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RUDI SCHWEIKERT

Von Befour nach Sitara –
in Begleitung der Wilden Jagd
Über ein mythisches Muster, die Wissensprobe als artistisches Prinzip bei Karl May sowie etwas über sein Lesen, Denken und Schreiben
Ein Fantasiestück in philologischer Manier

für Wolf-Dieter Bach

Und was ich zu sagen hatte,
das mußte ich suchen lassen

Karl May, ›Mein Leben und Streben‹(1)



DAHEIM, wahrhaft ›aufgehoben‹ (in des Wortes vielfältiger Bedeutung) fühlen sich die Dichter seit eh und je – wenn überhaupt – im wie weit auch immer gefaßten Bereich des Gedruckten, der Buchstaben, aber auch der Bilder. Hier wird ihnen tiefster Trost im Leiden an und in der Welt, das sie kraft ihres kreativen Sensoriums stärker-gefährdender noch als andere empfinden. Hier erfahren sie Geborgenheit und Beglückung, verläßlicher als anderswo auf der wundenschlagenden Welt und unabhängig vom Grad der sozialen Assimilierung, den sie während ihres Erdenwallens erreicht haben. Gelegentlich quillt ihnen das Herz über, und sie ›geben Laut‹, undeutlich meist, von diesem offenen Geheimnis ihrer Gegen-Welt, deuten lächelnd an, sprechen wenig aus, geben außer Binsenweisheiten Wesentliches nur zwischen den Zeilen kund.

   LESEN, gut lesen, meint Henry David Thoreau, ein ausgesprochen aufrechter Großer Einzelner, nie genug zu würdigen übrigens, in ›Walden or, Life in the Woods‹ von 1854, seinem Hauptwerk, ein Trostbuch ersten Ranges für jeden, der sich bemüht, möglichst ungebrochen, ehrlich und mit Würde ichsagend durchs Leben zu kommen, »gut lesen«, meint Thoreau, »ist eine edle Beschäftigung; sie wird dem Leser schwerere Aufgaben stellen als irgendein Sport, der heute modern ist. Sie verlangt eine ›Trainierung‹, ähnlich der, welcher sich die Athleten unterziehen, die stete, fast lebenslängliche Hingabe an diesen Gegen-


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stand.« Die Werke der größten Dichter, denkt er weiter,

wurden nur so gelesen, wie die Menge die Sterne liest, höchstens astrologisch, nicht astronomisch. Die meisten Menschen haben lesen gelernt, um einer erbärmlichen Bequemlichkeit zu frönen, wie sie rechnen lernten, um Buch führen zu können und nicht im Handel übervorteilt zu werden. Aber vom Lesen als einer erhabenen, geistigen Anstrengung wissen sie wenig oder nichts; und doch heißt nur dies im höheren Sinne Lesen, nicht das, was uns einschläfert wie der Luxus und den höheren Fähigkeiten einstweilen zu schlummern gestattet, sondern das, was wir nur lesen können, wenn wir auf den Zehenspitzen stehen und unsere wachsten, geisteshellsten Stunden darangeben.(2)

Üben wir uns also in jenem, heute eher unzeitgemäßen schwierigen Sport und schütteln wir zunächst das immer noch gängige Vorurteil ab, Karl May habe, abgesehen von seinem Spätwerk, zwar mit einigem Talent, jedoch ohne größeres Raffinement und ohne die subtilen hermetischen Handwerkstricks, die wir bei den sogenannten großen Dichtern bewundern, seine Texte ›nur so‹ heruntergeschrieben, sich von Einfall zu Einfall hangelnd.(3)

   Probiert man diesen Ansatz, seine Texte aufmerksam so zu lesen, als seien sie aus der Feder eines Kollegen des anerkannten Kanons, wird man an der einen oder anderen Stelle überrascht innehalten und den Verdacht nicht los, es habe in seinem Kopf nicht viel anders gearbeitet als in dem von Autoren, über deren vielschichtige, in Worte gefaßte Verdichtungen wir immer wieder neu deutend nachdenken.

   EIN FANTASIESTÜCK IN PHILOLOGISCHER MANIER, ein lockeres Beziehungsgewebe besonderer und nicht ganz ohne Risiko gefertigter Art will ich Ihnen im folgenden vorstellen.

   Dabei wird es ums Reisen gehen, außerdem um einige mehr oder minder schaurige Geschichten, die ich mit Texten Karl Mays verknüpfe, aber auch um Mutmaßungen über verschiedene Schöpfungsprozesse bei May, sodann um eines seiner artistischen Strukturprinzipien, das im kleinsten wie im größten sein Erzählen regiert, und nicht zuletzt um ein paar Einblicke in das, was im Bereich des Gedruckten alles zusammenhängen kann.

   »WANN DIE ROSEN BLÜHN, old boy, schunkele mit der Bahn die paar Stationen bis Miltitz und genieße den unendlichen Segen der Rosenfelder. Schimmel & Co. erzeugt das Rosenöl.« Zwei Sätze, in einem Buch von 1929 gelesen, die mir blitzartig auf der Grundlage meines Vorwissens eine Vorstellung von Karl Mays Kopf-Welt geben, die mir in einem winzigen Ausschnitt erhellen, wie es in ihr gearbeitet haben mag, welche assoziativen Denkbewegungen gleich Weberschiffchen hinundhergeschossen sein mögen, um ein Gewebe aus dem Wust angesammelter Informationen, Ideen, Erinnerungen an Gesehenes, Gelesenes und was auch immer zu zaubern, ein Gewebe, ein textum, das unter dem Text, dem Wortgewebe, das wir lesen, liegt.


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   Das klingt, gelinde ausgedrückt, abenteuerlich und rätselhaft – wer vermag schon Gedanken, Gedanken längst Verstorbener gar, zu lesen? Doch haben wir Niedergeschriebenes, Gedrucktes, fixiertes Gedankenmaterial also, und das mag immerhin die Chance eines spezifischeren Einblicks in jenen Bereich bergen, auf den die Frage zielt, wenn einem bei der Lektüre irgendeines Schriftstellers plötzlich etwas ›aufstößt‹:

   WIE IST ER DENN DARAUF GEKOMMEN? Oft genug verschließt sich einem jener kreative Bereich völlig, in dem sich der kompliziert-komplexe Prozeß der Inventionskunst, der Kunst des Findens und Erfindens abspielt mit all seinen kaum abwägbaren Kombinationsmöglichkeiten aufgrund unterschiedlichster Erfahrungen, Gedankenassoziationen oder Fixierungen, insgesamt des individuellen Denkens dessen, der da schreibt.

   Manchmal aber liefern die Texte selbst Indizien, die den spekulativen Spielraum bei Deutungsversuchen erheblich einschränken, so daß man durchaus zu genaueren Einsichten in den Kreativitätsprozeß kommen kann. Freilich, endgültige Gewißheit wird man nie erlangen, doch wann hat sie schon der Mensch mit seinem eingeschränkten Erkenntnisinstrumentarium? Also vertrauen wir, skeptisch wohlgemerkt, auf Verfahren wie vorsichtiges, aufs spielerische Moment jedoch nicht verzichtendes Experimentieren mit Textbefunden und erklärenden Hypothesen, Probieren und Kombinieren unter Einschluß des Irrenkönnens und unter Zugabe einiger Prisen erkenntniskritisch so kippliger Phänomene wie Intuition und Empathie – aber ohne sie will auch selbst in den Naturwissenschaften wenig fruchten, wenn man sich auf die Spurensuche macht nach dem, was eine Welt im Innersten zusammenhält.

   In diesem Sinne möchte ich nun versuchen, einige kreative Zusammenhänge im Werk Karl Mays zu erhellen, mal in Form von Detailuntersuchungen, mal in Form von gesamtwerkumspannenden Kurzanalysen, immer ausgehend von der problematischen Leitfrage, die auf einen innersten Kern schriftstellerischer Produktion zielt: ›Wie ist er denn darauf gekommen?‹

   UM KOPFABENTEUER GEHT ES im folgenden, die einen mehr oder minder zufälligen Beginn bei mir haben und sich dann, wenn ich Glück habe, gewissermaßen objektivieren zu hoffentlich einigermaßen plausiblen Erklärungsangeboten, die die Kopfabenteuer eines anderen betreffen. Scheitern kann ich dabei natürlich auch, sofern in meinen Kombinationen zuviel Spielraum bleibt und daher zuwenig Gehalt, zu geringe Erklärungsleistung das Ende vom Lied ist.

   Um mich für die Reise von Mannheim nach Dresden, von der Kurpfalz nach Sachsen zu stimmen, griff ich zu einem Buch, das, bedingt durch die Fahrten und Erfahrungen seines Verfassers, an einer Stelle


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auch Sachsen mit der Kurpfalz verbindet. »Der Büchersaal ist ein phantastisches Reich, eine feenhafte Insel der Geistigkeit. Die Mannheimer sind mit Fug stolz auf ihre Bibliothek (im Schloß); ich halte die Laibzjer Stadtbibliothek für das Necplusultra«, heißt es da, und 142 Seiten später stolpere ich über die Impression »Wann die Rosen blühn, old boy, schunkele mit der Bahn die paar Stationen bis Miltitz und genieße den unendlichen Segen der Rosenfelder. Schimmel & Co. erzeugt das Rosenöl« – und habe eine Idee, wie man eine kleine, anrührende Episode, die Karl May einfiel, abenteuerlich erklären könnte. Es sind die Begriffe ›Rosenfeld‹, ›Rosenöl‹ und der Name ›Schimmel‹, die sich in meinem Kopf verknüpfen mit einem Rosenfeld in Rumelien, wo ein alter Gartenaufseher einem durchreitenden Deutschen, der ihm Tschebelitabak schenkt, ein Fläschlein kostbares Rosenöl als Gegengabe bietet und ihm ans Herz legt, doch im Dorf Koschikawak einzukehren, und zwar bei seinem Halbbruder Schimin.

   Geschrieben hat die beiden Sätze, von denen ich ausgegangen bin, mein zweiter sächsischer Lieblingsautor, Hans Reimann, der wiederum Karl May kritisch liebte, und sie stehen im ›Buch von Leipzig‹, dem sechsten Band aus der Reihe ›Was nicht im ›Baedeker‹ steht‹.(4) Nichts steht hier von Rhodope-Gebirge oder Rumelien, natürlicherweise, und doch ist mir so, als tauchten hinter den Rosenfeldern von Schimmel & Co. diejenigen auf, in denen der alte Jafiz Rosenblätter sammelt, als Kara Ben Nemsi bei ihm haltmacht – Sie erinnern sich an den Beginn des Bandes ›In den Schluchten des Balkan‹, wo dies geschildert wird.(5) (Nicht, daß Hans Reimann über das Rhodope-Gebirge oder Rumelien keine Zeilen verloren hätte, doch stehen sie in einem anderen Buch, ein wunderliches Kapitel für sich, denn der füllig-flinke Reimann gehört auch zu den Kollegen, die nolens volens zwar gegenläufig, aber dennoch so ungefähr auf Mays Spuren über den Balkan gen Stambul und, wenn's ging, noch weiter bis nach Babylon und Kairo gezogen sind.(6) Im ›Motorbummel durch den Orient‹ hat er's munter beschrieben, wie er etwas nördlicher als Kara Ben Nemsi durch die Gegend tuckert, die Heimat nicht nur vor dem inneren Auge – Plovdiv: »Der Tee, den wir kaufen, ist aus Dresden. Honig und gebündelte Salzfische scheinen die hauptsächlichsten Nahrungsmittel zu sein. Es wird verblüffend viel Deutsch gesprochen. Von Plovdiv bis Kasanlik, der Rosenstadt, brausen wir zwischen Baumwollfeldern und Weinbergen, in denen schußbereite Wärter lauern wie bei uns in der Pfalz.«(7) Und Abenteuer mit den diversen örtlichen Obrigkeiten erlebte er tatsächlich, wie er sie aus seinem Karl May, der sie sich lediglich vorstellte, nur zu gut kannte.(8)

   Ich aber stelle mir jetzt vor, wie Karl May eine bestimmte Information, nämlich die vom Rosenöl produzierenden ›Rosenland‹ Bul-


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garien, mit heimatlichen Seh-Erfahrungen, mit eigener Anschauung und Assoziation zu einer Landschafts- und Handlungs-Idee füllte und in die Gegend von Mastanly projizierte, jene Gegend, in der er vor seinem geistigen Auge Flecken nach bulgarischer Weise angelegt sah.(9)

   Und arbeitet die schriftstellerische Phantasie nicht so, daß oft genug ein, wenn man so will, leises verräterisches Echo nach erfolgreichem Verwandlungsprozeß von Fakt in Fiktion übrig bleibt, ob man nun will oder nicht, hier ein pferdekennerischer Hufschmied ›Schimin‹, in dem das ›Schimmel‹ nachhallt? Was an Wahrscheinlichkeit gewinnt, wenn man bedenkt, wie häufig Karl May die große Ur-Lust packte am Spiel mit Worten, mit Eigennamen, das auf Klangähnlichkeit oder semantischer Verwandtschaft beruht, ob sich – ich beschränke mich auf zwei Beispiele – der Erzähler nun März anstatt May nennt (wie in ›Satan und Ischariot‹) oder ob der Hobble-Frank im ›Sohn des Bärenjägers‹ auf der Grundlage seiner historisch weltgeschichtlichen Schtudien zweifelsfrei deduziert, als er sich wieder einmal gefoppt fühlt, daß ein Lügenkönig nur Münchmeier heißen könne (übrigens eine Attacke Mays gegen den Dresdner Verleger zu einem Zeitpunkt, als er noch für ihn schrieb) und Münchhausen ein Irrtum oder, in Hobble-Franks Ausdrucksweise, eine mißverschtandene Folge eener idealen Begriffsverwechslung im materialen Zusammenhange sei.(10) – Sie sehen, daß trotz verwegener Spekulation und Assoziation meinerseits, der ich noch nicht einmal überprüft habe, ob die Firma Schimmel & Co. überhaupt bereits zu Mays Zeiten existiert hat, der unterstellte Zusammenhang zwischen den sächsischen und den thracischen Rosenfeldern durch die Einbeziehung spezifischer, an Mays Texten ablesbarer Eigenschaften seiner Phantasie weniger vage bleibt, als zunächst vielleicht gedacht. Aber noch reicht der Grad der Wahrscheinlichkeit nicht aus für eine einigermaßen ernstzunehmende Diskussion der These.

   Wo verstecken sich nun Konstellationen in dem, was May geschrieben hat, die den Spielraum von Annahmen so weit verringern, daß sie hinreichend wahrscheinliche Schlüsse auf die Textgenese erlauben?

   IN KLEINSTEN TEXTELEMENTEN finden sie sich, auf die ich eben schon zugesteuert bin. Ich will ein paar Beispiele vorführen.

   »Sogar die Kleinigkeit des Namen-Gebens ist kaum eine«, führt Jean Paul unter den ›Regeln und Winke für Romanschreiber‹ des - 74 im XII. Programm seiner ›Vorschule der Ästhetik‹.(11) Der Wink ist gut, die Regel richtig. Selbstverständlich macht man sich als Schriftsteller Gedanken, auf welche Namen man seine Figuren tauft – der eine mehr, der andere weniger; wohl keiner aber keine.

   Viel kann von der Namenwahl abhängen, manchmal sogar Entscheidendes für den Bau einer Geschichte.(12)

   Wichtiger Handwerkstrick dabei: Der holde Born, in welchem man


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badet, wird nach Möglichkeit nicht verraten. Oder man macht sich den Künstler-Spaß, verdeckt dem Leser Tips zu geben, ›woher man genommen‹ und in welche literarische Tradition man sich mit einer bestimmten Namenwahl stellt. Karl May machte beides.

   EINGEBETTET IN EINE WISSENSPROBE, die zwei Figuren in Mays Bandwurm von Roman ›Das Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde‹ austragen, gibt May ungewollt oder doch gewollt Aufschluß über die metafiktionale Herkunft einer dritten. Die Wissensprobe innerhalb der Fiktion wird unausgesprochen auch zu einer außerhalb, nämlich einer, in der der Text seinen Leser und dessen Kenntnisse auf die Probe stellt. Und das läuft folgendermaßen:

   »Habt Ihr ihn, Ludewig?« fragt der kleine Tausendsassa Kurt Helmers den Forstgehilfen Ludwig Straubenberger, Schauplatz ist das fiktive Rheinswalden bei Mainz, und meint, vordergründig, den Wolf, auf den man pirschte. »Nein, sondern er hat uns gefoppt,« antwortete der Gefragte . . . und sagte: »Kurt, Du bist noch sehr jung dahier, aber man darf Dir schon Etwas sagen.« »Was?« fragte der Knabe neugierig. »Ich meine, Etwas, was Du noch nicht zu wissen brauchst, weil dabei selbst uns Großen der Verstand stille steht dahier.« Und Ludewig fragt ihn nach münchhausiadischen Dingen wie dem achtbeinigen Hasen; ob er, Kurt, schon mal von ihm gehört habe. Der Kleine verneint. »Aber vom wilden Hackelberg hast Du gehört, sowie vom wilden Jäger und vom getreuen Eckehardt?« »Ja.« »Und von der guten Frau Holle?« »Ja.« »Nun gut, wir sollen Dir von solchen Sachen nichts erzählen; der Herr Hauptmann« [der Hauptmann von Rodenstein nämlich] »hat es uns verboten, aber aus ihnen geht doch hervor, daß es im Walde nicht ganz ohne ist dahier. Verstanden?«(13)

   Kurt hat verstanden. Und wir haben verstanden, daß Mays Figuren von gewissen Dingen nichts erzählen sollen, weil's verboten ist, aber doch können sie nicht umhin, davon anzufangen, weil der Kitzel geheimer Ahnung oder verborgenen Wissens so übermächtig ist. Fast immer in solchen Situationen dreht es sich auch ums Foppen und ums Foppen derer, die andere foppen wollen. (Die Anziehungskraft der Ernstthaler ›Lügenschmiede‹ voller Fopper wirkte bei May doch schier lebenslang nach: In dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt in seinem Innern Dimensionen an, die später, wenn sie zutage treten, nicht mehr einzudämmen sind.(14) Hier foppt außer dem Wolf seine Jäger, wie Ludwig meint, auch Kurt, der den Wolf schon erlegt hat, die Jäger – und der Text den Leser, sofern der nicht merkt, daß die Fragen nach dem wilden Hackelberg, dem getreuen Eckart und Frau Holle klammheimlich auf den Herrn von Rodenstein zielen, denn diese alle, die man für sich kennt, sind einmal miteinander verbunden, und zwar im Sagenstoff von der Wilden Jagd, auch Wütendes Heer genannt, eine Lufterscheinung, nach der germanischen Sage ein Troß Gespenster


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unter der Führung Wodans, die auf alten Schlachtfeldern sich blicken lassen und am Himmel kämpfen und jagen. Wodan ist übrigens der Rätselfrager und -gewinner schlechthin von der Wissensdichtung in den Liedern der Älteren Edda bis zu Richard Wagners ›Siegfried‹. Regional unterschiedlich wird zum Anführer des Zuges mal der Graf Hackelberg, vor dessen Wüten der treue Eckart die Menschen warnt (so im Thüringischen und Mansfeldischen; bekannt auch durch Goethes Ballade ›Der getreue Eckart‹(15)), in Norddeutschland wird Wodan von seiner Gemahlin begleitet, der sich gar nicht so gut gebärdenden Frau Holle, und im nördlichen Odenwald ist es eben der Ritter von Rodenstein.(16) Bei Darmstadt treffen sich gewissermaßen beide Rodensteiner, die Sagengestalt in der Version von Scheffel und die säkularisierte, zum polternden, aber ansonsten herzensguten Oberförster gewordene Version Karl Mays. Der eine jagt dorthin, um dem Großherzog die Geburt des Waldröschens anzuzeigen, die unter Stabführung Ludwigs durch ein Blaskonzert gefeiert werden soll; der andere, der Wilde Jäger, sucht dort seinen Stabtrompeter.(17) – Ein virtuoses Stücklein, wie May an dichterisch bereits Gestaltetem weiterfabulierend produktiv geworden ist, erst Halt an ihm fand und dann etwas ganz Eigenes daraus machte, und man sollte nicht glauben, ja es könnte einem fast der Verstand stille stehen, daß sich dies in einem unter enormem Zeitdruck hastig weggeschriebenen Kolportageroman findet. Es ist mithin manches nicht ganz ohne dahier.

   UND DIESES BESONDERE INTERTEXTUELLE PHÄNOMEN IST KEIN EINZELFALL. In ›Aqua benedetta‹ beziehungsweise ›Ein Fürst des Schwindels‹ etwa, einer Erzählung Mays, die er im Untertitel einmal als ein geschichtliches Räthsel (›Aqua benedetta‹) und das andere Mal als nach authentischen Quellen verfaßt apostrophiert, läßt er Casanova auftreten und den Helden, Baron von Langenau, fragen, ob dieser denn über die Gründe Bescheid wisse, warum der Graf von Saint Germain auch hier in Den Haag sei. Von Langenau antwortet: »Vollständig!«(18)

   Dahinter steckt ein witziges Spiel mit der von May benutzten Quelle, nämlich Casanovas ›Memoiren‹: Alles, was von Langenau zu diesem Handlungszeitpunkt weiß, weiß er und wußte May aus Casanova. Nach dem Traumprinzip der Realitätsverkehrung drehte May den Spieß nun um und vertauschte in seiner Fiktion die Wissensvorzeichen: Jetzt ist Casanova der Unwissende und von Langenau besteht mit Bravour die Wissensprobe. Und wir können, wenn wir die metafiktionale Wissensprobe bestehen und wissen, wie May hier artistisch mit Fakt und Fiktion jonglierend gearbeitet hat, uns delektieren an dem artistischen Spiel, das May uns präsentiert und mit uns über die Zeiten hinweg zu treiben sucht.(19)

   Auffaßbar als geschichtliches Räthsel-Spiel mit dem mindestens so


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gut wie May gebildeten Leser ist diese Geschichte auch im Hinblick auf die weiteren Quellen, die May benutzte. So schlürfte er, nachweisbar unter anderem am Wortlaut eines Montaigne-Zitats, außer aus den Memoiren Casanovas aus denjenigen des Grafen Maximilian Joseph von Lamberg.(20)

   Wir sehen System im Spiel: Den Grafen Lamberg läßt May ebenfalls, wenn auch weniger direkt, mitspielen. Und wieder ist metafiktionaler Witz mit von der Partie, denn doppelzüngig, konsequent sowohl in inner- wie außerfiktionaler Hinsicht, heißt es über den Grafen von Lamberg: welcher bereits angewiesen wurde, die vorbereitenden Schritte zu thun(21) – die er in der historischen Wirklichkeit aus Mays Benutzer-Perspektive insofern tat, als er durch sein Buch ihm Detail-Material für seine Erzählung bereitstellte.

   Auch hier haben Figurennamen Verweisfunktion. Auch hier verweisen sie auf die Quelle, aus der sie und der Stoff stammen, mit dem May erzählend träumt.

   EINE GESCHICHTE UNTERHALB DER GESCHICHTE erzählt May an solchen Stellen, kennt man nur seine Quellen und erkennt man das Spiel seines Textes mit dem Wissen aus der Quelle. Eine Erzählung wird wie in einem fotografischen Entwicklungsprozeß auf dem Blatt sichtbar, eine Erzählung, die innerhalb der Fiktion und ohne Ausformulierung als sozusagen zweite Stimme von einem Beziehungsgefüge zwischen Oberflächen- und außerfiktionalem Quellen-Text spricht – und zwar witzig kontrastharmonisch.

   GRUNDSÄTZLICH lassen sich Mays Texte beschreiben als Fraktale, das heißt ausgestattet mit den beiden Eigenschaften der Selbstähnlichkeit und der gebrochenen Dimension. Ich wähle einen möglichen Ansatzpunkt und gehe aus vom Bildungsprinzip der Wissensprobe, das man durchaus auch, wie ich weiter unten andeute, als Denkkategorie von Mays Lebensbewältigung sehen kann.

   Selbstähnlich sind die Texte dahingehend, daß sie sowohl jeweils als Ganze betrachtet wie auch im diskursiven Detail Wissensproben darstellen:(22) Um die Lösung eines Geheimnisses, eines Rätsels drehen sich im Grunde alle Geschichten Mays, immer geht es um Wissen und Nichtwissen, und zwar gleichermaßen die Gesamterzählung umspannend wie innerhalb der einzelnen Etappen mit ihren sozusagen Zwischengeheimnissen und Zwischenrätseln unterschiedlichster Couleur auf dem Weg zum übergreifenden Lösungsziel, gleichgültig, ob es sich nun um umfangreichste Lieferungsromane, um eine Folge wie ›Giölgeda padishanün‹, um eine Trilogie wie ›Old Surehand‹, um die herausragende Initiationsschilderung von ›Winnetou I‹, wo der Ich-Erzähler den Weg vom unwissend Wissenden, vom Lehrer, der in scheinbar fremden Fächern geprüft wird, zum überragend Wissenden im wilden wie im zivilisierten Denken nimmt, ob es sich um in einem


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Band abgeschlossene Reiseerzählungen oder um kleine Erzählungen handelt. Ja bis in die höchsten Höhen von Mays spätem Selbstverständnis als Karl May-Rätsel(23) und dem Anliegen, Ich wollte Menschheitsfragen beantworten und Menschheitsrätsel lösen,(24) reichen die Ausdrucksformen der Wissensprobe(25) und wieder hinunter bis in die Mikrostruktur des Dialogs. Um nur zwei Paradigmen zu nennen: Die Korrekturen vom innerfiktionalen Gesprächs-Pendant wie vom Leser herausfordernden wortwitzigen Verwechslungen Hobble-Franks zählen zu diesen Formen wie auch die meist mit auktorialen Gauklerstückchen durchsetzten ›logischen‹ Induktionen, Abduktionen und Deduktionen im Zuge der (detektivischen) Geheimnis- und Rätsellösung, die sehr häufig dialogisch, in Frage und Antwort, ablaufen. Wobei vom Autor bei Bedarf gemogelt wird durch Einbau klassischer Schlußfehler wie Quaternio terminorum, aber auch durchs Einsetzen von Voraussetzungen, die dem Wunsch- und nicht dem Wirklichkeitsdenken entsprechen, unbegründeten Einschränkungen und so weiter; kurzum: es wird meist mit rhetorischen Kniffen die gewünschte Lösung erreicht. Zweck der Frage-Antwort-Übung ist häufig genug, daß der wissensunterlegene Andere glaubt, was der Diskursbeherrschende, das erzählende Ich oder der ›Held‹, in scheinbar hieb- und stichfesten Argumentationen sagt. Pointiert formuliert: Der Glaubensakt steht am Schluß aller Schlüsse.(26)

   Diese Eigenschaft der ›Zwischenlage‹, des Wechsels zwischen Autor- und Erzähler-Ebene, die man immer wieder beobachten kann – »Effendi, du sprichst so, als ob du schon alles wüßtest, was ich dir erzählen will«(27) –, ist bereits ein Beispiel für die fraktale Dimension des Textes, die man, wie gerade gezeigt, auch in der fiktional-metafiktionalen ›Zwischenlage‹ bei bestimmten Wissensprobe-Abläufen beobachten kann.

   WORIN MAG DER GRUND FÜR MAYS WISSENSPROBEFIXIERUNG LIEGEN? Die oben kurz analysierte ›Waldröschen‹-Stelle weist einen Weg: Was geschieht? Ein Kind wird nach seinem Wissen geprüft. Was steckt dahinter? Betrachtet man's autobiographisch, scheint die Antwort klar: Es ist das Trauma der übersteigerten väterlichen und in deren Nachfolge der schulischen Erziehung, von dem Karl May in ›Mein Leben und Streben‹ so vehement klagend und kaum verhohlen anklagend berichtet.(28) Als nicht minder übersteigerte perennierende Reaktion auf diese prägenden Dauer-Erleidnisse läßt sich das schier zwanghafte Ins-Große-Träumen der Geheimnislüftung und des Rätsellösens,(29) des Vielwissens, ja des möglichst alles Wissens verstehen. Auf der einen Seite stehen dabei die relativ wenigen Ausfabulierungen von Angst-Situationen aufgrund von Nichtwissen oder nicht rechtzeitigem Erkennen(30) und auf der anderen die Riesengirlanden aus Macht-Situationen blendend überlegener Demon-


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stration behaupteten Wissens,(31) die sich durchaus auch souverän humorgesättigt und spielerisch, die Machtverhältnisse vertauschend, geben können. In der Regel wird man dabei, vielfach variiert, auf eine Umkehrung der Lehrer-Schüler-Beziehung treffen. Symptomatisch folgende Gesprächsszene zwischen Sam Hawkens, dem (auch mit karikierenden Strichen gezeichneten) ›Lehrer‹, und dem erzählenden Ich als überlegenem ›Schüler‹, der auf einer dem anderen verborgenen höheren oder gar höchsten (auch metafiktionalen) Stufe sich als der eigentliche Lehrer empfindet:(32) »Ich mache Reisen, um Länder und Völker kennen zu lernen, und kehre zuweilen in die Heimat zurück, um meine Ansichten und Erfahrungen ungestört niederzuschreiben.« »Aber zu welchem Zwecke denn, um aller Welt willen? Das kann ich nicht einsehen.« »Um der Lehrer meiner Leser zu sein und mir nebenbei Geld zu verdienen.« »Zounds! Der Lehrer seiner Leser! Und Geld verdienen! Sir, Ihr seid übergeschnappt, wenn ich mich nicht irre!«(33)

   EINE WIEDER ANDERE FORM DER WISSENSPROBE hat Karl May seinem Leser in der ›Liebe des Ulanen‹ vor die Nase gesetzt. Versucht man sich in seine Lage am Schreibtisch zu versetzen, in sein verständliches Bedürfnis, das, was er an Abenteuer erdichtet, mit einer möglichst festen, legitimierenden Aura von Authentizität zu umgeben, und beachtet man zudem, was ihm dazu an Quellwerken vorgelegen haben kann, so ist eines ganz klar: Karten, genaue Landkarten waren ihm unentbehrliches Hilfsmittel. Jedoch nicht nur zur Orientierung und quasi objektiven Absicherung seiner Erfindungen, sondern auch zur Stimulation seiner schöpferischen Phantasie, die auf Karten Gefundenes, Ortsnamen etwa, aufnahm, aus den rein geographischen Zusammenhängen löste und weiterentwickelte zu Teilen eines Handlungsgespinstes, eines Kokons der Einbildungskraft, in dem die Ausgangsmaterialien, jene Kartendetails, die mehr oder minder instinktiv als nützlich oder anregungsträchtig empfunden und erkannt wurden, sich verwandeln zu Figurennamen oder, aufgrund ihrer subjektiven Bedeutung, die sie für May haben konnten, in Handlung, in Geschehen, ja sich verwandeln zu den geheimen Zentren, um die Mays Phantasie immer wieder kreiste, etwa um den Llano estakado. Zu letzterem komme ich später; zunächst zum oben Angekündigten, zu einer Namenwahlpraxis der ›Ulanenliebe‹.(34)

   Der Roman spielt zu wesentlichen Teilen im lothringischen Moselgebiet, beginnt aber auf deutschem Boden mit der detaillierten Schilderung einer von Zell nach Trier führenden Moselfahrt und einer Kurz-Kutschfahrt von Simmern nach Traben-Trarbach. Die Ortskenntnis des Erzählers ist erstaunlich, doch erstaunlicher dies: Geht man in den vermuteten Spuren des Autors, zieht man ebenfalls eine genaue Karte jener Gegend zu Rate und verfolgt man mit dem Finger


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auf der Landkarte die Wege des Haupthelden Richard von Königsau, der sich hinter dem Allerweltsnamen Müller versteckt, von Simmern nach Westsüdwest Richtung Traben-Trarbach über Kirchberg und läßt den Blick etwas in die Umgebung schweifen, so stößt man umgekehrt im Südsüdwesten von Simmern auf einen kleinen Ort namens – Königsau. Nun ist dieser Ortsname wohl ein Unikat. Nur zwischen Quedlinburg und Aschersleben gibt es meines Wissens noch ein Königsaue. Vielleicht wäre auch das dänisch-deutsche Flüßchen Konge Aa oder Königsau zu beachten, doch wird dies hinfällig, nachdem man herausgefunden hat, daß wieder ein System hinter der Namengebung steckt, und die Regel lautet diesmal: Bestimmte Romanfiguren heißen nach Orten aus der Region, in der sie agieren. Und so einfach dieser Handwerkstrick ist, hat er doch etwas von der augenzwinkernden Souveränität des literarischen Taschenspielers, der seine Volten aus dem Handgelenk mit einem Hauch von Selbstironie schlägt, die um so größer wirkt, je stärker man das Text-Bildungsprinzip der Wissensprobe als Kommunikationsform mit dem Leser begreift.

   ›Die Liebe des Ulanen‹ ist ein Roman, in dem die Schicksale deutscher und französischer Familien über drei Generationen miteinander verflochten sind. Die wichtigste deutsche heißt von Königsau, die wichtigsten französischen (de) Richemonte und de Sainte-Marie. Verfolgt man die Straße, welche von Thionville über Stuckingen nach Südosten führt, so passirt man einige kleine Zuflüsse der Mosel, und gelangt unbemerkt auf eine fruchtbare Hochebene, in deren reichen Bodenertrag sich einzelne kleine Dörfer und Meierhöfe theilen. Dort liegt der Ort Ortry mit einem Schlosse, auf dem die Sainte-Maries und der alte Erzschurke Richemonte wohnen und wohin Richard von Königsau in geheimem Auftrag sich zu verfügen hat.(35)

   So hebt Karl May den Vorhang vom Hauptschauplatz der Handlung. Heben wir ihn weiter, wird ein Teil der ›Bühnenmaschinerie‹ sichtbar. Denn verfolgt man zwei Straßen, die von Thionville nach Norden (beziehungsweise nach Süden) führen, findet man kurz hinter der Stadt das Schloß Sainte-Marie (im Norden) und die Ortschaft Richemont (im Süden).

   In diesem Fall ist also die methodische Bedingung des geringen Spielraums (gewissermaßen einmaliges Vorkommen des Ortsnamens Königsau) erfüllt, ebenso eine thesenstützende Bedingung, nämlich die analoger Fälle in unmittelbarem Sachzusammenhang, so daß man von einem hinreichend präzisen Probabilitätsnachweis sprechen kann. Weiter absichernd ließe sich noch hinweisen auf das Gut Breitenheim, das Hugo von Königsau, Richards Großvater, von Marschall Blücher für hervorragende Verdienste überschrieben wurde.

   APROPOS: Warum heißt Hugo, ein bei May seltener Vorname, Hugo? Sehen wir darin eine intertextuelle Wissensprobe versteckt, so lau-


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tet eine Antwort: Weil das zentrale Geheimnismotiv der ›Ulanenliebe‹, das sich rankt um eine von Hugo an sich genommene und versteckte französische Kriegskasse, May aus Victor Hugos ›Les Misérables‹ an sich genommen haben könnte, wo ebenfalls als Geheimnismotiv ein im Wald versteckter Schatz fungiert.(36)

   IN WIRKLICHKEIT liegt Breitenheim rund zwanzig Kilometer südsüdöstlich von Königsau, in der Fiktion – nur weit, weit weg von der Gegend, in der man stibitzt hat – befindet es sich nicht im äußersten Südwesten, sondern im äußersten Nordosten deutschsprachigen Gebiets, in Ostpreußen, in Masuren, wo ein Ortsname wie Breitenheim äußerst ungewöhnlich sich ausnimmt, ähnlich atypisch wie Rheinswalden bei Mainz im ›Waldröschen‹. Bemerkt haben Sie jetzt bereits, daß May außerdem, wie unbewußt auch immer, mit verschiedenen Mechanismen zusätzlicher, aber, hat man ein Entstehungsprinzip ermittelt, verräterischer Quellenverdeckung arbeitete – dem der Aliasbildung oder Decknamenverwendung (Müller statt Königsau wird vom Erzähler über weite Strecken wie der eigentliche Name des Helden gebraucht) und dem der extremen Dislokation. Nehmen wir's nicht bloß als fast unmerklichen Ausdruck schlechten Künstlergewissens, nehmen wir's ruhig auch als subtiles poetisches Spiel, das in einer Variante uns nochmal das ›Waldröschen‹ vorführt.

   »WOLLT IHR MICH VIELLEICHT FOPPEN?« fragt der Warenhändler und Wirt Pirnero einen seiner Gäste, den inkognito in seiner Venta weilenden Schwarzen Gerard. Der antwortet zwar mit einem verneinenden »Fällt mir gar nicht ein!«, um wenig später hinterrücks aber doch leise Foppabsichten durchklingen zu lassen: »Der Mensch will seinen Spaß haben, und ein Jeder hat ihn auf seine eigene Weise.«(37) Wie der Schwarze Gerard seinen Spaß am Verschweigen seines Namens hat, so könnte umgekehrt im ausdrücklichen innerfiktionalen Aufklären über die Namensherkunft des Wirts der Autor seinen Spaß gehabt haben, weil er damit unausdrücklich seinen kleinen Handwerkstrick der Figurennamenwahl nach realen Ortsnamen den Lesern plakativ und foppend vor die (nichterkennenden) Augen hält, denn der Pirnero, der eigentlich Matzke heißt, nennt sich so nach seiner sächsischen Heimatstadt Pirna.

   Da bei May vieles mit vielem auf vielfältige Weise verknüpft ist, erwähne ich jetzt schon im Vorgriff auf später, daß ein entfernter angeheirateter Verwandter des Pirnero Helmers heißt, der als Erwachsener eine schwere Kopfwunde verpaßt bekommt.

   AUF DIE SPITZE trieb May das Spiel ums Foppen mit Namen, eingebunden in eine Wissensprobe, freilich in der ›Liebe des Ulanen‹, wo folgender Dialog, es geht um Richard von Königsaus Schwester Emma, zu lesen ist, der nachdrücklich von Mays ausgeprägter und, milde gesagt, kindhafter Lust an Scherzfragen zeugt:(38)


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»Sie ist von Adel. Und (i)hr eigentlicher Familienname klingt ganz wie Herzogswiese.«

   »Herzogswiese. Eine adelige Familie dieses Namens giebt es ja gar nicht![«]

   »So verwechsele ich die Ausdrücke. Vielleicht soll es nicht Herzogs- sondern Fürstenwiese heißen.«

   »Auch diesen Namen kenne ich nicht.«

   »Dann wohl Königswiese.«

   »Hm! Auch unbekannt!«

   »Sapperment! Ich dachte, Sie [Richard von Königsau] sollten den Namen kennen! Vielleicht ist das mit der Wiese auch eine Verwechselung. Wie sagt doch gleich der Dichter anstatt Wiese?«

   »Gefilde?«

   »Dann hieße es Königsgefilde? Nein!«

   »Welches Wort sollte es sonst sein?«

   »Ich muß nachdenken. Wie war doch nur der schöne Reim, in dem die Wiese und die Frau vorkam! Ah, da fällt er mir ein! Er heißt:

»Ich flieg mit meiner ersten Frau
Und dreizehn Kindern durch die Au›.«

Ja, das ist der Reim, und das ist auch das Wort. Nicht Wiese oder Gefilde darf es heißen, sondern Au.«

   Müller machte ein etwas betroffenes Gesicht.(39)

Was man verstehen kann.

AUF DIE WILDE JAGD, die wir in Verbindung mit der fast allgegenwärtigen Wissensprobe kennengelernt haben, kam May übrigens öfter zurück, erneut im Zusammenhang mit Foppereien und der Wissensprobe in der eben durchforsteten ›Liebe des Ulanen‹, wo sich Richard von Königsaus Helfer Fritz Schneeberg dumm stellt, als man ihn nach dem Verschwörerrumoren im Wald um Ortry, um das Trou du Bois fragt. Da veräppelt er seinen Frager, indem er ihm ganz ernsthaft mitteilt, daß das Gehusche für ihn die Wilde Jagd sei, vor der er sich schrecklich fürchte: »Wissen Sie [der Wirt] auch. Wer während der wilden Jagd in den Wald geht, dem dreht der wilde Jäger das Gesicht hinter auf den Rücken?« »Ich habe es gehört.« »Und dann muß er mit jagen und hetzen in alle Ewigkeit. Der Himmel behüte mich dafür.« »Ja, das ist schlimmer als selbst das Fegefeuer und die ewige Verdammniß. Es graut Einem, wenn man nur daran denkt.«(40)

   Da liegt der Verdacht nicht fern, daß es sich doch lohnen könnte, gleichsam die Witterung aufzunehmen und der Wilden Jagd im Werk Mays neugierig nachzuschnuppern. Und in der Tat tun sich, nach Hypothesenfindung und Deutungsexperiment, ein paar Einsichten auf.

   Etwa daß ein winziger Keim zur wildwuchernden Riesenpflanze von ›Waldröschen‹ in der fast ein Jahrzehnt zuvor geschriebenen ›Geographischen Predigt‹ ›Wald und Feld‹ geborgen liegt, ein Indiz dafür, welch lange Wurzeln manche Geschichten in Mays Phantasie haben konnten, die oberflächlich so sehr im Vertrauen auf die ›unfehlbare‹


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Intuition des schöpferischen Augenblicks geschaffen scheinen. Und ist es vielleicht so ganz von ohngefähr, heißt es da, daß die schwellende Knospe, die duftende Blüthe so oft und gern gebraucht wird als ein Bild der »Menschenblume, der holden?« Wenn der Dichter begeistert ausruft: »Da haben wir staunend Dich angeseh›n, / Waldröslein, so jung und so maienschön,«(41) dann ist dies mitten im mayschönen Kitsch aufmerkenswert. Keine ganze Seite später scheint May das Besingen des Waldes in Dichtung und Märchen selbst zu besingen, doch näher betrachtet zitiert er eigentlich bannende Bilder der menschlichen Urangst vor dem Naturnuminosen, wobei die für May typische Reaktion, sein Heil in der Flucht zu suchen, in der Weite ferner Länder, sichtbar wird: Mit fliegender Mähne und schäumenden Lenden, mit dem gewaltigen Gehörn das wirre Buschwerk zerfetzend, rast das riesige Elenn dahin, auf welchem der Woodlandsghost, der Geist der wilden Prairie, durch die Wälder des nordamerikanischen Westens saust. Vor ihm her jagen die lechzenden Geister derjenigen Rothhäute, welche vor den Bleichgesichtern flohen, und hinter ihm folgen auf feuerschnaubenden Rossen die Seelen der Weißen, welche unter den Streichen des Tomahawk fielen. Das kommt uns doch irgendwie bekannt vor, und prompt fährt May mit nichts anderem fort als: Ueber die Wälder Deutschlands braust der wilde Jäger mit seinem brüllenden, schreienden, heulenden und kläffenden Gefolge. Resümee: jeder Wald hat seine Geschichte, seine Sage, seine gespenstische Bevölkerung, welche gut oder bös ist, das Licht oder das Dunkel liebt, je nach der Physiognomie, die ihm eigenthümlich ist. (Wiederum im Vorgriff auf Kommendes erwähne ich noch Mays Hervorhebung einer gewissen madegassischen Mahao in diesem Zusammenhang, einer Zauberin, die die stärksten Bäume zusammendreht und zu Flachs für ihr Hemd spinnt.)(42) Waldröschen und Wilde Jagd gehören also als frühes vages Ideenamalgam bei May über das Tertium ›Wald‹ zusammen. Die Fäden des Netzwerks um solche Ideenamalgame lassen sich nun weiter verfolgen:

   Ein nordamerikanischer ›Geist‹, der gelegentlich als gespenstischer Reiter am Himmel erscheint, aber dennoch ›nur‹ ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, der Bösewichter jagt und tötet, Irrlichter, Sankt-Elms-Feuer, Zunselgespenster und irritierende Tückebolde stehen im Blickpunkt der Erzählung ›Der Geist der Llano estakata‹, in der auch viel von Sage und Aberglauben die Rede ist. Vordergründig werden alle beunruhigenden Himmels- und Lufterscheinungen rational aufgeklärt und naturwissenschaftlich erklärt. (Die Erzählung erschien bekanntlich zuerst in einer auf Belehrung ausgerichteten Jugendzeitschrift, dem ›Guten Kamerad‹.) Übersinnlich-irrationale und naturmagisch-animistische Erklärungen werden zwar auch gegeben (vom Comanchen Eisenherz und, scheinbar nur zur Komikerzeugung, vom Hobble-Frank), jedoch verworfen und abgetan (kraft der ›Zivili-


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sationsautorität‹ Old Shatterhand). Wenn wir nun aber unser Vorwissen über Mays nachhaltiges Interesse am Sagenstoff der Wilden Jagd und seine anverwandelnde, ummodelnde Phantasiearbeit daran mit ins Spiel bringen, darüber hinaus den vielfach verzweigten mythologischen Gesamtkomplex ›Wütendes Heer‹ mit seinen Einzelheiten, wie er etwa zu Mays Lebzeiten in Jacob Grimms Monumentalwerk der ›Deutschen Mythologie‹ greifbar war, in die Überlegungen einbeziehen – dann wird uns ein Text unter dem Text erkennbar, der durchaus seine Spuren an der Oberfläche hinterlassen hat, bei denen man ›einhaken‹ und Sicherheit gewinnen kann, und der May wieder einmal als klammheimlichen Umwerter der verbürg- und verbürgerten Werte des wissenschaftlichen Weltbildes, als wider den Stachel löckenden literarischen Spieler, als wahrhaften, nämlich subversiv gegen die Absichten der Machtinstanz anschreibenden Dichter zeigt, der intentional gegenläufige Textsignale und Bedeutungsvalenzen geschickt integriert, der so tut, als ob er der Autorität willfahre, und dennoch männiglich eine Schalksnase dreht (großes Beispiel ist ja das subversive pazifistische Anschreiben Mays gegen das Militärgestampfe in Kürschners China-Band).(43)

   Wie May das Wütende Heer hier herumspuken macht, ist wieder ein zünftiges Trickster-Schauspiel. Dem Leser wird erst einmal gegen die klare didaktische Absicht, Naturphänomene wissenschaftlich zu erklären, wie nebenbei signalisiert, daß es mehr, und seit jeher unheimlich Dräuendes, zwischen Himmel und Erde gibt, als sich die Schulweisheit träumen läßt: Das waren nicht mikroskopisch feine Sandteilchen, welche die Atmosphäre noch schwängerten, sondern es war etwas nicht zu Bestimmendes, nicht zu Bezeichnendes.(44) Dann treten Formulierungseinschleichlinge wie dieser wütende [!] Luftstrom für Tornado auf, die heulenden Stimmen der Llano estakata, das Brüllen und Jaulen wird in typisch amplifizierender Reihung betont.(45) Daß der ›Geist der Llano estakata‹ bei Sturmwetter am Himmel erscheint, ist eine weitere, rational zwar völlig einleuchtend gemachte, aber trotzdem zur Wilden Jagd gehörige Kombination. Und Hobble-Frank schließlich, der immer wieder von Gespenstern zu fabulieren beginnt, führt das Wütende Heer unausdrücklich, doch dezidiert im Munde und den Nichtwissenden an der Nase herum, wenn er angesichts einer einfachen Luftspiegelung, bei der Reiter mit dem Kopf nach unten am Himmel entlangjagen, ausruft: »Ich habe zwar von Geschpenstern gehört, welche durch die Nacht reiten und dabei ihren Kopp unterm Arm tragen; aber daß sie nun gleich gar alle off den Köppen reiten, das is mir denn doch zu bunt.«(46) Den Kopf unter dem Arm trägt aber der wilde Jäger als König Waldemar oder als Grönjette.(47) Der Hobble-Frank, der ein ganzes Konversationslexikon im Kopf hat, freilich eines, dessen Seiten zerschnippelt und ziemlich willkürlich wieder zu-


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sammengeklebt wurden, weiß auch: »Wie jedes Land und Volk seinen Charakter hat, so haben ooch die Geschpenster jeder Gegend ihr besonderes Temperament und ihre besonderen Liebhabereien. In der eenen Gegend drehen sie den Menschen den Hals um, und in der anderen würgen sie die Leute an den Kreuzwegen ab.«(48) Gottfried August Bürger hat dies in seinem Gedicht ›Der wilde Jäger‹ besungen, und Hobble-Frank weiß daraus, es bunt treibend, parodistisch zu zitieren, und zwar anläßlich einer Fopperei mit dem dicken Jemmy, seinem Spezial, im ›Schatz im Silbersee‹,(49) was wie ein heimliches Echo auf den ›Geist der Llano estakata‹ klingt. Als durchaus augenzwinkernd schelmisch plaziert wirkt in diesem dann, wenn nicht bei der Schilderung der Natur-›Geister‹-Erscheinungen, sondern ausgerechnet nachdem der Spuk durch Old Shatterhand, Sicherheit vermittelnd, restlos vernünftig beiseite geräumt worden ist, die Wendung fällt: Die kleine Schar flog wie die wilde Jagd dahin. Old Shatterhand mußte seinem Rappen Einhalt thun, sonst hätten die anderen ihm nicht folgen können.(50) Nun besitzt plötzlich der aufgeklärte Aufklärer eine geheime Identität als Wilder Jäger, und May zollt seinen Tribut an die Dialektik der Aufklärung und des Aberglaubens . . .(51)

   (Sollte ich vergessen haben anzuführen, daß schier am verbreitetsten, im Hessischen wie in Frankreich, der Wilde Jäger mit Karl dem Großen oder Karl V. identifiziert wird(52) und sich so eine Identitätsphantasie mit der Mayestät des eigenen Vornamens unserem Autor unterschieben läßt, die durch die vielen Karls des Werks in allen Varianten gesichert scheint?)

   Die von May beschriebenen Merkmale sind durchweg doppeldeutig. Das unscheinbare Wölkchen am Himmel, der Mund des Blitzes,(53) ist zugleich in sagenhafter Hinsicht Zeichen des drohenden Untergangs;(54) natürlich legt man sich vernünftigerweise bei einem solchen Sturm flach auf den Boden, aber andererseits auch um sich vor der Wilden Jagd zu schützen;(55) daß Bloody-Fox als Avenging-ghost(56) eine Menge Galgenvögel, Geier genannt,(57) bereits ins Jenseits befördert hat, nimmt man der Geschichte ohne weiteres ab, freilich holt auch der Wilde Jäger sein Quantum armer Menschlein. Ebenso doppelsinnig ist der Umstand, daß Bloody-Fox als Geist maskiert auftritt, weiß verkleidet – die Farbe Weiß ist genauso mit der Wilden Jagd verbunden wie die Maskerade.(58) Auch die Maskerade der mordenden Meute, der im Namen schon auf das Luftelement anspielenden Geier, verweist auf die mythische Unterschicht des Textes.(59) Und selbst im überquellenden Bildungskauderwelsch des Hobble-Frank, der übrigens auch mit metafiktional gespaltener Zunge spricht,(60) liegen noch Überraschungen versteckt, wenn man einmal Namen nachgeht, die Hobble-Frank ›verwechselt‹. Da quirlt er an einer Stelle Herodias und Herostratos durcheinander, daß es seine Art hat, aber insgeheim weisen Herodias


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und Diana, die er zusammen nennt, auf die Wilde Jagd: Beide gelten als Anführerinnen des Wütenden Heeres. Hobble-Franks Kommentar, in dem er die Richtigstellungen von Helmers als Durcheinanderquirlungen empfindet, gewinnt so einen ironischen Aspekt mehr.(61)

Das Thema der Wilden Jagd erscheint gewissermaßen unter rational-naturwissenschaftlicher Maske versteckt und in den, wir ersahen es aus Mays ›Geographischer Predigt‹, wohlvorbereiteten Sagenboden der phantasieschön neuen Welt voller Schrecken verpflanzt. Daß der Geist über dem trockenen Wüstenboden galoppiert, ist keine neue Erfindung, sondern bereits angelegt in der Sagenvariante, die Dietrich von Bern als Wilden Jäger erkennt, der auf feuersprühendem Rosse in der Hölle oder der Wüste bis zum Jüngsten Tag mit dem Gewürme streiten soll.(62) Das Ganze kommt mir vor wie ein mit glänzender Münze gaukelndes poetisches Taschenspielerstück – nicht umsonst spielt gerade und nur hier der Juggle-Fred mit, ein westmännischer Führer durch den Llano, der früher Eskamoteur war: deutbar unter Rückbeziehung auf die dargestellten metafiktionalen Doppelzüngigkeiten auch als hermeshafter Repräsentant der hier konkretisierten Erzähltechnik.

   Doch weiter zum Singenden Thal jenseits des Llano. Hier tritt Knall auf Fall eine fast geisterhafte Erscheinung(63) nach der anderen auf: irrlichterndes Sankt-Elms-Feuer, seltsam rein klingendes Windtönen und Meteor-Einschlag. Die Irrlichter, belehrt Winnetou, stehen in Wechselwirkung mit Stürmen im Llano. Irrlichter (wie überhaupt leuchtende sowie tönende Naturerscheinungen mit der Wilden Jagd verbunden werden)(64) gehören jedoch ebenso zum stürmenden Wütenden Heer der Frau Holda.(65) Diese Vertreterin des in den Mythen der Welt weitverbreiteten ambivalenten weiblichen Archetyps, der bewahrende und zugleich zerstörende, holde wie unholde Züge trägt, zieht sich mit ihrem Gefolge an einen geheimen, wie alles Bergende weiblich besetzten Heimatort zurück, in den Hörselberg, den Venusberg, und unternimmt von dort aus wieder ihre nächtlichen Ausfahrten. Auch Bloody-Fox benötigt einen Rückzugsort, mitten im Llano gelegen, und auch der ist ausgesprochen weiblich-mütterlich besetzt, wie die Einführung des Lesers in die Oase hinter Kaktusfeldern unzweideutig zeigt: The home of the ghost wird von Mutter Sanna, einer alten Negerin, betreut; es strotzt nur so vor weiblichen Elementen, Wasser gibt's die Fülle, Blumenduft überall, Fruchtbarkeit herrscht.

   KARL MAY WAR EIN POETISEUR NIEDERER MYTHOLOGIE, so ganz nebenbei.

   WARUM GING DIE WILDE JAGD SO IN MAY UM? Was reizte ihn gerade an dieser mythisch-sagenhaften Bilderfolge, daß er immer wieder und, wie wir sahen, gelegentlich unter ebenso bemerkenswertem wie bei ihm unerwartetem artistischem Aufwand an


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Phantasiearbeit, egal ob nur intuitiv oder ob mehr reflektiert, daran herumknobeln mußte?

   Versucht man sich die in schier jeder Hinsicht muffige, dunkle, oft laute, wohl jedem Kind neben Gefühlen von Geborgenheit auch starke Angst erzeugende Enge zu vergegenwärtigen, in der Karl May aufwuchs, kann man sich unschwer vorstellen, wie von der Großmutter, der Mutter oder wem auch immer erzählte Schauergeschichten tief prägend gewirkt haben, schier ewig wiedererzählte Geschichten aus dem Volks- und Aberglauben, die das kollektive Rumoren der Furcht vor dem Naturnuminosen zu dämpfen suchen. Sie waren, wie weit auch immer im Lauf des bewußten Lebens ins Unbewußte abgesunken, wohl doch unauslöschlich der Vorstellungswelt Mays eingebrannt. Das, soweit wir wissen, untradierte Kunstmärchen von Sitara dürfte May dabei mit weit geringerer Wahrscheinlichkeit gehört haben als so gängige Kinderschreckgeschichten wie eben die vom Wütenden Heer mit Frau Berchta oder Knecht Ruprecht an der Spitze, die Gutes und Böses bescheren und die Kinder packen. (Da schrie das Kind erschrocken aus: »Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich festhalten!«, so May in seinem Lebensbericht über die angeblich scheintote Großmutter,(66) und man kann getrost vom allzu konkreten gespenstischen Schein-Anlaß einmal absehen, der nur durch May verbürgt ist, und hinter diesem Bild undifferenziertes tieferes Grauen erspüren, das in kollektiven Gestaltungen wie der Wilden Jagd Form angenommen hat.)

   Auf eine sächsische Ausprägung der Sage lohnt es sich vielleicht gesondert hinzuweisen: Der Wilde Jäger ist hier ein großer, reicher Fürst, der vor langer Zeit lebte und dem die Jagd über alles ging. Waldfrevel bestrafte er unmenschlich hart, doch zuletzt ereilte auch ihn das Schicksal – er brach sich auf der Jagd den Hals (wie der böse Burton im ›Geist‹ übrigens, kurz nachdem ausdrücklich von der Wilden Jagd die Rede war(67)). Nun findet er im Grab keine Ruhe und muß jede Nacht auf seinem funkensprühenden Schimmel im Wald jagen. Dabei verfolgt er alles unheimliche Gesindel, Diebe, Räuber, Mörder und Hexen.(68)

   In manchen Abwandlungen tost das Wütende Heer besonders während der Zwölfnächte zwischen Weihnacht und dem Dreikönigstag herum.(69) Hierin mag eine zusätzliche starke (unbewußte) Lockung für May gelegen haben, dem Wolf-Dieter Bach eine »unbeirrbare Archetypenwitterung« bescheinigt hat;(70) denn Weihnacht, das wird an bekannt vielen Stellen seines Werkes überdeutlich, war für ihn geradezu der Inbegriff der mit allen Fasern ersehnten heimeligen Geborgenheit, die sich aber zur grausig verletzenden, höchste panische Angst erregenden, unheimlichen, ja urabgründigen Ausgestoßenheit umkehrte.(71) Stets ist bei May die Gegend des Llano estakado auch Ort des Ge-


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richts, was in innerem Konnex sowohl zur Wilden Jagd steht, die über den, den sie antrifft, (ungerecht) richtet, als auch zu Mays eigenem Leben und verfehltem Streben.

   Es sind die bösen Taten der Vergangenheit, die das Wütende Heer rächt, als Gottesgericht, in christlicher Überformung des heidnischen Mythos: Läuterung von den Sünden der Vergangenheit soll der Tumult der Meute bewirken – Läuterung von Schuld, ein Zug, der bei May, aus seinem Lebenslauf nur zu verständlich, in variierender poetischer Ausprägung bis zur ›Geisterschmiede‹-Vorstellung der Spätzeit bekanntlich immer wieder zu beobachten ist.

   ALS EIN MYTHISCH-METAPHORISCHES SZENARIO VON MAYS QUÄLENDEM SCHULDEMPFINDEN könnte man die Evokationen der Wilden Jagd in seinem Werk deuten.(71a) Das Spielerisch-Witzige dabei, das Passagere, überdeckt bei weitem nicht die tiefe seelische Beunruhigung, die zumal aus den Projektionen der Qual und der Angst an die Wand der inneren Bühne spricht, beispielsweise gigantisch vergrößert gestaltet in den Himmelserscheinungen des Ghostly-hour-Kapitels aus der ›Geist‹-Erzählung, dem zerfetzenden, tötenden Tornado, dem bewußtlos machenden Wirbel, der aus so ungefährlich scheinendem leichtem Gewölk erwächst, aus ein paar zurückbehaltenen Kerzen, einer nicht zurückgegebenen Uhr . . .

   IM UNTERSCHIED ZU DEN MEISTEN ANDEREN POETISCHEN GESTALTUNGEN DER WILDEN JAGD während der letzten drei Jahrhunderte erhebt Karl May sie nicht ausdrücklich zum Thema, sondern unterlegt verschiedene Sequenzen seines Erzählens und eine Geschichte (›Der Geist der Llano estakata‹) eher wie nebenbei damit, erzählt von ihr unter der Textoberfläche. Er ›romantisiert‹ nicht balladesk wie Bürger, Goethe oder Scheffel, er beschreibt nicht angehaucht psychologisierend die Sage wie Bergengruen oder Schmid Noerr, er treibt auch keine populäre Mythos-Aufklärung, sondern spielt subversiv mit dem vorgegebenen archaischen Sagenmaterial, sei's in künstlerischer Trance oder kontrolliert. Auf jeden Fall: May transportiert den Mythos ästhetisch bemerkenswert subkutan weiter und funktionalisiert die Sage innerhalb seines artistischen Spiels. – Doch zurück zum nordamerikanischen Wüsten-Schauplatz.

   IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN DEN MENSCHLICHEN URERFAHRUNGEN des mutterleiblichen Geborgen- und nachfolgenden Ausgestoßenseins spielt sich, tiefer geschaut und wenn wir uns geistig, nach Thoreaus Empfehlung, etwas auf die Zehenspitzen stellen, auch immer das ab, was May schildert, wenn er den Llano estakado als Hauptschauplatz einzelner Episoden oder ganzer Geschichten wählte. Und er wählte ihn merkwürdig oft, in ›Ein Dichter‹ und dessen Variante ›Der Pfahlmann‹, in ›Deadly Dust‹, dem späteren ersten Teil von ›Winnetou III‹, im ›Waldröschen‹, im ›Geist der Llano estakata‹,


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im dritten Band von ›Satan und Ischariot‹ und, deutlicher als in dieser Trilogie an den ›Geist‹ anknüpfend, in ›Old Surehand I‹ – ist man da nicht geneigt, von einer Fixierung an diese Gegend zu sprechen?

   Der Llano estakado, von May mitunter bezeichnenderweise verweiblicht zu die Llano, ist furchtbare(s) Land, ist schreckliche, trostlose Einöde,(72) in der man vor allen Dingen Durst leidet, eine der frühesten Lebenserfahrungen überhaupt, und man fühlt sich ausgestoßen in ihr, vollständig orientierungslos, sobald die richtunganzeigenden Stangen, die beim Durchqueren der Wüste Hilfe gewähren, nicht mehr zu sehen sind. Es ist der Ort der Lebensbedrohung schlechthin, ein Bild der menschlichen Existenz. Bloody-Fox etwa wird als Kind, schwer verwundet, mit klaffendem Schädel,(73) ohne Vater, ohne Mutter, absolut ausgestoßen und wehrlos im Llano gefunden. Es ist aber auch der Ort der Bewährung, der Initiation durch eine existentielle Grenzsituation. Die Helden, dem Verschmachten nahe, finden stets eine Lösung zur Überwindung ihrer scheinbar aussichtslosen Lage, bestehen die Wissensprobe, finden Lab und am Ende sogar eine sekundäre, eine zweite Heimat, eine Heimat in der Fremde. Bloody-Fox, einer aus der Reihe Mayscher ›junger Helden‹ wie Kurt Helmers im ›Waldröschen‹, findet zunächst Schutz in Helmers Home bei Leuten gleicher deutscher Herkunft (den zeitweisen Ersatzeltern Helmers),(74) später dann sein eigenes Reich, die Oase hinter Kaktusfeldern, the home of the ghost. (Sie bemerken die Betonung des Heim- und Heimat-Aspekts. – Jene Oase ist übrigens klassisch utopisch konstruiert, nämlich insofern analog der bergend-heimlichen Insel Utopia des Thomas Morus, als hier wie dort, nur einmal im Wasser und das andere Mal in der Wüste gelegen,(75) der Zugang verborgen ist und nur dem Eingeweihten die Fahrrinnen durchs Gewässer beziehungsweise die Pfade durch das abwehrende Kaktusgewirr bekannt sind.(76)) Richard Forster dagegen, der Held der ersten Erzählung, die den Llano zum Schauplatz hat, und eine frühe Inkarnation höchster Mayscher Ich-Sehnsüchte, der das Ideal verkörpert, berühmter Westmann und ebenso berühmter Dichter zugleich zu sein, souverän erfahren in der äußeren wie der inneren Welt, er gewinnt schließlich nach überstandener Gefahr seine zweite Heimat durch eine Frau, Marga Olbers, wie überhaupt Rettung durch das ursprünglich weiblich konnotierte Element geschieht – Wasser.(77)

   WIESO ABER IMMER WIEDER DIE BEHARRLICHE RÜCKKEHR ZUM LLANO ESTAKADO, den May nur von der Landkarte und eventuell aus bücherverbürgten Schilderungen anderer kannte?(78) Andere Wüsteneien, an und in die er Handlungen pflanzte, hätten doch gleiches geleistet. Oder doch nicht?

   Vielleicht hilft Mays Namenwahlpraktik, die ich vorhin aufgezeigt habe, etwas weiter.

   Wer jemals im stillen Kämmerlein zur Kartenmappe oder zum Atlas


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gegriffen hat und mit dem Finger auf der Landkarte, die Phantasie wach und gespannt, gereist ist, wird das volle Glücksgefühl in der Beschränkung nachvollziehen können, wenn man darauf etwas als einem intensiv zugehörig Empfundenes entdeckt hat. Und gibt es etwas Zugehörigeres als den eigenen Namen oder den der geliebten Person?

   Fast magisch formelhaft wird im Falle Richard Forsters Mal auf Mal wiederholt, daß er aus Francfort in Kentucky sei. Diese feste Kombination von Eigen- und Ortsname ist eigentümlich. Betrachtet man sich nun auf der Landkarte die Gegend um jenes Francfort im fernen Westen, entdeckt man etwas über hundert Kilometer davon entfernt, nahe des Ohio gelegen, an den es May, sich als Schriftsteller zu vervollkommnen, so sehr gezogen hat – Maysville. Analog stößt man, nebenbei gesagt, in der näheren Umgebung des so genau beschriebenen fiktiven Ortry außer auf Ortsnamen, die mit -ry enden, auf Charleville, Charly oder Saint-Charles.

   Zieht man außerdem eine Karte aus Mays Zeit zu Rate, die den Llano estakado zeigt, etwa die in Andrees Handatlas,(79) blickt man am östlichen Wüstenrand (wo auch Helmers Home liegen soll) auf einen Ortsnamen, der laut riesigem Register zum Atlas auf Gottes weitem Erdboden nur einmal erfaßt wurde, und der heißt: Emma – wie Emma Pollmer, Mays erste Frau, der er auch eigene Geschichten zuschrieb, indem er ihren Namen als Pseudonym verwendete. Das könnte der Sehnsuchtsort sekundärer Heimat im Weiblichen gewesen sein, an den es May Mal auf Mal insgeheim drängte im Widerspiel und frustrierenden Hin und Her von Anziehung und Abstoßung, in Erinnerung an Versagung (Verschmachtenlassen) und Stillung männlicher Bedürfnisse durch Emma, Ziel sicher vieler seiner Projektionen in jener Zeit.

   BESTIMMTE ASSOZIATIONSZUSAMMENHÄNGE INNERHALB DER PHANTASIETÄTIGKEIT MAYS sieht man vor diesem Hintergrund deutlicher, in dessen Unterschichten es gebührend erotisch-sexuell rumort, wie man an der Textoberfläche mit ihren primitiv symbolischen Doppeldeutigkeiten ohne große Anstrengung ablesen kann: Emma (Arbellez) wird von Anton Helmers, ›Donnerpfeil‹ genannt, gerettet, als sie vom Llano estakado zurückkehrt. Beide fallen in Liebe zueinander.(80) Helmers erhält, als er sich endlich in der ›Höhle des Königsschatzes‹ befindet, nach der er so sehnsüchtig gesucht hat, eine schwere Kopfverletzung.(81) Bloody-Fox, der unfehlbar seinen Feinden ein Loch durch die Stirn schießt, erhält als Kind im Llano eine gleiche Wunde und wird vom Ehepaar Helmers gesundgepflegt. Emma Arbellez hatte Verwandte am Llano besucht: den Pirnero und seine Tochter. Pirnero wünscht sich nichts sehnlicher als einen Schwiegersohn, doch den ärmlich tuenden und früher straffällig gewordenen Schwarzen Gerard, Besitzer eines Gewehrkolbens aus purem Gold, will er auf keinen Fall. Da sprang er von dem Stuhle auf und


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rief, indem sein Gesicht sich zornig rötete: »Daraus wird nichts, nichts, nichts! Meine Tochter ist nicht dazu geboren und nicht dazu erzogen, daß sie sich mit einem armen Teufel durch das Leben schindet!« Das steht nicht in einem der Mayschen Romane geschrieben, obwohl es so klingt, sondern im ›Schriftsatz‹ ›An die 4. Strafkammer‹.(82) Und gemeint ist mit ›er‹ der alte Pollmer und mit ›meine Tochter‹ seine Enkelin Emma, um deren Hand May, der früher straffällig Gewordene und nun der Liebe Verfallene, gerade anhält. Auf derselben Seite schreibt May: Sie, Emma, zitierte Stellen aus meinen »Geographischen Predigten«. Sie knüpfte Bemerkungen daran, die ich für tiefsinnig hielt. Welche eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau! Welcher Wahn dies war, beklagt May wenig später. Nicht in der Venta des Pirnero am Rande des Llano, die dem Home von Helmers aus dem ›Geist‹ an einem anderen Randstück des Llano nicht unähnlich ist, sondern in der eigenen bei Prescott in Arizona sitzt die gelehrte Emeria aus ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹, die ihre Gäste nur bedient, wenn diese, von ihr lustvoll examiniert, eine (absurde) Wissensprobe bestehen; besteht man die Wissensprobe um ihren Familienname Garezzo mit der Lösung Karezza und Caresse (Liebkosung), carezzando, ist man dem erotischen Untergrund ihrer oberflächlichen Häßlichkeit schon etwas auf die Spur gekommen und sieht die Dinge ambivalenter. Nicht ausgeschlossen, daß May sich hier selbstquälerisch lustig macht über die enttäuschte Erwartung von der Gelehrten als Frau, zumal des (dämlichen) Foppens kein Ende ist. Die Arme wird nach Strich und Faden von jedem, der in ihre Venta kommt – und es kommen zu ihr wie zu Pirnero und Helmers gleichsam magisch angezogen sofort Gute und Böse zuhauf –, auf seine Weise verhohnepipelt (am viril-aggressivsten vom apollinischen Wilden, einem Apachen mit dem bezeichnenden Namen ›Starke Hand‹, die May wohl manchmal zu seinem Leidwesen fehlte im Umgang mit Emma), wobei die Scherze oft Namenswitze der derberen Art darstellen, etwa wenn Emeria nach den Nebenmonden des Uranus fragt und als Antwort die Gegenfrage erhält: »Wer ist denn dieser Urinus«, abgeschwächt zu »oder Urimus oder Urian?«(83) Emerias Pseudogelehrtheit verknüpft sich mit derjenigen Hobble-Franks, der sie auch bei Helmers am Llano austobt. – Das alles scheint mir doch, vor dem Hintergrund begehrter (auch mütterlicher) Weiblichkeit, mit May zu reden, Fügung, und nicht Zufall.

   DIE MUTTER DER NATUR ruft May in einem ganz frühen Gedicht an, an dem er wiederum merkwürdig beharrlich festhielt und das, wo immer er es einfügte, wie ein Fremdkörper aus unbekannter, jedoch einst intensiv imaginierter Phantasiewelt wirkt, wie ein kleiner erratischer Block, ein vereinzeltes Relikt aus vergangenem (eventuell zwecks seelischem Überleben im Waldheimer Gefängnis erdachtem) Vorstellungskreis. Die Kluft zum jeweils neuen fiktionalen Zusam-


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menhang scheint nur notdürftig überbrückt. So geht man eigentlich nur mit ausgesprochenen Schoßkindern seiner Phantasie um, von denen man ›aus Gründen‹ nicht lassen kann.

   Es handelt sich um ein ›Pendant-Gedicht‹ von zweimal drei sechsversigen Strophen, das mit den Zeilen beginnt:

Wenn um die Berge von Befour
Des Abends erste Schatten wallen,
Dann tritt die Mutter der Natur
Hervor aus unterirdschen Hallen
. . .
Und bricht der junge Tag heran
Die Tausendäugige zu finden,
Läßt sie das leuchtende Gespann
Sich durch purpurne Thore winden,
Sein Angesicht zu schaun und dann
Im fernen Westen zu verschwinden.
(84)

Karl May läßt das Gedicht im ›Briefkasten‹ der von ihm betreuten Zeitschrift ›Schacht und Hütte‹ erscheinen, verwendet es in der 3. Abtheilung, bezeichnenderweise im Kapitel ›Im Dunkel der Vorzeit‹, des ›Buchs der Liebe‹ und gibt sogar noch eine Deutung dazu,(85) legt es in ›Scepter und Hammer‹ Katombo, dem, wie dieser selbst, zitierend, sagt, besten Dichter seines Volkes,(86) als geniale Improvisation auf vorgegebenes Material in den Mund, der Fürst von Befour im ›Verlorenen Sohn‹ lobt die Verse, die diesmal aus der Feder eines Hadschi Omanah stammen, als unerreichbar (und der Verfasser, Robert Bertram, der eigentlich Robert von Helfenstein ist, sei ein Genie), und schließlich, im noch unveröffentlichten Text ›In der Heimath‹, bekennt das Erzähler-Ich sich selbst als Verfasser, dem die Ehre der Vertonung seines Opus widerfährt.(87) – Nur nebenbei: Eine andere Art der Namenwahlpraktik, und wie May mit verdeckten Bedeutungen spielt, sehe ich in ›Robert Bertram‹. Ich verstehe diesen Namen nämlich als Anspielung auf die Posse ›Robert und Bertram oder die lustigen Vagabonden‹ (1859) von Gustav Raeder, die May an anderer Stelle auch mal nennt.(88) Robert und Bertram führen darin vor, wie man die niedrige Obrigkeit düpiert, und das hat May ja auch zur Genüge getan. Literarisch-artistisch hat er meiner Ansicht nach mit dieser Namensgebung selbstironisch-augenzwinkernd seine eigene Vagabondage- und Polizeidüpierzeit angetippt und seiner Dichter-Figur, die unter Pseudonym schreibt, auch metafiktional ein Pseudonym verpaßt, um zu zeigen, wie doch mehrere Seelen in einer Brust sein können, zwei Vagabunden und ein großer Dichter, konzentriert in Robert (und) Bertram.

   EINE ÜBERIRDISCHE, DIE IM UNTERIRDISCHEN HAUST, bei Anbruch der Nacht frühestens hervorkommt und ausfährt, auch das kommt uns mittlerweile bekannt vor. Nur daß diesmal May in ver-


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hüllender orientalischer Gewandung dem Sagen-Schema der Wilden Jagd folgt.(89) Nähere Bestimmungen oder besser Andeutungen über Bestimmungsmöglichkeiten – wo liegen die Berge von Befour? wer ist die Mutter der Natur? – wechseln je nach verändertem Kontext, in den er das Gedicht stellt, oder werden gar nicht gegeben – alles zielt auf Spurenverwischen durch Quasi-Spurenlegen.

   In ›Scepter und Hammer‹ steht das Gedicht prominent am Anfang der erzählten Zeit. Katombo ersingt sich mit ihm die Umarmung der Geliebten, Zarba, der Zigeunerkönigin, die ihm den Stoff vorgibt, aus dem er das Gedicht zu formen hat. Sie tut's in Form der Wissensprobe und stellt ihn damit auf die Dichterprobe: »Weißt Du, wo Bhowannie, die Göttin der Gitani, wohnt?« »Auf Nossindambo, welches vom Volke der Christen Madagaskar genannt wird.« »Richtig! Hoch droben im Ambohitsmenegebirge steht ihr Thron, und tief unter den Bergen von Befour schläft sie des Tages, um erst beim Beginn des Abends zu erscheinen. . . . Kannst Du das beschreiben in der Sprache, welche die Dichter reden?« Er nickte selbstbewußt. »Ich kann es.«(90)

   Auch im ›Verlornen Sohn‹ wird Befour als Landschaft auf Madagaskar ausgegeben, zudem als geheimnisvoller, urfern-naher zweiter Heimatort des ›Fürsten des Elends‹, der – merkwürdige Wendung – mitteilt, er habe die  L a n d s c h a f t  von Befour für sich erworben,(91) und wir erinnern uns der frühen Erwähnung Madagaskars und einer weiblichen mythischen Figur in den ›Geographischen Predigten‹, was die Mutmaßung aufkommen läßt, auf Madagaskar habe May, Karl May – Ka, Kara, Karavey, Katombo – sehr früh Geborgenheitsphantasien projiziert, Madagaskar sei sogar – Ma, Marga, Mada-, Mater, Mahao, Mutter der Natur – der schützende urweltliche Mutter-Insel-Ort schlechthin in seiner vag-vagierenden Vorstellungswelt gewesen.

   DAS MYTHISCHE MUSTER der doppelgesichtigen, gut-bösen Gottheit, die mal männliche, mal weibliche Gestalt annimmt, über die Natur, die Elemente herrscht, mit Getöse ausfährt, umherzieht, Leben bewahrt und Tod bringt, zieht sich variantenreich durch das archaische soziale Gedächtnis unserer Spezies – und durch die Texte Mays, mal verborgen, mal offensichtlich, in reicher subtiler Ausfaltung. Warum er die Mutter der Natur mit Befour verbindet, könnte untergründig auch damit zusammenhängen, daß zu den ausfahrenden-jagenden Göttinnen mit ihrer Horde neben Holda, Berchta, Abundia-Habonde, Artemis-Diana, Herodias oder Hekate mit den seelenverfolgenden Furien auch, in der italienischen Sage, die kinderschreckende Fee Befan(i)a zählt, die ebenfalls als Tochter des Herodes gilt.(92) Und Berchta-Berta war die Mutter des großen Helden Karl.(93) So könnte man mythisch assoziierend weiterfahren, doch suche ich lieber wieder etwas, aber auch nur etwas mehr Sicherheit gebenden Text-Grund.


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   AUF WIE KLANDESTINE ART Karl May archaische Vorstellungen, die um die Wilde Jagd und die Mutter der Natur gruppiert sind, anzusprechen in der Lage war, zeigt auch seine Erzählung ›Christus oder Muhammed‹. Wieder erwächst aus winzigem Wölkchen tödliche Gefahr, aber diesmal spielt sich das verheerende Sturmwetter nicht in der Wüste ab wie in der ›Geist‹-Erzählung, sondern auf dem Wasser. Wieder kommt man glimpflich davon, doch dem Erschrecken über die Wut der Elemente(94) wird mit dem gleichen rhetorischen Kunstgriff der Amplifikation Ausdruck verliehen; wieder wird der Gehörsinn angesprochen, wieder dröhnt der magische Lärm hinter der genregeläufigen Abenteuerschilderung: Das war ein Pfauchen und Zischen, ein Sausen und Brausen, ein Heulen und Toben . . . Der Donner schlug, prasselte und rollte unaufhörlich, und die Blitze schienen ein wahres Haschen, um das Schiff zu halten. Die Minuten wurden mir zu Wochen und die Viertelstunden zu Jahren. Ich glaubte, diese Einsamkeit in dem engen Raume [unter Deck des Schiffes] nicht ertragen zu können . . .(95) Vorboten des Sturms (wie Eckart Vorbote der Wilden Jagd) waren Mutter Kareys Küchlein . . . So nennt der Seemann diejenigen kurzen Wellen, welche einer vom Sturme aufgeregten See vorangehen.(96) Mit diesem Ausdruck bringt May die Sagen-Sphäre eindeutig ins Spiel. Denn die englischen Seemannswendungen ›Mother Carey's chickens‹ (für Sturmschwalben) und ›Mother Carey is plucking her geese‹ (für schneien)(97) weisen auf das Schwedische ›kära moder‹ beziehungsweise ›hulda moder‹. Damit ist die Gute Frau gemeint, bona dea, auch die Mutter der Natur und die Frau der wilden Dinge.(98) ›Care‹ schwingt noch mit, das den mythischen Mater-Doppelaspekt des Bergens und Beängstigens in sich trägt, den wir ausgehend von Mays Mutter der Natur auf Madagaskar, Mada- und -kar, ein Stück weit verfolgten.

   AUF MADAGASKAR GEKOMMEN sein und sich dort unter wohligem Schauer fremd-heimisch gefühlt haben dürfte Karl May durch kombiniertes Karten- und Bücherstudium:(99)

Madagascar ((. . .) bei den Eingeborenen  N o s s i n d a m b o, d. h. Insel der wilden Schweine) (. . .). Bei einem Flächengehalt von 10,500 QM. ist M. nächst Borneo die größte Insel der Erde. Ihre Oberfläche erscheint fast durchaus gebirgig u. steigt, übereinstimmend mit der Oberflächengestaltung des Festlandes von Afrika, terrassenförmig von der Küste auf, langsamer auf der Westseite, viel rascher dagegen, fast mauerförmig, im Osten bis zu den 4000 Fuß hohen, ausgedehnten Hochebenen des Innern, über denen sich fast in der ganzen Länge der Insel das 8-12,000 Fuß hohe Ambohitsmena-(Rothe)  G e b i r g e  erhebt.

So hebt der Artikel über Madagaskar in Pierer's Universal-Lexikon an,(100) das May geläufig war und aus dem er den Hobble-Frank sein Wissen beziehen läßt, jedenfalls laut dem ›Geist der Llano estakata‹: »Ich habe den Leuniß gelesen und den Robinson, Pierer's Konversationslexikon und den Kladderadatsch, Sohrs Atlas und den alten Schäfer


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Thomas.«(101) Bemerkenswert scheint mir dabei die Auffassung vom ›Lesen‹ eines Konversationslexikons und eines Atlanten (wie eines normalen Buchs), eine Auffassung, die für inniges Kontaktnehmen und angeregtes Stoffaufsaugen spricht.

   Über Befour allerdings bekommt man im Pierer keine Informationen. Es geht einem wie Fanny von Hellenbach im ›Verlornen Sohn‹, die zu Gustav Brandt, der sich unter dem Habitus eines Fürsten von Befour versteckt, meint: »Als wir zum ersten Male hörten, daß ein Fürst von Befour hier angekommen sei, schlugen wir alle Hof- und Adelskalender nach – vergebens. . . . Umso mehr verstimmt wurden wir, als auch in keinem Lexikon dieses Wort zu finden ist.«(102) Und hinter solchen Äußerungen, denen übrigens ein foppendes Flammengaukelspiel durch den verkappten Fürsten folgt,(103) dreht einem, denke ich mir, wieder einmal der Autor eine Nase.

   Näher an Befour gelangt man durch ein Buch aus dem Jahr 1861, das in Mays Nachlaßbibliothek steht, wobei offen bleiben muß, ab wann er es kannte. Es handelt sich um Ida Pfeiffers zweibändige ›Reise nach Madagaskar‹.(104) Sie gelangte durch Orte, deren Namen zumindest zeigen, daß der Wortbestandteil Bef- beziehungsweise Befo- auf Madagaskar ziemlich verbreitet war. Wenn wir uns bis auf Seite 173 von Band 2 durch den Dschungel von Ida Pfeiffers Berichterstattung gekämpft haben, lesen wir: »In Beforn, einem der ungesundesten Plätze auf dem ganzen Wege, einem kleinen ärmlichen Dorfe, von Sümpfen und Waldungen so vollkommen umgeben, daß man nicht fünfzig Schritte weit auf trockenem Boden gehen konnte, blieben wir gar achtzehn Tage.« Damit haben wir zwar eine größtmögliche Annäherung an den Namen Befour erreicht, doch statt im Gebirge liegt Beforn im sumpfigen Tiefland.(105)

   Die Karte von Madagaskar in Andrees Allgemeinem Handatlas ergibt nichts bei der Suche nach Befour, wohl aber stoßen wir auf den Küstenort Kitombo, der lautlich so verdächtig nah am nachmaligen Schwarzen Kapitän Katombo liegt, daß man auch hier von Madagaskar als Quell vorläufig faute de mieux ausgehen darf.

   IDA PFEIFFERS REISEBESCHREIBUNG sollten wir noch nicht ganz beiseitelegen. Sie ist noch in anderer Hinsicht ›mayergiebig‹. Erinnern Sie sich an die Episode in ›Von Bagdad nach Stambul‹, wie der Erzähler sich unerwartet einem ramponierten Klaviere an exotischem Ort gegenübersieht; Schauplatz ist das Selamlik des Kaufmanns Jacub Afarah zu Damaskus: . . . in der Mitte des Raumes aber stand – ich wagte es kaum zu glauben, aber meine Augen konnten mich doch unmöglich täuschen – ein Pianoforte, wirklich und wahrhaftig ein Pianoforte, mit vielfach abgesprungener Furnierung zwar, aber sonst in einem noch ganz leidlichen Zustande, wie es schien . . . Uebrigens war das Piano schrecklich verstimmt und voller Staub und Schmutz.(106)


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   Und wem sieht sich Ida Pfeiffer im Hause der madegassischen Königin unerwartet gegenüber? Es ist nun keine Frage mehr – einem Klavier.

Nun setzte ich mich an das Pianoforte und spielte ein kleines Präludium, um die guten Eigenschaften meines Instrumentes kennen zu lernen; wie wurde mir aber zu Muthe, als ich es so verstimmt fand, daß auch nicht ein Ton richtig war, und als ich bemerkte, daß viele von den Tasten auch dem stärksten Drucke ein energisches Schweigen entgegensetzten! Ich mußte sie erst heben, drücken, daraufschlagen, kurz alle denkbaren Mittel anwenden, um sie in Gang zu bringen. Auf einem solchen Instrumente sollte ich ein Konzert geben! – Doch wahre Künstlergröße setzt sich über alles hinaus, und begeistert von dem Gedanken, mein Talent vor einem so kunstsinnigen Publikum zu zeigen, machte ich die holperigsten Rouladen über die ganze Klaviatur, hieb aus Leibeskräften auf die störrigen Tasten und spielte ohne Sinn und Zusammenhang den ersten Theil eines Walzers, den zweiten eines Marsches, kurz alles, was mir gerade in das Gedächtniß kam.

Soweit Ida Pfeiffers Schilderung ihres Vorspielens bei Hofe vor der madegassischen Königin.(107)

   Das Draufhauen besorgt bei May Jacub Afarah, dem der englische Vorbesitzer des Instruments eben dies als Gebrauchsanweisung beim Kauf hinter die der Harmonien ungewohnten Ohren geschrieben hatte.(108)

   Gab sich Ida Pfeiffer in der Beschreibung ihrer musikalischen Künste leicht selbstironisch bescheiden, geht es in Karl Mays Phantasie, wie kaum anders zu erwarten, weniger piano zu: Es war interessant, den Eindruck des ersten, vollgriffigen Akkordes, dem ich einen kräftigen Läufer folgen ließ, zu beobachten. . . . Nach einem kurzen Präludieren ließ ich meinen »feschesten« Walzer los.(109)

   Soweit dieser Exkurs zum unterschiedlich ironischen Blick des Zivilisierten auf Zivilisationsfragmente im Exotischen. Ida Pfeiffer begegnete in Wirklichkeit noch ein paar anderen Dingen, die wir ganz ähnlich aus Karl Mays büchergewordener Phantasie kennen, etwa einer exotischen Heerschau, begleitet von einer, wie sie sich ausdrückt, »Musikbande«, wo jeder nach seinem eigenen Gusto uniformiert ist und Laut gibt, doch gehe ich jetzt nicht näher darauf ein und belasse es bei diesen, sagen wir mal: verräterischen Echos.

   DER GÖTTIN BHOWANNIE wende ich mich, auf Zehenspitzen, lieber zu. Wie Mays Phantasie an der Vorstellung von ihr als nächtiger Todesgöttin produktiv wurde und zu einer ambivalenten, auch mütterlich-bewahrenden Gottheit umschmolz, habe ich an anderer Stelle bereits gezeigt.(110)

   Eine Verknüpfung Bhowannies mit religiösen Vorstellungen der Zigeuner, die übrigens das für May so anziehungskräftige schwermütige Schema ›Heimat nur in der Fremde haben können‹ klischeehaft ideal


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erfüllen,(111) ist bisher nur bei ihm nachgewiesen. Doch hält die Literaturgeschichte immer wieder Überraschungen parat. Verfolgen wir eine bestimmte Spur, landen wir sogar unmittelbar hier vor Ort, in der ›Villa Bärenfett‹.

   UM DIESES LITERARISCHE TASCHENSPIELERSTÜCK ZU PRODUZIEREN, greife ich aus der langen Reihe Reimann-Bücher den autobiographischen Band ›Mein blaues Wunder‹. Darin berichtet Hans Reimann unter vielem anderen von einer Fahrt mit Stosch-Sarrasani und 22 Indianern nach hier:

Jetzt ratterten wir im Triumphzug nach Radebeul. Alles, was Beine hatte, bildete Spalier. Am Ziel angelangt, wurden wir feierlich empfangen von der Witwe des Dichters, vom Doktor Euchar Schmid (dem Leiter des Karl-May-Verlages) und von seinen Mitarbeitern. Kranzniederlegung, Militärkonzert, Trubel und Jubel. Besichtigung der von Patty Frank (Ernst Tobis), dem alten Mitglied einer Akrobatentruppe, ausstaffierten und betreuten ›Villa Bärenfett‹. Wir Bleichgesichter folgten der Gattin Old Shatterhands an die Kaffeetafel; die roten Männer begutachteten die Trophäen aus dem Wilden Westen, rauchten Pfeife und blieben, schweigend und Würde wahrend, wie verwunschen im Blockhaus zurück. Dann wurde es sachte Zeit, zur Vorstellung aufzubrechen. ›Villa Bärenfett‹ lag verlassen – kein Sioux zu erspähen! Wohl aber zu hören. Die Geräusche hatten keinerlei Ähnlichkeit mit dem Thomanerchor. Obgleich es überirdisch klang. Sarrasani war sofort im Bilde. Brüllend wie ein (heiserer) Stier, riß er die zum Keller führende Falltür auf und erstarrte zur Salzsäule: da lagen die Hundlinge, trunken von Schnaps, und jaulten und quakten und kreischten und blökten und wieherten und stöhnten vor Wonne. Kehrt gemacht. Signalpfeife gezogen, Grenadiere und Schofföre alarmiert. 36 nüchterne Weiße gegen 22 sternhagelvolle Rothäute. Die Indianer wurden in Decken gewickelt, mit Lassos umschlungen, wie Mumien in die Autos verfrachtet – und ab gings.

Und in der Zirkusvorstellung »tollten keine echten Sioux, sondern in aller Eile indianisch aufgeputztes Personal« . . . Reimann notiert: »Die gewitzigten Dresdener durchschauten den Schwindel.«(112)

   Unmittelbar vor dieser Schilderung hatte Reimann eine andere Begebenheit berichtet: »In Köln begleitete ich einmal die Lasker-Schüler in den Dom. Da blieb uns schier der Verstand stehen: Sarrasanis sämtliche Rothäute knieten in voller Kriegsbemalung am Altar. Morgen öffnete der Zirkus seine Pforten, und der Boß verstand es, die Werbetrommel zu rühren. Außerdem waren die Sioux katholisch.«(113)

   Es ist nun kein Schwindel, vielmehr packte mich ein solcher gelinde, als ich eines Tages bei Else Lasker-Schüler in ihrer ersten Gedichtsammlung ›Styx‹ von 1902 ein Gedicht las, das mit der Strophe endet:

Heisse Winde stöhnen,
Wie der Odem der Sehnsucht,
Verheerend wie die Qual der Sehnsucht . . .
Und über die Felsen Granadas dröhnen
Die Lockrufe der schwarzen Bhowanéh!


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Überschrieben ist das Ganze mit ›Die schwarze Bhowanéh‹, erster Untertitel ›(Die Göttin der Nacht)‹, zweiter Untertitel – ›(Zigeunerlied)‹ . . .(114)

   Die Rätsel bleiben. Hatte Else Lasker-Schüler diese Verbindung Bhowanéh – Zigeuner aus May? Hatte sie eine andere Quelle? Oder haben sie und May eine gemeinsame benutzt? Oder ist alles nur Zufall? Bloßer Bluff der Literaturgeschichte?

   VON BEFOUR NACH SITARA geht mein letzter Streifzug durch die Welt Karl Mays. Vom werkgeschichtlich frühen Ardistanischen gewissermaßen also empor ins Reich der Edelmenschen, A und O, Anfangs- und Endpunkt von Mays Schreiben umspannend.

   Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara heißt. Mit diesen Märchenworten setzt Mays Selberlebensbeschreibung ein.(115)

Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel gemein . . . Seine Oberfläche besteht zu einem Teile aus Land und zu zwei Teilen aus Wasser. Aber während man auf der Erde bekanntlich fünf Erd- oder Weltteile zählt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel einfacherer Weise gegliedert. Es hängt zusammen. Es bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur einen einzigen, der in ein sehr tiefgelegenes, sümpfereiches Niederland und ein der Sonne kühn entgegenstrebendes Hochland zerfällt, welche beide durch einen schmäleren, steil aufwärtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen und reißenden Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben. Man nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger Stoff . . . Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schön im Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur und Produkten des menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan.(116)

Das Festland von Sitara könnte man nach den von May gegebenen topographischen Merkmalen auch ein idealtypisiertes, vergrößertes Madagaskar nennen, das gelegentlich auch als »Miniaturkontinent« bezeichnet wird.(117)

   Das Profil der Landmasse stimmt in den gegebenen Grundzügen überein: Von West nach Ost folgt dem Tiefland ein gebirgiges Hochland, dahinter beginnt wieder die See. Verbunden werden Hoch- und Tiefland durch eine, May formuliert steil aufwärtssteigende, der Pierer sagt »fast mauerförmig« aufsteigende Region. Keine andere der großen Erdeninseln weist dies sonst in dieser Prägnanz auf. »Einen der ungesundesten Plätze« des sumpfigen ebenen Tieflandes in der madegassischen Realität haben wir durch Ida Pfeiffer bereits beschrieben gefunden – Beforn. Sie mußte auf Geheiß der Königin Ranawala vom Hochland den Abstieg ins Tiefland machen, Kara Ben Nemsi nimmt


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dagegen den Wunsch der mütterlichen Königin Marah Durimeh aus freien Stücken vorweg und reist umgekehrt von den Niederungen Richtung Hochland. Beforn ist ein Dorf im Sumpf, Befour dagegen ist eine fürstliche Landschaft, besitzt Berge, und der ›Landschaftsbesitzer‹ Gustav Brandt residierte dort sicher anders als Ida Pfeiffer in Beforn. Auch in solchen Umkehrungen mag man (unbewußtes) System erkennen. May tat dies ja habituell gerne.

   Und noch etwas kommt hinzu. Madagaskar zählt zu den Landmassen der Erde, die Kontakt zur ›Wiege der Menschheit‹, zur Urheimat der Menschenspezies hatten. Jedenfalls nach Auffassungen, die im ›Buch der Liebe‹ referiert werden, in Abschnitten, die Karl May zugeschrieben werden.(118)

   ›Menschheitsfragen‹ haben Karl May zu Beginn und am Ende seines Schriftstellerlebens besonders beschäftigt. Am Anfang war ihre Beantwortung stärker aufklärerisch-rationalistisch bestimmt, am Ende eher mystisch-religiös. Auch so schließt sich wieder ein Kreis.

   Das Mutter-Land Madagaskar hat sich, so ist meine Idee, in Karl Mays Kopf über die Jahrzehnte hinweg gehalten. Es hat sich aber gewandelt. Es wurde vom Land seiner Phantasie, über das die allesbergende Mutter der Natur besonders herrschte – nach einem kurzen Zwischenspiel als schreckliche Bhowannie, die nur im Tode einen birgt –, zum fernen und doch so nahen Lande des Menschen-Inneren,(119) in dem die allgütige Mutter Marah Durimeh nun liebend herrscht.

   Das Festland von Karl Mays Phantasie – es hängt zusammen. Und am Ende war ihm Sitara mit den Ussul, den ›Ursprünglichen‹, und dem Hochland von Dschinnistan Relikt der Urheimath, des Ursprungslandes, wie anfangs Madagaskar. Ob Wilde Jagd, ob Geisterschmiede,(120) stets suchte er sich an den tiefsten Stellen seiner Texte zurückzuschreiben in Ursprungsregionen, wie so viele Dichter vor und nach ihm. Denn dort ist ihr eigentlichstes DAHEIM.

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Dieser Essay ist die erweiterte Fassung eines Vortrags, der am 11. Mai 1992 in Karl Mays Villa Shatterhand zu Radebeul gehalten wurde. – Da der Anlaß eine literarische Veranstaltung war, nimmt sich der Text auch einige literarische Freiheiten – nicht in der Sache, wohl aber in der Darstellung der Sache. – Hervorhebungen in Zitaten sind vom Verfasser.

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1 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 142; Reprint Hildesheim-New York 21982. Hrsg. von Hainer Plaul

2 Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern. Zürich 1979, S. 107f. und 110f. (detebe klassiker 20019)

3 Vgl. hierzu Claus Roxin: Begrüßungsansprache zur Eröffnung des Karl-May-Sym-


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posiums an der Universität Bonn. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1993. Husum 1993, S. 58-62 (S. 59f.).

4 Hans Reimann: Das Buch von Leipzig. München 1929 – Das erste Zitat, »Wann die Rosen blühn«, steht auf S. 177 und das zweite, »Der Büchersaal ist ein phantastisches Reich«, auf S. 35.

5 Siehe Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 4: In den Schluchten des Balkan. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 34-43.

6 Ernst Kreuder schaffte es immerhin bis Saloniki (»Nach den Jahren des Karl-May-Rausches und nach dem gescheiterten Versuch, mit achtzehn nach Afrika, durch die Fremdenlegion, zu gelangen (. . .).«) – Ernst Kreuder: Ich über mich. In: Ernst Kreuder. Von ihm · über ihn. Hrsg. u. bearb. von Christoph Stoll und Bernd Goldmann. Mainz 1974, S. 7-12, hier S. 8 (Zitat) und S. 9. – Zu den literarischen Früchten der Reise wird man ›Agimos oder die Weltgehilfen‹ (1959) rechnen dürfen.

7 Hans Reimann: Motorbummel durch den Orient. Berlin-Charlottenburg 1935, S. 56f.

8 Ebd., passim – Vgl. auch Hans Reimann: Reimann reist nach Babylon. Aufzeichnungen eines Spießers. Heidenheim 1956, eine überarbeitete Fassung der Reisebeschreibung von 1935. Nun setzt Reimann aber erst in Istanbul ein, das heißt ab S. 66 des ›Motorbummels‹. Die Rückreise durch die Schluchten des Balkan kann man aber in beiden Büchern genießen.

9 May: In den Schluchten des Balkan, wie Anm. 5, S. 33

10 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 1: Der Sohn des Bärenjägers. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1992, S. 201f.

11 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Werke Bd. 9. Hrsg. von Norbert Miller. München 1975, S. 270

12 Das habe ich andeutungsweise ausgeführt in: Rodensteiner redivivus oder Die Wissensprobe. Artistisches Erzählen in Karl Mays ›Waldröschen‹. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 82/1989, S. 17-20. Darauf greife ich im folgenden zurück.

13 Karl May: Das Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde. Dresden 1882-84, S. 688f.; Reprint Leipzig 1988

14 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 1, S. 87 – Zum biographischen Hintergrund des Foppens vgl. S. 85-90.

15 Goethe schildert den getreuen Eckart als Warner vor den »unholdigen Schwestern«, den »Hulden«, dem »wütige(n) Heer«; siehe Goethe: Gedichte. Hrsg. und kommentiert von Erich Trunz. München 101974, S. 286-88, und den Kommentar (›Thüringerwaldmärchen‹ um Eckart und Frau Hulda) S. 630f. (Goethes Werke Bd. I [Hamburger Ausgabe]).

16 Einen ausführlichen Überblick über den weitverzweigten, europäisch verbreiteten Sagenstoff, der zahlreiche bekannte Gestalten wie König Artus oder Dietrich von Bern mit einbezieht, bietet Jacob Grimms ›Deutsche Mythologie‹ beispielsweise in Kapitel VII und besonders XXXI (Jakob [!] Grimm: Deutsche Mythologie. Berlin 41875-1878, 3 Bde.; Bd. 1, S. 109ff., Bd. 2, S. 761-93, und Bd. 3, S. 280-84; Reprint Graz 1968), mit literarischen Belegen von Shakespeare bis Hans Sachs unter Berücksichtigung des Volksglaubens von Schweden bis Spanien. – Karl May braucht die Variationen der Sage um das Wütende Heer nicht in diesem Umfang gekannt zu haben. Ihm konnte bereits das genügt haben, was er als Kind möglicherweise erzählt bekommen hat und was er als Erwachsener in zeitgenössischen Lexika dazu nachlesen konnte. (Und daß er mit und nach Lexika gearbeitet hat, steht außer Frage; vgl. auch das Bekenntnis seines humoristischen Alter egos Hobble-Frank in ›Der Geist der Llano estakata‹ in: May: Der Sohn des Bärenjägers, wie Anm. 10, S. 431, daß er Pierer's Konversationslexikon gelesen habe und er sich die rhetorisch lexikale Weltgeschichte durch eegenes Ingenium zusammen(setze) (S. 533f.)). – Was May in ›Pierer's Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe‹ lesen konnte, habe ich in meinem Beitrag: Rodensteiner redivivus oder Die Wissensprobe, wie Anm. 12, S. 19f., zitiert. – Außerdem war die Sage vom Rodensteiner durch Joseph Viktor von


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Scheffels ›Lieder vom Rodenstein‹ (aus der Sammlung ›Gaudeamus!‹ (1868)) geläufig. Vgl. auch Elisabeth Kulmann: Der Ritter von Rodenstein. In: Elisabeth Kulmann: Sämmtliche Dichtungen. Frankfurt a. M. 1857, S. 505-09. Das Sagengemurmel um Angst und Tod im Odenwald hat mit viel Spürsinn und Sprachmagie in zweiundzwanzig Stücken auch aufgezeichnet Werner Bergengruen: Das Buch Rodenstein. Frankfurt a. M. 1927.

17 Laut Scheffels Lied ›Die Fahndung‹ (»Und wieder sprach der Rodenstein: / ›Pelzkappenschwerenot! / Hans Breuning, Stabstrompeter mein, / Bist untreu oder tot? / (. . .) / Schon naht die durstige Maiweinzeit, / Du mußt mir wieder her!‹ // Er ritt, bis er nach Darmstadt kam, / (. . .)«) und Mays ›Waldröschen‹, wie Anm. 13, S. 1162f. – Mit seinem Familiennamen trieb May, wie gesagt, öfters Scherz; daß dies alles bei Mainz, früher Mayntz geschrieben, spielt, daß er eine ganze Heldenschar aus Mainz oder der unmittelbaren Umgebung stammen ließ – das mag kein Zufall, sondern eher Ausdruck der Anziehungskraft des Bezüglichen sein: »O Rodenstein! O Maienwein! / Noch bin ich nicht verlor›n.« Und sogar einer mehrfach determinierten anziehenden Beziehungskraft – Mai/y, Wilde Jagd und Flucht vor der Obrigkeit, wie sie May nicht nur einmal, aber wohl stets in Ängsten, unternommen hatte: »››Raus da! ›raus aus dem Haus da! / ›Raus mit dem Deserteur! / Das lahme, zahme Gast da drin / Gehört zum wilden Heer!‹« (›Die Fahndung‹, zitiert nach Joseph Viktor von Scheffel: Sämtliche Werke. Leipzig-Wien o. J., S. 526f.) – Außerdem teilen die zwei Herren von Rodenstein nach Scheffel und May Metier und Temperament. In Jagd- und Kriegskunst sind beide bewandert; ironisierend und verbürgerlichend stellt dies May bei seinem alten Polterer dar, dessen Jähzorn, Wettern und Fluchen er in den Schilderungen der Sagengestalt als besonders anregend empfunden haben mag, denn die Temperamentsausbrüche werden zum hervorstechenden Kennzeichen seiner Rodensteiner-Figur. – Vgl. auch Wolf-Dieter Bach: In Mainz, um Mainz und um Mainz herum. In: M-KMG 11/1972, S. 10f. – Zu Mays Zeit wurde die Sage wachgehalten und in Büchern immer wieder aufgeköchelt, zum Beispiel in der anonym und in Lieferungen erschienenen ›Die Geisterwelt. Eine Schatzkammer des Wunderglaubens.‹, Berlin o. J. (1868/69), S. 203-11, oder in Heinrich von Reders epischem Zyklus ›Wotans Heer. Eine Märe aus dem Odenwald‹ (1892). Von der Anregungskraft des Stoffes zeugt auch César Francks Tondichtung nach Bürgers Ballade ›Le chasseur maudit‹ (1882). In unserem Jahrhundert wurde von der Sage besonders nachhaltig bestrickt Friedrich Alfred Schmid Noerr: Frau Perchtas Auszug. Berlin-Grunewald 1928, und Ders.: Unserer Guten Frauen Einzug. Leipzig 1936. – Hinweisen könnte man auch noch auf Juliane Karwath: Der Ritt mit dem wilden Jäger. Breslau 1926.

18 Vgl. Karl May: Ein Fürst des Schwindels. In: Deutscher Hausschatz. VI. Jg. (1880), S. 402; Reprint in: Karl May: Kleinere Hausschatz-Erzählungen. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg/Regensburg 1982. Siehe auch die entsprechenden Stellen in Karl May: Aqua benedetta. In: Frohe Stunden. 2. Jg. (1877/78), S. 365; Reprint der Karl-May-Gesellschaft, Hamburg 1971.

19 Wie May sein Quellenmaterial neu sortiert und souverän poetisierend umstellt, zeige ich ausführlich in einer separaten Studie. – Vgl. einstweilen Volker Griese: Nach authentischen Quellen: ›Ein Fürst des Schwindels‹. In: M-KMG 82/1989, S. 22-25, und Peter Krassa: Der Graf von Saint-Germain. Karl Mays ungeliebtes Vorbild in Literatur und Leben. In: M-KMG 88/1991, S. 6-13.

20 Le Mémorial d›un Mondain par Mr. le Conte Max. Lamberg. Frankfurt a. M. 1775 / Tagebuch eines Weltmanns. Frankfurt a. M. 1775. – Näheres in der oben (Anm. 19) angekündigten Studie.

21 May: Ein Fürst des Schwindels, wie Anm. 18, S. 417

22 Selbstähnlichkeit wird natürlich auch unter anderen Gesichtspunkten in Mays Textverläufen sichtbar, etwa wenn man an das Handlungsprinzip ›Gefangennahme – Befreiung‹ denkt. Die Eigenschaft ›gebrochene Dimension‹ wird man wohl nicht so häufig finden. – Selbstähnlichkeit dürfte eine Eigenschaft episodisch reihenden Erzählens überhaupt sein; freilich ist sie bei May in besonderer, quasi (spät)mittelalterlicher ›Reinheit‹ und in besonderen Hinsichten ausgeprägt, von denen ich eine vorführe.

23 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 1, S. 12


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24 Ebd., S. 142

25 Auf eine weitere Form der Wissensprobe habe ich aufmerksam gemacht mit meinem Beitrag: Artistisches Erzählen bei Karl May: »Felsenburg« einst und jetzt. Der erste Teil der ›Satan und Ischariot‹-Trilogie vor dem Hintergrund des ersten Teils der ›Wunderlichen Fata‹ von Johann Gottfried Schnabel – und ein Seitenblick auf Ernst Willkomms ›Die Europamüden‹. In: Jb-KMG 1992. Husum 1992, S. 238-76.

26 Zum Detektorischen vgl. auch Walter Seifert: Rätsel und Kriminalschema. Karl Mays ›Winnetou‹ als Unterrichtsgegenstand (7./8. Jahrgangsstufe). In: Der Deutschunterricht. 34. Jg. (1982), Heft 2, S. 53-62, und Volker Neuhaus: Old Shatterhand und Sherlock Holmes. In: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1987, S. 146-57 (Sonderband Text + Kritik).

27 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVI: Im Reiche des silbernen Löwen I. Freiburg 1898, S. 571

28 Vgl. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 1, vor allem S. 35f. und S. 50-55.

29 So respondierte Mays psychische Disposition auf bestimmte literarische Genregegebenheiten aus dem Dunstkreis des Schauer-, Geheimnis- und Detektivromans, vorzugsweise Marke Massenware.

30 Das reicht bis in die Lebensbewältigung beziehungsweise ins lebensweltliche Versagen; siehe etwa Karl May über seine erste Frau in Karl May: An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichtes III in Berlin. Prozeßschriften Bd. 3. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 55: Dadurch wurde mir dieses Mädchen zum Rätsel und also doppelt gefährlich, weil nichts den Schriftsteller so sehr zu fesseln vermag wie ein psychologisches Rätsel, dessen Lösung ihn interessiert. Und dieses Wort, nämlich »Ein psychologisches Rätsel«, ist der Schlüssel zu allem, was nun geschah.

31 Literatur und Leben waren ihm dabei phasenweise eins; man denke etwa an seine Mezzofantiasis (Brief vom 2. 11. 1894, abgedruckt in der Frankfurter Zeitung vom 1. 4. 1937 – Faksimile in M-KMG 71/1987, S. 24ff.).

32 Die Belege für diese Konstellation sind beliebig zu geben; eine weitere Variante habe ich vorgestellt in: ›Der Ehri‹ und der »Pierer«. Zu Karl Mays Praxis der Lexikonbenutzung. In: M-KMG 99/1994, S. 39-48 (S. 40).

33 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 12: Winnetou I. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1990, S. 137

34 Darauf bin ich schon einmal eingegangen in: Mit dem Finger auf der Landkarte. Etwas über Namen bei Karl May. In: M-KMG 68/1986, S. 18-22.

35 Karl May: Die Liebe des Ulanen. In: Deutscher Wanderer. VIII. Jg. (1883-85), S. 19; Reprint Bamberg 1993

36 Doch muß man einschränken: Der im Wald versteckte Schatz ist ein uraltes Motiv, und eine distinktere Beziehung hat Mays Motivwahl zu Oppermanns ›Hundert Jahren‹ – vgl. Schweikert: Artistisches Erzählen, wie Anm. 25, S. 246.

37 May: Das Waldröschen, wie Anm. 13, S. 1550f.

38 Zur, auch zeittypischen, Lust am biederen Rebus-Scherz vgl. Karl May (Hrsg.): Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg-, Hütten- und Maschinenarbeiter; Reprint Hildesheim-New York 1979. Inhaltsverzeichnis unter ›Rätsel, Scherzfragen, Aufgaben‹.

39 May: Die Liebe des Ulanen, wie Anm. 35, S. 1209

40 Ebd. S. 1095 – Erwähnung der Wilden Jagd in der Dunkelheit noch einmal auf S. 1658: Er (Martin Tannert) jagte trotz der Finsterniß wie der wilde Jäger davon . . . – Zu diesem Vergleich siehe auch ›Der Geist der Llano estakata‹, wie Anm. 16, S. 587: Die kleine Schar flog wie die wilde Jagd dahin. Und May: Das Waldröschen, wie Anm. 13, S. 385: So ging die wilde Jagd bei voller Dunkelheit jenseits wieder in das Thal hinab . . .

41 May: Schacht und Hütte, wie Anm. 38, S. 189

42 Vgl. ebd., S. 190. – Auch auf die indianische Sagenvariante der Wilden Jagd kam May öfters wieder zurück, siehe etwa Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 13: Winnetou II. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1991, S. 345: der ›flats ghost‹, der Geist der Ebene, welcher nach dem Glauben der Indianer des Nachts auf feurigem Rosse und am Tage unter allerlei trügeri-


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schen Gestalten über die Woodlands reitet, um die weißen Männer in das Verderben zu locken, und S. 437; der junge Harry spricht zu Old Shatterhand im Zusammenhang der Schreckensnacht voller Mord und Totschlag, als Harrys Mutter und Schwester das Leben genommen wurde: »Aber habt Ihr noch nie die Sage vom ›flats-ghost‹ vernommen, welcher in wilden Stürmen über die Ebene braust und alles vernichtet, was ihm zu widerstehen wagt? Es liegt ein tiefer Sinn in ihr, welcher uns sagen will, daß der ungezügelte Wille sich wie ein brandendes Meer über die Ebene ergießen müsse, bevor die Ordnung zivilisierter Staaten hier festen Fuß fassen kann. Auch durch meine Adern pulsiert eine Woge jenes Meeres und ich muß ihrem Drange folgen, obgleich ich weiß, daß ich in der Flut versinken werde.« – Was, es liegt ein tiefer Sinn in ihr, die schönsten Deutungsperspektiven eröffnet: Die Wilde Jagd als (verstecktes) Selbsterklärungsmodell Mays, als Sagen-Bild für seine Sturm-und-Drang-Zeit mit ihren diversen Verfehlungen, die sich auffassen lassen als Folge des ungezügelten Sich-Treiben-Lassens im Gefühls-Meer lustvoller Selbstdestruktion unter dem Mantel verwegener Allmachtsphantasterei, die der Macht zivilisierter Ordnung die ungezähmte, ungezügelte Traum-Macht des Ichs subversiv entgegensetzt. Bezeichnenderweise fährt der Erzähler fort: Mit beredtem Munde gab er [Harry] . . . eine Beschreibung seines späteren Lebens, welches ihn zwischen den Extremen der Wildnis und Gesittung hin und her geworfen hatte, und ich fühlte, daß ich nicht das Recht hatte, ihn zu verurteilen. (Textgleich auch in ›Old Firehand‹, interessanterweise allerdings ohne die moralische Wertung durch den Erzähler und natürlich mit Ellen statt Harry, vgl. Karl May: Old Firehand. In: Deutsches Familienblatt. 1. Jg. (1875/76), S. 236; Reprint der Karl-May-Gesellschaft 1975.)

43 Und der Textbelege für das Nasedrehen, das Gezwitscher des Gespöttes, den angeborenen Schabernack ist ja wahrlich kein Mangel; siehe etwa Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVI: Im Lande des Mahdi I. Freiburg 1896, S. 208: der angeborene Schabernack des Erzählers; Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XVIII: Im Lande des Mahdi III. Freiburg 1896, S. 149: denn ich hatte vor, einen lustigen Streich auszuführen; S. 242: »wir überlisten sie doch alle und machen ihnen eine Nase, die von hier bis hinüber nach Mekka und dann wieder zurück bis nach Teheran und Isfahan reicht« (Halef); S. 243: »Nagha el Masgara« . . . Gezwitscher des Gespöttes, das war gut! Ich mußte lachen.

44 May: Der Geist der Llano estakata, wie Anm. 16, S. 573

45 Siehe ebd., S. 570f. – und siehe oben, Nachweis in Anm. 42. – Geschickt ist eine leise Vorausdeutung auf die Lufterscheinungen im Text versteckt; S. 561: »Ihr und Winnetou würdet selbst dann die Fährte entdecken, wenn die Kerls durch die Luft geritten wären!«

46 Ebd., S. 586

47 Vgl. Grimm, wie Anm. 16, Bd. 2, S. 787f.

48 May: Der Geist der Llano estakata, wie Anm. 16, S. 580 (dort auch übers Kegelschieben der Gespenster bei Königstein und Pirna) – siehe Grimm, wie Anm. 16, Bd. 2, z. B. S. 779. Hobble-Franks Sätze klingen – eine bemerkenswert subtile Form des Selbstzitats – wie eine Übersetzung ins Sächsische des Resümees aus den ›Geographischen Predigten‹, das ich auf S. 117 zitiert habe.

49 Siehe Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 4: Der Schatz im Silbersee. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 417. Hobble-Frank zu Jemmy: »Durch deine Verdrehungen der wahrhaftigen Thatsachen und Unwahrscheinlichkeeten willst du mich selber zum wilden Jäger machen; aber das soll dir nich gelingen«.

50 May: Der Geist der Llano estakata, wie Anm. 16, S. 587 – Noch einmal, an herausragender Stelle, nämlich bezeichnenderweise beim Finale, als Bloody-Fox seinen ›Schatten‹ Burton verfolgt, fällt die Wendung: So kam die wilde Jagd näher (S. 675): wie um ein letztes Mal das zugrundliegende mythische Thema als leisen Schlußgong erklingen zu lassen.

51 Vgl. zu diesem Thema Hermann Bausinger: Aufklärung und Aberglaube. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 37. Jg. (1963), S. 345-62. – Zum Thema Geister und Gespenster in populären Lesestoffen


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siehe Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe. München 1977, bes. S. 401ff. (dtv Wissenschaftliche Reihe 4282)

52 Siehe Grimm, wie Anm. 16, Bd. 2, S. 785f.

53 May: Der Geist der Llano estakata, wie Anm. 16, S. 567 – Vorbote von Orkanen ist, neben Windstille, »ein einzelnes weißes Wölkchen (Ochsenauge)«; jedenfalls laut ›Pierers Universal-Lexikon‹, zitiert nach der 4. Auflage, Altenburg 1857-65, Stichwort ›Wind‹. – Zur mythischen Dimension vgl. Grimm, wie Anm. 16, Bd. 2, S. 821 (»kleines wölkchen«, »allmählich eine wolke wie ein hut, wie eine wanne, wie ein scheuerthor« als Zeichen für das Hereinbrechen von Gottes Gericht).

54 Vgl. Grimm, wie Anm. 53, S. 821.

55 Vgl. ebd., S. 789.

56 Der junge Bloody-Fox als Identifikationsfigur für den jugendlichen (›Kamerad‹-)Leser bereitete der Forschung Schwierigkeiten, da er sowohl ›gute‹ (bewahrend-rettende) Züge trägt als auch ›böse‹ (strafend-tötende) – Daten dazu bei Werner Kittstein: Karl Mays Erzählkunst. Eine Studie zum Roman »Der Geist des Llano estakado«. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 15. Ubstadt 1992, S. 3f. Der mythische Untergrund dieser Figur als Wilder Jäger würde diese Ambivalenz erklären: Der Wilde Jäger verschont die Guten und übt Vergeltung an den Bösen.

57 Woher May die Bezeichnung ›Geier‹ für die Schurkenschar hatte, ist noch ungeklärt. – Es gab in Mexiko, also südlich des Llano estakado, zur Zeit des ›Französischen Abenteuers‹, kurz bevor Maximilian die Kaiserkrone annahm – siehe Mays ›Waldröschen‹ –, eine Räuberbande unter Führung eines gewissen und weithin berüchtigten Buitrone, der mit seinen 350 Leuten nach seinem Namen (span. buitre, Geier) genannt wurde – May: »Dreißig und fünf ›Geier‹,« meldete er (May: Der Geist der Llano estakata, wie Anm. 16, S. 667); vgl. Arthur Storch: Mexiko oder Republik und Kaiserreich. Politisch-socialer Roman aus der Gegenwart. Pest-Wien-Leipzig 41868, 4 Bde.; Bd. 2, S. 69–77 (= Kapitel 7: ›Der Rinaldo-Rinaldini Mexiko's‹). Zu den vielfältigen Berührungspunkten von Storchs Roman mit Mays îuvre bereite ich eine separate Untersuchung vor. – Freilich erklärt sich die Bezeichnung ›Geier‹ (ahd. gîr, vgl. gierig) für die auf ihre erschöpften Opfer lauernden Räuber bei May auch aus der Konstruktion der Erzählung.

58 Vgl. Grimm, wie Anm. 16, Bd. 1, S. 129, Bd. 2, S. 770f., und Bd. 3, S. 281 (der Wilde Jäger reitet auf einem Schimmel), sowie Bd. 2, S. 783 (»Othin, [. . .] auf weißem rosse reitend, mit weißem schilde bedeckt« – eines der bekannten Kleidungskennzeichen Wotans ist der (verhüllende) Mantel); zu Wotan-Wilder Jäger als Maskengott vgl. Schmid Noerr: Unserer Guten Frauen Einzug, wie Anm. 17, S. 101-15, und 656f. (dort Verweis auf Fachliteratur). – Aufschlußreich auch die Durchführung des Schwarz-Weiß-Gegensatzes in Mays Erzählung: Dem ›weißen‹-guten Bloody-Fox ist der ›schwarze‹-böse Stealing-Fox, verkleidet als Mormone und gekleidet durchaus in schwarzes Tuch (May: Der Geist des Llano estakata, wie Anm. 16, S. 410), gegenüberstellt. Daß sie wie Körper und Schatten zusammengehören, erhellt auch aus der Parallelität ihrer Spitznamen. Mir scheint, als ob zur Verstärkung des bösen Wilden-Jäger-Elements und zur gleichzeitigen Abschwächung der entsprechenden Züge in Bloody-Fox die Verlagerung dieser Eigenschaften in einen zweiten, nur schlechten Charakter für May nötig gewesen sei, gleichsam auf Druck des mythischen Untergrunds, dessen Relikte in der Erzählung so vielfältig an die Textoberfläche gelangen, bis in das ethisch problematische Verhalten von Bloody-Fox hinein spürbar. Wie spielerisch fällt einmal der Satz »Du siehst, man braucht nicht die schwarze und weiße Magie studiert zu haben, um ein sogenannter Zauberkünstler zu sein.« (S. 425, Juggle-Fred zu Helmers).

59 Siehe May: Der Geist der Llano estakata, wie Anm. 16, S. 564f. (Fund von Verkleidungsstücken); Anführer der ›Geier‹, wie Stewart oder Burton, treten verkleidet auf. – Das Wilde Heer hat hier bei May die Fronten gewechselt, sofern man nicht den jeweiligen Anführer der bösen Llano-›Geier‹ als Wilden Jäger, sondern Bloody-Fox allein als solchen betrachtet, der gegen die Mörder-Meute kämpft. – Maskiert ist die tosende Meute der Wilden Jagd beim Charivari, dem rituellen Lärm (rough music), der lauten Jagd, die auf Herlechinus und seine Schar (afrz. maisnie, mesnie) aus


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friedlosen Toten weist – eine (alt)französische Variante der Wilden Jagd. Siehe dazu Carlo Ginzburg: Charivari, Jugendbünde und Wilde Jagd. Über die Gegenwart der Toten. In: Ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. München 1988, S. 59-77 (dtv 10974); dort auch weiterführende Literatur. (Mit Dank für den Hinweis an Biene und Feli.) Zu Herlechinus (Hellequin, Harlekin) und die Wilde Jagd vgl. darüber hinaus Grimm, wie Anm. 16, Bd. 2, S.785f.

60 Läge nicht in dem, was er an Wissensstoff durcheinanderbringt, auch ein Wissen über die richtigen Zusammenhänge, könnte er überhaupt nicht auf seine phonetischen und semantischen Verwechslungsassoziationen kommen. Entweder spricht aus ihm also eine auktoriale Instanz klammheimlich mit oder er ist eine ›fraktale‹ Figur, die mit ihren ›Aussagen auf sächsisch‹ zwischen auktorialer und figuraler Textdimension liegt, oder – eine weitere Möglichkeit – er ist eine nach Konstruktion und erzählerischer Ausführung ›gescheiterte Figur‹, die gerade durch ihr poietisches Gescheitertsein, rezeptionsästhetisch betrachtet, reüssiert.

61 »Herodias war derjenige mexikanische Hallunke, welcher in der berühmten Hafen-schtadt Ephorus die Sommervilla der Göttin Diana in Brand geschteckt hat, und zwar nur aus dem triftigen Grunde, daß sein Name von dem Posaunenschall der Nachwelt geflüstert werden solle.« »Da ist wohl Herostratos gemeint, welcher den Tempel der Diana zu Ephesus niederbrannte? Herodias war kein Mann, sondern eine Frau, nämlich das Weib des Herodes Antipas.« »Ach? So! Was ihr nich alles wißt!« antwortete der Hobble-Frank in ziemlich höhnischem Tone. »Herostratos! Ephesus! Antipas! Nee, was da alles unternander gequirlt wird! Das sollte man gar nich für möglich halten!« (May: Der Geist der Llano estakata, wie Anm. 16, S. 534) – Hier könnte man Hobble-Frank mit seinem Wissensproben-Spaß geradezu als bauchrednerische ›Stimme des abgesunkenen (alten) Wissens‹ interpretieren. – Wilde Jagd und (derber) Spaß gehören zusammen, siehe beispielsweise die (närrischen) Charivari-Züge. Zum sprachlichen Zusammenhang von Spuk und Spaß vgl. Grimm, wie Anm. 16, Bd. 2, S. 762. – Zu Diana und Herodias als Anführerinnen des Wütenden Heeres siehe ebd., Bd. 1, S. 234-37, und Bd. 2, S. 778.

62 Vgl. Grimm, wie Anm. 16, Bd. 2, S. 782.

63 May: Der Geist der Llano estakata, wie Anm. 16, S. 615

64 Siehe Grimm, wie Anm. 16, Bd. 2, S. 784.

65 Vgl. ebd., S. 882.

66 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 1, S. 26

67 Wie Anm. 50

68 Nach Grimm, wie Anm. 16, Bd. 2, S. 773f., der diese Fassung aus Ernst Moritz Arndts ›Märchen und Jugenderinnerungen‹ wiedergibt.

69 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 775 und 883.

70 Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 49: »Mythen aus der Grundschicht der Psyche« seien Mays Fabeln (S. 41), und manchmal nehmen diese überlieferte Gestalt an und verändern jene auf spezielle Weise – wie eben im Fall der Wilden Jagd. – Vgl. Bachs Untersuchung darüber hinaus wegen ihres Vordringens in archaisch-mütterliche Bereiche.

71 Vgl. z. B. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 1, S. 8: Ueberhaupt ist Weihnacht für mich und die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verhängnisvolle Zeit gewesen. – Zum Weihnachts-Sujet bei May vgl. Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays ›»Weihnacht!«‹. In: Jb-KMG 1987. Husum 1987, S. 101-37.

71a vgl. dazu die Interpretation in Anm. 42 und Mays Schilderungen des Gejagtwerdens durch ›innere Stimmen‹ in: Mein Leben und Streben, wie Anm. 1, S. 163 u. ö.: Die Rotte aus realen und literarischen Gestalten, darunter die Geister und Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek jagen ihn gellend umher. – Bilder der Wilden Jagd sind ihm Bilder seiner lebensentscheidenden seelischen Erkrankung.

72 Karl May: Der Pfahlmann. In: Karl May: Die Rose von Kaïrwan. Erzählung aus drei Erdtheilen. Osnabrück 1894, S. 123 – Diese Wüste, Ort des Verschmachtens, wird verglichen mit dem unermeßliche(n), endlose(n) Ozean (ebd.).

73 May: Der Geist der Llano estakata, wie Anm. 16, S. 395

74 Das gegenüber dem ›Waldröschen‹ leicht variierte, aber sowohl dort wie im ›Geist‹


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zugrundeliegende assoziative Ideenamalgam lautet: Helmers – Kopfwunde – Venta am Llano estakado.

75 Vgl. Mays Vergleichsetzung von Wasser und Wüste (Anm. 72).

76 Siehe in Morus’ ›Utopia‹ den Beginn des 2. Buchs (Thomas Morus: Utopia. In: Der utopische Staat. Hrsg. von Klaus J. Heinisch. Reinbek bei Hamburg 1960, S. 48 (Philosophie des Humanismus und der Renaissance 3)).

77 Siehe dazu etwa Bach: Fluchtlandschaften, wie Anm. 70, S. 50ff.

78 »Wir kennen ihre [d. i. des Llano] Gefahren ganz genau . . . Wir haben davon gehört und auch darüber gelesen.« (May: Der Geist der Llano estakata, wie Anm. 16, S. 488)

79 Andrees allgemeiner Handatlas. Hrsg. von A. Scobel. Bielefeld-Leipzig 41899, Blatt 164f.

80 Vgl. May: Das Waldröschen, wie Anm. 13, S. 379-90.

81 Ebd., S. 433

82 May: 4. Strafkammer, wie Anm. 30, S. 56

83 Vgl. Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden. Dresden 1901, Bd. 4: Der Fürst der Bleichgesichter Teil 2, S. 3-58, Zitat S. 15; Reprint Hildesheim-New York 1976 (vgl. im Erstdruck: Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden. Dresden 1885-87, S. 1165-94; Reprint Bamberg 1976 – dort liegt im angeführten Zitat (S. 1173) ein Druckfehler vor (Krinus statt ›Urinus‹)). – Fragt man auf der von May hier gepflegten Wortwitzebene, wer denn der entfleuchte Geliebte der Emeria mit Namen Heulmeier (S. 10 u. ö.) eigentlich sei, so kann einem schon in lässig-frohen Stunden der weinende May, der Maywein einfallen (Meier für May übrigens in ›»Weihnacht!«‹).

84 May: Schacht und Hütte, wie Anm. 38, S. 352

85 Karl May: Das Buch der Liebe. Dresden 1875-76, Dritte Abtheilung, S. 115f.; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Regensburg 1988; Anspielung bereits S. 24: . . . bei den Lichtern der Nacht, der »Tausendäugigen«.

86 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 1: Scepter und Hammer. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 216

87 Nachweise und detaillierter Überblick bei Hedwig Pauler: Deutscher Herzen Liederkranz. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft (S-KMG) Nr. 41/1983, S. 55ff. – Dies.: Deutscher Herzen Liederkranz Teil II. S-KMG Nr. 60/1985, S. 75, und Dies.: Deutscher Herzen Liederkranz Teil III. S-KMG Nr. 99/1993, S. 35f.

88 Siehe Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 7: Der schwarze Mustang. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1992, S. 221.

89 Und er konnte das Sagenschema auch im Sinn gehabt haben, als er an Freiligraths ›Geisterkarawane‹ aus der Ballade ›Gesicht des Reisenden‹ dachte: Wie Schatten flogen die hochbeinigen Kamele an mir vorüber. Man hätte an Freiligraths »Geisterkarawane« denken können. (May: Im Lande des Mahdi I, wie Anm. 43, S. 393) – Das Grauen beim Ritt durch die Steppe, wie es Freiligrath in seinem Gedichtfragment ›Die Steppe‹ besingt, wäre ebenfalls einschlägig; May erwähnt es öfter (Nachweise bei Pauler, wie Anm. 87, Teil II, S. 59). – Zu May–Freiligrath vgl. Bach: Fluchtlandschaften, wie Anm. 70, S. 43: »Kaum ein deutscher Dichter ist May so verwandt wie der Lehrerssohn aus Detmold, der Anwalt des Proletariats, – nicht zuletzt auch in der heimlichen Wahlverwandtschaft zur Kolportage, in der ein Nerv in ihm etwas von der wahren Verfassung der bürgerlichen Welt witterte.«

90 May: Scepter und Hammer, wie Anm. 86, S. 214f.

91 Karl May: Der verlorne Sohn. Dresden 1883-85, S. 1544; Reprint Hildesheim-New York 1970-72; Hervorhebung von mir

92 Siehe Grimm, wie Anm. 16, Bd. 1, S. 234. – Die indische Bhavani zählt ebenfalls zu den in ihrem Wagen Ausfahrenden (mit vergleichendem Hinweis auf die phrygische Kybele, ebd., S. 211, und auf ihren ›dunklen‹ Aspekt als Kâlî, S. 262).

93 Ebd., S. 232

94 Karl May: Christus oder Muhammed. In: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. X: Orangen und Datteln. Freiburg 1894, S. 175 – zum mythischen Hintergrund, der gleich deutlicher werden wird: Wuotan, der Wütende, steckt auch in der Wut der Elemente.


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95 Ebd., S. 175 – Hinter dem wahren Haschen liegt das Wütende-Jagd-Moment.

96 Ebd., S. 174 – Mays Quelle für diese seemännische Wendung konnte bisher noch nicht ermittelt werden; lexikalisch verbürgt ist der Ausdruck ›Mother Carey's áchickens‹ für Seeschwalben (Muret-Sanders). Siehe auch Jürgen Pinnow: Mutter Kareys Küken – die Sturmschwalben (Hydrobatidae). In: M-KMG 93/1992, S. 35f. Die Korrektur Mays, die Pinnow vornimmt (»daß das Wort ›Küchlein‹ eigentlich ›kleiner Kuchen‹ bedeutet und nur gelegentlich – im Grunde genommen unkorrekt – auch für ›Kückchen‹ oder ›Kücklein‹ (. . .) gebraucht wird«, S. 35), geht jedoch fehl, vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, Leipzig 1873, Sp. 2514-18.

97 Wir kennen ›Frau Holle schüttelt ihre Betten aus‹, was auf den gleichen mythischen Ursprung deutet.

98 Vgl. Grimm, wie Anm. 16, Bd. 1, Kapitel XIII unter Holda, besonders S. 222ff. (Wasserbezogenheit, Wilde Jagd und Mummenschanz, S. 222f.; mütterliche Gottheit mit späterer christlicher Überformung als Maria, S. 224; kära moder, S. 225 – man kann auch eine Verbindung zum altnordischen Windgott Kâri sehen: »wie im alten Norden blâs kâri! wird vom schwed. schiffervolk gerufen: blås kajsa! statt des gottes eine göttin«, S. 525.).

99 Zum Stichwort ›fremd-heimisch‹ vgl. das Referat über die versunkene Urheimat der Menschheit, den versunkenen Kontinent, der sich bis nach Madagaskar erstreckt habe, im ›Buch der Liebe‹ (zitiert in Anm. 118).

100 Pierer's Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Altenburg 41857-65. Bd. 10 (1860), S. 674f.

101 May: Der Geist der Llano estakata, wie Anm. 16, S. 431

102 May: Der verlorne Sohn, wie Anm. 91, S. 128

103 Ebd., S. 131

104 Ida Pfeiffer: Reise nach Madagaskar. Nebst einer Biographie der Verfasserin, nach ihren eigenen Aufzeichnungen. 2 Bde. Wien 1861

105 Siehe dazu weiter meinen Beitrag: Babieça, Befour, Bhowannie. In: M-KMG 100/1994, S. 28–33 (S. 28f.).

106 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 3: Von Bagdad nach Stambul. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 315-22 (= die ganze Episode; kurze ›Reprise‹ auf S. 330); hier S. 315f. und 318

107 Pfeiffer, wie Anm. 104, Bd. 2, S. 123f.

108 Siehe May: Von Bagdad nach Stambul, wie Anm. 106, S. 318f.

109 Ebd., S. 320

110 Nachweise zu ihr in Schweikert: Babieça, wie Anm. 105

111 Siehe May: Scepter und Hammer, wie Anm. 86, S. 234: »der Gitano hat keine Heimath und weiß, daß nur die Fremde ihm gehört«.

112 Hans Reimann: Mein blaues Wunder. München 1959, S. 176 – Siehe auch Dieter Sudhoff: Winnetou und Winder. In: M-KMG 71/1987, S. 29-32.

113 Ebd., S. 175f.

114 Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. Hrsg. von Friedhelm Kemp. München 31984, S. 14

115 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 1, S. 1

116 Ebd., S. 1f.

117 Alison Jolly: Das Gelobte Land der Naturforscher. In: Frans Lanting: Aus der Zeit gefallen. Madagaskar. Frankfurt a. M. 1991, S. 28-37 (S. 37)

118 Wenn angenommen werden muß, da[ß] alle Menschenarten erst durch Differenzen aus einer einzigen Species von Urmensch (Homo primigenius) entstanden sind, so giebt es für das Menschengeschlecht nur eine einzige Urheimath, in welcher dasselbe sich aus einer längst ausgestorbenen anthropoiden Affenart entwickelt hat. Von den jetzt existirenden fünf Welttheilen kann weder Australien, noch Amerika, noch Europa die Urheimath oder das sogenannte »Paradies«, die »Wiege der Menschheit« sein. Vielmehr deuten die meisten Anzeichen auf das südliche Asien. Außer diesem


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könnte von den gegenwärtigen Festländern nur noch Afrika in Frage kommen. Es giebt aber eine Menge von Anzeichen besonderer chorologischer Art, welche darauf hindeuten, daß die Urheimath des Menschen ein jetzt unter dem Spiegel des indischen Oceans versunkenes Continent war, welches sich im Süden des jetzigen Asiens, und wahrscheinlich mit ihm im directen Zusammenhange, einerseits östlich bis nach Hinterindien und den Sunda-Inseln, andererseits westlich bis nach Madagaskar und dem südöstlichen Afrika erstreckte. Sehr viele Thatsachen sowohl der Thier- als auch der Pflanzengeographie machen die frühere Existenz eines solchen südindischen Continentes sehr wahrscheinlich, und ist von den Gelehrten wegen der für ihn characteristischen Halbaffen ihm der Name Lemuria gegeben worden. (May: Das Buch der Liebe, wie Anm. 85, S. 120f.) – Zur Frage von Mays Verfasserschaft dieser Textsequenz siehe Gernot Kunze: Einführung. In: May: Das Buch der Liebe, wie Anm. 85, Bd. II (Kommentarband), S. 23-28, bes. S. 26 und 27. – Wie auf Mays Sitara leben auch auf Madagaskar heterogene Völkerschaften beisammen: etwa die Merina (›Volk des Hochlands‹), die Antan droy (›Volk der Dornen‹) aus den Trockenzonen oder die Sakalava, die im Tiefland beheimatet sind.

119 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXI: Ardistan und Dschinnistan I. Freiburg 1909, S. 111

120 Zum Zusammenhang Geisterschmiede–Ursprung siehe Rudi Schweikert: Tod, Auferstehung und Rückkehr zum Ursprung. In: M-KMG 86/1990, S. 35-41.


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