jugenderzählungen< Mays, also das, was vermutlich weiterhin am besten verkauft wird; es handele sich, so teilt gleichfalls ein Werbeblatt mit, um die »Hauptwerke KARL MAYs«. Dem Urteil der Herausgeber entspricht eine solche Etikettierung gewiß nicht, aber darauf kommt es hier nicht an: Die schmucke Ausgabe mag ein gutes Geschäft werden, und davon sollten der Haffmans-Verlag profitieren, von dessen May-Bemühungen sie abhängig ist, und somit zuletzt auch die historisch-


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kritische Ausgabe selbst. Möglicherweise deutet sich bis zum Erscheinen dieses Berichts schon an, ob die Rechnung aufgeht.

Jugendliche >kennen< Karl May heute oftmals eher aus der bekannten Filmserie der 60er Jahre und aus Hörspielfassungen seiner Romane als aus deren Lektüre; man mag freilich mit einigem Recht zweifeln, ob da von einer Kenntnis Mays wirklich die Rede sein kann. Neuerdings gibt es nun aber die Möglichkeit, auf akustischem Wege einem Originaltext zu begegnen: Gert Westphal, von der Werbung als »Vorleser der Nation« gepriesen, liest den >Schatz im Silbersee< - ungekürzt, in der Fassung der historisch-kritischen Ausgabe, auf 18 Langspiel-Kassetten.(19) Einundzwanzig Stunden etwa dauert es, bis man alles gehört hat: ein bisher einzigartig dastehendes Unternehmen! Hans Wollschläger hat dazu einführende Texte verfaßt, die in die erste Kassette eingelegt sind; weitere Erläuterungen - unter anderem aus Arbeiten von Arno Schmidt -finden sich in der Beilage der letzten.

Westphal ist in dieser Form bisher vor allem mit den unumstrittenen Klassikern unserer Literaturgeschichte befaßt gewesen, mit Goethe, Fontane und Thomas Mann, und so mag man einigermaßen skeptisch fragen, wie er es denn nun mit May und dessen teilweise doch ganz anderer Sprache hält. Aber die Sorgen sind unbegründet: Westphal erweist sich als ein verläßlicher, manchmal brillanter Leser - und das heißt auch: Interpret - Mays. Er spricht zügig, folgt geschmeidig den Akzentuierungen und Stimmungswechseln des Textes, hält sich bei stilistisch dubiosen Formulierungen nicht weiter auf und vermeidet es damit, den Roman auf andere Weise zu ironisieren als in den von ihm selbst gesetzten Grenzen. Besonders heikel sind, neben den dramatisch zugespitzten Höhepunkten des Geschehens, die zahlreichen und manchmal ausführlichen Dialoge. Hier wird der Vorleser zum Rollenspieler, der sich nach den Eigenheiten der beteiligten Personen und der jeweiligen Situation richtet: Schreibt der Text beispielsweise der Tante Droll eine hohe Fistelstimme zu, so spricht Westphal ihre Äußerungen mit einer solchen, und agiert der Schurke Brinkley im ersten Kapitel mit einer Mischung aus Verschlagenheit und Aggressivität, die durch reichen Alkoholgenuß untermustert ist, so bringt er auch dies so nuancenreich zum Ausdruck, wie Mays Text es eben zuläßt. Westphals Interpretation lädt dazu ein, sich die Geschehnisse szenisch zu vergegenwärtigen, aber sie drängt - wenn man den Wechsel des Mediums in Rechnung stellt - dem Leser eine solche Aktion kaum stärker auf, als es der Roman von sich aus tut. Wir haben es mit einer Pionierleistung zu tun, die so gelungen ist, daß man ihr ein großes Publikum wünschen und auf eine Fortsetzung hoffen möchte.


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Eine Ausgabe Mayscher Originaltexte, die auf den ersten Blick schon durch eine imposante buchtechnische Gestaltung beeindruckt, ist von einigen Buchgemeinschaften auf den Weg gebracht worden: >Durch die Wüste< und >Winnetou I eröffnen >Karl May's Illustrierte Werke<, herausgegeben von Heinrich Pleticha und Siegfried Augustin.(20) Ein geprägter Buchlederumschlag, exzellenter, großer Druck und eine solide Verarbeitung zeichnen die beiden Bände aus, die sich bei genauerer Prüfung als Gesamtkunstwerke von ganz besonderer Art erweisen: Mays Texte folgen, den editorischen Hinweisen nach, jeweils unveränderten Nachdrucken der Fehsenfeld-Erstausgaben von 1892 bzw. 1893; zwischendurch finden sich Illustrationen von Josef Ulrich aus einer ab 1890 erschienenen tschechischen Ausgabe, der Einband schließlich orientiert sich an der Münchmeyer-Ausgabe der >Deutschen Herzen, deutschen Helden< von 1901. So liegt hier, wie auch schon beim Reprint der Fehsenfeld-Ausgabe mit den Sascha-Schneider-Bildern durch den Karl-May-Verlag (vgl. Jb-KMG 1992, 338f.), ein >Original<-May vor, den es in dieser Form nie gegeben hat, der aber gleichwohl von beträchtlichem Reiz ist, zumal Ulrich zu den besseren May-Illustratoren gehört; man beachte nur einmal die schlichte Wucht im Gegeneinander horizontaler und vertikaler Linien, mit dem er in dem in >Wüste<, S. 139, wiedergegebenen Bild die Konfrontation während einer Gerichtsverhandlung zum Ausdruck bringt.

Eine Beigabe zu dieser Edition stellt die 90seitige Broschüre >Karl May. Leben und Werk< dar.(21) Sie dient dazu, Unkundige in die ferne Welt Mays und seiner Zeit einzuführen: Augustin erläutert Mays Lebensgeschichte und sein Werk, wobei er sich an der gebräuchlichen Einteilung in vier Schaffensperioden orientiert; Pleticha berichtet über die Geschichte des 19. Jahrhunderts; zahlreiche Abbildungen und Faksimiles sowie der Nachdruck eines May-Briefs aus der Zeit der Old-Shatterhand-Legende ergänzen diesen Überblick. Den bescheidenen Ambitionen der Schrift zum Trotz bietet sie bemerkenswerte Dokumente: Das Nebeneinander zweier Fotos von Buffalo Bill und May in der Pose des Westmanns (20) z.B. zeigt an, wie vielfältig Mays Inspirationsquellen gewesen sind.

Unter den übrigen Neudrucken Mayscher Originaltexte ragt die von Gerd Eversberg herausgegebene und mit einem kurzen Nachwort versehene Sammlung von >Weihnachtsgeschichten< hervor.(22) Hier geht es weniger darum, weithin unbekannte bzw. nur in bearbeiteter Form vorliegende Arbeiten in annähernd ursprünglicher Gestalt wieder zugänglich zu machen; vielmehr werden, vom frühen Gedicht >Weihnachtsabend< bis zu einer >Reiseskizze< aus dem Jahr 1907, Texte um einen


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einzelnen Themenkomplex vorgestellt, und so kann sich der Leser einmal anhand eines speziellen Beispiels Einblick in die literarische Entwicklung Karl Mays verschaffen: eine um so reizvollere Aufgabe, als May mit dem Fest der Geburt Jesu bekanntlich wenig angenehme Erinnerungen verband und dementsprechend engagiert zu Werke ging. Attraktiv ist manches aber auch unabhängig von der übergreifenden Perspektive. So betont Eversberg mit Recht die große Diskrepanz zwischen der »Monumentalität der Mayschen Altersfantasie« (131), die sich in >Ardistan und Dschinnistan< artikuliert, und der Schilderung von Festvorbereitungen im gleichen Roman, in der uns das »Erzgebirge der kleinen Häusler und Handwerker (...) in aller bescheidenen Biederkeit« (132) entgegentritt. Ähnlich apart erscheint es, wenn im >Waldröschen< die mit dem Tod endende religiöse Rettung eines Gefangenen und die ganz und gar innerweltliche seines Zellengenossen Karl Sternau vor dem Hintergrund des Heiligen Abends aufs engste synchronisiert werden, indem der Mönch, der dem einen die Beichte abnimmt, dem anderen gleichzeitig zur Flucht verhilft: Sie, die beiden Gefangenen, hatten heute zur Weihnacht ihre Erlösung gefunden, der Eine durch den Tod und der Andere durch die Freiheit.(28)



1 Jörg Kastner: Das Große Karl May Buch. Sein Leben - Seine Bücher - Die Filme. Bergisch Gladbach 1992

2 Der Wilde Westen Live. 40 Jahre Karl-May-Spiele Bad Segeberg. Hrsg. von der Kalkberg GmbH Bad Segeberg. Bad Segeberg o. J.

3 Old Shatterhand läßt grüßen. Literarische Reverenzen für Karl May. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Christian Heermann. Berlin 1992

4 Wolfgang Hallmann/Christian Heermann: Reisen zu Karl May. Erinnerungsstätten in Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Zwickau 1992

5 Klaus Farin: Karl May. Ein Popstar aus Sachsen. München 1992

6 Thomas Scherer: »Eigentlich ein deutscher Schriftsteller, nebenbei aber auch Old Shatterhand«: An Introduction to Germany's Wild West Author Karl May. In: Schatzkammer der deutschen Sprache, Dichtung und Geschichte. Vol. XVII (1992). Heft 2, S. 1-19

7 Manfred K. Kremer: Edle Wilde im >Dritten ReichFremden<: Grenzen - Traditionen - Vergleiche. Bd. 7. Hrsg. von Eijiro Iwasaki. München 1991, S. 443-50

8 Karl May's Gesammelte Werke Bd. 34: »Ich«. Karl Mays Leben und Werk. Hrsg. von Lothar Schmid. Bamberg 1992. 38. Aufl.

9 Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Hrsg. von Gerhard Klußmeier und Hainer Plaul. Hildesheim-Zürich-New York21992

10 Klaus Hoffmann: Karl-May-Museum. Kurzführer durch die Ausstellungen >Indianer Nordamerikas<, >Karl May - Leben und Werk<. München 1992

11 Lothar Dräger/Rolf Krusche/Klaus Hoffmann: Indianer Nordamerikas. Ausstellung im Blockhaus >Villa Bärenfett< des Karl-May-Museums. München 1992


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12 Heinz-Lothar Worm: Karl Mays Helden, ihre Substituten und Antagonisten. Tiefenpsychologisches, Biographisches, Psychopathologisches und Autotherapeutisches im Werk Karl Mays am Beispiel der ersten drei Bände des Orientromanzyklus. Paderborn 1992

13 Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992

14 Helmut Schmiedt: Karl May. Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt a. M. 11992

15 Helmut Schmiedt: Die beiden Amerika im populären Roman: Karl May. In: Nord und Süd in Amerika. Gegensätze - Gemeinsamkeiten - Europäischer Hintergrund. 2. Teilband. Hrsg. von Wolfgang Reinhard und Peter Waldmann. Freiburg 1992, S. 1155-68

16 Gerhard Linkemeyer: Im Schatten des Schut. Eine Betrachtung zum symbolischen Gehalt der Balkanabenteuer Karl Mays. Materialien zur Karl May-Forschung Bd. 14. Ubstadt 1992

17 Werner Kittstein: Karl Mays Erzählkunst. Eine Studie zum Roman >Der Geist des Llano estakado<. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 15. Ubstadt 1992

18 Karl May: Züricher Ausgabe in 33 Bänden. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1992

19 Karl May: Der Schatz im Silbersee. Ungekürzte historisch-kritische Ausgabe. Gelesen von Gert Westphal. Deutsche Grammophon Hörbuch. 18 Langspiel-Cassetten im Schuber. 1992

20 Karl May's Illustrierte Werke. Winnetou I und Durch die Wüste. Hrsg. von Heinrich Pleticha und Siegfried Augustin. Stuttgart 1992

21 Heinrich Pleticha/Siegfried Augstin: Karl May. Leben und Werk. Stuttgart 1992

22 Karl May: Weihnachtsgeschichten. Hrsg. von Gerd Eversberg. Husum 1991


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