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PETER PÜTZ

Wüste und Prairie
Zwei Spannungsfelder für Mays Helden *



Als ich im Schüleralter mehr als zwei Dutzend Bücher von Karl May las, entspann sich zwischen den Lektüregefährten eine heftige Diskussion über die Frage: Welche Romane sind spannender: die im Westen oder die im Osten spielenden? Im Laufe der Jahre kam mir dieses Problem abhanden, und erst durch Helmut Schmiedt, anfangs durch seine Bonner Dissertation, dann durch die jetzige Veranstaltung, wurde die Frage in mir wieder wach. Als Greenhorn der Karl-May-Forschung greife ich sie heute wieder auf und stütze mich aus Gründen erstrebenswerter Konzentration auf zwei paradigmatische Texte: auf die Reiseerzählungen >Durch die Wüste< und >Winnetou I<, beide im Abstand von etwa einem Jahrzehnt (1882/1893) erschienen.

Wenn ich dabei mein Augenmerk anfangs stärker auf den >Winnetou< lenke, so geschieht das trotz der späteren Entstehung aus zwei Gründen, die in der Verschiedenheit der regionalen Gegebenheiten liegen: Zum einen ist der Schauplatz im Amerika-Roman ein relativ begrenzter und in sich gleichförmiger, während >Durch die Wüste< keineswegs durch ein vermeintlich homogenes Sandgebiet, sondern durch eine Vielheit und Vielfalt von Ländern mit ihren diversen Stämmen, Völkern und Kulturen führt. Zum anderen werden die Landschaften der Indianer und Westmänner, die klimatischen Bedingungen und geologischen Formationen innerhalb des geschlossenen Bereiches ausführlicher, präziser und für den Gesamtkontext der Ereignisse beziehungsreicher beschrieben. Die Bedeutungsfülle der unzählbaren Details, vom Grashalm bis zu den Busch- und Waldgebieten, von den Cañons über die Gebirgshänge bis zu deren Gipfeln steht im Zusammenhang mit den spezifischen Merkmalen dieses Spannungsfeldes. Es läßt sich keineswegs auf folgende kontrastierende Formel bringen: Da die Prairie so reich gegliedert und verschiedenartig bewachsen ist, resultiert die Spannung aufgrund der rasch wechselnden Sichtverhältnisse aus den Momenten der Überraschung, während die größere Uni-

* Vortrag, gehalten am 30.10.1992 auf dem Symposium der Karl-May-Gesellschaft und des Germanistischen Seminars der Universität Bonn.


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formität der Wüste trotz wellenartiger Senkungen und Erhebungen Ankömmlinge von weither erkennbar werden läßt, weshalb die Spannung nicht durch plötzliche Überrumpelung, sondern durch ausgiebige Beobachtungen von Näherrückenden ausgelöst werde. Lägen die Dinge so einfach, ergäbe sich die Spannung in einem Falle durch die jähe Präsenz des unerwarteten Augenblicks, im anderen durch die allmähliche Schrumpfung einer berechenbaren Zeitspanne mit den verschiedenen Fragestufen: Bewegen sich die zunächst nur punkthaft wahrnehmbaren Gestalten auf Pferden, Eseln oder Kamelen? Kommen sie näher, oder reiten sie vorbei? Wie sind sie bewaffnet? Entpuppen sie sich als Freunde oder Feinde?

Doch die entscheidenden Spannungsmomente liegen nicht in erster Linie im puren Vorhandensein regionaler Besonderheiten, sondern in der Art ihrer narrativen Darstellung, nicht im Was, sondern im Wie ihrer Präsentation. Das Moment der Überraschung fehlt auch nicht in der Wüste, wenn plötzlich hinter der nächsten Sanddüne ein Geier aufsteigt, als nutznießender Vorbote eines kürzlich noch Lebendigen. Auf der anderen Seite lebt auch das Lauernde der Prairie nicht von den unvorhersehbaren Ausfällen aus dem Hinterhalt der Büsche. Bei fast allen Gelegenheiten, sei es im Westen, sei es im Osten, entsteht die Spannung aus der zeitlichen Spanne zwischen Vorgriff und Verwirklichung, zwischen Erwartung und näherrückender Erfüllung. Spannung dieser Art ist zumindest zweifacher Natur: Sie entsteht im psychischen Befinden des Lesers als konzentrierte Ungeduld, und diese ist bedingt durch die tektonische Gespanntheit aller Einzelmomente in der Konstruktivität des Textes. Die wichtigsten Funktionen beim Erzeugen der Erwartungshaltungen liegen wiederum auf zwei Gebieten, auf einem menschlichen und einem naturhaften, d.h. auf der vorausplanenden Rede und auf den Spuren an den Dingen. Damit verdichten sich Worte und Abdrücke aller Art zu einem umfassenden System von Zeichen und Verweisungszusammenhängen.

Gleichwohl ist die Semasiologie des Bodens und seines Bestandes naturgemäß vorgeprägt von den geographischen Regionen und deren Klima, insbesondere vom Grundelement des Wassers. Dieses determiniert nicht allein die Vegetationsarten in der Prairie, Steppe, Savanne oder Wüste, sondern auch die Landschaftsformationen, die nicht zuletzt durch Erosion bedingt sind, vom Gebirgsgeröll bis zum feinsten Sand, der den Reisenden den Boden unter den Füßen entzieht. Zu Beginn des >Winnetou< bewegen sich die Landvermesser in einer Prairie, die sich im wesentlichen zwischen den Flußläufen des vom Nordwesten kommenden Canadian-River und des nach Süden fließenden Rio


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Pecos hinzieht, also im heutigen Gebiet zwischen Oklahoma und New Mexico.(1)

Die Schwierigkeiten der Eisenbahnpioniere liegen in den strapaziösen Höhenunterschieden, die ihre Arbeiten von den Flußtälern bis zu steilen Pässen und wieder abwärts führen, sowie in den natürlichen Gegnern ihrer Unternehmungen, in den feuerroßfeindlichen Indianerstämmen, den Kiowas, Comanchen und Apachen, die sich überdies auch gegenseitig ihre von Wasservorkommen abhängigen Weideplätze und Jagdgebiete streitig machen. Die Weißen arbeiten sich, so gut es geht, mit aller Behutsamkeit zwischen diesen verschiedenen Anforderungen und Gefahren hindurch und verzichten ihrerseits auf die Jagd, um die Roten nicht auf sich aufmerksam zu machen; statt dessen beziehen sie ihren Verpflegungsnachschub auf den von Santa Fe kommenden Ochsenwagen.

Die Landschaft der Prairie, die unter anderem auch in >Old Surehand< und vor allem im >Schatz im Silbersee< den landschaftlichen Unter- und Hintergrund bildet, wird bereits in >Winnetou I< an einem signifikanten Beispiel durch das Element des Wassers und seiner vielfältigen Folgen definiert: Die Prairie ist von einem ziemlich breiten Bach durchflossen, hat also Feuchtigkeit genug, um einen saftigen Graswuchs zu ermöglichen; auf der einen Seite ist sie von bewaldeten Höhen umrandet (Winnetou, S. 73), auf der anderen öffnet sie sich zu einem Tale mit weiter Ebene, die ebenfalls mit dichtem und - wie sich herausstellen wird - aufschlußreichem Gras bewachsen ist. Überall, wo Wasser im Spiele ist, sei es in Form von Flüssigkeit oder ihrer vegetativen Folgen, erhöht sich der Aufmerksamkeit erheischende Signalcharakter. Das kristallklare Naß der Bäche und Teiche gewährt leichthin Durchblick auf Abdrücke im weichen Untergrund und verrät, ob sie von einem Wild, einem Pferd, einem Stiefel oder einem Mokassin herrühren. Falls allerdings die Strömung der Flüsse besonders stark ist, ernpfiehlt es sich geradezu, den Wasserlauf als Weg zu benutzen, da die starke Bewegung des Flusses die Fährte tilgt. Auch das Gras läßt Spuren erkennen, doch nicht so deutlich und vor allem weniger anhaltend, da es sich nach einer gewissen Zeit wieder aufrichtet, wobei allerdings der Status dieses Vorgangs wiederum genauere Auskunft über das Alter der Stapfen gibt.

Das reichlich vorhandene Wasser ermöglicht nicht nur üppiges Wachstum von Gras, sondern auch von Büschen, Gesträuch und Waldstücken vielfältigster Art. Diese bieten Gelegenheiten des Sich-Verbergens, sei es zum eigenen Schutz oder als Gefährdung durch Büffel und Bären, feindliche Indianer und weiße Bösewichter. Das Gebüsch


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liefert Zweige, mit denen man eine erlegte Beute oder deren Reste bedeckt, mit denen man also Spuren zu verwischen sucht; oder die Sträucher werden selbst zu verräterischen Zeichen, wenn die Spurensucher auf gebrochene Zweigspitzen stoßen, die je nach dem Grad ihres Verwelktseins darauf hinweisen, d a ß und ungefähr w a n n hier schon jemand war, woraus die meist lebenswichtigen Fragen nach dem Wer und Wozu entstehen. In anderen Fällen dienen die laubreichen Baumkronen als Verstecke und vor allem als bevorzugte Beobachtungsposten, von denen aus ankommende Feinde über weite Strecken der Prairieebenen beäugt werden. Dann wieder wird ein Gebüsch zum Zeichen der Gefahr, so z.B. durch eine auffällige Ansammlung von Insekten als Indizien für umschwirrte Lebewesen (vgl. Winnetou, S.204).

Der Wasserreichtum, der bestimmte Tierarten begünstigt, wie den Ochsenfrosch, dessen Ruf die Kiowas nachahmen, um zu warnen, zu locken oder zu verlocken, wird genährt durch Regenfälle, die wie ein See vom Himmel herabzustürzen (Winnetou, S. 192) scheinen. Auch dies erzeugt oder verändert die Spuren und Sehweisen, Gras, das die Lagerung einer Gruppe gemeinhin über längere Zeit hin anzeigt, richtet sich nach heftigen Güssen rasch wieder auf, und während der Wolkenbrüche werden Ankömmlinge erst wahrgenommen, wenn sie sich bis auf wenige Schritte genähert haben.

Alle diese Fakten verwandeln sich nicht allein dadurch zu Zeichen, daß sie vom Erzähler schlicht benannt werden, sondern mehr noch aufgrund ihrer Wahrnehmung durch die erzählten Figuren und deren Reaktionen darauf. Innerhalb der geographisch und vegetativ reich gegliederten Landschaft wird jede Erscheinung dann zu einer Spur, zu einem spannungskonstituierenden Vorgriff, wenn sie nach ihrer Entdeckung diskutiert und interpretiert wird, wobei die Intentionen des Gespanntseins um so vielfältiger, weil fragwürdiger werden, je divergierender die Auslegungen der Zeichen sind. Welche der Interpretationen wird am Ende recht behalten? Die Fragen schlagen sich nicht nur in der Sprache des Beredens, sondern auch in der des körperlichen Verhaltens nieder. Auf die Indizien der Gefahren, seien sie in Spuren sichtbar oder in angespannten Erwartungen antizipierbar, reagieren die Personen mit den entsprechenden Bewegungsarten der Vorsicht und Behutsamkeit, und zwar in einer Art Anpassung an jagendes oder gejagtes Wild. Das geschieht sogar dann, wenn vermeintlich entspannende Ruhepausen an Orten eingelegt werden, die dem Charakter eines locus amoenus gleichen. Der Ritt dauerte, bis wir ein fließendes Wasser erreichten, wo wir unsere Tiere trinken und ein Stündchen aus-


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ruhen lassen wollten. Da stiegen wir ab und streckten uns zwischen Büschen im weichen Grase aus (Winnetou, S. 158). Doch selbst in solchen Situationen wie auch bei den abendlichen Lagerfeuern liegen die Spurensucher ständig auf der Lauer, stellen Wachen auf, hören Geräusche des vom Wind oder anderen Kräften bewegten Laubes, auf das Schnauben ihrer Pferde sowie auf die vielleicht imitierten Laute von Prairietieren.

Eine der grundsätzlichen Interpretationsmöglichkeiten der Spuren ist neben denen des Wer, Wohin und Warum diejenige des Ob, das sich vielfach als Zeichen des Als-Ob herausstellt. Hierbei handelt es sich um alle möglichen Arten vorgetäuschter Signale, wenn Lagerfeuer nicht an verborgenen Plätzen, sondern gerade an solchen entzündet werden, die von außen einzusehen sind und daher Späher anlocken, um sie in die Irre zu führen, da sich die Lagernden gerade nicht im Umkreis des lodernden Lichtes, sondern abseits befinden und damit den Status von Beobachteten mit dem von Beobachtern vertauschen. Zum Zwecke der Irreführung müssen also Zeichen überdeutlich markiert werden, wobei auch der Anschein des >über< im Sinne leicht durchschaubarer List wiederum vermieden oder zumindest gedämpft werden muß, damit der Als-ob-Charakter der Spuren nicht durchschaut wird. In einem anderen Falle kann das wirklich gefahrdrohende Signal als Täuschung mißverstanden werden, wenn diesmal die am Lagerfeuer Versammelten sich in Sicherheit wähnen und Sam Hawkens sich plötzlich zu einem Schuß (vgl. Winnetou, S. 419) genötigt sieht, weil er im nahen Gesträuch das Auge eines spähenden Menschen erblickt haben will, während andere darin das phosphoreszierende eines Tieres oder den Widerschein der hellen Seite eines Blatts vermuten. Die Mißdeutung dieses Zeichens wird dem Vater und der Schwester Winnetous das Leben kosten. In allen Fällen werden allerdings die Spuren, seien sie echt, vorgetäuscht oder mißverstanden, am Ende erklärt und enttarnt, auch wenn es zu spät zu sein scheint - doch darüber bald mehr.

Eine der wichtigsten Verhaltens- und Bewegungsformen in der Vegetation der Prairie ist das Anschleichen zum Zwecke des Inspizierens und Belauschens. Dieser Akt des Ausspähens ist unverzichtbar für jeden Kampf, vor jedem Kampf oder zur Vermeidung eines solchen. Dabei sind spezifische Bodenverhältnisse erforderlich, die allerdings auch wieder zu verräterischen Gefahrenquellen werden können. Zum Sich-Verbergen und zur unabdingbaren Lautlosigkeit gehören wiederum das Gras und die Büsche, doch genau hier liegen auch die Gefährdungen: so das Rascheln der ansonsten Schutz bietenden Zweige und Blätter oder das Knacken eines dürren Holzes, das unter dem Druck


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des sich anschleichenden Körpers zerknickt wird. Daher müssen alle diese Bestandteile des Bewuchses behandelt, gebündelt oder beiseite geräumt werden, damit das Schützende nicht zum Verräter wird. Die Fortbewegung dauert lange: Das ging langsam, sehr, sehr langsam (Winnetou, S. 217), wobei aufgrund der Zeitdehnung und der gleichzeitig sich schleichend verringernden Distanz die Spannung buchstäblich vom Ausbleiben des Knisterns lebt.

Eine ebenso pikante wie besorgniserregende Erfahrung des Anschleichens wird Old Shatterhand beim Versteckspiel Winnetous mit seiner Schwester Nscho-tschi beschert (vgl. Winnetou, S. 374ff.), wobei fast alle prairieeigenen Spannungsmomente des Sich-Annäherns und Auskundschaftens ins Spiel kommen. Zunächst stößt der Suchende, dem sein roter Bruder nicht zutraut, das Geschwisterpaar zu finden, auf Spuren der beiden im Gras. Plötzlich aber fehlen die Fußeindrücke der Indianerin, was trotz ihres leichten Ganges nicht dazu paßt, daß in dem dichten und empfindlichen Moosboden kein einziges Pflänzchen niedergedrückt oder gar gebrochen ist. Verwundertes Räsonieren über diese anfangs schwer erklärbare Veränderung sowie die Beobachtung, daß die Fußstapfen Winnetous tiefer eingedrückt sind als vorher, bringen den geübten Späher zu der Vermutung, daß der offensichtlich stärker Belastete seine Schwester seit dem Verschwinden ihrer Spuren getragen haben muß. Als Shatterhand dann noch geknickte Zweige und beschädigte Blätter entdeckt, was der Tragende nur hätte vermeiden können, wenn er sich mit freien Händen den Weg gebahnt hätte, wird die Annahme zur Gewißheit. Der einen vertieften Fährte folgend und beim Anschleichen stets darauf achtend, sich der Büsche und Bäume als Deckung zu bedienen, findet er die Sich-versteckt-Haltenden mitten in einem wilden Pflaumengebüsch (Winnetou, S. 376). Als er die beiden bei ihrem gedämpften Gespräch belauscht, ist er scheinbar in der Idyllen-Rolle eines Schäfers, der seine Verfolgte bei ihren intimen Offenbarungen überrascht oder gar erhaschen könnte; denn Nscho-tschi gesteht soeben dem Bruder ihre tiefe Liebe zu Old Shatterhand. Oh je! Nachdem der Schäfer wider Willen Zeuge dieser verfänglichen Szene geworden ist, macht er sich mit derselben Vorsicht, mit der er gekommen ist, wieder auf den Rückweg: Das geringste Geräusch, der kleinste Zufall konnte es verraten, daß ich das Geheimnis der schönen Indianerin erfahren hatte(Winnetou, S. 379).

Die Prairielandschaft bietet also aufgrund ihrer Formation und Vegetation Gelegenheit, nicht nur Feinde auszukundschaften, sondern auch auf Liebesspuren, wenn nicht zu wandeln, so doch zu kriechen, wobei allerdings auch diese im vorliegenden Falle eine Gefährdung


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zutage bringen, denn die Scham, sich nach dem soeben Vernommenen unmittelbar zu zeigen, das Geschwisterpaar und sich selbst in eine höchst peinliche Lage zu versetzen, zwingt den unfreiwilligen Lauscher zum behutsamen Rückzug. Die tieferen Gründe für die Gefährdung Old Shatterhands liegen allerdings weniger in der prekären Augenblickssituation, auch nicht so sehr in der Tatsache, daß er keine Rote zur Frau nähme, sondern darin, daß er eine dauerhafte Bindung oder gar eine Heirat aus seinem Lebensplan grundsätzlich ausgeschlossen hat. Die Problematik, die sich daraus für sein Verhältnis zu Winnetou und dessen Familie ergeben müßte, wird schon wenig später vom Erzähler auf ebenso traurige wie nutzbringende Weise gelöst, indem er die aussichtslos Liebende samt ihrem Vater durch den Schurken Santer und seine Spießgesellen aus dem Weg räumen läßt. Schließlich ist also die peinliche Erfahrung des Belauschens durch die narrative Entrümpelung des Erotischen für das Ich des Romans doch noch zu einem versöhnlichen Ende gekommen, denn es gelingt dem Helden nicht nur alles, was er w i l l, sondern ebenso das, was er n i c h t will. Auch hier wieder korrespondieren Erwartung und Erfüllung; es gibt zwar gelegentlich Fehler und Mißverständnisse, doch auch sie hinterlassen verläßliche Spuren, die unweigerlich zum Ziele führen.

Damit kommen wir zum stets im Zentrum stehenden Erzähler-Ich und seinem Verhalten im Spannungsfeld der Prairie. Seine Habitualität ist gekennzeichnet durch wachsende Bewährung, die Sam Hawkens nicht daran hindert, den Herakleischen Heros noch lange als >Greenhorn< zu titulieren. Die Stufenhaftigkeit absolvierter Proben hat dazu geführt, hierin das Modell des Bildungs- und Entwicklungsromans wiederzuerkennen, allerdings - wie von Gerhard Neumann im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1988 - mit einem deutlichen Fragezeichen versehen.(2) Statt Stufen einer Entwicklung im Sinne eines Fortschritts oder einer Umkehr sehen wir auch bei Old Shatterhand die naturhafte Invariation des Zyklischen, die grundsätzliche »Wiederholungsstruktur«,(3) wie Helmut Schmiedt sagt, oder das »Spiel der Spiegelungen« - so Gert Ueding.(4) Jede Stufe der Bewährung wird zur Bestätigung, jede bestandene Aufgabe zur Konfirmation längst vorhandener Perfektion: so in der erstaunlichen Treffsicherheit beim Schießen, der vollsten Beherrschung des Reitens, des Fangens und Zähmens eines Mustangs, beim Auge-in-Auge-Kampf mit dem gefährlichsten aller Bären, bei der Auseinandersetzung mit den gehässigen Kollegen der Eisenbahngesellschaft, beim Sieg über den stärksten Krieger der Kiowas und nicht zuletzt bei seiner Gesundung im Lager der Apachen, die eine Bewährungsprobe schier übermenschlicher Genesungskraft ist.


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Daß er ausgerechnet im Stadium seiner so gut wie todesgewissen Verwundung erstmals mit Nscho-tschi in Berührung kommt, entspricht tatsächlich dem Werdegang Wilhelm Meisters; denn auch diesem erscheint Natalie wie eine strahlenumkränzte Amazone, als der Wundarzt soeben die Kugel aus seinem Körper entfernt. Doch während der Entwicklungsheld des 18. Jahrhunderts dem verlorenen Bild vom kranken Königssohne über weite Wege folgt, wird die indianische Pflegerin zur Bewahrung der Keuschheit wenig später aussortiert.

Entscheidend ist, daß Old Shatterhand fast nichts lernt, sondern alles schon mitbringt, und zwar aus Deutschland. Dort hat er studiert, und nun wendet er im Westen an, was er daheim aus Büchern gelernt und dank sportlicher Ertüchtigung gewonnen hat. Seine physischen und mentalen Stärken sind Merkmale seiner Herkunft, seines Deutschtums, seiner >Rasse<. Klekih-petra, der Lehrer Winnetous und des ganzen Apachenstammes, ist ebenfalls deutscher Herkunft. Wenn im Verlauf von Shatterhands >Initiation< - oder wie immer die Karl-May-Forschung diesen Vorgang interpretiert - rituelle Wiederkehr im Spiele ist, so liegt das entscheidende Merkmal darin, daß das grundsätzlich ästhetische Prinzip der Wiederholung ohne seine antagonistische Partnerin, nämlich der Variation, auskommen muß; darin liegt gleichsam das narrative Pendant zur habituellen Keuschheit des Protagonisten. Es fehlen die Alternativen, von der ebenso geringen wie maßgebenden Verschiebung über den Bruch bis zum Gegenentwurf. Während Wilhelm Meister den allerdings notwendigen Weg übers Theater schließlich als Irrweg erkennt, geht Old Shatterhand unbeirrbar seinen Weg. Scheint sich dieser einmal als Holzweg zu erweisen, dient er nur als spannungs-retardierende Zwischenstation zu einer noch glanzvolleren Bestätigung.

Ein weiterer Unterschied zur Bildungskonzeption des >Wilhelm Meister< oder auch des >Agathon< liegt in der weitgehenden Reduktion auf eine reine Männergesellschaft. Sie hätte dem späteren Theoretiker der homoerotisch gefärbten Wandervogelbewegung, Hans Blüher, für sein Buch >Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft< (1917)(5) ebenso wie Thomas Mann bestes Anschauungsmaterial bieten können, und zwar von dessen Frühwerk über die >Betrachtungen eines Unpolitischen< bis zu Adrian Leverkühn. Abgesehen von Nscho-tschi mit ihrem problemlösenden Tod bleiben die Männer unter sich, und so gruppieren sich um das Spitzen-Duo Old Shatterhand und Winnetou in der Hauptsache dessen Vater und Klekih-petra, der Wasserträger Sam Hawkens sowie die Kanalarbeiter Dick Stone und Will Parker.

Damit stehen wir beim Phänomen der Konfiguration: Weder in der Prairie noch durch die Wüste sind Abenteurer alleine unterwegs.


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Neben den Gruppierungen eben genannter Art, zu denen Banden oder Stammesverbände in feindlichen Kontrasten stehen, gibt es die bruderhaften Zweierbünde à la Winnetou und Old Shatterhand und vor allem die ungleichen Paare wie Shatterhand und Hawkens, Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar. Die Funktionen letztgenannter Partnerschaften sind so vielschichtig, daß ich nur einige zentrale Sinndimensionen andeuten kann. Die Spannung zwischen dem Hohen und Heroischen einerseits und dem Niedrigen, Untergeordneten andererseits spiegelt das Modell des Abenteuer- und Pikaroromans und dessen Travestierungen wie im Falle Don Quijotes und Sancho Pansas. Der eine ist von großer, der andere von kleiner Gestalt; der eine reitet ein anderes Tier als sein Begleiter; entweder sind die Beine zu kurz oder zu lang. Die deutschen Helden sind relativ sparsam mit ihren Worten und beschränken sich auf das Wesentlichste. Hawkens und Hadschi sind dagegen schwatzhaft, dienen damit nicht nur der Unterhaltung, sondern beschwören durch ihre Redseligkeit auch Gefahren herauf. Die ungleichen Paare unterscheiden sich weiterhin in ihren kontrastiven erotischen Beziehungen zu den insgesamt selten vorkommenden weiblichen Personen. Im Gegensatz zum Verhältnis von Shatterhand zu Winnetous Schwester, das über alles Lächerliche erhaben ist, verläuft die versuchte Annäherung Sam Hawkens' an die mondfüllige Kliuna-ai (vgl. Winnetou, S. 383ff.). Im ersten Falle ist die Frau die aussichtslos Hoffende, im zweiten bemüht sich der Mann vergebens. Zwar nähen beide Frauen den entsprechenden Männern einen kostbaren Lederanzug, doch während Shatterhand ihn fortan trägt, wirft der possierliche Partner ihn nach seinem Rausschmiß beiseite. Während Kara Ben Nemsi nur für eine kurze Strecke von der amazonenhaften Scheiktochter ohne affektive Erwärmung begleitet wird, heiratet Hadschi Halef Omar ihre Tochter Hanneh, zunächst aus rein pragmatischen Gründen, um ihr den Einlaß nach Mekka zu ermöglichen, dann auf Dauer, wonach er wiederum nicht an ihrer Seite, sondern an der des deutschen Helden zu sehen ist. Durch die Duplizität der ungleichen Partner entsteht weiterhin eine Reihe von clownesken Slapstick-Effekten nach dem konfigurativen Muster des Überlegenen und Subalternen, des Wissenden und Tölpelhaften, des hohen und des niederen Stils.

Die narrativ wichtigste Funktion derartiger Partnerschaften liegt in den Konstruktionen kürzer- oder längerfristiger Spannungsbögen. Während ihrer ausgedehnten Ritte und Ruhepausen an Lagerfeuern oder in Oasen haben beide reichlich Gelegenheit, Vergangenes zu rekapitulieren, Gegenwärtiges zu kommentieren und Zukünftiges zu antizipieren. Bereits der erste Satz von >Durch die Wüste< eröffnet


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durch den Charakter der Frage, des Unmuts und des Drängens auf Bekehrung ein Erwartungspotential, das über hunderte Seiten hinweg mindestens bis Mekka, ja sogar bis zum Besuch bei den Teufelsanbetern ausgeschöpft wird: »Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, welcher verächtlicher ist als ein Hund, widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt?«(6) Die Zwiegespräche, die alles Mögliche in Frage stellen, von der Ungewißheit des richtigen Weges über die möglichen Pläne der Gegner bis zur eben gehörten Gretchenfrage, tragen nicht selten maieutische Züge des sokratischen Dialogs, als ob sie im Wechselspiel von Setzung und Entgegensetzung den Prozeß einer dialektischen Wahrheitsfindung betrieben. Doch wie im Falle des antiken Philosophen, der durch sein vorgebliches Nicht-Wissen jedem naiven Wissensanspruch den Boden entzieht, so sind auch die deutschen Heroen in Wüste und Prairie die Vorreiter der Erkenntnis, indem sie ihren tumben Partnern und damit auch den allenfalls ahnungsvollen Lesern zeigen, wohin die Reise geht. Den Bekehrten bleibt trotz ihrer Zweifel und entgegen ihren eigenen Erwägungen meist nichts anderes übrig als eine ebenso kleinlaute wie bewunderungsvolle Zustimmung, wiederum nach dem Muster der sokratischen Gesprächsfiguranten: >Ja, so ist es in der Tat.<

Mag das Erwogene noch so unglaubwürdig sein, es wird eintreffen, wenn nur die Leitfigur dahintersteht. Gelegentliche Fehlplanungen (Übersehen warnender Zeichen, ihre Mißdeutungen etc.) dienen auch hierbei der um so glanzvolleren Bewährung. Wenn Gerhard Neumann in dem Ensemble der Spuren statt eines hermeneutischen Instrumentariums einen turbulenten Tanz der Signifikanten sieht und kategorisch erklärt: »Damit wird Karl May geradezu zum Autor der Postmoderne«,(7) so fällt es mir nicht ganz leicht zu sagen: >Ja, so ist es in der Tat<. In meinen Augen führen alle Spuren zum Ziel; jedem Signifikanten entspricht ein letztlich exakt definierbares Signifikat, worin sogar die einzige Überlebenschance der Helden besteht. Die Zeichen mögen den Sinn verstellen, doch sie tilgen ihn nicht, sondern zwingen allenfalls zu Umdeutungen. Weder in der Wüste noch in der Prairie verliert ein Theseus seinen Ariadne-Faden, und am Ende bleibt kein Rätsel, kein Geheimnis. Hierin sehe ich nicht nur beiläufige Unterschiede etwa zu Texten von Kleist und Kafka, vielleicht auch zum Spätwerk Karl Mays.

Analog zur Prairie sind die spannungskonstituierenden Zeichen und Spuren auch in der Wüste geprägt durch Klima, Bodenbeschaffenheit und Vegetation. Extreme Hitze, Dürre und Sand lassen zumindest in den beiden ersten Sahara-Kapiteln kein Wachstum zu, das zum Ver-


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bergen und Verraten geeignet wäre. Zunächst gibt nur der Sand je nach Konsistenz und Lagerung die ersten und über weite Strecken die einzigen Hinweise auf das Geschehen der letzten Stunden oder Tage. Abdrücke geben Zeugnis von der Art der Vorgänger, seien es Pferde oder Kamele, beschwerte Lastträger oder Reittiere, solche mit tadellosen oder schadhaften Hufen. Das Merkmal des Hahnentritts zum Beispiel gibt bereits Auskunft über die Zugehörigkeit des Reiters, denn Araber, falls sie nicht völlig arm sind, würden ein solches Tier gar nicht benutzen (vgl. Wüste, S. 17). Die Stapfen werden nicht wie in der Prairie verwischt oder getilgt durch Niederschläge, sondern durch Wind, der durch seine Stärke die Wirkung des Flugsandes und damit das vermutliche Alter der Abdrücke berechnen läßt. Die schier endlosen Sanddünen kennen keine Spuren von Jagdtieren, sondern allenfalls von aassuchenden Jägern, von Schakalen und Hyänen, die mit ihren Fährten und Lauten ihrerseits zu Indizien für kürzlich noch Lebendiges, vielleicht für Mord und Totschlag werden.

Aufgrund des notorischen Wassermangels sind Reisende in viel höherem Maße als in der Prairie auf Trinkvorräte angewiesen, ohne die sie dem Verderben ausgeliefert wären. Genießbares Wasser, die Grundsubstanz der Prairie, gibt es hier nur in den Oasen, den erstrebenswertesten Orten, deren Entfernung und Ergiebigkeit alle Aktionen und Visionen bestimmen: von der planungsbedürftigen Distanz der Reisen bis zu den Wunschprojektionen in das erquickende Paradies. Wenn ansonsten Wasser vorkommt, verbindet es sich auf unbrauchbare oder gar unheilvolle Weise mit Sand und Salz, wird in austrocknenden Sümpfen brackig oder verkommt wie in den berüchtigten Schotts zu dünnkrustigen Morästen, deren Überquerung zu einem exotisch verfremdeten Todesritt über den Bodensee wird.

Wo der Sand alleine herrscht, nicht einmal dürre, stachelige Mimosen zuläßt, gebietet er über ein Spannungsfeld ganz eigener Merkmale und Lebensbedingungen: Der ebenso spröde wie sensible Untergrund bewahrt und erzählt in Form von Spuren seine Geschichten, dient als Element für religiöse Waschungen, ist den ständigen Windbewegungen ausgesetzt, verändert sich zu wandernden Dünen und Senken und hält somit jederzeit unerwartete Spielarten von Desorientierung bereit. Im Unterschied zur vegetativ reichen Prairie scheint die Sandwüste grundsätzlich mehr Gelegenheit zu bieten, längerfristig und über weitere Entfernungen zu spähen und erspäht zu werden, so daß die Spannungselemente weniger in momenthaften Überraschungen als im Beobachten und Interpretieren von allmählich Näherrückenden oder Sich-Entfernenden liegen. Doch derartige Differenzen schmelzen dahin, da die


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Spannung, wie wir früher gesehen haben, sich nicht durch das pure Vorkommen landschaftlicher Merkmale, sondern durch ihre erzählerische Präsentation konstituiert. Die Gefahr, im Flugsand oder im Schott Dscherid zu versinken, birgt ähnliche Überraschungsmomente wie das Gebüsch in der Prairie, und die Spuren im Gras werden ebenso wie die im Sand erst sprechend durch die Art, wie sie besprochen werden, nämlich im Spannungsfeld von erwartungsvoller Antizipation und problematisierter Realisation.

Bei allen Ab- und Umwegen durch die Wüste bleibt immerhin die leitende Orientierungsrichtung konstant. Nach seinem Weg befragt, antwortet Kara Ben Nemsi: »Immer nach Aufgang der Sonne, wohin mich Allah führt« (Wüste, S. 322). Die weite Reise geht von der Sahara-Wüste Algeriens und Tunesiens über die Nillandschaften Ägyptens, die Halbinsel Sinai, über Mekka, die Euphrat- und Tigrisregionen bis nach Mossul im heutigen Norden des Irak und schließlich noch ein Stück weiter nach Osten. Der Titel des Aufsatzes von Volker Klotz: >Durch die Wüste und so weiter<(8) ist von buchstäblich weitreichender Bedeutung, und das nicht nur im geographischen, sondern auch im historischen Sinne. Wenn die Abenteuerreisenden auf ihrem Weg nach Osten die Ufer des Roten Meeres erreichen, dann ziehen vor dem inneren Auge des Erzähler-Ichs die Bilder vom einstigen Zug des Volkes Israel herauf (vgl. Wüste, S. 150f.)(9). Am östlichen Rand der Arabischen Halbinsel angelangt, nährt der Kenner des Alten Testamentes Reminiszenzen an Ninive und seine Kultur, von der im Unterschied zu Rom, Athen und Ägypten kein Zeugnis einstiger Größe, sondern nur ein Grab, eine große, ungeheure, öde Begräbnisstätte (Wüste, S. 274) übrig geblieben ist. Lediglich Sir David Lindsay mag die Hoffnung auf den Fund von >Fowling-bulls< (vgl. Wüste, S. 278 u. ö.) aus babylonisch-assyrischer Zeit nicht aufgeben. Derartige Spuren historischer Schichten, die nicht nur in die Weite, sondern auch in die Tiefe der Wüste weisen, deuten auf die Unvergeßlichkeit verschütteter Vergangenheit. Im >Winnetou< leben die Nachfahren altamerikanischer Geschichte noch, bezeugen diese in Sprache, Mentalität und Lebenswirklichkeit - allerdings im Status des schwermütig antizipierten Untergangs.

Das >und so weiter< führt bei beiden Reiseerzählungen nicht nur in räumliche und zeitliche Dimensionen, sondern auch zu übergreifenden Zusammenhängen mythischer Muster. Wüste und Prairie sind nicht zuletzt Sinnbilder der globalen Polarität zwischen Ost und West, mit der verglichen die Orientierung an den geographischen Polen der Erde von minderem Interesse ist. Wenn >Durch die Wüste< und andere


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Erzählwerke von uns aus gesehen eher im Süden als im Osten, nämlich auf dem afrikanischen Kontinent spielen, ist doch der Orient die prägende Kraft, nicht nur in räumlicher, sondern mehr noch in kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht. >Maghreb< bedeutet im Arabischen den westlichen Teil des östlichen Muslim-Reiches. Schwarzafrikaner spielen nur subalterne Rollen-, als Diener sorgen sie allenfalls für Komfort, zünden ihren Herren die Pfeifen an und bleiben durchweg stumm. Das maghrebinische Afrika repräsentiert nicht den Süden, sondern den Osten. Die einschneidenden Zäsuren der Wendekreise, des Krebses im Norden und des Steinbocks im Süden, markieren zwar Sonnenstände, Hitzegrade und Klimazonen, bieten aber wenig Anlaß zur Entfaltung weltliterarischer Mythen: Kein Sesam öffnet das Tor des Südens, und niemand fliegt auf einem Teppich über den Äquator.

Dem Verlauf der Sonnenbahn hingegen entspricht die Spanne zwischen Morgen und Abend, Anfang und Ende, Ursprung und Tod. Dem >Ex oriente lux<, dem Kara Ben Nemsi unaufhaltsam folgt, korrespondiert der unwiderstehliche Zug des >Go west<, in dessen Bann nicht nur der Bau der amerikanischen Eisenbahn steht. Seit der hellenischen Antike über das Mittelalter bis in unsere Gegenwart ist der Orient einer der Hauptlieferanten des Anderen und Andersartigen, des Bereichernden und Bedrohlichen, sei es in Gestalt von Eroberern oder von zu Eroberndem. Das gilt von den >Persern< des Aischylos bis zu Alexander dem Großen, von den Kreuzzügen bis zu den Türken vor Wien, vom Rolandslied über Feirefiz bis zu Lessings >Nathan< und Mozarts >Entführung aus dem Serail<. Seit den Entdeckungen der beginnenden Neuzeit wird der Westen zum polaren Pendant des Ostens. Das Interesse des Exotismus richtet sich auf die Alterität des grausamen bzw. edlen Wilden, auf seine Bekämpfung, aber auch auf seinen Vorbildcharakter. In beiden Sphären leben aus christlicher Sicht Heiden mit einer ebenso bedenklichen wie anziehenden Andersartigkeit im Verhältnis zum Körper, zur Sinnlichkeit, zur Erotik. Von der Kleidung bis zur Zeichensprache des Begehrens gehen Keuschheit und Natürlichkeit eine irritierende Liaison ein, und die Aufhebung der Monogamie stattet den Harem mit Reizen aus, die gerade angesichts der Verschleierung und Vergitterung die wildesten Phantasien erhitzen, wenn auch nicht beim unanfechtbaren Kara Ben Nemsi, so doch bei anderen Figuren und nicht zuletzt bei den (vorwiegend männlichen) Lesern.

Wüste und Prairie repräsentieren in geographischem, mentalitätsgeschichtlichem und mythopoetischem Sinne zwei Spannungsfelder,


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deren Polarität und geheime Affinität kaum jemand tiefer erahnte als der große Erforscher antagonistischer Zusammengehörigkeit: Der >West-östliche Divan< beginnt mit den Versen:

Nord und West und Süd zersplittern,
Throne bersten, Reiche zittern,
Flüchte du, im reinen Osten
Patriarchenluft zu kosten (...)(10)

Über die entsprechende Gegenseite heißt es an anderer Stelle:

»Amerika, du hast es besser (...)«(11)

>Durch die Wüste< endet im letzten Kapitel des Buches und an der entferntesten Station der Abenteuerreise bei den sogenannten Teufelsanbetern, bei den Dschesidi. Es handelt sich um Jeziden, Anhänger einer in Mesopotamien und Kurdistan ansässigen Glaubensgemeinschaft, deren geistlicher Mittelpunkt zwischen Mossul und Amadijah liegt, also im Norden des Irak, unweit der Grenze zur Türkei. Kara Ben Nemsis Besuch in diesen schroffen Gebirgsgegenden gibt ihm Gelegenheit, die weitverbreiteten Vorurteile der Muslime gegen die hiesigen Einwohner zu widerlegen. Er erfährt nämlich, daß die Jeziden fundamentale Wahrheiten verschiedener Religionen bewahren und miteinander verbinden: so Züge einer weltweiten animistischen Naturverehrung mit Grundsätzen des Monotheismus jüdischer, christlicher und mohammedanischer Provenienz. Auch Satan gilt ihnen als Geschöpf Gottes, der den einst aufsässigen Engel aus dem Himmel verbannte, ihm gleichwohl aber eines Tages verzeihen könnte. Der Glaube an die unerschöpfliche Gnade und Barmherzigkeit des Allerhöchsten, die selbst dem Teufel zuteil werden kann, hält sie davon ab, dessen Namen zu nennen, was ihnen irrigerweise den Ruf der Teufelsanbeter einbrachte. Ebenso mißverstanden wurde ihre bildlich erhöhende Darstellung des Pfauhahns, in dem sie nämlich nicht die leibhaftige Präsenz des Heiligen, sondern allenfalls die symbolische Verweisung auf etwas sehen, das sie aus Scheu nicht beim Namen nennen, so wie auch in anderen Religionen Bilder nicht Gegenstand der Anbetung, sondern Mittel der Andacht sind. Daß die Bewohner dieser entlegenen Gebiete ihre Kinder taufen u n d beschneiden lassen, zeigt ebenfalls den umgreifenden Sinn ihrer Religiosität (vgl. Wüste, S. 508ff.). Sie verbindet sich mit einer Art aufgeklärter Weltweisheit, wie sie Lessings Nathan erstrebt, wobei der Glaube an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele die Sorge um das leibliche Wohl, die soziale Verantwortung nicht vertröstet, sondern aktiviert. Die Anerkennung all dieser


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Vorzüge erreicht aus dem Munde des Erzählers ihren Höhepunkt, wenn die Jeziden mit dem Titel die Deutschen Asiens (Wüste, S. 526) geadelt werden, denn nirgendwo sonst finde die wahrhaft christliche Gesinnung einen besseren Nährboden als hier.

Nun ist der Deutsche, teils mit, teils ohne Hadschi Halef Omar, von den nordafrikanischen Wüsten über Ägypten, Arabien bis in die entferntesten Gebiete und Schluchten des vorderen und mittleren Orients gelangt, und da findet er ausgerechnet bei den berüchtigten Teufelsanbetern die elementarsten Wahrheiten in Gestalt von weltumspannender Gottesverehrung und Menschenliebe. Beides verbindet sich mit Gastfreundschaft und heiterer Gelassenheit; das letzte Kapitel heißt: >Das große Fest<. Auf Vergleichbares stößt Old Shatterhand im Wilden Westen. Wurden die Affinitäten zu den Besten der dort Lebenden, zu Winnetou und seinem Stamm, vermittelt durch die Wirkung des deutschen Lehrers Klekih-petra oder beruhen sie auf der eigenen Güte und Einsichtsfähigkeit der edlen Wilden, in jedem Falle findet der deutsche Abenteurer im Entlegensten das Eigenste, das sich als Erstrebenswertes eher in der Ferne als daheim verwirklichen läßt. Je weiter der Exotismus den Helden von seiner Heimat entführt, um so näher rückt die Möglichkeit der Anagnorisis dessen, was immer schon Ziel seines Glaubens und Hoffens war. Wüste und Prairie sind nicht zuletzt Spannungsfelder für die Untrennbarkeit von äußerster Entfernung und innerster Nähe, von sehnlich gesuchter Alterität und gefundener Heimkehr.



1 Vgl. Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 12: Winnetou I. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1989, S. 38f. (Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe).

2 Vgl. Gerhard Neumann: Karl Mays >Winnetou< - ein Bildungsroman? In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1988. Husum 1988, S. 10-37.

3 Helmut Schmiedt: »Einer der besten deutschen Erzähler...«? Karl Mays >Winnetou<-Roman unter dem Aspekt der Form. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 33-49 (36)

4 Vgl. Gert Ueding: Das Spiel der Spiegelungen. Über ein Grundgesetz von Karl Mays Werk. In: Jb-KMG 1990. Husum 1990, S. 30-50.

5 Vgl. Hans Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Jena 1917.

6 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 1: Durch die Wüste. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 9 (Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe).

7 Neumann, wie Anm. 2, S. 33

8 Vgl. Volker Klotz: Durch die Wüste und so weiter. Über Karl May. In: Akzente 9 (1962), S. 365-383 - auch in: Trivialliteratur. Aufsätze. Hrsg. von Gerhard Schmidt-Henkel u.a. Berlin 1964, S. 33-51 - auch in: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt a.M. 1983, S. 75-100 (suhrkamp taschenbuch materialien 2025).

9 Vgl. auch 2 Mose 14,19-31.

10 Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hamburg 1948ff. 2. Band, S. 7

11 Goethe: Den vereinigten Staaten. In: Ebd., 1. Band, S. 333


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