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HELMUT SCHMIEDT

Das dreiundzwanzigste Jahrbuch



1992 war das Jahr, in dem man des 150. Geburtstags und des 80. Todestags Karl Mays gedachte. Die Karl-May-Gesellschaft hat aus diesem Anlaß eine Vielzahl von Aktivitäten unterstützt, insbesondere aber, gemeinsam mit dem Germanistischen Seminar der Universität Bonn, ein zweitägiges Symposium im Festsaal der Bonner Alma mater veranstaltet (30./31. 10. 1992): eine Ehrung Mays, wie es sie vorher nie gegeben hat.

Das Jahrbuch 1993 dokumentiert die Vorträge des Symposiums. Was es nicht dokumentieren kann, sind die teilweise sehr lebhaften, persönliches Bekenntnis und wissenschaftlichen Disput verbindenden Diskussionen im Anschluß an die Referate. Dennoch läßt sich aus unserer Wiedergabe erkennen, wo der Schwerpunkt der Veranstaltung lag: Es ging vor allem um den - man darf den Begriff hier ruhig verwenden - >Künstler< Karl May, um die Ästhetik seiner Texte, um Traditionen, auf die sie zurückgreifen, um ihre Wirkungen in anderen Bereichen der Kunst. Schon Claus Roxins Begrüßungsansprache verweist zum großen Teil in diese Richtung, und wenn dann gezeigt wird, wie May seine zentralen Schauplätze erzählend zum Leben erweckt und abwechslungsreich inszeniert (Peter Pütz), wie er Visionen einer umfassenden Friedens- und Sozialordnung entwirft, die an Amos Comenius erinnern (Franz Hofmann), wie sein Erzählen virtuos das Prinzip des >Übersetzens< im weitesten Sinne handhabt (Gerhard Neumann) und seine Romane den phantastischen, aller vordergründigen Zweckgebundenheit entzogenen Ausbruch aus dem konventionellen Alltag betreiben (Gert Ueding), so erweist es sich erst recht, daß May auch da standzuhalten vermag, wo es nicht um die Besonderheiten einer ganz außergewöhnlichen Persönlichkeit und eines ebensolchen Erfolgs beim Publikum geht. Über die Mühen verschiedener Illustratoren, einem derart eigenwilligen literarischen Kosmos gerecht zu werden, berichtet Volker Klotz. Daß May aber auch zutiefst an Traditionen und Stereotypen seiner Zeit partizipiert, läßt sich schließlich am Beispiel seines Bildes vom >Dichter< erkennen (Reinhold Wolff).

Das Jahrbuch enthält jedoch nicht nur die Beiträge der Bonner Veranstaltung. Wir dokumentieren, im Anschluß an die beiden letzten


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Jahrbücher, zunächst den Fortgang des Briefwechsels zwischen Willy Einsle und dem Hause May, der freilich nach Mays Tod unter unerfreulichen Umständen rasch zum Abschluß gelangte; Hansotto Hatzig und Ulrich Schmid bieten dazu ergänzende Kommentare und Erläuterungen. Herbert Meier stellt den >Löwentöter< Jules Gérard vor, eine historische Persönlichkeit, aus deren Schriften May mancherlei Anregungen bezog; der Aufsatz bildet in gewissem Sinne eine Ergänzung zu demjenigen über Krüger-Bei im vorigen Jahrbuch.

Bei Jürgen Hahns >Nekyia und Anabasis< handelt es sich um den Text eines umfangreichen Briefes, der ursprünglich an Heinz Stolte gerichtet war, indem er einige Grundgedanken aus dessen >Stirb und werde<-Arbeit im Jahrbuch 1990 aufgreift und weiterentwickelt; wir geben ihn hier wieder zur Erinnerung an den, dem die May-Forschung über Jahrzehnte hinweg so viel zu verdanken hatte, aber auch der vielfältigen Anregungen wegen, die dieser Streifzug durch die Kulturgeschichte - von der antiken Mythologie und Philosophie bis zu Thomas Bernhard und Stephen King - vermittelt. Hermann Wohlgschaft setzt die Reihe seiner theologischen Interpretationen mit einem ausführlichen Kommentar zu >Ardistan und Dschinnistan< fort. Andreas Graf hebt die bedeutende Rolle hervor, die die fünf Sinne in Mays abenteuerlicher Welt spielen. Der Literaturbericht (Helmut Schmiedt) und die Übersicht zur Arbeit der Karl-May-Gesellschaft (Erich Heinemann) schließen, wie seit langem üblich, das Jahrbuch ab.

Die Beiträge dieses Bandes waren in keiner Weise von vornherein aufeinander abgestimmt, um so bemerkenswerter erscheint es, wie weitgehend sie dennoch miteinander korrespondieren. Das gilt zunächst einmal für den Umstand, daß viele von ihnen über den engeren Kontext ihres Themas deutlich hinausgreifen und Erwägungen von grundsätzlicher Art, wenn nicht gar >Theorien< zu diesem und jenem Problem ins Spiel bringen. Zudem ergeben sich zwischen verschiedenen Arbeiten manche überraschend direkten Beziehungen, sei's in identischen Details - etwa im gemeinsamen Blick auf Platon bei Ueding und Hahn -, sei's - z.B. in den Darlegungen von Wohlgschaft und Graf - auf dem Wege schriller Dissonanzen. Daß solche Verbindungen hochwillkommen sind, bedarf keiner näheren Erläuterung: Sie garantieren den Fortgang der Beschäftigung mit May und den Reiz künftiger Diskussionen.

Ob wir mit alldem dem Verständnis des Phänomens Karl May ein Stück näherkommen? Man mag das hoffen, sollte aber stets auch bedenken, auf welch elegante Weise May selbst das Problem einer präzisen Bestimmung des Fortschritts und seiner Grenzen gelöst hat: Der


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erste Band seiner zu Lebzeiten erschienenen Gesammelten Werke, >Durch die Wüste<, beginnt mit einer Frage, ihr letzter, >Winnetou IV<, endet mit einer Frage, und ihr vorletzter, >Ardistan und Dschinnistan<, schließt mit der Feststellung, man werde nun weiterreisen.


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