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CLAUS ROXIN

Begrüßungsansprache zur Eröffnung des
Karl-May-Symposiums an der Universität Bonn *



Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Symposium, das ich als Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft zu eröffnen die Freude habe, ist, auch bevor wir seinen wissenschaftlichen Ertrag eingeheimst haben, insofern ein historisches Ereignis, als es das erste seiner Art ist. Seminare, auch Vorlesungen und Tagungen über Karl May hat es schon gegeben; aber noch nie hat eine Universität ein Symposium oder, wie man unsere Veranstaltung etwas unbescheidener nennen könnte, einen Kongreß über Karl May abgehalten. Daß dies gerade jetzt geschieht, hat seinen äußeren Anlaß im 150. Geburtstag des Autors. Aber dieser Anlaß hätte nicht ausgereicht, wenn nicht das Werk Karl Mays eine unverwüstliche Lebenskraft bewiesen und vor allem in den letzten 30 Jahren ein ständig zunehmendes wissenschaftliches Interesse gefunden hätte.

Dennoch ist es eine legitime Frage, wie sich dieses wissenschaftliche Interesse erklärt und rechtfertigen läßt. Ich glaube nicht fehlzugehen in der Annahme, daß auch heute noch viele Literaturwissenschaftler eine Beschäftigung mit dem Autor Karl May eher für eine nostalgische Marotte halten und Mühe haben werden, ihn als einen ernsthaften Forschungsgegenstand anzuerkennen. In der Tat: Karl May ist nicht durch die Wissenschaft, sondern durch seine Leser zu einer Art Nationalgestalt geworden; dazu paßt es, daß Sie hier nicht durch einen Germanisten, sondern durch einen philologischen Dilettanten und gelernten Juristen begrüßt werden, der aber immerhin ein leidenschaftlicher Leser (nicht nur Karl Mays) ist.

Mit dem Vorbehalt, den meine begrenzte Kompetenz mir abnötigt, will ich aber doch zur Frage nach dem wissenschaftlichen Interesse an Karl May ein paar Bemerkungen machen, die sich mir aus der mehr als 20jährigen Arbeit in der Karl-May-Gesellschaft ergeben haben. Ich bin sehr gespannt, zu welchen - sei es übereinstimmenden, sei es dissonie-

* Das Symposium fand am 30./31. Oktober 1992 als Gemeinschaftsveranstaltung der Karl-May-Gesellschaft und des Germanistischen Seminars der Universität Bonn im Festsaal der Universität Bonn statt.


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renden - Antworten auf diese Frage unser Symposium kommen wird. Bei einem flüchtigen Hinsehen, wie es Karl May bis weit in die zweite Nachkriegszeit durchweg nur zuteil geworden ist, zeigen seine Reiseerzählungen (und natürlich mehr noch die Kolportageromane) alle Merkmale, durch die wir gewohnt sind, Trivialliteratur zu kennzeichnen: reichliche Identifikationsangebote für den Leser, typisierte Figuren, eine orientierungserleichternde Schwarzweißtechnik, ein Zurücktreten der Reflexion zugunsten einer aktionistischen Handlungsführung, Standardsituationen und Wiederholungen, das unvermeidliche Happy-End und eine leicht verständliche Darstellung.

Der naheliegenden und auch oft gezogenen Schlußfolgerung, Karl May sei eben als besonders typischer Trivialautor ein würdiger Gegenstand der Forschung, steht aber einiges entgegen. Abgesehen davon, daß die strikte Trennung von Trivial- und Hochliteratur überhaupt fragwürdig ist, weil aus deskriptiven Unterschieden qualitative Differenzierungen abgeleitet werden, die mehr historisch begründete Zuschreibungen als objektive Erkenntnisse sind, lassen sich nämlich die genannten Trivialitätskriterien an Tausenden von Büchern und Autoren studieren, die nicht die Aufmerksamkeit der Wissenschaft und auch nur vorübergehend die des Lesers finden. Was an Karl May bemerkenswert ist, kann also nicht das sein, was er mit der Massenliteratur aller Zeiten gemeinsam hat - mag dies auch viel sein -, sondern gerade das, was ihn aus der unübersehbaren Menge der reinen Konsumliteratur heraushebt und seinem Werk im Gegensatz zu ihr eine heute nicht mehr bestreitbare Dauer und Wirkungsmacht verliehen hat.

Die Arbeit der letzten 30 Jahre scheint mir gezeigt zu haben, daß es solche Besonderheiten wirklich gibt und daß es ihnen zu verdanken ist, wenn Karl May auf Menschen unterschiedlichster Herkunft eine intensive und oft lebenslängliche Faszination ausübt. Daß er dies tut, ließe sich allein aus der Geschichte der Karl-May-Gesellschaft belegen, die auch ihrerseits schon ein literatursoziologisch beachtenswerter Forschungsgegenstand wäre. Was also ist an Karl May Besonderes? Zunächst einmal lohnt es sich zu bemerken, daß Mays Phantasiewelt, um mit Wolf-Dieter Bach zu reden, »dieselben Inhalte besaß wie die große mythische und religiöse Tradition«,(1) daß also Mays buntes und geläufiges Fabulieren einen gewissermaßen menschheitlichen und deshalb der Veraltung, Überholung und Verwelkung widerstehenden Hintergrund hat. Diese Zeitentiefe oder Zeitenferne verschränkt sich aber, wie Ueding, Schmiedt und viele andere gezeigt haben, mit der zeitgenössischen Gegenwartsbezogenheit der Werke Mays, hinter


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deren exotischer Oberfläche nicht nur seine eigene Biographie, sondern auch die mannigfaltigsten ideologischen Strömungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts hervortreten: Karl May ist ein rechtschaffener Nachfahre der Aufklärung, aber auch ein Prototyp des gründerzeitlichen Wilhelminismus, er ist Nationalist und Weltbürger, Schmetterfaust und Friedenskünder und vieles andere Gegensätzliche mehr. Die nähere Beschäftigung mit seinen Büchern enthüllt also neben ihrer Simplizität auch eine Perspektivenvielfalt und Komplexität, die die etwas kindliche Schlichtheit der Oberflächenhandlung transzendiert und durchaus der Neugier des Forschers wert ist.

Ähnliches gilt aber auch für eine formale Beurteilung seiner Erzählungen. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als habe Karl May auf der Grundlage einfacher Handlungsmuster wild und unkontrolliert drauflosfabuliert. Wenn man dem Autor wohlgesonnen ist, wird man das als naive Ursprünglichkeit, wenn man ihn ablehnt, als dilettantische Pfuscherei bezeichnen. Eine solche, sei es positive, sei es negative Beurteilung trifft etwas Richtiges: Man findet in Mays Werken neben fesselnden Beispielen kunstlos-elementaren, quasi vorliterarischen Erzählens auch darstellerischen Leerlauf und kompositorisches Flickwerk. Und doch ist auf den zweiten Blick alles wieder noch ganz anders, indem die Reise- und Jugenderzählungen Mays - wenigstens in ihren besten Stücken - eine künstlerisch durchaus unverächtliche, auf bewußter Formung beruhende epische Gestaltungskraft erkennen lassen. Das haben u.a. Stolte (am Beispiel der >Sklavenkarawane<),(2) Neumann (in seiner Analyse der Erzählung >»Weihnacht!«<),(3) Schweikert (in seinem Referat über artistisches Erzählen in der >Felsenburg<)(4) und Kittstein (in seiner vor der Veröffentlichung stehenden Monographie über den >Geist des Llano estakado<)(5) mit ganz unterschiedlichen Untersuchungsmethoden deutlich gemacht. Karl May kann mehr, als man ihm lange Zeit zugetraut hat. Er ist - in einer Variierung des bekannten Wortes von Ernst Bloch - vielleicht nicht einer der besten, aber doch einer der besseren deutschen Erzähler. Jedenfalls hat die Wissenschaft, wenn sie sich mit den Geheimnissen erzählerischer Faszination befaßt, auch in Mays Werken einen lehrreichen Forschungsgegenstand.

Schließlich die Schriften seines Alters, die Karl May für sein eigentliches Werk oder doch die Vorstufe dazu hielt! Es gibt bekanntlich eine von Arno Schmidt und Hans Wollschläger ausgehende Forschungsrichtung, die May in dieser Selbsteinschätzung folgt und das Spätwerk weit über die viel erfolgreicheren Reise- und Jugenderzählungen stellt. Auch die Karl-May-Gesellschaft hat in der Interpretation des Alters-


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werks, der sich neben Wollschläger vor allem jüngere Literaturwissenschaftler verschrieben haben, bis heute einen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Dem steht eine deutlich erkennbare Skepsis der Universitätsgermanistik und auch der allgemeinen Literaturkritik gegenüber. Dabei kann nicht bestritten werden, daß es sich bei den späten Großromanen Mays (vor allem dem >Silberlöwen< und >Ardistan und Dschinnistan<) um ambitionierte und anspruchsvolle, partienweise esoterische Konzeptionen handelt, deren interpretatorische Erschließung gerade den an großer Literatur geschulten Fachmann reizen müßte. Woher also die Zurückhaltung? Mir scheint, sie könnte in der Befürchtung begründet sein, der erforderliche interpretatorische Aufwand möchte außer Verhältnis zum schließlichen Ertrag stehen. Es handele sich am Ende doch nur um eine jener etwas verschrobenen Privatmythologien, wie sie um die Jahrhundertwende häufiger aufgetreten und inzwischen mit Recht weitgehend vergessen seien.

Aber ich denke, daß es sich mit diesen Büchern doch anders verhält. Ihr unterster Grund ist, wie May selbst immer wieder behauptete, ohne seine Einsicht begrifflich angemessen formulieren zu können, psychologischer Art, das hat Wollschläger in schlüssiger Weise offengelegt oder, genauer gesagt, offenzulegen begonnen. Ihr Überbau ist kein dilettantischer Mystizismus, sondern, wie wir spätestens seit Wohlgschaft wissen, eine progressive und auch für die moderne Diskussion relevante Theologie.(6) Ihre Handlung ist verschlüsselte Biographie, deren Reiz in der Verbindung von Autobiographie und Menschheitsbiographie liegt. Das alles würde diesen Büchern freilich keinen Anspruch auf dauernde Beachtung sichern, wenn ihre literarische Form der halb intendierten, halb vorbewußten Bedeutungsschwere nicht entspräche. Und gewiß ist May auch im Spätwerk nicht alles gleichermaßen gelungen. Daß aber die intellektuelle und sprachliche Höhe wenigstens der beiden Großromane seines Alters alles sonst von ihm Geschaffene übertrifft, ist mir evident. Visionen wie die vom >Großen Traum< (im >Silberlöwen<), von den Vulkanen Dschinnistans oder von der Stadt der Toten (in >Ardistan und Dschinnistan<) haben, auch wenn man von ihrer teilweise schwer zu entschlüsselnden >Bedeutung< ganz absieht, eine solche Eindringlichkeit und auch sprachliche Kraft, daß ich sie nicht ohne Bewunderung lesen kann. Viel hat die Forschung für das Alterswerk Mays schon geleistet. Aber ich meine: Gerade in diesem Bereich wird das meiste immer noch zu tun sein.

Ich breche hier ab. Mays Werk wird wohl immer umstritten bleiben. Aber vielleicht liegt gerade im Neben- und Ineinander von banaler, jugendgemäßer Abenteuerlichkeit und untergründiger Bedeutungs-


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vielfalt, von literarischer Trivialität und künstlerischer Raffinesse, von zeitgebundener Ideologie und überzeitlicher Botschaft das Geheimnis seines Erfolges. Es hat jeder Leser seinen eigenen Karl May, weil er sich an das ihm Gemäße hält. Die Forschungsgeschichte der letzten 30 Jahre zeigt jedenfalls, daß dieser Autor, den die Wissenschaft jahrzehntelang unbeachtet gelassen hatte, nicht leicht zu Ende zu interpretieren ist. Auch unsere Zusammenkunft, für deren Ermöglichung ich dem Germanistischen Seminar der Universität Bonn und für deren finanzielle Unterstützung ich der Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften herzlich danke, legt dafür ein Zeugnis ab. Ich wünsche der Tagung, deren Referate ich gern im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft abdrucken möchte, einen guten Verlauf und einen reichen Ertrag!



1 Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1971. Hamburg 1971, S. 62

2 Heinz Stolte: Ein Literaturpädagoge. Untersuchungen zur didaktischen Struktur in Karl Mays Jugendbuch >Die Sklavenkarawane<. In: Jb-KMG 1972/73 - 1976

3 Gerhard Neumann: Das erschriebene Ich. Erwägungen zum Helden im Roman Karl Mays. In: Jb-KMG 1987. Husum 1987

4 Rudi Schweikert: Artistisches Erzählen bei Karl May. In: Jb-KMG 1992. Husum 1992

5 Werner Kittstein: Karl Mays Erzählkunst. Eine Studie zum Roman >Der Geist des Llano estakado<. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 15. Ubstadt 1992

6 Siehe Hermann Wohlgschaft: »Ich sah dann auch Gott selber kommen«. Theologisches zu >Ardistan und Dschinnistan< in diesem Jahrbuch - sowie seine Aufsätze in Jb-KMG 1988 - 1991.


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