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WERNER KITTSTEIN

Ein Buch ist so gut wie sein Anfang
›Kong-Kheou, das Ehrenwort‹ alias
›Der blau-rote Methusalem‹



1. Zielsetzung

Ursprünglich verfolgte diese Arbeit das Ziel, durch eine sich in mehreren Stufen vollziehende, detaillierte Analyse der Erzählweise der intuitiv gespürten Qualität des Romananfangs auf die Spur zu kommen. Im Laufe der Untersuchung ergaben sich nicht erwartete weitere Einsichten, die geeignet erscheinen, die oft zu lesenden negativen Urteile über den Roman in wesentlichen Punkten zu revidieren. Es kann – so hoffe ich – aus Erzählstruktur und Stil gezeigt werden, daß der Autor Karl May seinen Romanfiguren weitaus differenzierter, d. h. den deutschen Helden kritischer und den Vertretern Chinas positiver gegenübersteht, als gemeinhin behauptet wird; auffallend ist vor allem die partielle Demontage des vornehmsten, der Buchfassung den Titel gebenden Protagonisten, welche – cum grano salis – die neue Rolle des Ich-Helden in den späten Romanen vorwegnimmt.


2. Begründung der Wahl dieses Romananfangs

Schon ein flüchtiger Blick auf Mays Romane für die Jugend zeigt, daß sich die Erzählung ›Kong-Kheou, das Ehrenwort‹,(1) die in der Buchfassung den zugkräftigen, wenn auch den Gehalt nicht recht treffenden Titel ›Der blau-rote Methusalem‹(2) erhalten hat, in der Gestaltung des Anfangs deutlich von den anderen unterscheidet. Greifen wir zum Vergleich die vor kurzem im Reprint erschienene Geschichte ›Der schwarze Mustang‹(3) heraus und fragen, wie die beiden Erzählungen einsetzen und wie die Personen eingeführt werden.

   Ein schwerer Sturm peitschte den dichtströmenden Regen gegen die sich vor ihm beugenden Tannenwipfel des Hochwaldes . . . So konventionell beginnt ›Der schwarze Mustang‹:(4) Ein Naturbild mit einem Unwetter in dunkler Nacht, Gewitter und Sturm oben, ein brausender Fluß unten – gewiß ansprechend, sogar ein wenig erregend, wenn man bald darauf erfährt, daß nur ein ungemein scharfes Ohr es hören konnte, daß zwei einsame Reiter flußabwärts geritten kamen; zu sehen waren


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sie nicht.(5) Was der Leser aber dann am allerwenigsten an dieser Stelle erwartet, tritt überraschend ein: die unsichtbaren Reiter werden jetzt schon beschrieben, wobei der Erzähler allerdings zu einem höchst ungeschickten Mittel greifen muß. Er löst die zunächst als real geschilderte Situation durch eine hypothetische ab: Wäre es Tag und hell gewesen, so hätten sie gewiß den verwunderten Blick eines jeden Begegnenden auf sich gezogen(6) – natürlich auch den des Lesers. Unwillkürlich stellt sich dieser aber die Frage, warum der Erzähler ausdrücklich betont, es sei stockfinster, wenn er doch die Helligkeit benötigt, um das Aussehen der beiden zu beschreiben. Noch einigermaßen zu rechtfertigen wäre diese Verlegenheitslösung, wenn es sich um einen eindeutig allwissenden Erzähler handelte, der natürlich wüßte, wie die von ihm erfundenen Personen aussehen, es mag so dunkel sein, wie es will. Die ganze Anlage der erzählten Situation deutet aber gerade nicht auf einen allwissenden, sondern auf einen beobachtenden – oder vielmehr: lauschenden Erzähler hin, der sich den Anschein gibt, als begegneten ihm die Reiter, die sich auf ihn zu bewegen, zum ersten Mal; dementsprechend äußert er gar Vermutungen und schildert schließlich das Äußere der beiden Reiter in seinem aktuellen Zustand, der aber nach dem oben zitierten Bekunden des Erzählers überhaupt nicht zu sehen sein soll. Daß dieser auch keineswegs über Infrarotaugen verfügt, was man einer fiktiven Erzählerfigur durchaus zubilligen könnte, zeigt die Bemerkung: Aber wer sie hätte sehen können, dem wäre wohl aufgefallen(7) – der Irrealis signalisiert, daß niemand, auch nicht der Erzähler, die Reiter sieht. Die Personenbeschreibung ist an dieser Stelle einfach absurd!

   Wie anders nimmt sich der Einsatz der China-Erzählung dagegen aus! Sie beginnt mit einer freundlichen Anrede an den Leser, die in einer Abenteuererzählung eher ungewöhnlich ist,(8) und baut damit sogleich eine emotionale Beziehung des Lesers zur Hauptperson auf: Mein lieber, guter Kamerad (S. 1). Außerdem bringt sie eine ansprechende Mischung aus scheinbarer Authentizität und Fiktion in das Spiel zwischen dem Erzähler und dem Leser. Es folgt die schrittweise Einführung der Hauptperson, mit mehrfachen versteckten Bezügen zum Leser. Die charismatische Ausstrahlung des Methusalem, seine Jugendlichkeit nähern ihn dem jungen Leser an. Schließlich werden seine merkwürdigen Gewohnheiten geschildert. Dann aber erfolgt ein überraschender Einschnitt mit dem plötzlichen und unerklärlichen Verschwinden des Methusalem und endlich der Verweis auf ein Geheimnis (S. 2) sowie das indirekte Versprechen zukünftiger Enthüllung (ebd.). Dieser Anfang enthält Elemente des Romans ›in nuce‹: eine geheimnisvolle Reise als inhaltlicher Kern; die Erwähnung des chinesischen Theehändlers (S. 1), die – zusammen mit weiteren Andeutungen und der zweijährigen, also langen Reisedauer – frühzeitig auf Chi-


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na als wahrscheinliches Reiseziel hinweist; außerdem das kaum kaschierte Versprechen, daß Sinn und Zweck der Reise im weiteren Verlauf des Erzählens aufgedeckt werden.

   Die damit geschickt geweckte Erwartung des Lesers, auch ein Bild vom Aussehen dieses merkwürdigen Menschen zu erhalten, muß nun auch befriedigt werden. Aber noch eine weitere Motivierung erhält die folgende Beschreibung, wenn die außerordentliche Wirkung dieser Gestalt auf die Einwohner des Städtchens geschildert wird: Seine Erscheinung war freilich auffallend genug (S. 2). Das bietet den willkommenen Anlaß, das Aussehen des Menschen mit dem auffälligen Übernamen auch dem Leser zu beschreiben. An dieser Stelle kann aus situativen Gründen gar nichts anderes erfolgen; auch drängt der Leser förmlich dazu, daß das Persönlichkeitsbild des Methusalem durch Angaben über sein Äußeres ergänzt wird. Und der Leser erfährt nun, was in der konkreten Situation auch wirklich zu sehen ist: Er erhält eine aus der Anschauung gewonnene, lebendige Schilderung eines Originals.

   Auch die jeweils erste Dialogszene zeigt das große Gefälle an erzählerischer Qualität zumindest in den Anfangspassagen der beiden Romane. Während das lange Gespräch der beiden Reiter in ›Der schwarze Mustang‹ zu nichts weiter führt, als daß sich die Sprecher als Vettern erkennen, bringt der Dialog zwischen dem Methusalem und dem Teehändler im ›Kong-Kheou‹ das abenteuerliche Geschehen in Gang, ist damit selber Handlung und enthält immerhin noch zwei interessante kulturgeschichtliche Informationen, wogegen der diesbezügliche Ertrag des ungleich längeren Geredes der beiden Timpes gleich null ist. Verlassen wir also für dieses Mal den ›Schwarzen Mustang‹ und wenden unsere ganze Aufmerksamkeit dem Anfang des ›Kong-Kheou‹ zu.


3. Bisherige Urteile über ›Kong-Kheou‹

Diese Erzählung ist »bisher ein Stiefkind der Karl-May-Forschung geblieben«, konstatiert Erwin Koppen.(9) Daran hat auch das immer wieder bemühte Urteil Hans Wollschlägers, der ›Methusalem‹ sei das beste der exotischen Hausmärchen,(10) nichts geändert. Als Ganzes interessierte nämlich diese Erzählung keinen Interpreten. Bestenfalls diente sie als Steinbruch, aus dem man Mays Kenntnisse von China und der chinesischen Sprache sowie seine Einstellung zu den Bewohnern des ostasiatischen Landes herausbrechen konnte. Entsprechend dürftig fällt denn auch die Behandlung im Karl-May-Handbuch aus. Schon die Inhaltsangabe arbeitet mit Stereotypen, die in ihrer Undifferenziertheit irreführend sind, wenn z. B. die Erfolge der Reisenden


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auf ihre »überlegene Intelligenz und Kampfkraft« bzw. »intellektuelle Überlegenheit und Kaltblütigkeit«(11) zurückgeführt werden, was in Wahrheit gar nicht so eindeutig in Erscheinung tritt. Die anschließende Kurzanalyse der Erzählung gerät vollends klischeehaft. Gerade die Charakteristik des Haupthelden ist ganz einseitig, aber auch das Bild von den Chinesen unterliegt unzutreffenden Generalisierungen. Man gewinnt den Eindruck, daß bei den heutigen Interpreten unterschwellig noch eben die Vorurteile oder gar Ressentiments am Werk sind, welche man Karl May unterstellt. Bei den Chinesen, die nach Deutschland kommen, nimmt man bessere Eigenschaften noch wahr, nicht aber bei denen, die in China bleiben, beispielsweise dem Tong-tschi.

   Keineswegs zeigt der Roman, wie behauptet wird, insgesamt »kolonialistische Überheblichkeit in hoher Perfektion«;(12) über die verfügen nur einige der Personen der Handlung, die aber vom Erzähler durchaus kritisch gezeichnet werden, und zwar durch Reden und Handlungen, mit denen er sie ausstattet, sowie durch die Erzählstruktur.

   Etwas differenzierter fällt das Bild aus, das Koppen in seinem Beitrag ›Karl May und China‹ von dieser Erzählung zeichnet; aber auch hier ist vieles allzu oberflächlich und insgesamt eher unzutreffend.(13)

   Teilweise die gleichen klischeehaften Vorstellungen von Mays China-Erzählung vermittelt die – sehr materialreiche und informative – Einführung in den Reprint der Kamerad-Fassung von Christoph F. Lorenz. Vor allem schlägt hier dieselbe stereotype Auffassung vom Helden eines Jugendbuchs durch, wie sie die Urteile über die jugendliche Hauptperson Bloody-Fox in ›Der Geist des Llano estakado‹ negativ auszeichnet,(14) wenn es als befremdlich angesehen wird,(15) daß der Hauptheld der China-Erzählung ein verbummelter Student ist. Als wenn das Karl May in ›Mein Leben und Streben‹ nicht schon viel richtiger gesehen hätte(16) – handelt es sich doch um einen Helden, der durchaus Mängel aufweist und gar nicht mal geringfügige, aber gerade dadurch den Leser zu einer kritischen Einstellung herausfordert.

   Liest man solche Analysen und darauf fußende Meinungen, dann fragt man sich unwillkürlich, wie es denn zu dem oben zitierten positiven Urteil Wollschlägers kommen konnte. Aber Analysen der angeführten Art müssen notwendigerweise die Bedeutung einer Erzählung verfehlen, die eben nicht nur in der Addition einiger immer wiederholter Handlungselemente als Illustration der Vorurteile eines Schriftstellers besteht, sondern durch ihre – ich wage es zu sagen: – poetische Gestaltung alle Einzelaspekte – seien es kulturgeschichtliche, geographische, länderkundliche Angaben, seien es Handlungskomplexe und Charaktere – zusammenschließt und einer komplexen und differenzierten Wertung unterwirft. Das oft angegriffene, angeblich so ressentimentgeladene China-Bild Karl Mays scheint zwar im ›Kong-Kheou‹ immer wieder kräftig durch, aber es wird auf vielfältige Weise durch


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die Art, wie es der Erzähler präsentiert oder wie er es die Personen vertreten läßt, konterkariert.

   Daß dies im ›Kong-Kheou‹ der Fall ist, soll im folgenden aufgezeigt werden, immer unter dem umfassenden Gesichtspunkt der Erzählstruktur, deren genaue Analyse eine eher zutreffende Erfassung der Heldenrolle und des China-Bildes in dieser Erzählung ermöglichen dürfte. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht aber der zweifellos hervorragende Anfang des Romans!


4. Die Erzählsituation am Anfang

Die Erzählsituation am Beginn des ›Kong-Kheou‹ ist, wie schon erwähnt, durch die freundliche Anrede an den Leser gekennzeichnet: Mein lieber, guter Kamerad, hast du vielleicht den »blauroten Methusalem« gekannt? Ganz gewiß, nämlich wenn du in der betreffenden Universitätsstadt geboren bist oder, wenn auch nur für einige Tage, als Gast dort geweilt hast. (S. 1) Gleich im ersten Satz tritt der Erzähler aus seiner Verborgenheit hervor, bindet den Leser emotional(17) an die Hauptfigur als einen möglicherweise alten Bekannten und behauptet damit schlicht, der Methusalem habe wirklich existiert, ja indirekt sogar, das ganze folgende Geschehen sei faktisches Ereignis. Überlagert wird diese behauptete Wahrheit des Geschilderten durch die Angabe unter dem Titel, nach welcher der Autor Karl May auch die beiden früheren Abenteuererzählungen, die gewiß kein Leser des ›Guten Kameraden‹ ernsthaft als Schilderung tatsächlicher Ereignisse aufgenommen hatte,(18) verfaßt habe. Es entsteht damit ein Schwebezustand bezüglich des Realitätscharakters des Erzählten. Da man nun immer auch die Leseerwartungen der Rezipienten eines Romans, die ihrerseits auf bestimmten Leseerfahrungen beruhen, berücksichtigen muß,(19) wird der Blick in unserem Fall auf die Lektüre der beiden ersten May-Romane in der Spemannschen Jugendzeitschrift gelenkt, auf die die Redaktion ausdrücklich verweist. Diese Erfahrungen steuern wiederum die Erwartungen an die neue Erzählung und begründen die Bereitschaft, sich ein ganzes Jahr lang auf die Erlebnisse neuer Handlungsträger einzulassen. Die Anrede verstärkt diese Bereitschaft, indem sie dem Leser den Methusalem regelrecht ans Herz legt und einen neuen, in den vorhergehenden Jahrgängen der Zeitschrift nicht erlebten Wirklichkeitsgrad vorgaukelt.

   Der Erzähler, der als vom Autor erfundene, eigenständige Figur auftritt und nicht mit diesem verwechselt werden darf – denn dieser könnte sich kaum dazu versteigen, dem Leser weiszumachen, den Methusalem habe es wirklich gegeben(20) –, bildet mit der Hauptperson und dem Leser eine Trias, deren Glieder in eine innige Beziehung zueinan-


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der treten sollen; sie wird wenig später nochmals aufgegriffen, wenn der Erzähler in ironisch-augenzwinkernder Weise dem Leser den stoßseufzenden Rat erteilt: O Jugend, bewahre dich vor ähnlichem Ungefähr! (S. 2).

   In der gesamten Einleitung wird die auktoriale Perspektive des allwissenden Erzählers, wie sie sich schon im ersten Satz zeigt, beibehalten. Der Erzähler kennt die Vergangenheit des Methusalem, er überblickt große Zeiträume, in denen sich die Gewohnheiten des Studenten herausgebildet haben (Das geschah täglich dreimal (S. 1)), er gibt Urteile ab (Seine Erscheinung war freilich auffallend genug (S. 2)). Wo man den unsicheren Standpunkt eines bloß seine Beobachtungen wiedergebenden Erzählers vermuten könnte, ergibt sich bei näherem Hinsehen gerade eine Bestätigung der auktorialen Erzählhaltung, so bei dem oben erwähnten Hinweis auf das bisherige Leben des Studenten: Er wohnte seit wer weiß wie vielen Semestern in der Humboldtstraße und studierte – ja, wer konnte das wohl sagen! (ebd.). Unmittelbar vorher war von den Bewohnern der Stadt die Rede (Niemand konnte an ihm vorüber sehen (S. 1)): Aus diesem Zusammenhang erhellt, daß deren Unkenntnis bezüglich der Studienfächer und nicht die des Erzählers gemeint ist; sie bezieht sich demnach auch auf die lange Zeit, die der Methusalem schon studierte; der Ausdruck ›wer weiß wie viele‹ kennzeichnet diese lange Zeit sehr anschaulich – ob der Erzähler selbst Genaueres weiß, verrät er hier nicht.

   Warum er das nicht tut, macht die Betrachtung einer weiteren Einzelheit deutlich; sie belegt, wie konsequent die einmal gewählte Erzählerrolle beibehalten wird. Dieser Pfeifen- und Oboenträger schien . . . ein Original zu sein (S. 2), kommentiert der Erzähler. In ursprünglicher Wortbedeutung wird also ein Anschein erweckt; das Verb deutet auf den Augenschein, aufgrund dessen man auf den Charakter eines Menschen schließen kann. Der dann folgende Abschnitt zeigt, daß auch hier tatsächlich der allwissende Erzähler am Werk ist, wenn nämlich Gottfried, der Leibbursche des Methusalem, beschrieben wird. Das Alter des Gesichts und damit der ganzen Person ist unbestimmbar, es richtet sich nach der Situation, in der man Gottfried trifft. Er hält sein Alter wie auch die Zahl der Semester seines Herrn geheim. Das Hauptthema des ganzen Abschnittes ist Geheimniskrämerei. Dabei denkt der Leser sogleich an das geheimnisvolle Verschwinden dreier Personen, des Methusalem, Gottfrieds und Richards, auch an das mit vielen Geheimnissen umgebene China, auf das mehrfach verwiesen wird; auch das wie ein Geheimzeichen aussehende chinesische Schriftzeichen als Titel der Erzählung fällt einem ein. Diese Geheimniskrämerei wird vom Erzähler mit voller Absicht nicht oder doch nur mit Verzögerungen durchbrochen, im großen (Ziel und Zweck der Reise) wie im kleinen (Adressat des Briefs). Sie dient nicht zuletzt als


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stilistisches Mittel des Erzählens und ist keineswegs Ausdruck einer beschränkten Erzählperspektive!

   Im Zentrum des gesamten Einleitungskapitels stehen Geheimnisse. Zweimal taucht der Begriff wörtlich auf; in abgewandelter Form werden Alter und Semesterzahl geheimgehalten (in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt (S. 2)). Inhaltlich spielt das Geheimnis mehrfach eine Rolle: Die zunächst nicht geklärte Vergangenheit des Methusalem wird von ihm selbst der Frau Stein und damit dem Leser enthüllt; der zunächst unbekannte Empfänger des Briefes aus China wird schnell gefunden; das Vermögen des Chinesen ist vergraben, versteckt (S. 19); seine Familie ist verschollen. Geheimnisse liegen also in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Erzählweise erhebt das Geheimnis zu ihrem Prinzip: Vieles bleibt ungeklärt, anderes wird mit zeitlicher Verzögerung aufgedeckt, wieder anderes wird weit in die Erzählung hinein seiner Enthüllung harren müssen.

   Genauer müssen wir also sagen: Geheimnis und Enthüllung sind im ›Kong-Kheou‹ ein Grundprinzip des Erzählens. Die Abenteuer, die auf der Reise erlebt werden, bleiben zunächst notwendigerweise noch im Dunkeln, in ihrer allmählichen Aufdeckung konstituiert sich ja der inhaltliche Kern der Geschichte. Am Schluß, im letzten Satz der ganzen Erzählung, wird zusätzlich etwas verraten, was nicht einmal als Geheimnis vorher angedeutet worden ist, also ein absolutes war: daß der Methusalem sich ein stille(s) »Kong-Kheou« (S. 821) gegeben hat, welches darin besteht, daß er ein für die jungen Leute vorbildlicher Student werden will. Das Motivpaar Geheimnis und Enthüllung ist nun für sich genommen nichts Außergewöhnliches für einen Roman von Karl May. Elemente des Detektivromans sind ein Kernbestandteil Mayschen Erzählens.(21) Aber so viele Geheimnisse auf engstem Raum mit ihrer differenzierten Enthüllungstechnik wie in dieser Einleitung weisen auf ihre ganz besondere Bedeutung hin.

   Die zwei Stellen, an denen der Begriff ausdrücklich verwendet wird, zeigen auch, welche Abstufung zwischen Erzähler, Hauptperson und Leser besteht. Wie schon gezeigt wurde, weiß der Erzähler alles, für ihn gibt es keine Geheimnisse, wenn er auch nicht alles aufklärt. Für den Methusalem lösen sich die entscheidenden Rätsel sehr bald. Der Leser dagegen bleibt in mehreren Fällen zunächst gänzlich unwissend, er wird wesentlich später eingeweiht als die Hauptperson.

   Geheimnis und Enthüllung stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Der Brief, der dem Chinesen zugesandt worden ist, scheint gar nicht für ihn bestimmt zu sein. Die Entdeckung des wahren Adressaten führt zum Öffnen und Lesen des Briefs, wodurch ein weiteres Geheimnis aufgedeckt wird: das Schicksal des Onkels. Dies führt dazu, daß die Reise nach China in Angriff genommen wird, auf der viele der jetzt noch im Zustand des Verborgenseins bleibende Aben-


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teuer darauf warten, erzählt, das heißt aufgedeckt zu werden; vorhanden sind sie schon: im Geist des Erzählers. Die Reisevorbereitungen führen den Methusalem am Haus des chinesischen Teehändlers vorbei, dem er mitteilt, daß der Empfänger des Briefes ausfindig gemacht worden ist. Das wieder führt zur Darstellung neuer Geheimnisse: die verschollene Familie des Chinesen und sein vergrabenes Vermögen sowie die revolutionäre Vergangenheit Ye-kin-lis stellen neue detektivische Anforderungen; indirekt erscheint also der Brief doch für den Chinesen bestimmt. Ob der Methusalem alle die Verpflichtungen, die er jetzt übernimmt, wird erfüllen können, bleibt noch ebenso offen wie die Antwort auf die Frage, ob er Richards Onkel finden wird. Wir müssen, da der Leser aus den ihm bekannten Abläufen einer Abenteuererzählung erwartet – ja: weiß –,  d a ß  der Held seine Aufgaben lösen wird, richtiger sagen: wie er das bewerkstelligen wird, bleibt vorläufig noch verborgen. Geheimnisse verlangen also ihre Aufdeckung, diese wieder läßt neue Geheimnisse entstehen.

   Das erzähltechnische und stilistische Mittel der Dialektik von Geheimnis und Enthüllung prägt die ganze Struktur der Einleitung. Die Art und Weise, in der die erzählten Ereignisse aufeinander folgen, ihr zeitliches Verhältnis zueinander und zum Akt des Erzählens weisen als auffälliges Merkmal die Verzögerung auf, die eine ausgeprägte Rückblendentechnik bedingt. Nach der Schilderung des gewohnheitsmäßigen Gangs zur Stammkneipe wird in einem klaren Kontrast das überraschende Verschwinden dreier Personen mitgeteilt, ohne daß die Gründe genannt werden. Statt dessen schildert der Erzähler die Ereignisse eines ganz bestimmten Vormittags; dabei stellt die Beschreibung des Methusalem und Gottfrieds schon eine starke Verzögerung dar. Das neue Rätsel, der unbekannte Briefadressat, erfährt zwar schnell wenigstens den Ansatz einer Lösung, die Entdeckung der ganzen Wahrheit aber wird gleich mehrfach hinausgeschoben, einmal durch das komische Intermezzo mit der zerbrochenen Wasserpfeife, sodann durch die Darstellung der Lebenssituation der Witwe Stein und der Beziehung des Studenten zu ihr und ihrem Sohn Richard. Drittens wird der Inhalt des Briefes dem Leser noch dadurch vorenthalten, daß das Gespräch des Studenten mit seinem Burschen dazwischengeschaltet wird; darin geht es zwar um eine Reise nach China – wieso und wozu bleibt dem Leser aber immer noch unklar; ja, es steigert dessen Wunsch noch, in Erfahrung zu bringen, was wohl in dem Brief steht. Das wird erst dem Chinesen Ye-kin-li mitgeteilt, wodurch auch endlich der Leser ins Bild gesetzt wird. Die lange Unterhaltung mit dem Teehändler, in deren Verlauf dieser dem Studenten seine Wünsche unterbreitet und sich schließlich ein Ehrenwort nach chinesischem Ritus geben läßt, enthüllt schließlich die Bedeutung des geheimnisvollen Titels der Erzählung. Diese lange hinausgezöger-


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te Entdeckung fällt in der Buchfassung mit dem neuen Titel leider weg.

   Erzählstruktur und -stil korrespondieren mit dem Verhalten der Personen auf der Handlungsebene: Bevor die Reise angetreten wird, müssen die nötigen Vorbereitungen getroffen werden; bevor dies ausgeführt werden kann, muß der Chinese informiert werden. Bevor der Leser dem Methusalem folgen darf, muß die Reaktion Gottfrieds auf die überraschenden Reisepläne geschildert werden; bevor der Leser über die Gründe, die zur Reise führen, informiert wird, muß er erst ein Bild von der Persönlichkeit der Reisenden erhalten. Dies ist ein fast virtuos zu nennendes Spiel mit den Fragen und Erwartungen des Lesers, in dem eine wichtige Forderung an guten Stil: die Übereinstimmung von Form und Inhalt(22) erfüllt wird.

   Aber – ist der Brief aus China so bedeutend, daß er solche vielfältige und langwierige Verzögerungstechnik trägt? Ich glaube, ja. Immerhin bildet dieser Brief den entscheidenden Anlaß für eine Fülle von Abenteuern, für die Kontakte von Europäern mit einem fernen und fremdartigen, auch als gefährlich, ja bedrohlich empfundenen Land. Mit diesem Brief werden zahlreiche Fragen, Ahnungen, Vermutungen, vielleicht auch leise Befürchtungen beim Leser geweckt, der dadurch begierig ist, den Fortgang der Ereignisse zu erfahren – und wir werden noch sehen, daß auch der Hauptteil des Romans, die Schilderung der Reise, von dieser Erzählstruktur in mannigfacher Weise geprägt wird.

   Die zeitliche Struktur der in der Einleitung erzählten Geschehnisse zeichnet sich durch eine kunstvolle Verschränkung verschiedener Zeitebenen aus.

   Die Anrede an den Leser im ersten Satz stellt die Erzählgegenwart dar. Sie leitet zur Vergangenheit I über. Diese umfaßt einen Zeitraum von wer weiß wie vielen Semestern (S. 1), führt dann zu einem markanten Zeitpunkt (eines Tages (S. 2)), an dem die Abreise erfolgt, und reicht darüber hinaus in die Zukunft (am nächsten Tage; am dritten Tage; erst später (S. 2)), die sich über zwei Jahre erstrecken dürfte, was aus der Mietvorauszahlung zu erschließen ist.

   Innerhalb der Zeitebene ›Vergangenheit I‹ erfolgt eine Rückblende durch den Erzähler in die Vergangenheit II: Sie enthält den Gang zum Stammlokal am Vormittag des Abreisetages, die ausführliche Beschreibung der beiden Hauptpersonen, das erste Gespräch mit dem Chinesen, den anschließenden Bruch der Wasserpfeife sowie den Besuch bei der Witwe Stein. Hier schaut der Erzähler erneut zurück in die Vergangenheit III, in der die finanziellen Folgen für die Familie Stein, die der Einzug des Methusalem in deren Wohnung nach sich gezogen hat, geschildert werden. Auch diese Zeitebene wird unterbrochen durch eine neue Zeitstufe, die Vergangenheit IV, die kurzgefaßte Lebensgeschichte des Studenten, die von ihm selbst erzählt wird.


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Deren Folgen schildert wieder ›Vergangenheit III‹ weiter: Richard kann das Gymnasium besuchen, der Methusalem nimmt am Leben des Jungen Anteil. Nun wird die ›Vergangenheit II‹ weitergeführt: Der Brief wird geöffnet, aber seinen Inhalt erfahren wir noch nicht; statt dessen wird etwa eine Stunde erzählter Zeit ausgespart. Es folgen das Gespräch des Methusalem mit Gottfried und dessen Ansprache an den chinesischen Laternendrachen. Innerhalb dieser Vergangenheits-ebene gibt es eine kurze Parallelschaltung (Inzwischen (S. 18)) zu der Unterredung des Methusalem mit dem Chinesen. Hierin wird gesprächsweise das Schicksal des Onkels (= Vergangenheit V), das in der ›Vergangenheit II‹ ausgespart blieb, mitgeteilt. Dann geht es wieder mit dieser Zeitebene weiter, indem der Chinese seine eigene Geschichte, soweit sie ihm bekannt ist, enthüllt: Diese gehört zur Vergangenheit VI, mündet aber wieder in die ›Vergangenheit II‹, wenn das Kong-Kheou gegeben wird, was den Erzähler dazu veranlaßt, wieder auf die ›Zukunft‹ zu verweisen. Die Mitteilung, daß nun endlich die Vorbereitungen zur Reise getroffen werden, führt wieder zur ›Vergangenheit I‹, ohne daß diese noch einmal ausdrücklich thematisiert wird.

   In die Zeitebene ›Vergangenheit I‹ ist als großer Block die ›Vergangenheit II‹ eingebettet, die ihrerseits mehrfach durch weitere verschiedene Vergangenheitsschichten unterbrochen wird. Auch in die ›Vergangenheit III‹ wird eine weitere Zeitebene eingeschaltet. Die umrahmenden Zeitebenen: Anfang von ›Vergangenheit I‹ und Ende von ›Vergangenheit II‹ verweisen auf ›Zukünftiges‹, das von der ›Gegenwart‹ des Erzählens aus zu sehen ist und den Inhalt des Hauptteils des Romans ausmacht.

   Worin liegt der Sinn dieser zeitlichen Verschachtelung? Offensichtlich dienen die Rückblenden durch den Erzähler und die Berichte des Methusalem sowie des Chinesen dazu, die jeweils näher an der Erzählgegenwart liegenden Ereignisse, Handlungen und Absichten durch Erklärungen und Begründungen zu erhellen. In einigen Fällen macht dies der Inhalt notwendig. Der Chinese muß z. B. dem Methusalem erzählen, was mit ihm, seiner Familie und seinem Vermögen geschehen ist, damit er diesen zur Hilfeleistung motivieren kann. In anderen Fällen, das haben wir schon gesehen, hat die Verschachtelung erzähltechnische Gründe: sie dient der Verzögerung. In allen Fällen schließlich wird durch diese zeitliche Struktur der Einleitung begründet und erläutert, warum die Personen so und nicht anders handeln, in welchen Beziehungen sie zueinander stehen und welche Aufgaben in der Folgezeit zu lösen, welche Rätsel aufzuklären, welche Fragen zu beantworten sind. Damit verstärkt diese Struktur den Anreiz für den Leser, sich auf die lange Erzählung einzulassen; immerhin wird sich die Lektüre über einen ganzen Jahrgang erstrecken.

   Wenn im Zentrum der Einleitung das Geheimnis und die (Ankündi-


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gung seiner) Enthüllung stehen, so weist das darauf hin, daß sich das Interesse des Lesers bzw. seine Spannung weniger auf den Charakter des Haupthelden als vielmehr auf Verlauf und Ausgang der Handlung richten soll.(23) Der Charakter des Methusalem liegt denn auch von vornherein fest; es ist kaum zu erwarten, daß er sich im Laufe der Geschichte entwickelt oder gar entscheidend verändert. Dem widerspricht nicht, daß sich seine Lebensweise aufgrund der Reiseerfahrungen wandeln wird. Diese Erfahrungen werden keinen Persönlichkeitswandel bewirken, sondern den Studenten nur zu einer richtigen Erkenntnis bringen: Ich bin ein Thor gewesen. Der Mensch hat andre Zwecke als das Pokulieren, welches doch nur Leib und Geist zerrüttet (S. 820). Nun muß man eigentlich keine Reise nach China machen, um zu so einer nicht gerade welterschütternden Einsicht zu gelangen; so hat der Methusalem denn auch schon am Anfang unserer Erzählung diese Einsicht, wenn er Frau Stein beichtet: Ich beginne nun nachgerade die ganze Leere dieses zwecklosen Daseins schmerzlich zu empfinden. Ich schäme mich meiner selbst. (S. 4) Daß er diese Erkenntnis am Ende, nur mit etwas anderen Worten, erneut ausspricht, beweist, daß nicht der Methusalem die Chinareise benötigt, um ein anderer Mensch zu werden, sondern ausschließlich der Erzähler, der eine lustig-spannende Geschichte darbieten und gleichzeitig natürlich auch zeigen möchte, daß es wichtigere Dinge gibt, als sie der Student bis dahin betrieben hat. Diesen bringt sie nur dazu, endlich konsequent so zu handeln, wie es von Anfang an in ihm angelegt war.

   Überhaupt ist der Methusalem als eine recht uneinheitliche und zugleich etwas stereotyp gezeichnete Gestalt konzipiert. So geht es denn auch in der Abenteuerliteratur für Jugendliche im allgemeinen weniger um allzu differenziert gezeichnete, gar problematische Individuen, um echte Charaktere also, als vielmehr um handlungsstarke Geschichten.(24) Ein Grund mehr, den neuen Titel der Buchfassung als im Grunde unpassend zu bewerten.


5. Die Einleitung als Roman ›in nuce‹

In einem weiteren Analyseschritt müssen wir nun der früher aufgestellten Behauptung, daß es sich bei diesem Anfang um einen Roman ›in nuce‹(25) handle, eine genauere Untersuchung widmen. Entsprechend dieser These müßte die Einleitung den Kern des ganzen ›Kong-Kheou‹ repräsentieren. Inhaltlich bildet die Reise einer Gruppe von Menschen unter der Führung des Methusalem den Mittelpunkt, eigentlich den Inhalt schlechthin. Ihr Ziel ist es, das Erbe des Onkels anzutreten sowie Familie und Vermögen des Teehändlers nach Deutschland zu bringen. Das ethische Zentrum besteht in dem der


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Kamerad-Fassung den Titel gebenden dreifachen Ehrenwort, dem unausgesprochenen gegenüber der Witwe Stein, dem ausdrücklichen gegenüber dem Chinesen sowie dem, welches sich der Methusalem insgeheim selbst gegeben hat – und natürlich der Einlösung. Tatsächlich wird diese Einlösung gelingen. Schließlich ist der Ton, der die Erzählweise des ganzen Romans prägt, durch heitere Gelassenheit, freundlichen Humor, gepaart mit sanfter Ironie, bestimmt.

   Ist der soeben skizzierte dreifache Kern der Erzählung (Inhalt, Ethos, Erzählton) schon in der Einleitung so ausgeprägt, daß wir sie als den Roman ›in der Nußschale‹ bezeichnen dürfen?

   Inhaltlich erscheint der Gang zum Bierlokal wie eine Entsprechung zur Reise nach China, nur daß der erstere regelmäßig erfolgt, die letztere dagegen einmalig ist und sich natürlich in mehrerlei Hinsicht in ihren Dimensionen unterscheidet. In beiden Fällen handelt es sich um eine Gruppe sowie um einen Hin- und Rückweg. In beiden Fällen wird bei den jeweiligen Einheimischen größte Aufmerksamkeit erregt. Entsprechend der ethisch noch nicht sehr hochstehenden Verfassung des Methusalem verläuft der Gang ins Lokal recht burlesk; andererseits korreliert auch das Amüsement, welches das Auftreten der Reisenden später erlaubt, mit deren ganzem Gehabe in China. Die Belanglosigkeit des Treibens in der heimatlichen Universitätsstadt wird durch den Hinweis auf den immer gleichen Ablauf betont. Aber auf einer höheren Ebene trägt der Student mit der Sorge um Erziehung und Ausbildung Richards – wie er selbst sagt – eine Schuld (S. 4) ab, die in seinem bisherigen sinn- und zwecklosen Leben bestanden hat. Diese Entsprechung zum Ehrenwort erschöpft sich allerdings zunächst weitgehend im bloßen Bezahlen. Erst mit der Reise nach China übernimmt er eine bedeutendere Aufgabe.

   Es gibt auch eine wichtige Vorausdeutung auf den Ausgang der Reise. Am Ende der Einleitung heißt es: So war das Ehrenwort gegeben, welches für den Studenten so reiche und seltsame Folgen haben sollte (S. 20). Hinter der Kennzeichnung der Folgen als seltsame steckt wohl nichts anderes als das Versprechen des Erzählers, daß der Leser allerlei ungewöhnliche Vorkommnisse erwarten darf.

   Aber was ist unter den reiche(n) Folgen zu verstehen? Es handelt sich dabei um keinen gängigen Ausdruck, also muß etwas Besonderes dahinterstecken. Reichtum im materiellen Sinne kann nicht gemeint sein; das würde weder zu dem bisher herausgearbeiteten Gehalt des Anfangs passen, noch würde es den Ertrag, den die Reise für den Methusalem bringt, zutreffend benennen: der Student erringt für sich ja keine materiellen Schätze. Aber vergegenwärtigen wir uns, was Karl May seinen Ich-Erzähler in ›Winnetou I‹, etwa fünf Jahre nach dem Erscheinen des ›Kong-Kheou‹, über den Reichtum, nach dem er strebt, äußern läßt: »Reichtum . . . an Gnade bei Gott und den Men-


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schen«!(26) So verstandenen Reichtum hat der Methusalem durch seine sozialen Thaten (S. 4) und die daraus resultierende Erkenntnis wahrer Lebensqualität wirklich errungen, wenn Reise und Roman zu Ende sind. Damit aber umfaßt die Einleitung den ganzen ethischen Gehalt des Romans.

   Was den Erzählton angeht, so ist schon zu Beginn eine humorvolle Ironisierung der beiden Hauptpersonen festzustellen. Die Erzählstruktur ist – neben der Verzögerungstechnik – nicht zuletzt durch den Wechsel von (mit Humor gezeichneten) bedeutsamen Ereignissen und komischen Intermezzi gekennzeichnet. Auch für die Einleitung gilt, was Koppen den »ständigen komischen Einschüben und Dialogen« zuerkennt: daß sie »eine humoristische, fast schon ironische Grundhaltung des Erzählens konstituieren«.(27) Mir scheint sogar, man kann in dieser Wertung die Einschränkung »fast« streichen, zumal sich die »ironische Grundhaltung« keineswegs auf die eindeutig komischen Passagen beschränkt.

   Die lächelnd-mitfühlende Einstellung des Erzählers zu den Personen und Ereignissen zeigt sich des öfteren deutlich; so, wenn er die Bewohner der Stadt ihre Uhren nach dem Auftauchen des Studenten stellen und sie damit zeigen läßt, daß sie seine Marotten akzeptieren. Aber auch leichte Ironie tut der Erzähler damit kund, daß die von ihm entworfene Reaktion der Einwohner den Methusalem selbst wie ein mechanisches Uhrwerk erscheinen läßt. Die gegenseitige Toleranz dokumentieren der Student wie die Menschen, denen er begegnet: Diese blicken dem Methusalem, Gottfried und dem Hund lächelnd (S. 2) nach, und der Student ergötzte sich im stillen (ebd.) über die Aufmerksamkeit, die er immer wieder erregt.

   Die ganze Beschreibung des Äußeren, samt dem Hektoliterbäuchlein (ebd.), atmet humorvolles Verständnis; später wird auch die Sorge des Studenten für Richard Stein liebevoll beurteilt durch den Vergleich mit der Henne, die über ihr einziges Küchlein wacht (S. 4). Aber an ihrem Ende geht die Beschreibung des Methusalem über bloßen Humor hinaus und übt deutliche Kritik an seinem Verhalten, vor allem seiner Trinklust und seiner Neigung zum Schlagen. Überhaupt wirkt die durchgehende Bezeichnung als Student höchst ironisch, wenn sie auch vielleicht nicht so gemeint ist – aber er tut ja alles andere als studieren.

   Vollends das Ende der Lebensgeschichte, die der Methusalem ganz ernsthaft erzählt, enthält eine Aussage, die nur noch ironisch-kritisch verstanden werden kann: »Ich will Thaten thun, und meine erste That soll darin bestehen, daß ich in Ihrem Sohne Ersatz biete für meine verlorene Studienzeit. Er soll studieren, und ich zahle für ihn.« (Ebd.) Zweifellos handelt es sich dabei nicht um subjektive, also um Selbstironie, zu der der Sprecher in dieser Situation kaum in der rechten


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Stimmung sein dürfte, wohl aber um eine distanzierte und distanzierende Einstellung des Erzählers, der dem Methusalem diese Worte in den Mund legt. Die Finanzierung des Studiums ist gewiß eine noble Geste, aber sie ist nicht eben das, was man gemeinhin unter Thaten versteht. Mit diesem Begriff verbindet man auch nicht das ›Wachen‹ des Studenten über den Jungen, das übrigens auch gar nicht weiter konkretisiert wird. Abgesichert wird die Deutung dieser Stelle als Ausdruck einer immanenten Kritik an dem Methusalem, die diesen mit seinen eigenen Worten als einen, der nur in den Tag hinein lebt, entlarvt, wenn man ihn mit der Figur des Juggle-Fred in ›Der Geist des Llano estakado‹ vergleicht. Die Selbstkritik des Methusalem ist den Aussagen Freds über die Versäumnisse in seiner Jugend frappierend ähnlich.(28)

   Vor diesem Hintergrund erscheint der ritualisierte Gang zum und vom »Geldbriefträger von Ninive« (S. 2) nicht mehr nur komisch, sondern ironisch gebrochen als bramarbasierende Zurschaustellung einer Aktion, die beeindrucken soll, in Wahrheit aber völlig sinnlos, ja sinnwidrig und im höchsten Grade lächerlich ist, eine Aktion, die den nachdenklichen Leser bestenfalls traurig stimmen kann.

   An einer anderen Stelle gibt es vielleicht ein Beispiel für die Fähigkeit des Methusalem, sich selbst zu ironisieren, wenn er, als es um die Reisepläne geht, zu Gottfried sagt: ». . . das Schlaraffenleben hat ein Ende!« Die bisherigen Thaten waren also auch in seinen Augen nichts als süßes Nichtstun mit Essen, Trinken und Schlagen. Diese Einsicht darf man ihm durchaus zutrauen, paßt sie doch gut in das uneinheitliche Bild von dieser Gestalt mit ihrer Mischung aus Oberflächlichkeit und Selbsterkenntnis, das wir schon feststellen konnten.

   An diese Stelle gehört ein kurzer Blick auf das letzte Kapitel, ›Daheim, daheim!‹ Da verändert sich die Erzählweise zum Schluß hin merklich. Werden die Heimkehr der um einige Personen vermehrten Gesellschaft und der Empfang in der Heimatstadt noch genauso humorvoll geschildert wie die Ereignisse am Anfang und die vergleichbaren Aufzüge im Hauptteil der Erzählung (vor allem der zweimalige Einzug in Hongkong!), so weicht in den allerletzten Abschnitten der leichte oder auch derbe Humor zunehmend einer ernsten Sprechweise, und von Ironie gar ist nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil! Die Reaktion der heimischen Bevölkerung auf die Rückkehr des Methusalem ist eine ernsthaft bewundernde und deutet auf die neue Lebenseinstellung des Studenten voraus. Dieser nimmt die früheren ritualisierten Gänge zwar wieder auf, aber mit einem neuen Ziel: nach einer einsam gelegenen Promenade (S. 820). Schon der betonte Hinweis auf die frühere Weise und Reihenfolge (ebd.) bestätigt, daß keineswegs von einem charakterlich durchgreifenden Wandel des Studenten gesprochen werden kann. Aber der Erzählton ist ein anderer als in der Einleitung,


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was noch deutlicher zu spüren ist, wenn noch ein weiterer Gang geschildert wird: ins Kollegium. Und dann heißt es: Daß er, der Alte, auch während der Vorlesungen zwischen ihnen . . . sitzt, das hat erst manches Lächeln hervorgerufen, ihn aber gar nicht stören können. Er hat sich selbst das Ehrenwort gegeben, daß er ihnen als Beispiel voranleuchten wolle, und wie er sein Versprechen in China gehalten hat, so hält er auch dieses Wort, dieses stille »Kong-Kheou«. (S. 820f.)(29) Die Grundhaltung des Erzählens hat sich in einem entscheidenden Punkte geändert.

   Freundlich-interessiert ist der Erzähler zwar immer noch, aber die humoristische, ja ironische Haltung ist einer ernsthaft-nüchternen Schilderung gewichen, in der nur noch das ›Um-die-Wette-Studieren‹ einen leichten Anflug von Heiterkeit verbreitet.

   Vergleichen wir am Ende unserer Überlegungen zum Aspekt Roman ›in nuce‹ noch die zeitliche Struktur der Einleitung mit der im Hauptteil des Romans. Auffällig, ja zunächst befremdlich ist die Tatsache, daß die Reise, deren eigentliche Schilderung erst in Hongkong einsetzt, nicht sehr weit geht, sondern mit dem Sieg über die Piraten auf der Raubdschunke abgebrochen wird, und statt – wie es die Reisenden geplant haben – nach Kanton zu führen, zu ihrem Ausgangspunkt, Hongkong, zurückführt. Dies ist nicht nur merkwürdig und überraschend, es erscheint unter dem Gesichtspunkt einer Abenteuererzählung, deren Grundlage eine Reise durch ein unbekanntes Land ist, mit in Aussicht gestellten Schwierigkeiten und Gefahren, einfach ungeschickt und unbefriedigend. Inhaltlich ist die Rückkehr nach Hongkong nicht notwendig, es gäbe mehrere Möglichkeiten, die Helden sogleich weiterreisen und z. B. in Kanton einen triumphalen Empfang genießen zu lassen. Wie ist also diese Doppelung zu rechtfertigen?

   Sieht man sie im Zusammenhang mit mehreren Parallelen, die zwischen Einleitung und Hauptteil bestehen, erkennt man leicht, daß dieser scheinbare erzählerische Mangel wettgemacht wird, ja eigentlich sinntragend ist. Zum einen stellt sich eine zeitliche Parallele in bezug auf den Vorgang des Erzählens ein: So wenig wie in der Einleitung geht der Erzähler im Hauptteil einfach chronologisch vor. Auch das Erzählen der Reiseabenteuer wird durch episodenhafte Einschübe unterbrochen, die mit dem eigentlichen Reisezweck wenig oder nichts zu tun haben. Was speziell den doppelten Hongkong-Aufenthalt angeht, ist festzustellen, daß die zeitliche Rückblendenstruktur der Einleitung hier eine ganz eigentümliche Entsprechung findet: Die Rückkehr nach Hongkong führt nämlich zu einer räumlichen Rückblende, in der der Einzug der Helden, bei dem Turnerstick die Hauptrolle spielt, variierend wiederholt wird. Wichtiger aber noch erscheint die folgende Parallele: Auch im Hauptteil dienen die Episoden, welche von der Haupthandlung abzuschweifen scheinen, der Erhellung von Vorgän-


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gen bzw. Sachverhalten in dem Hauptstrang der Erzählung, sind also im Grunde gar keine Abschweifung, sondern notwendiger Bestandteil der inneren Handlung. So spiegelt der Triumphzug nach dem Sieg über die Piraten vor allem in bezug auf Turnerstick den ersten Einzug in Hongkong vielfältig differenziert wider, und wenigstens der Kapitän zeigt nun ein rücksichtsvolleres Verhalten den Chinesen gegenüber als beim ersten Mal, und so endet der zweite Einzug mit einer versöhnlichen Stimmung, wie sie derartig eindrucksvoll, weil unprätentiös gestaltet, an wenigen Stellen in Mays Romanen zu finden ist.


6. Weitere Parallelen zwischen Einleitung und Hauptteil

Eben wurde behauptet, Episoden, die mit dem Reisezweck nichts zu tun haben, seien ein notwendiger Bestandteil der inneren Handlung des Romans. Das muß nun genauer aufgezeigt werden. Dazu ist es nötig, in der Ereignisfolge der Erzählung weit vorauszugreifen und die beiden Episoden ›Aufdeckung des Götterraubs‹ und ›Tempelschändung‹ mit ihren Folgen zu untersuchen. Die Frage lautet, inwiefern diese Episoden der Erhellung und Deutung von Handlungen und Ereignissen dienen, welche endlich zu dem so problemlosen Erreichen der Reiseziele führen.

   Die Geschehnisse, die sich um den Götterraub ranken, offenbaren äußerst bedenkliche gesellschaftliche Verhältnisse im chinesischen Reich. Kein Mensch kann einem anderen trauen; Heuchelei und Mißtrauen, Lüge und Verdächtigung herrschen überall und vergiften die zwischenmenschlichen Beziehungen. Jedermann, gleich, welche gesellschaftliche Stellung er einnimmt, gleich, ob er sich etwas zuschulden kommen läßt oder nicht, kann in jedem Augenblick ins Elend gestürzt werden. Folglich wird das Verhalten der Menschen bestimmt durch die nackte Angst, alles – Vermögen, Stand, Familie, Leben – zu verlieren, was wiederum ebenso nackten Egoismus zur Folge hat. Daraus resultieren groteske gesellschaftliche Zustände, z. B. die immense Macht eines ›Bettlerkönigs‹, weil auch die Organe staatlicher Gewalt nichts ausrichten können.

   Auf diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn die meisten Chinesen mutlos, ja feige, jedenfalls träge und energielos erscheinen und sich selbst sowie ihre Wohltäter nur durch geheime Machenschaften über Wasser halten können und trotzdem noch Freiheit und Leben riskieren. Überrascht es da, wenn ein paar Europäer, die etwas mutig, forsch, ja bedenkenlos, manchmal einfach frech sind, in diesem Lande schalten und walten können, wie es ihnen beliebt?

   Auch im Bereich der Motive gibt es Übereinstimmungen bzw. Spiegelungen zwischen der Götterraub-Episode und der Einleitung. Über


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Gottfrieds Bett im Hause des Tong-tschi hängt wie in der heimatlichen Bude des Methusalem ein Drachen, und an beide hält der Leibbursche eine geharnischte Rede. Die Flucht Wing-kans, des verbrecherischen Nachbars des Juweliers, spiegelt das Schicksal Ye-kin-lis wider, nur daß letzterer unschuldig fliehen mußte. Der Methusalem nimmt sich ohne langes Bedenken der Bedrängten genauso an wie daheim. Schließlich stimmt die Einschätzung, die den Deutschen von seiten der Chinesen zuteil wird, in beiden Fällen überein: Sowohl Ye-kin-li als auch der Tong-tschi und der Juwelier versichern dem Studenten, daß nur er fertigbringen könne, was kein Chinese vermöge.

   Die Geschehnisse um den Götterraub und den Tempelbesuch mit seinen Folgen illustrieren und erhellen das Schicksal Ye-kin-lis und seiner Familie. Die Sippenhaftung, ja mehr noch: die Haftung aller, die irgendwie mit einem Verbrechen auch nur entfernt in Berührung kommen, bildet in beiden Abenteuern den Hintergrund. Parallel dazu hat auch die Familie Stein mit dem Verlust des Gatten bzw. Vaters Entscheidendes verloren. Besondere Bedeutung kommt also der Hilfe zu, die die Reisenden, allen voran der Methusalem, leisten. Er verrichtet folgenreiche soziale Thaten, wenn er unter den Bedingungen, welche in China herrschen: Zerschneidung aller menschlichen Bindungen, die gestörte menschliche Ordnung mehrfach wiederherstellt, indem er Piraten dem Gericht überliefert, Gefangene befreit, darunter zwei Beamte, wodurch er die Ausübung irdischer Gerechtigkeit unterstützt; indem er den Tod eines Gerechten und den Triumph eines Bösewichts verhindert; indem er eine Familie zusammenführt und so eine Keimzelle gesellschaftlicher Ordnung repariert. Aus Unordnung wird – wenigstens in begrenzten Bereichen – Ordnung. Das aber leistet kein omnipotenter Held, sondern ein zwar gebildeter, kluger und mutig-tatkräftiger, aber doch nicht allzu überdurchschnittlicher Mensch, der aufgrund seines sozialen Engagements, man könnte auch sagen: aus Nächstenliebe unter Einsatz seines Lebens dafür verantwortlich ist, daß vieles ins rechte Lot kommt. Zwar ist er allemal im Bunde mit Gott, was er auch selbst spürt, wenn der Erzähler feststellt: Welche Freude aber empfand der brave Methusalem, die Gesuchten nun endlich, und zwar so ganz unerwartet, ohne alle Anstrengung, ohne sein Zuthun gefunden zu haben. Das war auch schon bei den beiden Söhnen des Händlers der Fall gewesen; er mußte es für Gottes Schickung nehmen. (S. 690) Aber fest steht auch, daß ohne den Studenten selbst Gottes Schickung in unserer Romanwelt nichts vermöchte.

   Der Methusalem ein Werkzeug Gottes? Die symbolhaltige Sprache an einigen hervorstechenden Stellen der Erzählung legt noch weitergehende Folgerungen nahe. Jin-tsian, der zweite Sohn Ye-kin-lis, sagt zu dem Studenten: »Herr, Sie sind wie ein Stern, der mir in dunkler Nacht erscheint.« (S. 594, Hervorh. W. K.). Ähnlich klingt der Freu-


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denausbruch Ye-kin-lis in der Einleitung: »O, Herr des Himmels, Glanz der Sonne, Ursprung der Zeit und des Raumes! Welch ein Glück, welch eine Schickung(S. 19, Hervorh. W. K.). Immerhin ist der Methusalem der Überbringer der Freudenbotschaft, und Liang-ssi, der jüngere Sohn, dankt für die Rettung aus Piratenhand so: »O Himmel, o Himmel! Welch eine Nachricht, welch eine Botschaft(S. 290, Hervorh. W. K.). Die frohe Botschaft, vom Himmel hoch, nicht durch einen Engel, sondern den Methusalem! Der Stern (von Bethlehem) ist auch da, wenigstens verbal, die Wundergeschichte hat ihren – wenn auch irdisch beschränkten – Messias, den Erlöser aus dunkler Nacht. Wahre Wunder geschehen genug, will man dem Erzähler und den handelnden Personen glauben, wenn zahlenmäßig weit überlegene Piraten dingfest gemacht werden, Götter in der Luft zu sprechen beginnen und ihre eigenen Diebe überwältigen und fesseln, wenn allein durch die Anwesenheit der Fremden zwei verschollene Söhne bzw. Brüder sich finden lassen usw. Eine weitere Parallele zum Wirken des biblischen Messias: Auch der Methusalem mutet den Menschen, die ihm anhängen, einiges zu; er bringt die ihm freundschaftlich verbundenen Personen in größte Gefahr, so daß sie alle verfügbaren Geisteskräfte aktivieren und gar unlautere Tricks anwenden müssen, um sich ihrerseits aus den Schlingen, die der gutherzige Retter ungewollt um sie gelegt hat, zu befreien. Schließlich müssen sie selbständig handeln, sich von ihrem Erlöser emanzipieren, um der Erlösung auch wirklich teilhaftig zu werden und sie zu verdienen. Aber das führt nicht dazu, daß der Methusalem in seiner Funktion als Katalysator himmlisch-rettender Macht angetastet würde. So darf er auch gegen Schluß der Geschichte den anderen verheimlichen, daß Mutter und Schwestern der beiden jungen Chinesen ganz in der Nähe sind, frei nach dem Motto: Meine Stunde ist noch nicht gekommen – wodurch die entsetzliche Marotte der Helden in Karl Mays Romanen, anderen Menschen eine so große frohe Überraschung zu bereiten, daß sie sich fast zu Tode freuen, transzendiert wird. Auch das gehört zu dieser Wundergeschichte.


7. Eine neue Definition des Anfangs: der erste Satz

Der Schwerpunkt unserer Analyse liegt auf der Untersuchung des Romananfangs. Dabei haben wir uns noch gar nicht überlegt, ob wir recht daran taten, die ganze Einleitung als ›Anfang‹ zu behandeln. Formal rechtfertigt das zwar die Tatsache, daß dieser Teil in der Kamerad-Fassung isoliert, ohne eigene Überschrift, vor dem ersten Kapitel steht. Auch unter dem Aspekt eines Romans ›in nuce‹ kann man den vorletzten Satz der Einleitung als unterste Grenze des ›Anfangs‹


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betrachten; der letzte Satz leitet dann zur Schilderung der Reiseerlebnisse, also zum Hauptteil über.

   Nehmen wir nun einmal an, der Anfang eines Romans habe hauptsächlich die Aufgabe, einen Leseanreiz zu geben; er müsse so gestaltet sein, daß der Leser, sobald er nur den allerersten Satz aufgenommen hat, weiterlesen muß, weil er unwiderstehlich in die fiktive Welt, die sich ihm auftut, hineingezogen wird. Damit würde schon der erste Satz über das Leseschicksal des ganzen Buches entscheiden, indem es ihm gelänge, den Widerstand des außerhalb der Romanhandlung stehenden Lesers zu überwinden – oder eben nicht.(30)

   Wir wollen einmal unter diesem Blickwinkel den ersten Satz des ›Kong-Kheou‹ genauer betrachten: Mein lieber, guter Kamerad, hast du vielleicht den » b l a u r o t e n  M e t h u s a l e m« gekannt?

   Auf diese Frage soll der Leser, der angesprochene Kamerad, eine Antwort geben, sonst wäre es sinnlos, sie zu stellen. Damit er das kann, muß er aber weiterlesen, weil er noch gar nichts über diese Person weiß. Damit baut schon diese Frage eine bestimmte Erwartung auf: Wer ist dieser Methusalem mit dem merkwürdigen Beiwort, was für eine Bewandtnis hat es mit diesem Menschen, der dem Leser eventuell bekannt ist? Erst wenn man all dies weiß, kann man die Eingangsfrage beantworten, denn die Tatsache, daß dieser Name bisher unbekannt war, besagt noch nichts; er kann einer schon bekannten Person zu einer Zeit und unter Umständen gegeben worden sein, die später liegen als der Zeitpunkt der Bekanntschaft.

   Darüber hinaus macht die freundlich persönliche Anrede den Leser zum vertrauten Gesprächspartner des Erzählers und ermuntert ihn zur emotionalen Teilnahme an den Geschehnissen, die auf ihn warten. Der geheimnisvolle Name lenkt sehr direkt das Interesse auf die Erkundung der Persönlichkeit seines Trägers.

   Vor allem aber wirkt die Frage ungeheuer suggestiv, denn sie unterstellt, der Leser und diese Persönlichkeit könnten einander wirklich bekannt sein, sie seien sich schon einmal begegnet, oder jedenfalls müßte der Leser etwas Genaues über diesen Menschen wissen. Wahrscheinlich sind beide schon einmal längere Zeit zusammen gewesen, denn ›kennen‹ heißt ja wohl, aus der Beschäftigung mit einem Menschen etwas Wesentliches über ihn wissen, sonst hätte die Frage lauten müssen: ›Hast du schon einmal etwas von dem Methusalem gehört?‹ oder so ähnlich. Auf diese Weise wird die fiktive Geschichte in der Alltagswirklichkeit des Lesers verankert. Dabei stiftet das Adverb vielleicht wiederum eine schwebende Ungewißheit, eine anregende Unbestimmtheit, die das Verlangen des Lesers noch brennender macht, etwas mehr zu erfahren über das Schicksal dieser Person, von der er einfach noch nicht sagen kann, ob er sie tatsächlich gekannt hat – zumal dieser Methusalem entweder inzwischen gestorben sein


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oder von dem Ort der möglichen Begegnung mit dem Leser weggezogen sein muß, sonst hätte der Erzähler seine Frage nicht ins Perfekt gesetzt. Der Kamerad muß also weiterlesen, und spätestens der Anfang des nächsten Satzes: Ganz gewiß hat ihn auch schon vollständig in seinem Netz, aus dem ihn auch die sogleich folgende Einschränkung: nämlich wenn du . . . nicht mehr entwischen läßt. Wird auch der Kreis derer, die den Methusalem kennen sollten, dadurch eingeschränkt, so wird doch der Glaube an die reale Existenz dieser Person durch die Angabe ihres Wirkungskreises eher noch verstärkt.

   Worauf läuft das ›Spiel‹ zwischen Erzähler und Leser, das mit dieser Frage anhebt, hinaus? In welcher besonderen Weise wird es sich entfalten? Hier müssen wir unterscheiden: Was läßt der erste Satz erraten, bevor weitergelesen wird? Und welches Spiel ergibt sich rückblickend aus der Kenntnis des ganzen Romans? Dies führt zu der weiteren Überlegung, wieweit der Roman das einlöst, was der erste Satz, diese Frage, versprochen hat – eine Überlegung, die wir schon an die ganze Einleitung geknüpft haben. Also, welches Spiel läutet die Frage ein? Wie gedenkt der Erzähler, diese vom Autor geschaffene Figur an der Schwelle zwischen Wirklichkeit und Fiktion, der eigentliche (Wider-)Part des Lesers, mit diesem umzugehen? Der Wortlaut der Frage verspricht, daß der Erzähler jedenfalls nicht gedenkt, mit dem Leser Katz und Maus zu spielen, daß er ihn nicht täuschen, nicht irreführen will, daß er ihn auch nicht seine Überlegenheit, die er aus seiner Kenntnis des Gesamtplans der Handlung natürlich besitzt, fühlen lassen wird; im Gegenteil: der Erzähler akzeptiert ihn als gleichberechtigten Partner. Einen liebe(n), gute(n) Kamerad(en) führt man behutsam und freundschaftlich durch die Welt, die man vor ihm und für ihn entwirft. Das schließt andererseits durchaus ein, daß der Erzähler seinen Kameraden auch fordert, daß er Ansprüche an ihn stellt, ihm etwas zumutet, damit er seinen Verstand und seine Einbildungskraft während der Lektüre anstrengt – daß er ihn aber nicht ü b e r fordert! Die Frage am Anfang stiftet außerdem ein gewisses Einverständnis zwischen den beiden Partnern: Wenn du, mein lieber, guter Kamerad, den Methusalem gekannt hast, dann bist du auf das, was du jetzt lesen wirst, gut vorbereitet; du ahnst, was an interessanten und amüsanten, jedenfalls außergewöhnlichen Ereignissen auf dich zukommt; wenn du ihn aber nicht gekannt hast, dann kannst du gespannt sein, was für ein bemerkenswerter Mensch er ist, dessen Erlebnisse und Taten kennenzulernen sich lohnt. Vielleicht – Dichtung und Wahrheit fließen zusammen, beides erklärt und erhellt sich gegenseitig. Das Adverb bezieht sich nicht nur auf das Objekt des möglichen Kennens, also auf den Menschen Methusalem und sein Leben allein, sondern auf das Kennen selbst und meint damit, daß es mehr


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bedeutet, als sich bloß an einen Menschen zu erinnern, sondern in einem weiteren Sinne, daß es ein Wissen von exemplarischen Vorgängen und Erlebnissen gibt, wie es in ähnlicher Weise von allen der Welt und dem Leben gegenüber aufgeschlossenen Menschen erworben wird, in der äußeren Wirklichkeit und in der Phantasie, allem voran in der Leseerfahrung.

   Das aber konstituiert eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen unserer Erzählung und dem Märchen, das ebenso an Urerfahrungen des Menschen appelliert und sie im Vollzug des Erzählens und Hörens bzw. Lesens aktiviert.

   Die Welt, durch die der Leser geführt werden wird, verspricht eine exotisch-fremdartige zu sein, die sich aber mit heimatlich-bekannten Dingen mischt. Das eine wird mehr mit Dichtung, das andere mit Wahrheit assoziiert, deren Mischung die oft analysierte Verbindung von Heimat und Fremde in den Romanen Mays festlegt, deren sozialpsychologische Bedeutung in der vorliegenden Untersuchung allerdings keine Rolle spielen soll. Die Heimat ist einmal Ausgangs- und Endpunkt der Abenteuer, auf der Reise selbst kommt sie nur in – allerdings bezeichnenden – Details in den Blick: in Form von deutschem Bier und Lesestoff nach Art deutscher Jugendlektüre für chinesische Kinder. Heimat spielt also nur die Rolle einer beruhigenden Folie; der Leser braucht nicht zu befürchten, daß er dauernd an seine eigene Umgebung erinnert wird.(31)

   Nun ist aber längst ein Einwand fällig: Gilt es denn im Falle des ›Kong-Kheou‹ wirklich, »den ersten und stärksten Widerstand des außenstehenden Lesers zu überwinden«, wie es Miller(32) allgemein dem Romananfang zuschreibt? Die Leser des ›Guten Kameraden‹ leisteten doch gar keinen Widerstand; im Gegenteil, sie verlangten nach immer neuen Abenteuergeschichten. Höchstens war es nötig, sie ein ganzes Jahr lang bei der Stange zu halten, sie nicht zu ermüden, nicht aber, sie mit schriftstellerischen Tricks in die fiktive Welt hineinzuzwingen, in die sie doch nur zu gerne eintauchten. Gilt dieser Aspekt der theoretischen Diskussion über die Bedeutung des Romananfangs überhaupt für Romane wie ›Der Sohn des Bärenjägers‹, ›Der Geist des Llano estakado‹ und die folgenden Kamerad-Erzählungen? Der Anfang des ›Kong-Kheou‹ dürfte eine andere Funktion als die von Miller beschriebene haben. Er leistet eine Verzauberung des Lesers durch dessen ganz behutsame Einführung in die Romanwelt, nicht mit Hilfe exotischer Versatzstücke, sondern mit dem Verweis auf Bekanntes, das gleichzeitig die Aura des Fremden, Unbekannten besitzt; eine Verzauberung, die den Leser sogleich mit einer Atmosphäre fiktiven Lebens umhüllt und die Sehnsucht nach der phantastischen Bewältigung von im realen Leben nicht begegnenden Abenteuern weckt. In dieser Hinsicht hat die Gestalt des blauroten Methusalem die gleiche Aufgabe


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wie die Piratendschunke in dem späteren Kapitel, wie der geheimnisumwobene Silbersee, wie der Llano estakado mit seinen in die Irre führenden Pfählen, wie der Schatz der Inkas und die Sklavenkarawane im finsteren Afrika.

   Aber – und das unterscheidet unseren Anfangssatz von den Anfängen der eben genannten Romane – dieser Mensch mit dem fremd klingenden Namen soll schon ›gekannt‹ sein. Wenn das stimmt, dann trifft die durch ihn erfolgende Verzauberung auf eine im Leser vorhandene fruchtbare Schicht der Leseerlebnisse und -erfahrungen. Daß dies so sein soll, unterstreicht die vertrauliche Sprachgeste der Anfangsfrage. Bewältigung von Abenteuern in der Phantasie aber verlangt geistige Aktivität, im vorliegenden Fall eine doppelte: eine immanent handelnde, indem eben die Anforderungen und Gefahren, denen die Helden ausgesetzt sind, auch vom Lesenden nachvollzogen, nacherlebt werden, aber auch eine literarische, indem die Leseerfahrungen in die neue Lektüre eingebracht werden; und diese werden im Laufe der Erzählung zu der Antwort führen: Ja, einen Menschen wie diesen Methusalem, einen so zwiespältigen, gleichzeitig aber ungemein sympathischen Helden habe ich, der Leser, schon längst gekannt!

   Die Anfangsfrage und die mit ihr gekoppelte spätere bejahende Antwort des Lesers legen auch schon die Art der Heldenrolle fest. Eine Person, die viele Menschen bzw. Leser in ihrem Alltag ›gekannt‹ haben (sollen), kann nicht die Ausnahmestellung einnehmen, die einem überragenden Helden zukommt; sie muß von kleinerem Zuschnitt sein.(33) Und die Lektüre des Hauptteils wird, je weiter sie fortschreitet, diese Feststellung bestätigen.

   Aus all dem ergibt sich, daß sich die allgemeine Idee und die Absicht des Romans schon im ersten Satz vergegenständlichen. Es sind die didaktischen Zielsetzungen, die in Mays Jugenderzählungen immer wieder verfolgt werden: Einsatz für andere Menschen, bekannte wie fremde, also soziales Engagement; vorbildlicher Mut; Toleranz; nicht zuletzt Selbstkritik und Selbstbescheidung, was das delphische ›Erkenne dich selbst‹ eigentlich meint; Besinnung auf die wahre Bestimmung menschlichen Lebens, zu der es nie zu spät ist. Das alles wird dem liebe(n), gute(n) Kamerad(en) vermittelt, der damit in dem blauroten Methusalem auch ein Stück von sich selbst erkennen soll, seine Stärken, aber auch seine Schwächen. Auch ums kognitive Kennenlernen geht es, um Aneignung von Wissen über China und seine Bewohner, wenn auch da nicht alles ganz richtig erscheint. Aber im Vordergrund steht die humane Bildung des jugendlichen Lesers.


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8. Die Gestaltung der Heldenrolle im Abenteuer auf der Raubdschunke

Zentrales Ereignis während der Fahrt in Richtung Kanton ist das Bestehen einer gefahrenträchtigen Situation im Kampf mit Piraten. Dem entsprechen während des späteren Aufenthaltes in Kanton und auf der weiteren Reise ins Landesinnere mehrere Abenteuer, die ebenfalls glücklich verlaufen, wenn sich auch in allen Fällen herausstellt, daß es entweder mit der Gefährlichkeit der Gegner nicht weit her ist oder mit Hilfe der richtigen Pässe alle Aufgaben leicht zu lösen sind. Auch der Kampf auf der Dschunke stellt die Reisenden vor keine wirklichen Probleme. Das Prinzip der variierenden Wiederholung in Inhalt und Erzählweise ist klar zu erkennen.

   Auf ein paar weitere Details, die die vielfältige Verknüpfung von Einleitung und Hauptteil belegen, soll nur noch kurz verwiesen werden. Auch am Beginn des ersten Kapitels wendet sich der Erzähler an seine liebe(n) Kamerad(en) und setzt das Spiel mit Authentizität und Fiktion vom allerersten Satz fort, wiederum in einer bezeichnenden Variante, indem er nämlich jetzt die Bekanntschaft bestimmter Leser mit Turnerstick voraussetzt (S. 20). Das Motiv des Aufsehen erregenden Rundganges, das Spiel mit Heimat und Fremde, die variierende Spiegelung der Unglücksfälle (Zerbrechen der Wasserpfeife da, Sturz von der Treppe zum Piratenschiff hier) – das alles bindet die Romanteile zusammen.

   Das erste Kapitel bietet eine besonders interessante Ausprägung der Heldenrolle und heldenhaften Handelns sowie der Einstellung des Erzählers dazu, was nicht zuletzt in der Art, wie die Gefahr auf der Dschunke geschildert wird, begründet ist. Auch in dieser Hinsicht bestehen wieder enge Beziehungen zur Einleitung.

   Der Methusalem erweist sich keineswegs als eine unumschränkte Führerpersönlichkeit; er muß demokratische Mehrheitsentscheidungen akzeptieren; er wird genauso vom Opium betäubt wie die Gefährten (außer Richard und dem Hund); vom Kapitän des englischen Kriegsschiffs wird er einmal regelrecht abgekanzelt (S. 307). Und was die Heldentaten auf dem Schiff angeht, die bei der Rückkehr in Hongkong so bejubelt werden, müßte der Erzähler am besten wissen, wie es darum bestellt ist. Wie er den Vorgängen tatsächlich gegenübersteht, verrät am ehesten die Art und Weise, wie sie geschildert werden. Den Eindruck, daß echte Gefahr drohe, gewinnt der Leser nur für kurze Zeit, solange Richard und der Hund allein bei Besinnung sind; aber auch da setzt der Erzähler genügend Signale, die anzeigen, daß der deutsche Gymnasiast es sehr wohl mit den Piraten aufnehmen kann, zumal er zu seiner moralischen Aufrüstung den Hund bei sich hat. Das ganze ist für ihn kaum mehr als eine Gelegenheit, seinen Mut zu bewei-


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sen (S. 225). Und die Erzählweise wird immer komischer, sobald die Erwachsenen zu sich kommen. Als der chinesische Gefangene zu der Gruppe stößt, können sogar linguistische Übungen veranstaltet werden, und der Erzähler ist so wenig bei der Sache, daß er einmal aus Versehen den Methusalem seinen eigenen Burschen mit Sie anreden läßt (S. 243).

   Die Bewertung der ganzen Aktion: Was Hunderte für unmöglich gehalten hätten, war gelungen (S. 277), kann aus der Sicht des Erzählers kaum ernst gemeint sein. Vielmehr bedeutet dieser dem Leser augenzwinkernd, wie leicht etwas, was andere für kaum durchführbar halten, bewerkstelligt werden kann, daß der Fehler also bei Menschen liegt, die die Flinte zu früh ins Korn werfen. Dem Leser kommt die ganze Episode wie eine Persiflage auf die üblichen Abenteuerromane vor; eine Persiflage, die allerdings gekonnter und überzeugender ist als manche bemühte Parodie auf Mays Erzählungen.

   Dementsprechend gerät der Einzug der siegreichen Helden in Hongkong vollends zur triumphalen Burleske, einer Art Fastnachtsaufzug, bei dem das ›Hochchinesisch‹ Turnersticks die Hauptrolle spielt. Die Geschichte näherte sich bedenklich der Kolportage, wenn nicht die plastisch gezeichneten Typen und der leichte Erzählton die Vermutung nahelegten, daß eben alles als Selbstpersiflage eines Erzählers (vielleicht auch Autors?) zu lesen ist, der Abenteuergeschichten zu erzählen gewohnt ist und einmal aus dem Einerlei solchen Erzählens ausbrechen will.

   Zu der offensichtlich gewollten mangelhaften Ausstattung der Geschichte mit echten, aufregenden, weil die Existenz der Protagonisten wirklich bedrohenden Abenteuern gehört es, daß einer der geretteten Beamten dem Methusalem einen Reisepaß verspricht, der nicht nur höchstmögliche Annehmlichkeiten, sondern weitgehende Sicherheit gewähren wird – eine klare Vorausdeutung, daß auch weiterhin alles problemlos ablaufen wird, es sei denn, die Reisenden bereiten sich selbst mutwillig Schwierigkeiten, und daran wird auch kein Mangel sein.


9. Die Tempelbesuch-Episode: ideelles Zentrum der Erzählung

Die letzte Feststellung führt uns nun zu dem einzigen Abenteuer in diesem Roman, welches – wenigstens in seinem ersten Teil – tatsächlich über längere Strecken aufregend erzählt wird. Es handelt sich um den Zusammenstoß, den Turnerstick und der dicke Holländer im ›Hause der hundert Himmelsherren‹ (S. 483) mit chinesischen Mandarinen und Bonzen provozieren. Hier setzt der Erzähler sehr geschickt einfache, aber wirkungsvolle Mittel der Spannungserzeugung ein, die


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darüber hinaus der Handlung einen hohen ethischen Gehalt verleihen. Die Ausgangssituation der Handlung und die Lesesituation verheißen aufregendes Geschehen. Zwei dem Leser für ihre mit Draufgängertum gepaarte Naivität bekannte Personen werden einer Gefahr ausgesetzt, die sie nicht kennen, obwohl sie sie selbst heraufbeschwören. Der Leser verfügt über wesentlich mehr Informationen als die handelnden Personen, woraus sich die Spannung erst richtig speist, eine vergnügliche obendrein, da natürlich Verwicklungen voll drastischer Komik zu erwarten sind. Erzähltechnisch wird die Spannung durch die Unterbrechung der Handlung im Tempel just vor dem ersten Höhepunkt gesteigert, vor allem durch den vollständigen Wechsel der Erzählperspektive. Genau da, wo die Ankunft der Götterprozession zu erwarten ist, führt der Erzähler den Leser in einer Rückblende zu den übrigen Reisenden, die sich mit dem Tong-tschi noch außerhalb des Tempels befinden. Was nun im Tempel geschieht, wird also noch nicht erzählt. Der Leser wird dadurch aber nicht bloß auf die Folter gespannt, wie das Abenteuer ausgehen wird; der Perspektivenwechsel leistet noch mehr. Der Leser erfährt nun nochmals ganz eindrucksvoll, in welche Gefahr der Methusalem seinen chinesischen Gastgeber gebracht hat – wenn auch unabsichtlich –, weshalb ihn dieser bittet, nichts mehr auf eigene Faust zu unternehmen. Brisant wird dies dadurch, daß der Leser schon wieder einen Wissensvorsprung besitzt; er hat ja erfahren, daß gerade jetzt zwei Gefährten etwas anstellen, was in den Augen der Chinesen wenigstens ebenso verbrecherisch ist wie der Götterraub in der vorigen Nacht.

   Aber der Perspektivenwechsel hat noch eine dritte Funktion, und sie ist die bedeutsamste. Betrachten wir dazu die Vorgänge genau (S. 498): Der Methusalem hört ein Geschrei, aus dem er sogleich schließt, daß jemand aus seiner Gruppe Dummheiten begangen hat. Er läßt sich von dem Beamten zu einem Gitter im Tempel führen, durch das er in den anderen Gebäudeteil, in dem die beiden Tempelschänder ihre haarsträubende Vergöttlichung vorgenommen haben, blicken kann. Erst wenn der Student und damit der Leser diese Position eingenommen haben, kommt der Erzähler auf das weitere Geschehen um Turnerstick und van Aardappelenbosch zurück und schildert den vorläufigen Höhepunkt ihres Abenteuers.

   Die zeitliche Relation der Vorgänge um Turnerstick/van Aardappelenbosch und den Methusalem/den Beamten läßt uns gewahr werden, daß da etwas nicht stimmt. Es wird dem Leser eine Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge suggeriert, die in Wirklichkeit gar nicht möglich ist. Bevor der Zusammenstoß der Chinesen mit den Tempelschändern geschildert wird, führt der Erzähler den Studenten an das Gitter und läßt ihn scheinbar zum Augenzeugen von Ereignissen werden, die er in Wahrheit gar nicht sehen und hören kann, weil sie längst vorbei sind.


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   Der Eindruck der Gleichzeitigkeit dieser ungleichzeitigen Ereignisse rührt daher, daß die Rückblende, die eigentlich vorliegt, nur unzureichend als solche gekennzeichnet ist und an dieser atemberaubenden Stelle vom Leser normalerweise kaum zu bemerken ist: Degenfeld sah ein, daß der Chinese recht hatte, und ließ sich von ihm seitwärts führen. Nämlich rechts und links der Thüre waren enge Bambusgitter angebracht, durch welche man, ohne selbst leicht bemerkt zu werden, aus der einen Abteilung in die andere blicken konnte. (S. 498, Hervorh. W. K.)(34) Dorthin gingen sie und sahen hinaus. Was sie da bemerkten, war keineswegs geeignet, sie zu beruhigen. Dem Methusalem wollte sich vielmehr das Haar auf dem Kopfe sträuben. (ebd., Hervorh. W. K.) Als die beiden unvorsichtigen Männer die Leute erblickten, welche durch die Thüre kamen, war Turnerstick in die hastigen, aber leisen Worte ausgebrochen: »Hallo! Da kommen welche!« (ebd., Hervorh. W. K.)(35)

   Letzteres aber geschieht schon, als der Methusalem sich noch außerhalb des Tempels befindet! Erst viel später wird der Rückblendencharakter des nach dem Herantreten des Studenten an das Gitter geschilderten Auftritts deutlich gemacht, wenn es heißt: Die Chinesen prallten wirklich zurück, und das war der Augenblick, an welchem der Methusalem jenseits an das Gitter getreten war, um durch dasselbe herüberzublicken (S. 499, Hervorh. W. K.). Der Leser aber gewinnt zunächst zweifellos den Eindruck, der Student sehe die Ankunft des Priesterzuges bei den Übeltätern mit an, und bemerkt erst viel später, daß das gar nicht der Fall gewesen sein kann.

   Worin liegt der Sinn dieses erzählerischen Tricks und damit die entscheidende Bedeutung dieser Stelle? Der Erzähler macht sich eine Art Relativitätsprinzip zunutze, das in allem Erzählen als Möglichkeit angelegt ist: er verschiebt die Zeitebenen gegeneinander, um damit deutlich zu machen, daß die Vorgänge, an denen der Methusalem nicht unmittelbar beteiligt ist, für die er auch nicht direkt verantwortlich ist, diesen doch angehen, daß er sich von ihnen betroffen fühlen soll, da er als Anführer der Reisegesellschaft für diese die Verantwortung trägt, ob er sich nun gerade bei ihr befindet oder nicht; zumal sich einige Mitglieder dieser Gesellschaft bisher schon reichlich unbekümmert, um nicht zu sagen: rücksichtslos, in China getummelt haben und dabei in manches Fettnäpfchen getreten sind; sie sind sogar schuld an Not und Gefahr, in die ihr Gastgeber geraten ist. An dieser Stelle wird dem Methusalem ein Spiegel vorgehalten, in dem gerade vergangenes Geschehen ihm als gegenwärtig vorgeführt wird und ihm zeigen soll, daß es eigentlich sein eigenes Fehlverhalten ist, das er mit ansieht.

   Zwischen den unbekümmerten Tempelschändern und den Mandarinen und Bonzen findet nun in grotesker Form genau das statt, was sich zwischen der ganzen Reisegruppe einschließlich des Methusalem und den Chinesen überhaupt abspielt.


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   Der Erzähler zieht durchaus Konsequenzen aus der mehrfach und recht drastisch erfolgenden Zurechtweisung, die der Methusalem von seiten des Beamten erfährt, indem er ihn zwingt, seine bisherige Aktivität zurückzunehmen, ja zeitweise ganz aufzugeben und sich der Leitung des Chinesen zu unterwerfen. Dieser nimmt ihn bei der Hand und zieht ihn vom Ort der Tempelschändung hinweg. Er wirft ihm das eigenmächtige Verhalten der Reisenden vor und beschämt ihn geradezu, indem er selbst trotzdem den Pflichten der Gastfreundschaft nachkommt und sich sogar erneut in Gefahr begibt. Er spricht schließlich in so energischem Ton, daß der Student nicht zu widersprechen wagte (S. 531). Der Methusalem läßt sich schließlich in einer Sänfte nach Hause tragen und erwartet das weitere mit Ungeduld (S. 547).

   Übrigens bleibt festzustellen, daß der Student später von dem hilfsbereiten Beamten Abschied nimmt, ohne ein einziges Dankeswort zu verlieren!


10. Eine Teilrevision des negativen Chinabildes

In der ganzen Episode vom Tempelbesuch und seinen Folgen deutet sich eine Aufwertung der Chinesen an, und der Gedanke drängt sich auf, das gesamte negative Chinabild, das die Rezensenten bisher meist in diesem Roman zu erkennen glaubten, sei viel weniger eindeutig, als bisher meist behauptet worden ist.

   Bestätigt wird diese Vermutung vor allem durch die Art, wie die beiden Söhne Ye-kin-lis eingeführt werden. Zunächst scheint der als erster (S. 243 ff.) auftretende, ältere Sohn eines der auffälligsten Vorurteile, die man gegen die Chinesen hegt, nämlich das der Feigheit, vollauf zu bestätigen. Das sticht um so mehr ins Auge, als der junge Mann von Anfang an sehr sympathisch gezeichnet wird; sein ganz ehrliches und vertrauenerweckendes Gesicht (S. 259) wird eigens betont, zweimal auch seine Ehrlichkeit. Aber dann kommt es knüppeldick, unterstrichen durch die unverhohlene Ironie des Erzählers: Der Chinese erscheint besorgt, überängstlich, was den Erzähler zu dem verallgemeinernden Urteil veranlaßt: Die Chinesen sind keineswegs wegen ihres persönlichen Mutes berühmt, und dieser hier machte sehr wahrscheinlich keine Ausnahme (ebd.). – ›Dieser hier‹: wie abfällig klingt das, noch dazu aus dem Munde des Erzählers, der es ja wissen muß! Auch der Methusalem macht sich über den Jüngling lustig. Der Name Liang-ssi, zu deutsch: ›gute Geschäfte‹ (ebd.) wird höhnisch gedeutet. Das weitere Verhalten des Chinesen läßt dann auch nur den Schluß zu, daß er ein Feigling ist. Aber dazu will schon nicht die saubere Kleidung passen (bei May immer ein Indiz für edle Gesinnung!) und noch weniger die große Dankbarkeit des jungen Mannes gegenüber seinen Ret-


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tern. Vollends deutlich werden seine guten Charaktereigenschaften in einer späteren Situation, in der wir das am allerwenigsten erwartet hätten, nämlich in einer durchaus gefahrenträchtigen Lage. Es handelt sich um das Tempelabenteuer (S. 499ff.), in dem Liang-ssi plötzlich großen persönlichen Mut beweist, als es nicht um seine eigene Rettung geht, sondern um Leben und Freiheit seiner Gefährten. Da agiert er besonnen und mutig, der Erzähler und der Methusalem bewundern gleichermaßen das gewagte Spiel (S. 500), das Kenntnisse, Energie und Mut des jungen Chinesen beweist. Als ein ganz anderer (S. 514) Mensch erweist er sich zur Überraschung aller. Allerdings wird er nicht zu sehr emporgehoben, er hat noch nicht alles bedacht und wendet sich schließlich auch zur Flucht, als sein Spiel durchschaut ist.

   Also – nicht einfach das gegenteilige Verhalten zur früheren Feigheit wird zur Rehabilitierung des Chinesen vorgeführt, sondern eine sinnvolle, weil besonnene Art von Mut; nicht Draufgängertum, sondern tapferer Einsatz für andere, der – so darf man vermuten – nur deshalb zunächst erfolglos bleibt, weil es dem Erzähler so ins Konzept paßt; denn dieser wird in einem dritten Schritt den jüngeren Bruder als Musterbild der Tapferkeit und Charakterfestigkeit auftreten lassen.

   Dieser erscheint schon im Tempel in vergleichbarer Weise positiv. Er beobachtet aufmerksam, ist einfallsreich und handelt vernünftiger als die älteren Mandarine. Vor allem aber hebt er sich durch sein kluges und zugleich bescheidenes Benehmen von dem reichlich kindischen Holländer und dem mit seinen eingebildeten Sprachkenntnissen prahlenden Kapitän vorteilhaft ab. Aber die große Portion Schlauheit und List, über die er verfügt, sowie die unbedachte Flucht des Bruders lassen doch noch gewisse Zweifel aufkommen, ob es sich bei den beiden tatsächlich um charakterlich vorbildliche Menschen handelt. Darum wird der junge Mandarin in eine weitere Situation gebracht, in der er sich so verhalten kann, daß endgültig jedes Vorurteil gegen die Chinesen im allgemeinen zuschanden wird. Im Gefängnis zeigt er eine solche Charakterstärke, daß nun eine wahre Fülle positiver Wertungen abgegeben wird, von dem Erzähler und dem Methusalem (S. 579ff.). Er gibt kein Zeichen von Furcht, erweist sich als braver und furchtloser Mann, wird kurz darauf nochmals als furchtlos, dann sogar als achtunggebietend bezeichnet! Schließlich wird ihm ausdrücklich ein fester Charakter bescheinigt.

   Welche weiteren Details vermögen das gewonnene Bild zu vertiefen? Da fällt der leitmotivische Gebrauch der Begriffe aus den Wortfeldern ›Mut‹ und ›Furcht‹ auf. An der ersten Stelle werden die entsprechenden Begriffe entweder in der negativen Form (ängstlich (S. 259)) oder mit deutlichen Ironiesignalen (hatte keineswegs das Aussehen eines furchtlosen Mannes oder gar eines Helden (ebd.)) gebraucht. Grundsätzlich werden dem jungen Mann negative Eigenschaften zu-


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und positive ausdrücklich abgesprochen, was seine Feigheit noch hervorhebt.

   An der zweiten Stelle (im Tempel) spielt zunächst der Begriff ›retten‹ eine wichtige Rolle, durch den das Verhalten Liang-ssis schon erkennbar aufgewertet wird. Der Methusalem stellt fest: Turnerstick und der Holländer ». . . werden kaum zu retten sein.« (S. 499). Der Tong-tschi mahnt: »Wir können sie nur aus der Ferne retten.« (ebd.). Dagegen verspricht der junge Chinese ganz einfach, aber bestimmt: »Ich rette sie!« (ebd.). Die Begriffsreihe ›Mut‹ wird allerdings noch mit Einschränkungen versehen: Der Methusalem hatte dem jungen Chinesen . . . diesen Mut nicht zugetraut (S. 513f.).

   An der dritten Stelle, im Gefängnis, versucht der jüngere Bruder die Befreiung der Gefangenen zu verhindern, da er für diese verantwortlich ist. Dreimal wird hier ausdrücklich die Abwesenheit jeder Furcht auf seiten des jungen Mannes konstatiert: . . . ließ kein Zeichen von Furcht blicken – Der Methusalem hätte diesem braven und furchtlosen Manne am liebsten die Hand drücken mögen – der furchtlose junge Mann (S. 579). Auch als seine Situation fast aussichtslos ist, zeigt er eine sehr ernste, ja entschlossene Miene (S. 580). Hier also werden ohne jede ironische oder sonstwie geartete Einschränkung positiv wirkende Epitheta für den Chinesen eingesetzt, die diesen in einem ungetrübt hellen Licht erscheinen lassen und sein Verhalten mit dem der Europäer in den gefährlichsten Lagen gleichstellen. Jetzt wird endgültig das abschätzige Urteil, das der Erzähler früher über d i e Chinesen gefällt hat, revidiert. Die genaue Umkehr der Begriffe von der ersten zur dritten Stelle in Verbindung mit ihrem gehäuften Gebrauch beweist, daß ihre Verwendung bewußt geschieht und die oben vermutete Revision des ressentimentgeladenen Bildes von den Chinesen leisten soll.

   Wie in der Episode mit dem Juden Baruch in Stambul,(36) so wird auch bei der Zeichnung der beiden jungen Chinesen der Eindruck unabweislich, der Erzähler bestätige nur darum zunächst den Leser in seinen antichinesischen Ressentiments, damit er sie später um so eindrucksvoller zu Fall bringen könne. Dabei lassen sich drei Stufen erkennen: Der ältere Bruder wird zunächst als Hasenfuß dargestellt; dann erhält er Gelegenheit, Mut und Umsicht zu beweisen, Eigenschaften, die sich aber noch nicht ganz bewähren; gleichzeitig wird er als Demonstrationsobjekt für chinesische Tüchtigkeit und Charakterstärke von dem jüngeren Bruder abgelöst, der sich schließlich auf der dritten Stufe als ein Achtung einflößender Ehrenmann erweist.

   Es verwundert wohl kaum noch, wenn wir feststellen, daß eben diese Richtigstellung eines Vorurteils schon in der Einleitung zu finden ist, in der Struktur überraschend ähnlich, in anderer Hinsicht variiert.

   Auch Ye-kin-li wird zunächst als Kaufmann vorgestellt (wie Liang-ssi) und dann als Hasenfuß charakterisiert: Dieser war keineswegs ein


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Held und hielt es für das beste, das Hasenpanier zu ergreifen (S. 3f.). Später aber wird er durchaus positiv gezeichnet, allerdings wiederum nicht in einfacher Umkehrung der Charakteristik als mutiger Mensch, sondern er wird mit anderen guten Eigenschaften ausgestattet, vor allem mit seiner Liebe zu Frau und Kindern: . . . der Student, herzlich gerührt von dem Ausdrucke aufrichtigen Schmerzes, welcher im Gesichte des Chinesen zu erkennen war (S. 20). Zumal die Bereitschaft des Methusalem, aufgrund des Kong-Kheou, auf das er sich einläßt, so zu handeln, als ob er der Chinese sei, zeigt die prinzipielle Gleichstellung der beiden Personen an. Anders kann es auch gar nicht sein, sonst könnte der Student nicht versichern: »Das ist ein ehrliches deutsches Versprechen, auf welches Sie sich verlassen können!« (ebd.).(37)


11. Die Rache am Verleger – ein früher ›Bruch im Werk‹?

Für sein zwar gut gemeintes, aber unüberlegtes und vorschnelles Vorgehen im Fall des Götterraubes muß der Methusalem den Tong-tschi um Verzeihung bitten (S. 450); später läßt er sich von dem Beamten fast widerspruchslos nach Hause schicken (S. 531). Ganz folgerichtig werden die entscheidenden Rettungspläne am Ende der Episode vom Tempelbesuch und seinen Folgen von den beiden chinesischen Beamten entworfen und ins Werk gesetzt, von dem Methusalem und Gottfried dagegen nur theoretisch durchgespielt, wobei der Student auch noch reichlich viel Zeit benötigt, bis er durchschaut, was ihre Gastgeber vorhaben. Es ist offensichtlich: Der Deutsche hat als Anführer abgedankt, er überläßt sich ganz der Leitung der Einheimischen und spielt faktisch nur noch die Rolle, welche ihm von den Chinesen zugedacht wird.

   Die Einleitung setzte ideell und strukturell einen Erkenntnis-, Wahrheits-, Bewältigungs- und Herrschaftsanspruch des Helden:(38) Dieser ist mit allen kognitiven und praktischen Mitteln ausgestattet, um die gesetzte Aufgabe zu erfüllen; jedermann traut ihm dies zu, er selbst tritt sein Unternehmen zuversichtlich und entsprechend zügig, ja selbstherrlich an. In dieser Hinsicht entspricht der Anfang unserer Erzählung den vielen anderen Anfängen der Romane Mays. Aber im Unterschied zu all diesen Romanen löst der weitere Fortgang der Handlung im ›Kong-Kheou‹ die zu Beginn geweckten Erwartungen nicht ein, immer mehr wird die Dominanz des Anführers unterminiert, schließlich gar in Unterordnung verkehrt. Die wichtigsten Stationen sind: die Unterwerfung des Methusalem unter den Willen der Gefährten, mit der Dschunke zu fahren; die Betäubung durchs Opium; Gottfrieds Idee zur Rettung des Juweliers; der stumme Gehorsam gegenüber dem Tong-tschi; schließlich die bloße Durchführung des von


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anderen erdachten Plans. Kleinere, aber deutliche Signale unterstreichen diese Entwicklung: die Ohrfeige, welche Richard dem Studenten zum Wachwerden verabreicht; der despektierliche Ton, in dem Gottfried manchmal mit seinem Herrn redet; dessen Bitte an den Tong-tschi um Verzeihung.

   Dies alles geht über die von uns früher konstatierte Relativierung des Helden als eines uneinheitlich gezeichneten, komisch wirkenden Typs mit zwiespältigem Charakter weit hinaus; es entspricht nicht mehr bloß einem Helden von kleinerem Zuschnitt, wie wir es nannten. Dieser Aspekt der Rolle, die der Methusalem in dem Roman spielt, widerspricht so sehr der dominierenden Gestalt in der Einleitung, daß sie eine neue Erklärung verlangt. Sie entspricht auch nicht den Worten Ye-kin-lis, die nach allen Erfahrungen, die der Leser bei seiner bisherigen Lektüre von Abenteuererzählungen gemacht hat,(39) den weiteren Gang der Handlung bestimmen sollten: »Wenn es überhaupt ein Mensch vermag, so sind Sie allein es, der mir meine Frau . . . bringen kann!« (S. 19).

   Alles deutet darauf hin, daß der Methusalem wie ein anderer Old Shatterhand, ein zweiter Bruder Jaguar tatkräftig und handlungsstark die in Angriff genommene Aufgabe lösen wird, eigenständig, unabhängig, potent! Aber wie anders kommt es dann wirklich! Man gewinnt den Eindruck, dem Autor sei unter dem Schreiben die Erzählung anders geraten, als sie geplant war. Wenn wir einen Blick auf ihre Entstehungsgeschichte werfen, können wir die Stelle, von der ab diese Planänderung wirksam wird, genau identifizieren: Es ist der Punkt, an dem Karl May nach über einjähriger, unfreiwilliger Unterbrechung weiterschrieb.(40) Kurz nach dieser Stelle erfolgt des Methusalem Unterordnung unter den Willen der Gefährten; wenig später passiert der Sturz von der Schiffstreppe, bei dem der Student für einen Augenblick unter dem dicken Holländer regelrecht begraben wird: davon wird er sich nicht mehr erholen! Zwar raffte er sich augenblicklich wieder auf (S. 162) – aber zur vollen Höhe bringt er es auf der weiteren Reise nicht mehr!

   Ein klares Indiz für eine Planänderung ergibt sich schließlich aus dem Vergleich des stummen Fügens in den Willen des Tong-tschi mit der Reaktion des Methusalem auf einen zudringlichen Fragesteller, wie sie gleich im zweiten Abschnitt der Einleitung beschrieben wird: dem hätte er mit der Klinge geantwortet (S. 1). In dieser Hinsicht erscheint das Wesen des Studenten nicht etwa gewandelt, sondern wie ausgewechselt!

   Seit Februar 1887 plante May, eine Erzählung zu schreiben, die in China spielen sollte. Vermutlich übersandte er nach dem 1. 9. 87 die Manuskriptseiten 1–100 an die Redaktion des ›Guten Kameraden‹.(41) Dann aber schlug Spemann vor, die China-Erzählung zu verschieben,


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und May schrieb statt dessen noch eine, vom Verleger gewünschte, Wildwest-Geschichte: ›Der Geist der Llano estakata‹. Am 14. 5. 88 kam Spemann auf die »chinesische Geschichte, die Sie bereits angefangen haben«,(42) zurück. Aber erst im Oktober 1888 konnte May weiterschreiben; am 30. 10. lieferte er die Manuskriptseiten 101–250.(43)

   Leider sind von der diesbezüglichen Korrespondenz nur wenige Briefe Spemanns und gar keine von May erhalten, so daß sich schwer bestimmen läßt, wie May auf die gewünschte (oder geforderte?) Verschiebung des ›Kong-Kheou‹ reagierte. Aber die Formulierung in Spemanns Brief vom 2. 12. 87: »Ich will den Kong Kheu [!] ja nicht fallen lassen, sondern ihn nur bei Seite schieben«(44) könnte auf eine starke Verstimmung Mays hindeuten, die der Verleger besänftigen mußte. Durchaus nicht abwegig erscheint deshalb die oben ausgesprochene Vermutung, die totale Demontage der Figur des Haupthelden, die weit über das hinausgeht, was die Einleitung vorbereitet, die andererseits den Gesamtbau der Erzählung und das Beziehungsgeflecht zwischen Einleitung und Hauptteil nicht im mindesten stört, könnte ein kleiner Racheakt Mays an seinem Verleger sein, ein Akt, den der Autor später an dem Verleger seiner Gesammelten Reiseerzählungen, Fehsenfeld, weitaus rabiater, wenn auch verschlüsselt, durchführen sollte.(45)

   Bedenkt man, welche Entwicklung der Ich-Held der späten Romane Mays nimmt, fällt einem die Parallele zum ›Kong-Kheou‹ sofort ins Auge. Auch den Studenten könnte man, während er da sitzt und auf die Rückkehr des Tong-tschi wartet, fragen: »Du bist ›der blaurote Methusalem‹«? Und er würde antworten: »Ich war es.«(46) Das ist eine weitere Facette innerhalb der vielfältigen Problematik der ›eigentlichen Werke‹ Mays und unterstreicht Äußerungen wie die folgende: Nun aber hab ich endlich ausgelernt und schreibe jetzt an meinem ›ersten Bande‹ . . . Ich habe also weder Lust noch Zeit, mich auszuruhn, und gar von solchen Werken, die doch nur Übungen und keine Arbeit waren. Ich trug in ihnen nur den Stoff zusammen für das, was ich jetzt nun zu bilden habe. Sie waren weiter nichts als die Palette, auf der ich Farben sammelte und prüfte . . .(47) Eine gewiß außergewöhnliche Farbe auf dieser Palette verkörpert an mehreren Stellen des ›Kong-Kheou‹ der ›Blaurote‹, der bis zum Schluß die Souveränität des Helden alten Stils nicht mehr erringen wird.



1 Karl May: Kong-Kheou, das Ehrenwort. In: Der Gute Kamerad. 3. Jg. (1888/89); Reprint der Karl-May-Gesellschaft, Hamburg 1984; in meinem Text erscheint in Klammern die Seitenzahl dieser Fassung.

2 Karl May: Der blau-rote Methusalem. Stuttgart o. J. (1892). Die Erstfassung im ›Guten Kameraden‹ unterscheidet sich nur wenig von der Buchausgabe; eine notwendige Änderung erfolgte bei der Anrede des Lesers. Der Titel der Buchausgabe aber paßt weder so recht zur Einleitung noch zum ganzen Roman, dessen gehaltliches


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Zentrum nicht der Student, sondern sein Ehrenwort bildet. – Zur Titeländerung vgl. die Einführung von Christoph F. Lorenz in: Karl May: Kong-Kheou, wie Anm. 1, S. 4.

3 Karl May: Der schwarze Mustang. In: Der Gute Kamerad. 11. Jg. (1896/97); Reprint der Karl-May-Gesellschaft, Hamburg 1991

4 Ebd., S. 1; vgl. Ernst Walden: Der König der Miamis. In: Der Gute Kamerad. 9. Jg. (1894/95), S. 323f. – Franz Treller: Die Söhne Arimunts, ebd., S.1ff. – Ders.: Verwehte Spuren. In: Der Gute Kamerad. 7. Jg. (1892/93), S. 1ff. – Karl May: Unter der Windhose. Ein Erlebnis aus dem fernen Westen. In: Das Buch der Jugend. 1. Bd. Stuttgart 1886 (Dies ist Karl Mays erste Jugenderzählung; Reprint der Karl-May-Gesellschaft in: Der Krumir. Seltene Originaltexte Bd. 1. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg/Gelsenkirchen 1985, S. 160-79).

5 Ebd.

6 Ebd.

7 Ebd., S. 2

8 Vergleichbar sind etwa: das Vorwort zu: Friedrich J. Pajeken: Das Geheimnis des Karaiben. Glogau o. J. (um 1899) – die Einleitung zu: Mayne-Reid: Die Rache des Indianers. Bearbeitet von R. Hoffmann. Berlin o. J. (um 1930) – Fritz Steuben beginnt seine Erzählungen um Tecumseh mit der Anrede »Jungens!«.

9 Erwin Koppen: Werkartikel ›Der blau-rote Methusalem‹. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 337

10 Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1977, S. 71 (Diogenes Taschenbuch 112); gemeint sind die Jugenderzählungen im ›Guten Kameraden‹

11 Koppen: Werkartikel, wie Anm. 9, S. 333

12 Ebd., S. 336

13 Erwin Koppen: Karl May und China. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1986. Husum 1986, S. 69ff.; zum ›Kong-Kheou‹ vgl. S. 76ff.

14 Vgl. dazu: Werner Kittstein: Karl Mays Erzählkunst. Eine Studie zum Roman ›Der Geist des Llano estakado‹. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 15. Ubstadt 1992.

15 May: Kong-Kheou, wie Anm. 1, S. 6

16 Vgl. Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 33f.; Reprint Hildesheim-New York 21982. Hrsg. von Hainer Plaul.

17 Indirekt wird die Einbeziehung des Lesers in die Welt des Romans etwas später durch die Art, wie der Gymnasiast Richard Stein eingeführt wird, geleistet: Er ist tief auf eine Landkarte gebeugt, deren Linien er mit der Spitze seines Bleistiftes folgte (S. 4) – wie die Leser des ›Guten Kameraden‹ es wohl zu tun pflegten, wenn sie den Weg der Mayschen Helden verfolgten.

18 Dazu steht sicher nicht im Widerspruch, daß die Leser sich in der Rubrik ›Fragen und Antworten‹ nach den weiteren Erlebnissen oder dem Verbleib der Romanhelden erkundigten; das ist als Spiel zu werten, in dem die Abenteuererzählungen weitergesponnen wurden, nicht als Ausdruck einer Verwechslung von Fiktion und Wirklichkeit, der viele (erwachsene!) Leser der Reiseerzählungen in Ich-Form (nur zu gerne) erlagen.

19 Vgl. dazu Heinrich Meyer: Die Erwartung des Lesers. In: Die Kunst des Erzählens. Bern-München 1972, S. 16 ff.; diese Stelle abgedruckt in: Die Rolle des Lesers. Hrsg. von H. Popp. München 21978, S. 55f.

20 »Der Erzähler glaubt an sie [sc. die dichterische Welt], auch wo er ein Lügenmärchen erzählt. Er kann ja nur lügen, weil er glaubt. Ein Autor kann nicht lügen. Der kann bloß gut oder schlecht schreiben.« (Wolfgang Kayser: Wer erzählt den Roman? In: Ders.: Die Vortragsreise. Studien zur Literatur. Bern 1958, S. 90.) – »Ein Autor kann nicht lügen« : das große Problem in bezug auf Mays Ich-Erzählungen. Oder irrt hier Wolfgang Kayser?

21 Vgl. Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 69 (Sammlung Metzler Bd. 231).

22 Vgl. allgemein dazu das Stichwort ›Stil‹ in: Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 61979.


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23 Vgl. dazu Heinrich Meyer: Die Kunst des Erzählens. Bern-München 1972, S. 30ff. Diese Stelle abgedruckt in: Theorie und Praxis des Erzählens. Hrsg. von G. Wolff. Stuttgart 1988, S. 60f.

24 Bedeutsame Ausnahme, was die Problematik einer Figur angeht, ist Bloody-Fox in ›Der Geist des Llano estakado‹! Siehe Kittstein, wie Anm. 14.

25 Im Fachjargon meint diese Metapher, daß das Ganze eines Romans schon im Anfang, wie in einem Keim oder Kern, gegeben sei.

26 Im Verhör, das Winnetou mit ihm anstellt: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou der Rote Gentleman I. Freiburg 1893, S. 423f. – Daß der Begriff ›reich‹, der mit seinen Ableitungen bei May des öfteren vorkommt, an der vorliegenden Stelle so zu deuten ist, zeigt der Blick auf weitere Belegstellen, die dank der Karl-May-Register Hansotto Hatzigs schnell zu finden sind: Karl May: Winnetou I, ebd., S. 127 – Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. IX: Winnetou der Rote Gentleman III. Freiburg 1893, S. 466f. – Karl May: Eine Befreiung. In: Die Rose von Kaïrwan. Osnabrück 1894, S. 244 – Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVI: Im Lande des Mahdi I. Freiburg 1896, S. 103 – Karl May: Das Vermächtnis des Inka. In: Der Gute Kamerad. 6. Jg. (1891/92), S. 701f. – Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XV: Old Surehand II. Freiburg 1895, S. 312 (Kapitel ›Der Königsschatz‹); hier sagt die schöne Mexikanerin Emma Arbellez zu Donnerpfeil: »Die wahren Schätze ruhen im Herzen: der Glaube an Gott, die Liebe zum Nächsten und das Bewußtsein, stets seine Pflicht erfüllt zu haben.« – Die zweite und dritte Definition des Begriffs wahre Schätze, die Emma hier formuliert, treffen genau auf den Methusalem zu: tätige Liebe am Nächsten (wenn auch manchmal zum Leidwesen seines chinesischen Gastgebers), womit er seine Pflicht als Mitmensch erfüllt. – Die Stelle im ›Kong-Kheou‹ scheint die früheste im Werk Mays zu sein, an der der Begriff ›reich‹ mit hohem ethischen Gehalt erfüllt ist.

27 Koppen: Werkartikel, wie Anm. 9, S. 335

28 Vgl. Karl May: Der Geist der Llano estakata. In: Der Gute Kamerad. 2. Jg. (1888), S. 354; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1983.

29 Der falsche grammatische Bezug im ersten Satz des Zitats, ein häufiges May-Versehen, läßt sich als unterschwelliger Ausdruck der nicht eingetretenen charakterlichen Änderung des Methusalem deuten: es stört ihn einfach nicht, daß er die Vorlesungen regelmäßig besuchen muß.

30 Vgl. Norbert Miller: Einleitung. In: Romananfänge. Versuch einer Poetik des Romans. Hrsg. von Norbert Miller. Berlin 1965, S. 9.

31 Vgl. die Änderung des Titels ›Vom Rhein zur Mapimi‹ in ›Die Pyramide des Sonnengottes‹ in der Radebeuler Ausgabe.

32 Miller: Romananfänge, wie Anm. 30, S. 9

33 Dem widerspricht nicht, daß der omnipotente Held Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi in den Ich-Erzählungen in seiner zunehmenden Identifizierung mit dem Autor May auch im Alltag von den Lesern (durch Begegnungen, über Briefe) ›gekannt‹ wird. Nirgends in den Reiseerzählungen wird ein so vertrauliches Verhältnis zwischen dem Leser und dem Romanhelden aufgebaut, wie es am Anfang unserer Erzählung geschieht; die Tonlage des Erzählens ist z. B. in den in Deutschland spielenden Passagen von ›Satan und Ischariot II‹ eine ganz andere als im ›Kong-Kheou‹.

34 Ebenso blickt der Methusalem aus einer Zeitebene in die andere hinein, ohne daß dies vom Leser bemerkt wird!

35 Korrekt müßte der Satz lauten: Als die beiden unvorsichtigen Männer die Leute, welche durch die Tür kamen, erblickt hatten, war Turnerstick . . . ausgebrochen. – Karl May mag kein großer Stilist gewesen sein, aber die Consecutio temporum benutzt er doch in der vorliegenden Erzählung in aller Regel richtig. So z. B. auf S. 2 im ersten Satz des Rückblicks; auf S. 3 werden zur Differenzierung der verschiedenen Zeitebenen korrekt und konsequent Imperfekt und Plusquamperfekt verwendet; weitere Beispiele S. 4 und S. 18. Auch der Perspektivenwechsel in der Tempelbesuch-Episode wird sprachlich völlig richtig durchgeführt: Indessen hatte der Tong-tschi . . . gezeigt und war . . . gegangen (S. 485, Hervorh. W. K.). – Die Beispiele ließen sich vermehren. Allesamt zeigen sie, daß die eine Rückblende kennzeichnenden Sät-


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ze richtig im Plusquamperfekt stehen; oft erfolgt auch noch ein adverbialer Hinweis auf die Vorzeitigkeit durch inzwischen oder an jenem Vormittage. Das beweist wohl zur Genüge, daß an der diskutierten Stelle S. 498 kein Versehen vorliegt, sondern daß entweder der Rückblendencharakter absichtlich verschleiert wird oder das Verhalten des Erzählers folgendermaßen zu deuten ist: Er ist derart von der Perspektive des Methusalem eingenommen, daß ihm selbst das zeitliche Verhältnis der Vorgänge nicht recht bewußt wird. Auf jeden Fall darf man die Stelle so interpretieren, wie ich es tue.

36 Siehe Helmut Schmiedt: Der Jude Baruch. In: Karl Mays Orientzyklus. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Paderborn 1991, S. 185-94.

37 Ist der wehmütige Abschied, den die Reisenden vom ›Reich der Mitte‹ nehmen (S. 818), nicht das schönste Kompliment für dieses Land und seine Bewohner?

38 Die Begriffsreihe fußt auf dem Vortrag von Gerhard Neumann: »Ich spreche überhaupt alle Sprachen, wie ihr von früherher wißt.« Die Kunst des Anfangs in Karl Mays Romanen. In: Jb-KMG 1993, Husum 1993, S. 135-70.

39 Vgl. etwa die Voraussage Helmers’ am Ende des 2. Kapitels von ›Der Geist des Llano estakado‹!

40 May: Kong-Kheou, wie Anm. 1, S. 82, linke Spalte, Zeile 18; May: Der blau-rote Methusalem, wie Anm. 2, S. 49, fünftletzte Zeile

41 Editorischer Bericht. In: Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 2: Kong-Kheou, das Ehrenwort. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 551

42 Ebd., S. 552

43 Ebd.

44 Ebd., S. 551f.

45 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903, S. 189f. – Zur Beziehung May – Fehsenfeld vgl. ausführlich Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895-1905. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 12. Ubstadt 1989, S. 189-95.

46 So der Ich-Erzähler auf die Fragen des Ustad: »Du bist Old Shatterhand?« und »Du bist Kara Ben Nemsi Effendi?« in: May: Silberlöwe IV, wie Anm. 45, S. 67.

47 Aus Mays ›Danksagung‹ zum Geburtstag 1906 ›An meine lieben Gratulanten‹; zitiert nach Wollschläger, wie Anm. 10, S. 139; mit dem ersten Bande ist Mays Drama ›Babel und Bibel‹ gemeint.


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