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CHRISTOPH F. LORENZ

Die wiederholte Geschichte
Der Frühroman ›Auf der See gefangen‹
und seine Bedeutung im Werk Karl Mays

Ich werde euch alle Geschichten schenken, die ich erfunden habe«, sagte Bastian großzügig, »denn ich kann mir ja jede Menge neuer aus- denken. Viele davon habe ich einem kleinen Mädchen namens Kris Ta erzählt, aber die meisten nur mir selbst. Es kennt sie also noch niemand sonst. Aber es würde Wochen und Monate dauern, jede einzeln zu erzählen, und so lang können wir nicht bei euch bleiben. Deshalb werde ich euch eine Geschichte er- zählen, in der alle anderen enthalten sind.

Michael Ende, ›Die unendliche Geschichte‹(1)



1 Handlungsaufbau und Motivverknüpfung, Personal und ›Erzählkniffe‹ in ›Auf der See gefangen‹ (1878)

›Auf der See gefangen‹, 1878 im 2. Jahrgang der Zeitschrift ›Frohe Stunden‹ erstveröffentlicht, stellt Karl Mays zweiten Versuch auf dem Gebiet des Romans dar. Die wenigen Untersuchungen, die sich diesem Frühwerk widmen, kommen meist zu recht negativen Ergebnissen. Daß Mays Bemühen, verschiedene Erzählgattungen zu einer spannenden Geschichte zusammenzufügen, sehr auf Kosten der Einheitlichkeit und formalen Geschlossenheit dieses Romans gegangen sei, stellte schon Walter Hansen im Vorwort zu seiner und Siegfried Augustins Bearbeitung von ›Auf der See gefangen‹ (unter dem Titel ›Winnetou und der Detektiv‹) fest: »(. . .) vielfältig war das Panoptikum seiner Romanfiguren: Mörder und Detektive, Indianer und Trapper, Matrosen und Piraten, Prinzen und Käuze, Heiratsschwindler, adelige Frauen und eine Femme fatale. Als Schauplätze wählte er ein sächsisches Schloß, das Großstadtpflaster Berlins, die Prärie des Wilden Westens, indianische Kriegslager, geheime Trapperverstecke, den Hafen von San Franzisko, eine Gangsterkaschemme, eine Seemannskneipe und ein Kaperschiff.«(2) Trotz dieser Vielfalt der Orte und handelnden Personen meinte Hansen, die heteromorphe Form des Romans habe seiner Wirkung eher geschadet. Auch Andreas Graf, der sich gründlich mit ›Auf der See gefangen‹ auseinandersetz-


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te, beurteilt das Nebeneinander verschiedener Romangattungen im Rahmen einer einzigen Erzählung als defizitär(3) und wollte dem Roman insgesamt nur das Prädikat einer »recht liederliche(n) Lehrlingsarbeit«(4) zuerkennen.

   Die bislang vorliegenden Studien zu diesem Werk gehen also davon aus, daß May in ›Auf der See gefangen‹ eine bewußte Gattungsmischung versucht habe, in der sich Elemente des See-, des Liebes- und des exotischen Abenteuer- und Kriminalromans miteinander verbinden. Diese Gattungssymbiose, so das einhellige Urteil der Kritiker, sei May aber gründlich mißlungen.

   Beschäftigt man sich näher mit Motivik und Aufbau des Romans, so entsteht dagegen eher der Eindruck, May habe die heteromorphe Form wohl vorgetäuscht, aber nicht wirklich durchgeführt. In Wirklichkeit arbeitet May auch hier wieder, wie das an anderer Stelle am Beispiel der ›Juweleninsel‹ gezeigt wurde, mit der Variation und Wiederholung korrespondierender, einfacher Grundmotive.(5) Die Analyse der Großform der ›Juweleninsel‹ ergab eine Teilung in 5 große Abschnitte (der Text umfaßt 10 Kapitel, das fehlende achte Kapitel hat vermutlich nie existiert): Auf die Exposition (Kap. 1–3) folgt eine exotische Episode (Kap. 4–5), daraufhin setzt May eine deutliche Handlungszäsur in der Romanmitte und wechselt in Kapitel 6 wieder auf den Norland-Süderland-Hauptschauplatz des Romans zurück, wobei Kapitel 6 gleichzeitig die entscheidende Wende im Handlungsverlauf markiert. In Kapitel 7 bringt May dann erneut eine exotische Episode, die durch die Wahl eines neuen Handlungsschauplatzes (Amerika) in starkem Kontrast zu der in Indien spielenden ersten exotischen Episode steht. Kapitel 9 und 10 bilden den Abschluß der gesamten Handlung, wobei teilweise auch Handlungsmotive aus den exotischen Episoden (Schatz der Juweleninsel) übernommen und zu Ende geführt werden; man merkt diesem Abschluß allerdings an, daß May nicht mehr ganz bei der Sache war.

   Vergleicht man diese Analyseergebnisse mit der tektonischen Großanlage von ›Auf der See gefangen‹, so fallen deutliche Parallelen auf. Zum einen hat auch ›Auf der See gefangen‹ 10 Kapitel (allerdings bedeutend kürzere als die der ›Juweleninsel‹); zudem lassen sich diese 10 Kapitel wiederum zu fünf inhaltlich zusammengehörigen bzw. parallel gestalteten Sinnabschnitten zusammenfassen, wobei hier jeweils zwei Kapitel zusammengehören.

   Jedoch – und hierin unterscheidet sich der frühe Roman von der ›Juweleninsel‹ – gehören nicht immer zwei aufeinanderfolgende Kapitel zueinander. May wählte vielmehr einen komplexeren, nicht so leicht zu durchschauenden Aufbau: Kapitel 1 und 10 spielen beide auf dem Schloß des Prinzen von Schönberg-Wildauen und bilden so den ›Rahmen‹ der Handlung. Beide Kapitel sind einerseits durch komische Mo-


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tive, andererseits durch solche der Kriminalerzählung charakterisiert. Zu den komischen Motiven zählen zunächst die Beschreibungen der Figuren›typen‹ selbst: etwa der Prinz Otto Viktor, ein ›schnurriges‹ Original mit gutem Herzen, oder sein Diener Heinz, der ein Bein in den Napoleonischen Kriegen verloren hat, nicht zu vergessen die beleibte Wirtschafterin Adeline, die immer widerspricht und daher den Spitznamen Krakehline zu Recht trägt. Alle diese Figuren gehören zum Repertoire des volkstümlichen Schwanks und der Anekdote und brauchten von May nur ›übernommen‹ zu werden.

   Die Kriminalmotive betreffen vor allem die (zunächst nur durch die Erzählung handelnder Personen) rekapitulierte Vorgeschichte der eigentlichen Handlung: Der Sohn des Prinzen, Max, ist zu Unrecht eines Raubmordes beschuldigt worden und entzog sich der Strafverfolgung durch Flucht nach Amerika (eine Variante des von May so geschätzten ›Verlorenen Sohn‹-Gleichnisses). Die Rehabilitierung des Prinzensohnes wird schließlich am Ende des Romans erzählt. Das erste Kapitel präsentiert nicht nur alle wichtigen Elemente der Vorgeschichte der Handlung, sondern nimmt die Lösung des Kriminalfalls schon vorweg: der Detektiv Treskow verkündet bereits im ersten Kapitel, er halte den Franzosen François Latour (dessen Identität mit dem berüchtigten Freibeuter, dem man den Beinamen Der schwarze Kapitän gab, im Laufe des Romans bewiesen wird) für den eigentlichen Mörder des Juweliers Wallerstein, was der soeben eingetroffene Steuermann Peter Polter, Bruder des Dieners Heinz, sofort bestätigt, so daß es also, was den kriminalistischen ›plot‹ der Handlung angeht, nach wenigen Seiten gar nichts mehr zu ›raten‹ gibt. Das letzte Kapitel schließlich hat nur noch die Funktion einer Coda, eines alle befriedigenden Happy-Ends: mit Ausnahme der überführten Verbrecher treffen sich alle wichtigen Personen der Handlung auf Schloß Wildauen zu einem Fest wieder. So schließt sich der Kreis der Handlung.

   Ebenfalls zusammengehörig sind Kapitel 2 und 9 des Romans: Kapitel 2 enthält eine genauere Darstellung der Vorgeschichte (Raubmord an dem Juwelier Wallerstein), das neunte Kapitel die Nachgeschichte der eigentlichen Handlung, also einen kurzen Bericht über die Abenteuer Max Parkers alias Max von Schönberg-Wildauen im amerikanischen Bürgerkrieg und die Schilderung einer Kriegslist, mit deren Hilfe die Verbrecher in die Hände der deutschen Gerichtsbarkeit gespielt werden. Ein großer Teil dieses neunten Kapitels ist eine ›Erzählung in der Erzählung‹ aus dem Munde des redseligen Peter Polter und der übrigen Gäste der Seemannskneipe von Mutter Thick in Hoboken; ein Erzähltrick, dessen sich May später noch erinnern sollte . . .

   Der dritte Doppelabschnitt des Romans findet sich in den zusammengehörigen Kapiteln 3 und 4. Hier wird die erste Etappe der Wildwestabenteuer des Werks erzählt, wobei traditionelle Abenteuer-


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romanmotive im Vordergrund stehen: Kämpfe mit Indianern (insbesondere der verhinderte Überfall der Ogellallah auf die Eisenbahn in Kapitel 3), Auseinandersetzungen mit feindlichen Trappern und Rot-häuten (in Kapitel 4), die Erwähnung der großen Schätze, die Sam Fire-gun auf seinen Zügen durch die Prärie gesammelt hat und in einem Versteck, dem Hide-spot, verbirgt (natürlich interessieren sich diverse ›dunkle Elemente‹ für dieses Lager), insbesondere aber das bei May so häufige Motiv des ›Bindens‹ und ›Lösens‹ bzw. der Gefangenschaft und Befreiung.

   Hier wird dieses letzte Motiv ein wenig überstrapaziert, so daß es zu einer Kette sich ablösender Gefangennahmen und Befreiungen kommt, die kaum wahrscheinlich wirkt: Latour und Letrier werden von den Westmännern festgenommen, dann geraten Sam Fire-gun, Dick Hammerdull und Pitt Holbers in die Gewalt der feindlichen Trapper und Indianer, aus der sie von Bill Potter, Peter Polter und dem Detektiv Treskow befreit werden.

   Der Doppelschritt Befreiung–Gefangenschaft bzw. Gefangenschaft–Befreiung beherrscht so den gesamten Aufbau der Kapitel 3 und 4. Zunächst treten die Verbrecher Latour und Letrier, die sich der Papiere des jungen Deutschen Wallerstein bemächtigt haben, scheinbar auf der Seite der ›guten‹ Trapper auf, werden aber durch die verkleidete frühere Komplizin Latours, Clairon, denunziert.

   Das 3. Kapitel beginnt mit einem programmatischen Lobgesang auf die Freiheit der Prärie, mit der nur noch die unbegrenzte Weite des Meeres vergleichbar sei, und der Handlungsverlauf löst diese Versprechungen ein, denn auf die Prärieabenteuer des 3. Kapitels folgt im 4. Kapitel der Auftritt des Seemanns Peter Polter. Da sich in der Erzählpause zwischen dem 3. und 4. Kapitel, vom Leser unbemerkt, das Blatt wieder einmal gewendet hat, müssen Polter und seine Freunde zunächst einmal Sam Fire-gun und dessen Mitstreiter aus der Gewalt der ›bösen‹ Trapper und Indianer befreien und Latour mit seinem Kumpanen Letrier erneut festnehmen.

   Mit dem Ende des 4. Kapitels ist in etwa die Handlungsmitte erreicht,(6) und das 5. Kapitel markiert dann mit dem Schauplatzwechsel (von der Weite der Prärie in die Großstadt San Francisco) und der Wiederaufnahme der Piraten-Motivik einen deutlichen Einschnitt im Handlungsgefüge. Mit diesem 5. Kapitel korrespondiert wiederum das 8. Kapitel: Legt Clairon zunächst mit der raffiniert eingefädelten Anwerbung dunkler Gestalten und der Umgarnung des amerikanischen Befehlshabers des früheren Kaperschiffs ›L›Horrible‹ mit den Waffen der Frau den Grundstein zur Wiedererlangung der ›L›Horrible‹ durch sie und ihre verbrecherischen Helfer, so wird im 8. Kapitel erzählt, wie Max Parker und seine Freunde sich wiederum des Kaperschiffs bemächtigen und die Verbrecher dingfest machen.


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   Ebenfalls zusammengehörig sind das 6. und das 7. Romankapitel, in denen die eigentlichen Wildwestabenteuer des Romans zu einem Abschluß kommen. In Kapitel 6 gelingt den Piraten Latour und Letrier die Flucht aus dem Hide-spot, und im 7. Kapitel bemächtigen sie sich nun ihrerseits in San Francisco der ›L›Horrible‹ und überwältigen Clairon. Sam Fire-gun und die Seinen haben zunächst einmal das Nachsehen, obwohl sie den Piraten bis nach San Francisco folgen konnten. Auch in anderer Hinsicht siegt an diesem Punkt der Handlung scheinbar erst einmal das Böse, denn im 6. Kapitel ist zwar der Versuch der feindlichen Indianer und Trapper verhindert worden, sich die Schätze des Hide-spot anzueignen, doch dafür rauben Latour und Letrier wertvolle Depositenscheine aus dem Besitz Sam Fire-guns und nehmen sie auf ihrer Flucht nach San Francisco mit.

   Auch in den Kapiteln 6 und 7 stehen die traditionellen Motive des Abenteuerromans, wie die Jagd nach Schätzen und die Verfolgung der ›Bösen‹ durch die ›Guten‹, im Vordergrund. Insgesamt läßt sich die Handlung von ›Auf der See gefangen‹ also als eine geschickt verschachtelte Folge von 2 x 5 Kapiteln darstellen:

Tabelle I

Aufbau der Handlung von ›Auf der See gefangen‹ aus 2 x 5 Kapiteln

Es bestätigt sich also auch hier, was wir im Fall der ›Juweleninsel‹ bereits zeigen konnten: Trotz der scheinbar disparaten Romangattungen, die May in seinem frühen Roman ›Auf der See gefangen‹ miteinander zu verbinden sucht, und trotz mancher kompositorischer Schwächen hat May diesen Roman erkennbar nach einem genau durchdachten


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Konzept, einem präzise strukturierten Bauschema, entworfen, das wie bei der ›Juweleninsel‹ die Handlung in fünf Großabschnitte gliedert.

Tabelle II

Aufbau der Handlung in 5 Handlungsblöcken

I: RahmenhandlungKapitel 1/10
II: Vor- und Nachgeschichte der HandlungKapitel 2/9
III: Wildwesthandlung IKapitel 3/4
IV: Wildwesthandlung II
Verfolgung der Piraten nach San Francisco
Kapitel 6/7
V: Rückeroberung der ›L›Horrible‹ durch die Piraten
Verfolgung des Schiffes durch Max Parker
endgültiger Sieg des Guten
Kapitel 5/8

Verlor May am Ende der ›Juweleninsel‹ sowohl den Faden als auch ersichtlich die Lust am weiteren Fabulieren, so macht sich in ›Auf der See gefangen‹ vor allem die Tatsache, daß das ›Haupträtsel‹ des Romans, die Frage, wer den Juwelier Wallerstein ermordet hat, bereits im ersten Kapitel geklärt wird, störend bemerkbar. Im zweiten Teil des Romans (Kap. 6-10) läßt sich ein Spannungsabfall zum Ende hin nicht verleugnen: In typischer Anfängermentalität verschenkt May eine geschickte Konzeption durch mangelhaften Spannungsaufbau.

   Ungeachtet solcher Mängel zeigt sich Mays erzählerisches Geschick schon in ›Auf der See gefangen‹ darin, daß er alle zehn Kapitel aus der Variation und Verknüpfung einfacher Grundmotive entwickelt. Ähnliches zeigten wir schon für die ›Juweleninsel‹.(7)

   Wie in der ›Juweleninsel‹ sind auch in ›Auf der See gefangen‹ komische Motive nicht bedeutsam; sie kommen dennoch vor allem im Anfangs- und Schlußabschnitt vor: Schwankfiguren wie der alte Knaster, der Diener Heinz und die Wirtschafterin Adeline, komische Wiederholung: die dreimalige Frage des Prinzen im 1. Kapitel ». . . was heute für ein Tag ist?«(8) und die immer wieder unterbrochene Geschichte des Dieners Heinz von der Witwe in Frankreich. Darüber hinaus finden sich vor allem im 1. Kapitel einige kriminalistische Motive: Entdeckung der Uhrkette bei Latours Bruder und die richtigen Schlußfolgerungen, die Treskow daraus für die Aufklärung des Verbrechens an dem Juwelier Wallerstein zieht, sowie ein Motiv des Seeromans: die Aufbringung des Kaperschiffs ›L›Horrible‹ (in Form eines Berichts aus dem Munde des Seemanns Peter Polter).(9)

   Obwohl May seinen Roman ausdrücklich als Criminalroman bezeichnet,(10) spielen weder die Aufklärung eines Verbrechens noch dessen soziale oder psychologische Hintergründe in ›Auf der See gefan-


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gen‹ eine wesentliche Rolle, er ist also weder als Detektivroman noch als Kriminalroman im eigentlichen Sinne zu bezeichnen. Vielmehr bedient sich May vereinzelter Motive des Kriminal- oder Detektivromans, führt sie aber nie wirklich aus. Dies gilt sowohl für das ›Haupt-Verbrechen‹ des Romans, den Juwelenraub und Mord an dem Juwelier Wallerstein, das bereits im 1. Kapitel aufgeklärt wird, so daß die Vor-Geschichte im 2. Kapitel hierzu keine wesentlichen neuen Aufschlüsse liefern kann, als auch für die in der Wildwesthandlung geschilderten Verbrechen (Eisenbahnüberfall, Raub der Depositenscheine). Momente analytischen Erzählens (Umstellung von Vor- und Hauptzeithandlungen, Lösung von Rätseln durch Deduktion) spielen, wenn überhaupt, keine wesentliche Rolle in ›Auf der See gefangen‹.

   Wie mit den Motiven des Kriminalromans verhält es sich auch mit den den Seeromanen – etwa denen Frederick Marryats – verpflichteten Handlungsteilen. Nichts aus dem klassischen Repertoire der ›Sea Novels‹ wird wirklich in der Handlung von ›Auf der See gefangen‹ verwendet: Leben auf See, Verhältnis Matrosen-Offiziere, Seestürme, Robinsonaden, Piratenüberfälle – und die wenigen wirklich ›maritimen‹ Szenen sind in die Form von Berichten gekleidet: Peter Polters Erzählung von der Aufbringung der ›L›Horrible‹ durch die amerikanische Marine,(11) Clairons Bericht im 2. Kapitel(12) oder das Seegefecht des 9. Kapitels.(13) Nur die endgültige Festsetzung der Verbrecher durch Max Parker und seine Helfer wird als ›reale‹ Handlung erzählt; aber hier handelt es sich auch wieder nicht um eine typische Szene des Seeromans.(14) Vielmehr entpuppen sich alle scheinbar den Seeromanen entlehnten Szenen als Variationen eines einfachen Grundprinzips, das den Roman ohnehin schon durchzieht: das der Intrige bzw. Täuschung. Durch eine bewußt inszenierte Machination wird Max als angeblicher Raubmörder verhaftet, Clairon denunziert ihre ehemaligen Komplizen bei Sam Fire-gun,(15) Latour legt sich die Identität des jungen Wallerstein (durch Diebstahl der Legitimationspapiere) zu und nennt sich Heinrich Sander – ein Name, der nicht zufällig an den Erzschurken Santer aus der ›Winnetou‹-Trilogie gemahnt, der in ›Winnetou IV‹ stets falsch Sander genannt wird. Durch Täuschung gelingt aber auch den ›guten Helden‹ die Kaperung sowohl der ›L›Horrible‹ als auch des südstaatlichen Widderschiffs: Max Parker spiegelt jeweils eine Havarie seines eigenen Schiffes vor und überfällt dann den bereits siegessicheren Gegner ganz unerwartet.(16) Auf ähnliche Weise gelingt es ihm auch, die Piraten aus amerikanischer Haft in deutsche Hände überführen zu lassen, indem er Latour und Letrier vorgaukelt, sie würden von ehemaligen Komplizen befreit;(17) schließlich fällt auch Clairon einer Denunziation zum Opfer.(18)

   Neben diesem deutlich durchgeführten Grundmotiv ›Intrige‹ spielt in den eigentlichen Abenteuerromanteilen des Buches (Kapitel 3, 4


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und 6) das bei May ohnehin sehr bedeutsame Motiv ›Gefangenschaft–Befreiung‹ eine Hauptrolle. Wie in der ›Juweleninsel‹ lassen sich ferner zwei Varianten des Grundmotivs ›Liebe‹ auch in dem frühen Text ›Auf der See gefangen‹ ausmachen: Dabei spielt die ›glückliche Liebe‹ hier eine eher untergeordnete Rolle. Am Ende finden sich zwar zwei Paare (Treskow und Wanda, Max und Adele), aber mehr im Sinne einer ›Happy-End‹-Routine. Dagegen wird das Motiv ›Haßliebe‹ durch die wechselvoll-spannende Beziehung zwischen Clairon und Latour in den Vordergrund gerückt. Clairon ist überhaupt mit all den unterschiedlichen Facetten ihres Charakters, in ihrer schier unerschöpflichen Verkleidungsfähigkeit (als Miß Admiral, Der Feuermalige, Chevalier de Poulettre oder Madame de Voulettre) eine besonders gescheite Variante des ›Weibsteufel‹-Themas. Spätere Variationen des gleichen Grundmotivs (und daß der Refrain ›Emma‹ heißt, wird auch der nicht ausschließlich maybiographisch fixierte Leser zugeben können) finden sich in der Ella der ›Juweleninsel‹, dem weiblichen Samiel aus dem ›Weg zum Glück‹ oder der Baronin Adeline de Sainte-Marie in der ›Liebe des Ulanen‹.

   Jedenfalls steckt auch das Geheimnis der scheinbaren Vielfältigkeit von ›Auf der See gefangen‹ in der Formel ›Multiplikation durch Variation einfacher Grundmotive‹, wie es ähnlich schon in der Analyse der ›Juweleninsel‹ gezeigt wurde.

Tabelle III

Erzählmotive in ›Auf der See gefangen‹ und ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Themenkomplexen bzw. Romangattungen

Kap.MotivMotivkomplex
1alter Hagestolz
treuer Diener mit komischen Eigenheiten
dicke, krakeelige Wirtschafterin
komische Motive
Waisenkind als Mündel (Wanda)sentimentaler Familienroman
Verbrechen (ungeklärt)
Detektiv sammelt Spuren
Kriminalroman
2Liebesgeschichten
(Treskow-Wanda / Max-Adele)
Liebe (glücklich)
Seemann (komische Figur)Seeroman
komische Motive
Geschichte von der Aufbringung eines PiratenschiffesÜberfall auf See
Seeroman


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2Vorgeschichte des ungeklärten VerbrechensKriminalroman
Beziehung Clairon-LatourLiebe-Haß
Rettung Adeles (vorgespiegelt)Intrige
Raubmord /
vermeintlicher Täter unschuldig
Intrige
Kriminalroman
Aufbringung eines Piratenschiffes durch die Marine (in Berichtsform)Überfall auf See
Seeroman
3 Vergleich Prärie/Meer
Eisenbahnüberfall
Kampf mit Indianern
Abenteuerroman
Entlarvung Latours und LetriersIntrige/
Denunziation
4Treffen im WirtshausUnverhoffte Begegnung(19)
Befreiung der gefangenen HeldenGefangenschaft/
Befreiung
Schätze Sam Fire-gunsAbenteuerroman
5Vorbereitung zur Wiederbemannung der ›L’Horrible‹ durch die Piraten unter Führung Clairons / Anheuern einer VerbrechermannschaftIntrige
Seeroman
6Unendlichkeit und Wildheit der PrärieAbenteuerroman
Befreiung der Verbrecher und FluchtGefangenschaft/
Befreiung
Verhinderung des Anschlags auf das Hide-spotAbenteuerroman
7Verfolgung der VerbrecherKriminalroman
›L’Horrible‹ verläßt San Francisco mit den Piraten an BordSeeroman
8Rückeroberung des Piratenschiffes durch Max ParkerSeeroman
Verhaftung Latours und LetriersSeeroman
9te im amerikanischen Bürgerkrieg (Erzählung)Intrige/Täuschung
Seeroman


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Durch eine List werden die Piraten zur Aburteilung nach Deutschland gebrachtIntrige/Täuschung
Denunziation Clairons durch Latour und LetrierIntrige/Haß-Liebe
10Happy-End: Max Parker ist rehabilitiertKriminalroman
DoppelhochzeitLiebe (glücklich)
Auftritt Heinz/Wirtschafterinkomische Motive
Großes Finale (alle Präriejäger, die deutschen Helden und Winnetou vereint auf deutschem Boden)konventionelles Happy-End
Kolportageroman
Gegensatz Zivilisation/PrärieAbenteuerroman

Die vorstehende Übersicht zeigt den Experimentalcharakter des frühen Romans sehr deutlich. Mit geradezu artistischer Spielfreude entwickelt May eine gesamte Romanhandlung aus der Kombination und Verschränkung einfacher Grundmotive. Daß dieser Versuch insgesamt nicht gelungen wirkt, hängt vor allem damit zusammen, daß May die Motive meist nur anschlägt, nicht aber wirklich ausführt, die Handlungsvielfalt nur vortäuscht, Aktion durch Bericht ersetzt(20) und die spannenden Konflikte (etwa das Geschick des zu Unrecht beschuldigten Max) viel zu früh auflöst und damit den Spannungsbogen unterbricht.

   So wirkt der Roman wie ein interessantes Experiment, das aber schon deswegen nicht überzeugt, weil das Buch insgesamt ein unbefriedigendes Nebeneinander allzuvieler Figuren und Aktionen, Berichte und interessanter Einzelmomente bildet, das sich nicht zu einem harmonischen Ganzen addieren läßt, sondern disharmonisch und skizzenhaft wirkt. Auch da, wo sich die Intentionen des Autors ahnen lassen, wirkt er selbst wieder diesem Eindruck entgegen, indem er andere, widersprüchliche Momente einbaut. So lassen sich beispielsweise einige der Thesen Andreas Grafs zu Mays Erzählintentionen schon deswegen nicht halten, weil der Roman eben kein einheitliches Bild bietet.

   Graf vermutet etwa, die Großstädte seien, wie bei Sue, in ›Auf der See gefangen‹ die eigentlichen Brutstätten des Verbrechens,(21) übersieht aber, daß nicht erst durch das Eindringen des Piraten Latour in die scheinbar ›unberührte‹ Welt des Wilden Westens das Verbrechen in die Prärien gelangt. Vielmehr trägt schon das Einbrechen der Zivilisation in den natürlichen Lebensraum der Indianer (der Eisenbahnbau und der daraus resultierende Überfall der Ogellallah auf die Bahn) gewissermaßen den Keim des Bösen in sich. Es ist eine wilde, durch


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Grausamkeit und Verbrechen geprägte Welt, in die uns May führt; sogar der sonst so überlegene Winnetou nimmt den Skalp seines Feindes Riccarroh und stößt dabei jenen fürchterlichen Siegesruf aus, welcher Mark und Bein erschütternd auf den Gegner zu wirken pflegt.(22) Wohlgemerkt: Bereits zu dieser, gegenüber der frühen Winnetou-Gestalt in ›Old Firehand‹ schon erheblich ›nobler‹ gewordenen Winnetou-Figur in ›Auf der See gefangen‹ paßt die atavistische Feindestötung nicht mehr recht. Aber es sind diese Widersprüche, die Mays frühes Experiment als gescheitert ausweisen; so stimmt es auch nicht, wie Graf schreibt, daß alle »Fluchtbewegungen des Romans nach Westen erfolgen« und »vom eigentlichen Wildwest-Personal niemand« den Schauplatz Amerika verlasse,(23) denn alle handelnden ›guten Helden‹ des Romans, auch Winnetou, treffen sich zum Schluß auf Schloß Wildauen. Es mag durchaus sein, daß May wirklich beabsichtigte, den Wilden Westen zum ›Fluchtpunkt‹ und geheimen Zentrum des Romans zu machen. Geglückt ist ihm dies aber nicht, und gerade der Schluß mit seinem formelhaft vorgetragenen Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation wirkt klischeehaft und angeklebt. Dies gilt übrigens auch für den kurzen Einleitungstext des 3.(24) und den des 6. Kapitels,(25) auch wenn May hier die Wildwest-Ideologie seiner späteren Romane im Kern vorwegnimmt. Es ist ›Auf der See gefangen‹ aber kaum zum Vorteil geraten, daß May die immer gleichen Grundmotive nur variiert, denn so sind auch die Verbrechen, die in der Großstadt begangen werden, von denen der Prärie kaum zu unterscheiden, und die Wahl der Schauplätze bekommt so eine starke Beliebigkeit. So kann Clairon ihre Intrigen im Westen ebenso erfolgreich ausspielen wie in der Großstadt, deren selbstverständliche Gleichsetzung mit Berlin, wie sie Andreas Graf(26) und Walter Hansen vornehmen, übrigens fragwürdig ist. Der Originaltext Mays jedenfalls bietet keinen Anhaltspunkt für diese Identifikation. Da Schloß Schönberg-Wildauen offenbar in Sachsen liegt,(27) ließe sich viel eher vermuten, daß Seine Majestät(28) der König von Sachsen und nicht der von Preußen ist, und die Residenz folglich Dresden, nicht Berlin; aber deutlich macht May nie, was er wirklich meint (was leider für zahlreiche andere Details des frühen Textes ebenfalls gilt).

   Es gehört zu den Besonderheiten der frühen Romane Mays, daß sich hier exzellente erzählerische Kunstgriffe ebenso finden wie verheerende Anfängerfehler. In dem Roman ›Die Juweleninsel‹ etwa wird die titelgebende Insel nur einmal von zwei Schiffbrüchigen erreicht; damit verschwindet sie bis auf eine kurze Erwähnung ganz aus dem Romangeschehen, so daß das Buch seinen Titel durchaus zu Unrecht zu tragen scheint.(29) Auch in ›Auf der See gefangen‹ sind, wie erwähnt, anfängerhafte Schwächen erkennbar; auf der einen Seite lassen sich aber auch bemerkenswerte kunstvolle Konstruktionen erkennen. Die zahlreichen


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›Erzählungen in der Erzählung‹, die sich hier finden, sind beispielsweise durchaus nicht nur dazu da, um »Konstruktionsschwächen« zu verdecken,(30) sondern stellen ein besonderes Kunstmittel des Erzählens dar, das May etwa in ›Old Surehand II‹ wieder aufnimmt. Ebenso ist die Wiederholung bestimmter Erzählmomente nicht nur ein ›déjà-vu-Effekt‹, der es dem Leser ermöglichen soll, sich im »Gewirr des Erzählgeflechts«(31) besser zurechtzufinden, sondern zugleich eine formale Klammer, die scheinbar disparate Teile des Romans wieder zu einem Ganzen zusammenfügt. So wird Peter Polter, der Seemann, dreimal beschrieben,(32) wobei May deutlich seine Schilderung nachgeschlagen und bis auf einige wenige, charakteristische Veränderungen jedesmal bewußt kopiert hat, was im Rahmen eines so ›gesellenhaften‹ Romanexperiments schon sehr ›professionell‹ wirkt. Die wesentlichen Punkte der Figurenbeschreibung jedenfalls bleiben dieselben: die hohe, breite und außerordentlich muskulöse Figur, die Hände, die einem vorsündfluthlichen Riesenthiere anzugehören schienen und der Vergleich mit einer Maskenballfigur . . ., welche sich vom Saale heraus auf die Straße verirrt hat; nur ein Detail, das rothseidene Tuch, das in einem kolossalen Knoten(33) um Peter Polters Hals geschlungen ist, ließ May bei der Wiederholung der Figurenbeschreibung fort.

   Die dreimalige Wiederkehr einer Figurendeskription hat nicht nur formalen und psychologischen Sinn (Wiedererkennungseffekt beim Leser), sondern weist auch auf eine Maxime hin, der May in seinem späteren Werk treu blieb: Figuren, die später bedeutsam werden sollen, in ihrer äußeren Erscheinung so zu charakterisieren, daß der Leser sie zunächst fälschlich für lächerliche Gestalten hält. Das Mißverhältnis zwischen Schein und Sein, in Figuren wie Sam Hawkens oder Tante Droll besonders deutlich vorgeführt, kennzeichnet schon den Peter Polter, der in dieser Hinsicht Vorbildcharakter hat. Hinter seinem karnevalesken Äußeren verbirgt sich ein unbestechlicher Verstand und ein in jedem Sinne scharfes Auge. Indem May die Auftritte Polters mit der oben erwähnten Beschreibung darüber hinaus an Knotenpunkten der Handlung einsetzt (im 1. Kapitel, im korrespondierenden Schlußkapitel sowie im 4. Kapitel an einem Wendepunkt der Wildwesthandlung, wo Sam Fire-gun und seine Freunde – was die Leser noch nicht wissen – in die Hände der Feinde gefallen sind und Peter Polter mit seinen Gefährten gerade rechtzeitig zur Rettung Sams kommt), benutzt er den dreimaligen ›Figurensteckbrief‹ als bewußtes Stilmittel, um wichtige Punkte der Handlung zu markieren.

   Ähnliches gilt später für die dreimalige Geschichte vom ›Schimmel in der Oper‹ der ›Juweleninsel‹;(34) aber auch dieses Moment der ›unterbrochenen Geschichte‹ findet sich schon in ›Auf der See gefangen‹ mit der nie zu Ende geführten Geschichte des Dieners Heinz von der jungen Witwe in Frankreich.


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   Weniger formale Bedeutung als vielmehr die eines bloßen erzählerischen ›Tricks‹ hat eine weitere auffällige Wiederholung in ›Auf der See gefangen‹: im 3. Kapitel wird erwähnt, daß Dick Hammerdull den Namen des vermeintlichen Deutschen Peter Wolf (alias Jean Letrier) nicht aussprechen kann, und dies wird innerhalb von wenigen Seiten gleich siebenmal mit immer ähnlichen Kommentaren vermerkt (der Name breche einem, meint Dick, »ja die Zunge entzwei . . .«(35)) Walther Ilmer wies mit Recht darauf hin,(36) daß dieses Detail der Handlung eigentlich völlig unlogisch ist, denn ›Peter Wolf‹ läßt sich leicht amerikanisiert, etwa als ›Pieter Wulf‹, aussprechen und stellt auch für eine ungeübte Amerikanerzunge kein solches Problem dar wie etwa ›Wallerstein‹ (dieser Name wird im Roman als ›Wallerstone‹ von den Amerikanern in ihre Sprache transformiert). Weder formal noch inhaltlich macht diese Stelle also einen Sinn; vielmehr nutzt May das Moment der Wiederholung (verbunden mit der magischen Zahl 7 – wie vorher bei Peter Polter die 3 –) zu einem fast manieristischen Erzählritual aus. Wir werden noch sehen, welche Folgen dieses Experiment im späteren Werk zeitigen sollte.

   Spielt das Moment der Wiederholung also in ›Auf der See gefangen‹ eine wichtige Rolle, teils als formale Gliederung oder Akzentuierung wichtiger Handlungspunkte, teils als erzählerischer ›Kniff‹, so läßt sich manche Figur dieses Romans bereits als Variante von in früheren Mayschen Werken vorkommenden Gestalten interpretieren. So hat Wanda, die Tochter eines verstorbenen Kriegskameraden des Prinzen,(37) einige Ähnlichkeiten mit der wilden Polin aus Mays früherer Novelle für den ›Beobachter an der Elbe‹.

   Zumindest die kapriziöse Art Wandas aus der Novelle von 1875 hat die Wanda aus ›Auf der See gefangen‹ von ihrer Vorgängerin ›geerbt‹, auch wenn der leichte Standesdünkel, den Wanda im ersten Kapitel der Novelle an den Tag legt, bei der gleichnamigen Figur aus ›Auf der See gefangen‹ nicht beobachtet werden kann.

   Daß die Winnetou-Gestalt gegenüber der ›Old Firehand‹-Novelle und auch der 1878 in ›Omnibus‹ veröffentlichten ›Winnetou‹-Variante des frühen ›Inn-nu-woh‹-Stoffes an Profil gewonnen hat und daß Winnetou nun in vielen Zügen kein ›Wilder‹ mehr ist, sondern zumindest ein Mann von bemerkenswerter Autorität, etwa bei seinem Auftritt in Winklays Wirtshaus zu Beginn des 3. Kapitels, wurde schon skizziert. Interessant aber ist, daß auch die Figur des ›Schwarzen Kapitäns‹, hier ist es Latour, nicht neu ist. Bereits in dem wohl während der Haft in Osterstein entstandenen ›Repertorium C. May‹ ist unter der Nummer 59 ein Titel Il Capitano noro verzeichnet; unter der Nr. 131 dann noch einmal Der schwarze Capitain.(38) Geht man davon aus, daß May sich hier eine Art Titelverzeichnis für künftige literarische Arbeiten, einen Stoffkatalog, erstellen wollte, so muß die zweimalige Erwähnung des-


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selben Stoffes überraschen, zumal ›Il Capitano noro‹ offenkundig verballhorntes Italienisch ist und richtig ›Il Capitano nero‹ heißen müßte. Unter diesem Titel erschien aber 1861 ein dreibändiger Roman anonym bei G. Salimberti, Milano. Dieses Buch behandelt die Schicksale eines jungen Genuesen im frühen 18. Jahrhundert, der zu Unrecht eines Verbrechens beschuldigt wird, flieht und in der Karibik zum Anführer einer Piratenbande wird. Als ›Schwarzer Kapitän‹ macht er die Meere unsicher und führt (wie Robert Surcouf, dessen historische Gestalt May 1883 zu einer Novelle inspirierte) einen Privatkrieg auf See, insbesondere gegen genuesische Schiffe. Am Ende gründet der Held in Polynesien ein eigenes Königtum und zieht sich vom abenteuerlichen Piratenleben zurück.

   Ob May dieses Buch gekannt hat, müssen wir offenlassen; zumindest ist mir nicht bekannt, ob es eine deutsche Übersetzung dieses italienischen Kolportagewerks gab. Aber es ist doch interessant, daß May nicht nur den italienischen Titel in seinem ›Repertorium‹ anführte, sondern sich des Themas auch eifrig annahm: einmal, indem er den ›Schwarzen Kapitän‹ (als Latour in ›Auf der See gefangen‹, als Grandeprise im ›Waldröschen‹) als skrupellosen Abenteurer, Sklavenhändler, Verbrecher und Mörder darstellte, zum anderen, indem er (in der Gestalt Katombos in ›Scepter und Hammer‹, der ja als ›Schwarzer Kapitän‹ die Meere befährt, nachdem er beim Großherrn in Ungnade gefallen ist, aber auch in seinem Robert Surcouf) den ›Schwarzen Kapitän‹ nicht als Räuber schildert, sondern als einen aus Verbitterung oder politischen Motiven zum einsamen Rächer gewordenen, eigentlich ehrbaren Mann. Und zumindest diese Variante des für Mays Werk so fruchtbaren Themas kann sich ja auf das italienische Vorbild von 1861 berufen, wie immer dies auch erklärbar sein mag.

   May variierte also nicht nur Figuren früherer Werke in den Gestalten von ›Auf der See gefangen‹; dieser frühe Roman wurde auch außerordentlich fruchtbar für das spätere Werk. Auf das Thema des ›Schwarzen Kapitäns‹ wurde bereits hingewiesen. Interessant ist auch, daß May in der Gestalt des Steuermanns Balduin Schubert aus ›Scepter und Hammer‹ wichtige Züge der Personenbeschreibung Peter Polters wieder aufnahm. Mit dem Dienstgrad des Balduin Schubert geht es ja, wie Walther Ilmer zeigte, befremdlich auf und ab, vom ›Kapitän zur See‹ über ›Obersteuermann‹ bis hin zum Ende der ›Juweleninsel‹, wo er plötzlich wieder ein einfacher Steuermann ist.(39) Nun lassen sich solche Irrtümer sicherlich durch den rapiden Konzentrationsabfall des Erzählers May erklären, der in vielen Passagen der ›Juweleninsel‹ erkennbar ist, zumal die Figur Balduin Schuberts über weite Strecken ganz aus dem Handlungsverlauf verschwindet. Bei seinem ersten Erscheinen aber wird Balduin Schubert (im 5. Kapitel von ›Scepter und Hammer‹) sehr ausführlich beschrieben, und dieser Text ist in vielen


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Details der Deskription Peter Polters in ›Auf der See gefangen‹ verblüffend ähnlich, vor allem die riesigen Hände, deren je eine recht gut einen nicht zu kleinen Präsentirteller hätte vollständig bedecken können, das roth und weiß gestreifte Halstuch . . ., welches in einen sechs Zoll breiten Knoten geschlungen war, dessen Zipfel weit über die Brust herab bis auf den unteren Saum der blau- und orangekarrirten Weste hingen, und die hochgelben Nankinghosen, welche in fett getheerten Seemannsstiefeln verliefen, in die zur Noth ein zweijähriger Elephant hätte steigen können.(40) Daß May hier offenbar die alten Beschreibungen aus ›Auf der See gefangen‹ vorliegen hatte, ist auch in den Variationen zu erkennen, die er gegenüber der Beschreibung Peter Polters vornahm: so wird aus dessen rotseidenem Halstuch bei Schubert ein rot und weiß gestreiftes, so ist die Bemerkung über den zweijährigen Elefanten offenkundig inspiriert von den Stiefeln Peter Polters, deren Leder, wie es in ›Auf der See gefangen‹ heißt, aus dem Rücken eines Elephanten(41) stammt – und schließlich kann man auch den immer leicht schwankenden Seemannsgang Balduin Schuberts mit den weit auseinandergespreizten Beinen und balancirenden Armen(42) Peter Polters unschwer in Verbindung bringen.

   Solche Übereinstimmungen sollten nun auch nicht zu allzu weitgehenden Spekulationen Anlaß bieten; in der Tat ist das Figurenarsenal der meisten Schriftsteller, von Shakespeare vielleicht einmal abgesehen, ja nicht so reichhaltig, daß sich nicht auch Ähnlichkeiten zwischen der einen oder anderen Figur erkennen ließen. Aber auch das Beispiel der Wanda-Figur und der ›Schwarzer Kapitän‹-Thematik zeigen, daß ›Auf der See gefangen‹ einerseits bestimmte Elemente aus Mays ersten Erzählversuchen übernimmt und weiterentwickelt und daß andererseits, wie etwa die Gestalt Balduin Schuberts dem vergleichenden Leser vor Augen führt, das Experiment, das May in ›Auf der See gefangen‹ unternahm, trotz seiner deutlichen Mängel nicht folgenlos blieb. Zumindest hat sich May später aus seinem frühen Text reichlich bedient.


2 Vergleich der Bauformen von ›Auf der See gefangen‹, ›Scepter und Hammer‹ und ›Die Juweleninsel‹

In der Karl-May-Forschung werden die frühen Romane Mays (einschließlich des Doppelromans ›Scepter und Hammer‹ und ›Die Juweleninsel‹) üblicherweise als »in der Handlungsführung wenig gegliedert und sprachlich ähnlich disparat gestaltet wie manche frühen Erzählungen«(43) charakterisiert. Das damit leicht verbundene Verdikt der generellen ›Formlosigkeit‹ dieser Frühromane darf durch die Analysen der tektonischen Großformen von ›Auf der See gefangen‹ und


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›Die Juweleninsel‹ als weitgehend überholt angesehen werden. Sicher hat May die Erwartungen, die er durch die sehr präzise und komplizierte Anlage dieser Romane weckte, weder im sprachlichen Detail noch in vielen Momenten der Handlungsführung erfüllt. Dennoch wird sehr deutlich, daß May für ›Auf der See gefangen‹, ›Scepter und Hammer‹ und ›Die Juweleninsel‹ jeweils ein neues, gegenüber dem ›vorhergehenden‹ Roman erheblich verändertes und zunehmend raffinierteres Bauprinzip entwarf. Die tektonische Grundidee von ›Auf der See gefangen‹ war die Aufspaltung des Romans in zwei Hälften, wobei jeweils ein Kapitel der ersten Romanhälfte einem des zweiten Teils korrespondierend zugeordnet wurde. Mängel in der Spannungsführung und Flüchtigkeiten Mays ›verwässerten‹ jedoch dieses kluge Konzept. Darum griff Karl May für ›Scepter und Hammer‹ zu einer neuen, erheblich veränderten Konzeption. Hier muß zunächst auf eine neuere Arbeit von Stefan Schmidt eingegangen werden, der eine Handlungsskizze von ›Scepter und Hammer‹ vorgelegt hat, die der der ›Juweleninsel‹ weitgehend entspricht.(44) Schmidt argumentiert, die beiden ›Rückblenden‹ der ›Scepter-und-Hammer‹-Handlung (Kapitel 10 bzw. 12–14) seien den exotischen Episoden der ›Juweleninsel‹ (dort Kapitel 4 und 5 bzw. 7) vergleichbar. Dementsprechend kommt er zu folgender Gliederung des Romans ›Scepter und Hammer‹: Exposition (Kap. 1–9) – erste Episode (Kap. 10) – Fortführung und Wendepunkt der Haupthandlung (Kap. 11) – zweite (exotische) Episode (Kap. 12–14) – Schluß und Katastrophe bzw. Happy-End (Sieg Norlands über Süderland, Tod des Herzogs von Raumburg).

   Dieser Gliederungsversuch kann aber nicht überzeugen: Die beiden Rückblenden in ›Scepter und Hammer‹ stellen keine selbständigen, miteinander kontrastierenden Episoden dar (wie das bei der indischen bzw. amerikanischen Episode der ›Juweleninsel‹ der Fall ist), sondern gehören zu einer fortlaufenden Erzählung der Lebensgeschichte Katombos. Karl May hat diese Abschnitte, der Spannungsförderung zuliebe, zeitlich und räumlich durch den Sprung von Norland nach Ägypten (nach dem Ende des 10. Kapitels) und durch den Einschub des 11. Kapitels voneinander getrennt, ein reiner ›Trick‹ des Erzählers, um durch den Aufschub der Geschichtenfortsetzung den Leser in Erwartungshaltung zu versetzen.

   Dagegen sind in der ›Juweleninsel‹ die indische und die amerikanische Episode auch dadurch deutlich voneinander unterschieden, daß die indische Episode als ›Vorzeithandlung‹ vor der eigentlichen Haupthandlung spielt, die amerikanische jedoch lediglich die Haupthandlung an einem anderen Schauplatz fortsetzt. Auch kann man den ersten neun Kapiteln von ›Scepter und Hammer‹ nicht den Charakter einer bloßen Exposition zuerkennen, wie dies bei den ersten drei Kapiteln der ›Juweleninsel‹ der Fall ist. Vielmehr bringt dieser erste Teil


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der Norland-Süderland-Handlung nicht nur die ›Exposition‹ der verwickelten politischen und Familienverhältnisse, sondern durch das Eintreffen des Schwarze(n) Kapitän(s) im 8. Kapitel und die Liebeshändel des tolle(n) Prinz(en) im 9. Kapitel die Handlung bereits zu einem Wende- bzw. Höhepunkt, an dem sich das Scheitern der verbrecherischen Pläne der Raumburgs und der Sieg der Partei Max Brandauers abzeichnet. Das 11. Kapitel ist also nicht vergleichbar mit dem 6. Kapitel von ›Die Juweleninsel‹, wo die Handlung wirklich einen Wendepunkt erreicht, es bringt lediglich mit der Dingfestmachung der Irrenärzte durch die Zigeuner eine kleine Fortsetzung des Hauptteils.

   So wird man dazu kommen müssen, im Gegensatz zu den Analysen Stefan Schmidts, ›Scepter und Hammer‹ als dreiteiligen Roman anzusehen, wobei alle drei Teile vergleichbare Länge haben (genau gezählt, ist der 2. Teil mit den ›Vorzeithandlungen‹ der längste, der 3. Teil der kürzeste, aber im Großen gesehen, stimmt die Rechnung): I. Teil (Kap. 1–9) Exposition und Wendepunkt der Haupthandlung bis kurz vor dem kritischen Punkt, an dem sich zeigt, daß der Krieg zwischen Norland und Süderland unmittelbar bevorsteht – II. Teil (Kap. 10–14) ›Vorzeithandlungen‹ und Lebensgeschichte Katombos in zwei Phasen: Vertreibung aus Norland – Kap. 10 – Aufstieg Katombos vom kleinen Helfer Manu-Remusats zum Kapudan-Pascha (Kap. 12 und 13) und Fall durch die Machenschaften der Feinde; Katombo wird zum Schwarze(n) Kapitän (Kap. 14). Kapitel 11 stellt in diesem II. Teil nur eine kleine Erzählzäsur, eine künstliche Atempause des Erzählers durch kurzfristige Rückkehr auf den Hauptschauplatz des Erzählens dar. – III. Teil (Kap. 15–16): Krieg zwischen Norland und Süderland – Happy-End für die ›Guten‹, Katastrophe (und Katharsis) der ›Bösen‹. Sieht man es so, dann wird ›Scepter und Hammer‹ plötzlich auch wieder mit ›Auf der See gefangen‹ vergleichbar. Beide Romane stellen den Versuch Mays dar, ein erzählerisches Problem zu lösen: die Verschmelzung einer in Deutschland oder auf einem fiktiven Schauplatz spielenden Haupthandlung mit einer aus Elementen des Abenteuerromans mit exotischem Kolorit zusammengesetzten zweiten Handlungsebene; in ›Auf der See gefangen‹ kommt als dritte Ebene noch die des ›Seeromans‹ hinzu. Diese Vermischung der Romangattungen ist May in ›Auf der See gefangen‹ noch nicht geglückt, weil er hier weder die Erzählspannung wahrte noch die Länge seines Romans glücklich wählte: Für den relativ knappen Umfang des Textes versuchte May einfach viel zu viel. Auch die korrespondierende Anlage der Kapitel trägt wenig dazu bei, den Roman zu einem einheitlichen Ganzen zu machen.

   In ›Scepter und Hammer‹ war May schlauer: Er packte die kontrastierende, exotische Nebenhandlung zu einem Block von ›Vorzeit-


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handlungen‹ zusammen und stellte sie als zweiten Romanteil zwischen Beginn und Abschluß der Norland-Süderland-Handlung, mit dem Nachteil freilich, daß Katombos in ihrer dramaturgischen Anlage meisterlich erzählte Lebensgeschichte dem Leser fast die Lust auf Fortsetzung der Haupthandlung nimmt, so daß der Übergang zum 15. Kapitel geradezu gewaltsam wirkt.

   Auch in der ›Juweleninsel‹ ging May das Problem der Gattungsmischung mit neuem Elan an, und jetzt hatte er – zumindest in der Planung – einen genialen Einfall: er gliederte die Haupthandlung in drei Teile nach dem alten Dramenschema (Exposition – Wendepunkt der Handlung – Schluß/Katastrophe bzw. Happy-End) und schob die exotischen Teile als kontrastierende Episoden zwischen die drei Haupthandlungsblöcke. Man sieht, daß May in der Tat in den Bauformen der drei Romane von ›Auf der See‹ bis ›Juweleninsel‹ dieselbe Grundidee der Gattungsmischung in unterschiedlicher, sich steigernder Weise verwirklichte. Die Lösung der ›Juweleninsel‹ würde am meisten überzeugen, wenn nicht gerade an und in dieser Erzählung May im Laufe des Schreibens die Lust und auch den Faden verloren hätte . . .


3 ›Auf der See gefangen‹ und ›Old Surehand II‹

Wie ›Auf der See gefangen‹, so gehört auch ›Old Surehand II‹, für die Buchausgabe von 1895 aus älteren Texten von May zusammengestellt, zu den Büchern Karl Mays, die in der Forschung eine zwiespältige Aufnahme gefunden haben. Drastisch negativ urteilt Hans Wollschläger, der dieses Buch »von der Rahmenerzählung höchst brüchig nur gekittet, formal und inhaltlich die allergröbste Pfuscherei« nennt.(45) Nur unwesentlich freundlicher fällt das Urteil Roland Schmids aus: »In der Auswahl und besonders in der Bearbeitung der (. . .) Texte zeigte Karl May keine glückliche Hand«.(46) Auch wenn sich dieses Urteil vor allem auf die Bearbeitung der Episode ›Die Höhle des Königsschatzes‹ aus dem ›Waldröschen‹ und auf die Aufnahme der Haupthandlung von ›Auf der See gefangen‹ in ›Old Surehand II‹ bezieht, kann man wohl kaum umhin – da beide Abschnitte zusammengenommen mehr als zwei Drittel des gesamten Buches ausmachen –, dieses negative Urteil auf den Band in toto auszuweiten. Auch für das Mißlingen dieses Bandes hat die Forschung schon lange eine einleuchtende Erklärung gefunden: May habe ›Old Surehand II‹ unter erheblichem Zeitdruck zusammengestellt, es sei ihm nicht möglich gewesen, die ›Old Surehand‹-Haupthandlung zu einer Trilogie auszugestalten und er habe deshalb zu der Notlösung gegriffen, den Mittelband aus älteren Arbeiten zusammenzustellen und mit einer Rahmenhandlung zu verbinden. Dieses Urteil beherrscht bis heute im wesentlichen die wis-


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senschaftlichen Arbeiten zum Thema, und die Entscheidung des Karl-May-Verlages, bereits in den Radebeuler Jahren ›Old Surehand II‹ aus der Trilogie herauszunehmen und zu einem Einzelband mit dem Titel ›Kapitän Kaiman‹ zu gestalten, fand ausnahmsweise auch Fürsprecher aus den Reihen der Forscher.

   Eckehard Koch wagte es, mit einer prononciert ›anderen‹ Interpretation das festgelegte Meinungsbild zu durchbrechen. Er sah in den Umformungen für diese Buchausgabe und vor allem in den nuancierten Kommentaren der Rahmenhandlung eine Reihe von »literarischen Meisterstückchen.«(47) Harald Fricke konnte dies weiterführen: Er zeigte in einer überaus brillanten Studie auf, wie ›Old Surehand II‹ durchaus subtil mit der Erzählerfiktion spielt, daß die Verbindung der Rahmenhandlung mit den Erzählungen keineswegs beliebig ist und daß es viele komplizierte Verbindungen und Verästelungen zwischen den Themen der eingestreuten Erzählungen und der Haupthandlung um die Familie Old Surehands gibt. Ja, Fricke ging sogar noch einen Schritt weiter und bezeichnete (alle drei Bände) ›Old Surehand‹ als die Erfüllung einer Forderung, die die Romantiker, allen voran Friedrich Schlegel, gestellt hatten: die Vermischung und Vereinigung verschiedener Dichtungsgattungen in einem Text. Indem ›Old Surehand‹, so argumentierte Fricke, Didaktisches und Spannendes, Parabel und Abenteuerroman, politische Aussagen und bunte Abenteuerlichkeit, Poetisches und Prosaisches in einem Buch vereine, werde es geradezu zum Idealfall für die von Schlegel geforderte Gattungsmischung.(48)

   Harald Frickes These hat besonders wegen des leicht provokanten Bezugs zur deutschen Romantik neben deutlicher Zustimmung auch heftige Ablehnung gefunden. Dabei ist die Frage, ob Mays ›Surehand‹ ernsthaft mit literaturästhetischen Thesen der Romantiker vergleichbar sei, ebenso zweitrangig wie die Überlegung, ob die Rahmenhandlung des 2. Bandes durch das ›Cajütenbuch‹ von Charles Sealsfield oder durch Wilhelm Hauffs ›Märchenalmanache‹ inspiriert ist – für letztere These ließen sich auch im übrigen Werk Mays einige Belege finden.(49) Denn es gibt ja bei Karl May bereits ein Werk, das sich jene von Fricke beschriebene Mischung verschiedener Erzählgattungen zum Ziel gesetzt, wenn auch nur mangelhaft verwirklicht hat: eben ›Auf der See gefangen‹. So war Mays Griff zu diesem frühen Text, der immerhin ein gutes Drittel des Gesamtumfangs von ›Old Surehand II‹ ausmacht, also wohl doch alles andere als eine Verlegenheitslösung.

   Das beweist vor allem Mays Bearbeitung dieser frühen Geschichte: im Detail, auch in der meist disparaten sprachlich-stilistischen Ausgestaltung, im Nebeneinander französischer Fremdwörter und englischer Brocken, in vielen anfängerhaft ungelenken Einzelmomenten, hat May nämlich den Text von ›Auf der See gefangen‹ unangetastet gelas-


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sen. Auch der Versuch, manche Brutalität der Handlung zu mildern, blieb durchaus zwiespältig: zwar wurde die Ankündigung Winnetous vor dem Kampf, dem Anführer der Ogellallah (dessen Name in ›Auf der See gefangen‹ Riccaroh ist, in ›Old Surehand II‹ aber durch das indianische Matto-Sih ersetzt wurde) seinen Skalp zu nehmen, gestrichen;(50) die eigentliche Szene aber, in der diese Skalpierung geradezu genüßlich geschildert wird (inklusive der kunstgerecht geführt(en) Schnitte in die Kopfhaut des Gegners) blieb in der Buchausgabe von 1895 unangetastet.(51)

   Ob solch widersprüchliche Behandlung des frühen Textes in ›Old Surehand II‹ auf eine mangelnde Gründlichkeit Mays bei der Übernahme der alten Erzählung in den neuen Fehsenfeld-Band zurückzuführen ist, muß als sehr fraglich gelten; denn in wesentlichen formalen Gesichtspunkten nahm May einschneidende Änderungen vor. Diese betreffen insbesondere alle Punkte, in denen die ›Gattungsmischung‹ des Textes von 1878 wenig überzeugend und lehrlingshaft wirkt. May verzichtete also auf die burlesk-humoresken Rahmenkapitel 1 und 10, offenbar in der heilsamen Erkenntnis, daß weder die Momente der komischen Anekdote oder des volkstümlichen Schwanks noch die schlecht eingefädelte und zu früh aufgeklärte Kriminalgeschichte um den Raubmord an dem Juwelier zum Gesamtcharakter des Romans passen. Aus ähnlichen Gründen mußte auch die Vorgeschichte des 2. Kapitels ausfallen.

   Mays zweiter, wichtiger Eingriff besteht darin, die beiden Hälften des Romans durch einen klugen Kunstgriff voneinander zu trennen: der Indianeragent, der den ersten Teil der Geschichte zum besten gibt (entsprechend Kapitel 3 und 4 von ›Auf der See gefangen‹), beendet seine Erzählung mit dem irreführenden Hinweis, Sander und Jean Letrier seien im Kampf gegen Sam Fire-gun und seine Helfer gefallen.(52) Später gibt Mutter Thick aber den Hinweis, daß Sander, der ab S. 425 der Buchausgabe fälschlich Sanders heißt (und daß May auch in ›Winnetou IV‹ seinen Erzschurken Santer aus der ›Winnetou-Trilogie‹ nur noch Sander nannte, mag ein Fehler ganz ähnlichen Kalibers sein), am Galgen geendet sei,(53) was der Indianeragent mit dichterischer Lizenz entschuldigt.(54) Schließlich setzt der Detektiv Treskow selbst die Geschichte fort, die nun Kapitel 5–9 von ›Auf der See gefangen‹ entspricht.

   Durch diesen Kunstgriff erreicht es May, daß die eigentliche Piratengeschichte des Buches vom übrigen Handlungsverlauf separiert wird – durchaus nicht zu ihrem Schaden –, und die nun ›fehlende‹ Vorgeschichte wird neu durch Treskow und den Indianeragenten erzählt. Daß es dabei gegenüber der originalen Geschichte zu einigen Verschiebungen kommt, ist nicht von Nachteil: Der Schwarze Kapitän heißt in ›Old Surehand II‹ nicht mehr Latour, sondern nur Sander oder


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Sanders, über seine Herkunft wird nur gesagt, daß er schon jung ein außerordentlich guter Seeman war.(55) Mit der Miß Admiral, die das einzige Kind eines alten, originellen Seefahrers ist,(56) verbindet ihn nicht mehr eine Haßliebe, sondern die gemeinsame Neigung zum Verbrechen und die Tauglichkeit zum Seemannsberuf. Entsprechend fällt Clairons Denunziation im Wilden Westen (Kapitel 3 von ›Auf der See gefangen‹) fort. May findet für die ganze Szene eine akzeptable neue Lösung: Dick Hammerdull belauscht die beiden Schurken Sander und Wolf heimlich,(57) er berichtet Sam Fire-gun darüber. Die beiden Verbrecher ihrerseits belauschen die Unterredung, fliehen aus dem Lager und kehren mit einer Übermacht von Verbündeten zurück.(58) Das Hin und Her von Gefangenschaft und Befreiung, wie es in Kapitel 3 und 4 der ›Auf der See gefangen‹-Fassung zu beobachten war, ist hier getilgt. Auch die einleitende Szene bei Mutter Thick in Hoboken, mit der das 4. Kapitel des Romans von 1878 beginnt,(59) wurde von May gestrichen, vielleicht, weil die Gestalt der Mutter Thick, auch ihre Figurenbeschreibung, aus ›Auf der See gefangen‹ in die Rahmenhandlung von ›Old Surehand II‹ transponiert wurde.(60) Peter Polters Auftritt, der ursprünglich bei Mutter Thick stattfindet, wurde nun in Winklays Kneipe verlegt,(61) denn daß Peter Polter und Treskow von Hoboken bei New York so rasch in den Wilden Westen gelangen, gehört zu den Unglaubwürdigkeiten des ›Auf der See gefangen‹-Textes, die sich auch durch Mays Unfertigkeiten im Erzählen nicht entschuldigen lassen . . . Dafür ist die Einleitung des neunten Kapitels von ›Auf der See gefangen‹ mit ihrer Gesprächssituation, die vermutlich May erst zu der Gestaltung von ›Old Surehand II‹ anregte, erhalten geblieben.(62) Die sehr unwahrscheinliche Intrige, mit der Max Parker und seine Freunde die Piraten aus amerikanischer Haft in deutsche Hände bringen, mußte auch deswegen in der Neufassung(63) wegfallen, weil Max Parker hier ja wirklich nur der amerikanische Marineoffizier und nicht der Sohn des Prinzen Otto Victor ist.

   Man wird also nicht übersehen können, daß May durch seine klugen Eingriffe in den frühen Text in ›Old Surehand II‹ das Problem der Gattungsmischung, das in ›Auf der See gefangen‹ so störend wirkte, gelöst hat. Statt der einen Erzählung, die alles, von der Humoreske über den Piratenroman zum Wildwestabenteuer, miteinander vereinte, bietet er in ›Old Surehand II‹ zwei voneinander durch den Kunstgriff des Erzählerwechsels und die erzwungene Erzählpause (die mit der Geschichte vom Königsschatz aus ›Waldröschen‹ gefüllt wird) getrennte Erzählungen: eine Wildwest- und eine Piratengeschichte, die in und für sich genommen überzeugend wirken.

   Aber nicht nur das: Mit ›Old Surehand II‹ löst May nun das Problem, das Harald Fricke in Anspielung an Schlegel als Vereinigung der »getrennten Gattungen der Poesie«(64) bezeichnet und das May sich


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selbst in ›Auf der See gefangen‹ stellte. May nämlich vereinte in ›Old Surehand II‹ so unterschiedliche Texte wie die Kriminalgeschichte mit historischem Hintergrund (›Three carde monte‹ bzw. die Erzählung vom Kanada-Bill), Erzählung für die Jugend mit didaktischem Hintergrund (›Unter der Windhose‹), Kolportagereißer (›Königsschatz‹-Episode) und Mischung aus Wildwest- und Piratengeschichte (›Auf der See gefangen‹) miteinander.

   Daß ihm diese Mischung glückte, liegt nicht zuletzt daran, daß May nun einige der Mängel des frühen Romans ›Auf der See gefangen‹ durch geschickte Bearbeitung in Vorzüge verwandelte. Das Allzuviel an Berichten ›aus dritter Hand‹, die Gesprächssituation des 9. Kapitels im Roman von 1878, sie werden zur eigentlichen Grundstruktur, zum movens des ›Old Surehand II‹. Indem jede Geschichte den Erzähler bekommt, die ihrem Stil und ihrem ›Flair‹ angemessen ist: die Erzählung vom Kanada-Bill den Aufschneider und ›falschen‹ Colorado-Mann, der als Betrüger gut zur Hauptfigur seiner Geschichte paßt(65) – die Geschichte von der Windhose den alten, lehrerhaften Ethnologen – die Wildwestteile von ›Auf der See gefangen‹ den engagierten Indianeragenten – die Kriminal- und Verfolgungsgeschichte den Detektiv – die Kolportagemär den mexikanischen Anwalt, der als Mittelamerikaner zum Erzählen einer solch wildbewegten Romanze prädestiniert erscheint, betont May die Eigenart der frühen Texte. Und indem er sie nicht (oder wie bei ›Auf der See gefangen‹ nur durch Kürzungen und formale Teilungen) bearbeitete, gab er nun so etwas wie eine Leistungsschau seines frühen Erzählens. Die in ›Old Surehand II‹ versammelten Geschichten repräsentieren vortrefflich fast jeden Erzählstil Mays von 1878-1886, von der kleinen, anspruchslosen Abenteuergeschichte (›Vom Tode erstanden‹) bis zum Kolportageschmöker. Widersprüche und Wiederholungen sind bei diesem Konzept unvermeidlich: Wenn Roland Schmid beklagt, daß sowohl in ›Winnetou II‹ von 1893 wie auch in ›Old Surehand II‹ von 1895 jeweils ein sehr ähnlicher Eisenbahnüberfall vorkommen,(66) so hat dies mit nachlassender Schaffenskraft Mays nichts zu tun. Vielmehr hat der Eisenbahnüberfall von ›Auf der See gefangen‹ (1878) die parallele Szene aus ›Old Firehand‹ von 1875 zum Vorbild, und der Vergleich zeigt, daß May die Szene von 1875 in ›Auf der See gefangen‹ in vielen erzählerischen Details erheblich verbesserte (und in ›Deadly Dust‹ und später im ›Schatz im Silbersee‹ hat er dasselbe Grundmotiv des Eisenbahnüberfalls noch einmal, was die erzählerische Kunst anbetraf, deutlich gesteigert). ›Winnetou II‹ enthielt eben die ›Old Firehand‹-Geschichte von 1875 in bearbeiteter Fassung, und weil es ihm auch um einen Rückblick auf sein ›frühes‹ Erzählen ging, mußte May in ›Old Surehand II‹ die Parallelszene von ›Auf der See gefangen‹ aufnehmen, denn sie zeigt – trotz mancher ›wild-brutaler‹ Züge – die Weiterentwicklung der Winnetou-Figur.


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   Indem May in ›Old Surehand II‹ seine Personen Geschichten erzählen läßt, rekapituliert er den eigenen Werdegang als Geschichtenerzähler. Damit aber nicht genug, wird auch das Motiv der Täuschung, in ›Auf der See gefangen‹ eines der grundlegenden Themen, in ›Old Surehand II‹ noch einmal aufgegriffen, aber sehr subtil. Täuschungen durchziehen den ganzen Band: ein falscher Tim Kroner tritt auf, der Indianeragent ›fälscht‹ das Ende Sanders, so daß er später von Treskow korrigiert werden kann, und, als Höhepunkt: während der ganzen Heldengeschichten sitzt der so gepriesene Old Shatterhand als unerkannter Zuhörer still unter dem Publikum . . . Erst das vierte, das letzte Kapitel des Bandes löst den Täuschungszauber. Erst werden Toby Spencer und seine Rowdies von Old Shatterhand ›beruhigt‹, und dann marschieren die wirklichen ›verkehrten Toasts‹, von denen in ›Auf der See gefangen‹ wie von verklärten Heldenfiguren die Rede war, als Menschen von Fleisch und Blut in die Kneipe Mutter Thicks. Noch in einem letzten Punkt ist es May gelungen, die Mängel seines Experiments, das er in ›Auf der See gefangen‹ unternahm, wieder gutzumachen: er gibt nämlich dem ›Old Surehand II‹ jenen ›roten Faden‹, der dem frühen Roman von 1878 fehlte. Alle Geschichten des Buches kreisen um den unsichtbaren Fixpunkt, das Verhältnis der weißen zur roten Rasse. Indem sie demonstrieren, wie die Weißen die verachteten Roten ausbeuten und sich als viel schlimmere Verbrecher erweisen als die angeblichen ›Wilden‹, exemplifiziert May nicht nur den Grundtenor seiner ›reifen‹ Reiseerzählungen, er nimmt auch das Basisthema der ›Surehand‹-Haupthandlung wieder auf und schafft so eine unaufdringliche, innere Verbindung zwischen ›Old Surehand II‹ und den beiden anderen Teilen der Trilogie. So werden, ganz im Frickeschen Sinne, die durch Stil und Erzählcharakter getrennten Einzeltexte des Bandes doch wieder zu einer Einheit.


4 Erzählzwang und wiederholte Geschichten

Eine der auffälligsten Wiederholungen innerhalb des Romans ›Auf der See gefangen‹ ist, wie schon erwähnt, die Geschichte, die Heinz Polter, der Kammerdiener des Prinzen Otto Victor, immer wieder zu erzählen versucht und mit der er nie fertig wird. Es geht hier um eine junge Witwe, die er 1814, als der Prinz und er in den Napoleonischen Kriegen kämpften, in Frankreich kennengelernt hatte. Nie wird deutlich, ob es nun zu einer Liebesgeschichte zwischen Heinz und der Witwe gekommen ist oder nicht; fünfmal, korrespondierend zu den fünf Großabschnitten des Romans (die jeweils aus zwei Kapiteln bestehen), wird die Geschichte erzählt und durch irgendeine Störung unterbrochen,(67) davon viermal im ersten Kapitel und einmal im Schlußkapitel.


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Die Anekdote läuft also als ›running gag‹ durch die ganze Rahmenerzählung, und obwohl May bereits im ›Otto-Victor-Fragment‹(68) dieses Motiv anschlägt, kommt es doch in ›Auf der See gefangen‹ erst zu der Ausführung in der Form der fast rituell wiederholten und unterbrochenen Geschichte.

   Ähnliches findet sich bereits in der Alten-Dessauer-Anekdote ›Die drei Feldmarschalls‹, erschienen 1877/78 im 2. Jahrgang der Zeitschrift ›Weltspiegel‹. Hier sind die handelnden Personen der Fürst Leopold von Anhalt-Dessau und sein Leibhusar Heinz, aber beide Figuren haben mit Mays Prinz Otto Victor und dessen Kammerdiener eine geradezu frappierende Ähnlichkeit, sowohl was das seltsam kumpelhafte Herr-Diener-Verhältnis angeht wie auch in anderen Details. So redet Heinz in ›Die drei Feldmarschalls‹ auch seinen Herrn stets mit Dorchlaucht statt ›Durchlaucht‹ an, und sowohl der Prinz Otto Victor wie auch der Alte Dessauer erhalten von May den Beinamen alter Knaster. Schließlich versucht Heinz in ›Die drei Feldmarschalls‹ ebenfalls krampfhaft, seine Geschichte von der ›lustigen Witwe‹ an den Mann zu bringen, nur daß das historische Kolorit verändert ist und die Anekdote nun 1704 während des Feldzugs an der Donau spielt. Dreimal wird in ›Die drei Feldmarschalls‹ die Geschichte erzählt(69) und jedesmal im spannendsten Augenblick unterbrochen, wenn nämlich eine Ordonnanz des Prinzen Eugen das sich offenbar anbahnende Techtelmechtel stört. Nur einen Punkt hat May geändert, als er die Geschichte in ›Auf der See gefangen‹ übernahm: Nun ist Heinz nicht nur Kriegsveteran, sondern hat auch ein Bein verloren, wie der Müllerknappe Brendel, dem in ›Die Juweleninsel‹ ein Bein und eine Nase fehlen und der dreimal (allerdings zweimal in voller Länge) die Anekdote vom Schimmel in der Oper erzählt, die seine lebenslange Abneigung gegen das Reiten begründete. Übrigens hat May im Personenverzeichnis zu seiner späteren Posse mit Gesang ›Die Pantoffelmühle‹ den Leibhusaren des Alten Dessauer, Heinz, als einbeinigen Veteranen charakterisiert,(70) woraus man entnehmen kann, daß er tatsächlich in seinem dichterischen Kopf die beiden Diener der schrulligen Herrschaften als eine Figur zu behandeln begann. Ist man bis hierhin versucht, die Erzähllist von der unterbrochenen und wiederholten Geschichte als bloßen Gag des Frühwerks anzusehen, so wird man bedenken müssen, daß May in seinem späteren Werk denselben Einfall zumindest noch zweimal aufgreift: in ›Durch die Wüste‹ und ›Durchs wilde Kurdistan‹ amüsiert der türkische Buluk Emini oder Regimentsschreiber Ifra mit seinem Esel die Leser. Ifra, dessen Äußeres ihn bereits in seinem würdigen Schreiberamt bestätigt,(71) hat keine Nase mehr und versucht nun, jedem die Geschichte zu erzählen, wie er einst in einer Schlacht (meist die von Sebastopol, also im Krimkrieg, manchmal aber auch ein anderer Feldzug) seine Nase verlor, wird aber


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immer unterbrochen. Wie es sich für ein rechtes Erzählritual gehört, wird diese Geschichte mit der magischen Zahl sieben gekoppelt und taucht siebenmal auf.(72) Nie wird Ifra mit seiner Geschichte fertig, und einmal bemerkt sogar Kara Ben Nemsi, es mache ihm großes Vergnügen, die Geschichte unterbrechen zu können.(73)

   Dieses Vergnügen bewegte May dann auch dazu, in seiner Erzählung ›Die Sklavenkarawane‹ das bewährte Motiv wieder aufzugreifen (im Jahre 1889/1890). Hier ist der Erzähler der schrullige bayerische Ornithologe Dr. Ignatius Pfotenhauer, der sich immer wieder an ein Ereignis aus der Schulzeit erinnert, als einmal ein Lehrer, den er immer nach Dingen g›fragt hatte, die dieser nit beantworten konnt›,(74) ihm zur Abwechslung eine Frage stellte, die Pfotenhauer sprachlos machte, nämlich: »Warum haben die Vögel Federn?« Siebenmal wird diese Geschichte mit schöner Regelmäßigkeit angefangen oder erwähnt,(75) aber nie zu einem Punkt geführt, der es dem Leser ermöglichte, Pfotenhauers Antwort auch nur zu erahnen. Immerhin mag man mutmaßen, der damals beim Osterexamen ihm angetane Tort habe Pfotenhauer so gewurmt, daß er daraufhin Ornithologe zu werden beschloß. Und noch ein Detail ist wichtig: Pfotenhauer hat eine ausgesprochen ausgeprägte Nase, einen sogenannten ›Riecher‹ . . .

   Diese Beispiele sind zu ausgeprägt, als daß man von einem rein zufälligen Erzähltrick, den May ob seiner Wirksamkeit stets wiederholte, sprechen kann. Vielmehr sind alle die erwähnten Figuren von einem Zwang zum Erzählen besessen; einer von ihnen, Ifra, ist sogar von Beruf Schreiber (darf man sagen: Schriftsteller?). Sodann sind die Geschichten, die sie erzählen, ja wie unter Zwang erzählen müssen, stets eng mit den Kümmernissen oder Makeln ihres Lebens verbunden. Heinz in ›Auf der See gefangen‹ ist Junggeselle und versucht, von der (einzigen?) Liebe seines Lebens zu berichten, Ifra beklagt sein Mißgeschick, die Nase verloren zu haben, und macht diese Anekdote zum Mittelpunkt jedes Gespräches. Ignatius Pfotenhauer hat auch etwas zu kompensieren, nämlich die übergroße Nase, die ihn sogar zum Militärdienst untauglich machte.(76) Die Geschichte vom Osterexamen stellt offenbar das große Trauma seines Lebens dar, die Situation, in der er eine Antwort auf eine Frage geben mußte, die er nicht beantworten konnte (oder nur mit Mühe). Nicht zuletzt ist dieses Geschehnis auch zum eigentlichen Wendepunkt seines Lebens geworden, denn er wandte sich später ja der Ornithologie zu. Ebenso schicksalhaft ist auch die Anekdote der ›Juweleninsel‹, die Brendels Abscheu vor dem Reiten begründen soll und die auch in Zusammenhang steht mit seinen im Feld erlittenen Verletzungen, dem Verlust der Nase und eines Beins. Daß die meisten Erzähler mit ihrer Lebensgeschichte, denn nichts anderes ist dies ja, nicht zu Ende kommen, kann ihren Zwang zum Erzählen nicht bremsen, im Gegenteil: Je mehr sie unterbrochen


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werden, um so eifriger spinnen sie ihren Faden fort. Erzählen wird so fast zum Surrogat für Leben, und wenn man einmal akzeptiert, daß May in allen seinen Geschichten Teile der eigenen Lebensgeschichte verarbeitete, so ist die ›unterbrochene Geschichte‹ nichts anderes als Mays eigenes, erzähltes Leben: Leben und Erzählen verschmelzen miteinander.

   Vielleicht lassen sich alle jene Figuren-, Motiv- und Handlungswiederholungen, mit denen wir uns zwangsläufig in diesem Aufsatz auch befassen mußten, in Verbindung bringen mit Michael Endes 101 Jahre nach ›Auf der See gefangen‹ erschienenem Märchenroman ›Die unendliche Geschichte‹, in der viele Elemente (zufällig?) an Mays 1001 Erzählungen erinnern.(77) Der Hakawati in diesem Buch heißt nicht C. F. May, sondern Bastian Balthasar Bux, ein unglücklicher, dicklicher Junge, der plötzlich in den Sog eines wunderbaren Buches gerät, der ›Unendlichen Geschichte‹, und mit ihr nach Phantásien, in das Reich der kreativen Phantasie und Poesie, versetzt wird. B. B. Bux entdeckt, daß sein Leben und die unendliche Geschichte untrennbar miteinander verbunden sind. So wird er in Phantásien (sprich: in seinen Phantasien) zum Retter der in Not geratenen Poesie schlechthin. Die Bewohner der Silberstadt Amarganth (auch sie durch Bastians Phantasie erst erschaffen) beschenkt der Hakawati mit einer Geschichte, in der alle anderen Geschichten, die er kennt, schon enthalten sind (vgl. das Motto dieser Arbeit). Sind nicht auch die Geschichten Mays, die im Grunde immergleiche Handlung seiner Bücher, nichts anderes als Bestandteile einer einzigen, großen Geschichte, der von C. F. May, in der alle anderen enthalten sind? Und hat nicht auch May, wie Bastian in Endes Roman, nach der Krise um 1900 im ›ganz anderen‹ Spätwerk ein bißchen vom ›Wasser des Lebens‹ getrunken?



1 Michael Ende: Die unendliche Geschichte. Stuttgart 1979, S. 258

2 Winnetou und der Detektiv. Wiederentdeckter Kriminalroman von Karl May. Hrsg. und überarbeitet von Walter Hansen und Siegfried C. Augustin. München 1982, S. 7f. (Vorwort von W. Hansen)

3 Andreas Graf: Winnetou im Criminalroman. In: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1987, S. 48 (Sonderband Text + Kritik)

4 Ebd.

5 Christoph F. Lorenz: Verwehte Spuren. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1990. Husum 1990, S. 265-86

6 Numerisch wäre die Erzählmitte genau auf S. 594 des II. Jahrgangs der ›Frohen Stunden‹ anzunehmen.

7 Vgl. Lorenz, wie Anm. 5.

8 Karl May: Auf der See gefangen. In: Frohe Stunden. 2. Jg. (1878), S. 322f.; Reprint der Karl-May-Gesellschaft, Hamburg 1971

9 Ebd., S. 371

10 Vgl. hierzu die Ausführungen Grafs, wie Anm. 3, S. 43-48.

11 May: Auf der See, wie Anm. 8, S. 371

12 Ebd., S. 433f.


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13 Ebd., S. 789 – Der Sprecher ist ein namenloser Gast Mutter Thicks.

14 Ebd., S. 786f.

15 Ebd., S. 532

16 Ebd., S. 786 bzw. 789

17 Ebd., S. 805f.

18 Ebd., S. 807

19 Vgl. dazu Engelbert Botschen: Die Wiederkehr des Un-Erwarteten. Mays ›bittere Pointen‹. In: Exemplarisches zu Karl May. Hrsg. von Walther Ilmer/Christoph F. Lorenz. Bern-Frankfurt a. M.-New York 1993, S. 152.

20 Vgl. Graf, wie Anm. 3, S. 51.

21 Ebd., S. 50

22 May: Auf der See, wie Anm. 8, S. 516

23 Graf, wie Anm. 3, S. 50

24 May: Auf der See, wie Anm. 8, S. 450f.

25 Ebd., S. 658f.

26 Graf, wie Anm. 3, S. 50

27 Herbert Meier: »Prinz Otto Victor, der Confusionsheinrich, der Studentenkarl und das Wiannerlinchen . . .« Ein Programm? Anmerkungen zu einem frühen Fragment-Text Karl Mays. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 96-109 (S. 103)

28 May: Auf der See, wie Anm. 8, S. 819

29 Stefan Schmidt: Sand im Getriebe. Auf der Suche nach dem fehlenden Juweleninsel-Kapitel. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 90/1991, S. 43-46, bemüht sich zwar, manche Erzählschnitzer Mays in der ›Juweleninsel‹ logisch zu erklären, aber ohne Erfolg. Es mag sein, daß sich die Bemerkung des Bowie-Paters Georg Sander gegenüber – »Auch mich hast Du gekannt . . .« (Karl May: Die Juweleninsel. In: Für alle Welt. 5. Jg. (1880), S. 546; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Gelsenkirchen 1978) – auf die frühere Bekanntschaft des Ex-Reitknechts mit dem Pater in seiner wahren Gestalt als Miß Ella bezieht, wie Schmidt (a.a.O., S. 43) behauptet. Die Aussage des Paters aber, »daß Du mich in dieser Gestalt nicht wieder kennst« (May: Juweleninsel, a.a.O., S. 546), ist ein grober Fehler Mays, denn nur kurz zuvor hat Georg Sander im Lager der Comanchen eben jenem Bowie-Pater gegenübergestanden. Auch Schmidts Versuch, aufgrund der wenigen Zeilen (May: Juweleninsel, a.a.O., S. 356), die im Uferbereich der Juweleninsel spielen, diese als tatsächlichen Handlungsort des Romans bezeichnen zu wollen (a.a.O., S. 45), trifft nicht den Punkt. In keiner Zeile der Handlung wird die Insel wirklich betreten, nur am Ufer sieht Alphons Maletti die Leiche des ausgesetzten Matrosen an einem Baum hängen.

30 Graf, wie Anm. 3, S. 51

31 Ebd., S. 52

32 May: Auf der See, wie Anm. 8, S. 355, 548, 821

33 Ebd., S. 355

34 Lorenz, wie Anm. 5

35 May: Auf der See, wie Anm. 8, S. 482 – weitere Stellen auf S. 498 (zweimal), 499, 500, 532 (zweimal)

36 Walther Ilmer: Karl May. Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 57f.

37 May: Auf der See, wie Anm. 8, S. 323

38 Karl May: Repertorium C. May. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 134 und 143

39 Walther Ilmer: Karl May auf der Schwelle. In: Karl Mays erster Großroman Szepter und Hammer – Die Juweleninsel. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 23/1980, S. 46

40 Karl May: Scepter und Hammer. In: Für alle Welt. 4. Jg. (1979), S. 83; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Gelsenkirchen 1978

41 May: Auf der See, wie Anm. 8, S. 355

42 Ebd.

43 Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895-1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund. Materialien zur Karl-May-Forschung 12. Ubstadt 1989, S. 27


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44 Schmidt, wie Anm. 29, die erwähnte Skizze auf S. 42 unten, vor S. 43

45 Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 79 (Diogenes Taschenbuch 112)

46 Roland Schmid: Anhang (zu ›Old Surehand II‹). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. XV. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1983, A4

47 Ekkehard Koch: Der ›Kanada-Bill‹. Variationen eines Motivs bei Karl May. In: Jb-KMG 1976. Hamburg 1976, S. 42

48 Harald Fricke: Karl May und die literarische Romantik. In: Jb-KMG 1981. Hamburg 1981, S. 11-35

49 Vgl. R. Schmid, wie Anm. 46, A7.

50 May: Auf der See, wie Anm. 8., S. 513 – Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XV: Old Surehand II. Freiburg 1895, S. 159

51 May: Surehand II, wie Anm. 50, S. 168

52 Ebd., S. 211

53 Ebd., S. 425

54 Ebd., S. 428

55 Ebd., S. 431

56 Ebd., S. 430

57 Ebd., S. 178-81

58 Ebd., S. 184

59 May: Auf der See, wie Anm. 8, S. 546f.

60 Ebd. – May: Surehand II, wie Anm. 50, S. 3

61 May: Auf der See, wie Anm. 8, S. 548 – May: Surehand II, wie Anm. 50, S. 185f.

62 May: Surehand II, wie Anm. 50, S. 564f.

63 Ebd., S. 579ff.

64 Fricke, wie Anm. 48, S. 32

65 Vgl. Koch, wie Anm. 47, S. 39f.

66 R. Schmid, wie Anm. 46, A5

67 May: Auf der See, wie Anm. 8, S. 322, 323, 370, 386 und 820

68 Karl May: Das Otto-Victor-Fragment. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 89-95

69 Karl May: Die drei Feldmarschalls. In: Weltspiegel. 2. Jg. (1878), S. 602, 617 und 666; Reprint der Karl-May-Gesellschaft Hamburg 1974

70 Max Finke: Karl May und die Musik. In: Karl-May-Jahrbuch 1925. Radebeul 1924, S. 58ff.

71 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892, S. 533.

72 Ebd., S. 534f., 537, 550, 574 – Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. II: Durchs wilde Kurdistan. Freiburg 1892, S. 14, 45, 359

73 May: Durchs wilde Kurdistan, wie Anm. 72, S. 14

74 Karl May: Die Sklavenkarawane. In: Der Gute Kamerad. 4. Jg. (1889/90), S. 241; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1984

75 Ebd., S. 227, 241, 282, 395, 408, 450 und 576 – Die Erwähnung am Schluß, daß der Slowake es sich in den Kopf gesetzt hat, ein Buch mit dem Titel der berühmten Pfotenhauer-Anekdote ›Warum die Vögel Federn haben‹ zu schreiben, gehört natürlich auch in diesen Zusammenhang, ist aber keine direkte Erzählung oder Erwähnung der Anekdote.

76 Ebd., S. 465

77 Vgl. Wiltrud Ohlig: Das Vermächtnis des Hakawati. In: M-KMG 46/1980, S. 31-37.


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