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BRIGITTE FLEISCHMANN

Pueblo, Tomahawk und Pemmikan
Karl Mays ›Archäologie‹ der Welt der Apache*



Für Liebhaber und Kenner des Westernfilms oder der Westernliteratur gestaltet sich eine Reise durch Texas, New Mexico oder Arizona nicht selten zu einer Spurensuche, einer Suche nach der Bestätigung der Bilder, die durch die Fiktionen kreiert wurden. Das dabei entstehende Gefühl eines déjà-vu spricht nicht notwendigerweise für die Zuverlässigkeit der filmischen und textuellen Quellen, wohl aber für die Wirkung einer Darstellungsweise, die sich vornimmt, eine Atmosphäre der Andersartigkeit zu vermitteln und die Mängel ihres Realitätsbezuges mit Hilfe von Abbreviaturen geschickt zu verschleiern. Das Erlebnis der Vertrautheit ist jedoch nicht nur auf die ›erfolgreiche Vagheit‹ der Texte und die entsprechende phantasievolle Bereitschaft der Spurensucher zurückzuführen, sondern auch auf das Phänomen, daß die fiktiven Konstrukte der Vergangenheit nicht ohne Wirkung auf die spätere Gestalt der indianischen Existenz blieben: Die kulturellen Ausdrucksformen, insbesondere die des indianischen Artefaktenmarkts, sind zumindest in ihrer auf den Tourismus zugeschnittenen Variante Adaptionen an die Erwartung all jener, deren Vorstellungen vom Indianertum ihren Ursprung im Mythos haben. In diesem Kontext sollten auch die Folgen des Panindianismus nicht vergessen werden, der sich in seiner eher trivialen, unpolitischen Version häufig der Formen und Symbole bedient, die nach Meinung der nicht-indianischen Umwelt als prägnante Merkmale der Kultur der ›ersten Amerikaner‹ gelten. Federschmuck, Powwow, Tomahawk, Wigwam, sogar der Mutter-Erde-Mythos wurden zu Zeichen einer angeblich alle Stämme umfassenden kulturellen Einheitlichkeit, die es nie gab, die jedoch aus politischen und künstlerischen Gründen wünschenswert erschien. Und eben solche von Freund und Feind aufoktroyierten Zeichen werden und wurden von Strategen indianischer Herkunft zur Selbstdarstellung benutzt, um so ein nach außen hin verständliches, weil bereits vertrautes Bild der indianischen Apartheid zu vermitteln.

   Ohne weiter auf die kulturanthropologischen Begründungen für einen solchen Konsensus zwischen exogener Stereotypisierung und endogener Selbstidentifizierung eingehen zu wollen, möchte ich behaup-

* Vortrag, gehalten am 15. 10. 1993 auf der 12. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Dresden.


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ten, daß es unter anderem dieses Phänomen ist, das uns dazu verleitet, Indianerromane wie Abbildungen von Wirklichkeit zu lesen, selbst dann, wenn wir wie im Fall Karl Mays die Entstehungsbedingungen seiner Erzählungen kennen und nicht eigentlich gewillt sind, dem Anspruch des Autors auf Glaubwürdigkeit zu folgen.

   Anläßlich einer Konferenz, die vom Native American Studies Department der University of New Mexico 1982 in Albuquerque zum Thema ›Das Image des Indianers in Europa‹ ausgerichtet war, rangen sich die äußerst kritischen indianischen Teilnehmer letztlich das Eingeständnis ab, daß sie Karl May als einen Märchenerzähler betrachteten, der jedoch bemüht war, den Anschein von Authentizität zu erwecken, und dies nicht ohne Erfolg. Dies ist ohne Zweifel eine zaghafte Würdigung. Aber es gibt auch Beurteilungen, die euphorischer klingen. So charakterisiert z. B. Heinz Stolte Mays Reiseromane als ein »Genre, von dem man sagen könnte, es sei gedichtete, d. h. in epische Kunstform transponierte Geographie«.(1) Und Hans Plischke schreibt: »Man muß seine erd- und völkerkundlichen Vorarbeiten (. . .) und die sie formende Vorstellungskraft anerkennen.«(2)

   Der völkerkundliche Aspekt, d. h. insbesondere Karl Mays Umgang mit dem Teilbereich ›materielle Kultur‹ ist es, mit dem ich mich im folgenden beschäftigen möchte. Mein Interesse gilt nicht so sehr der Frage, wie getreu sich der Autor an ethnographische Vorbilder hält, sondern vielmehr der Frage, welche Lesearten die angebotenen ethnographischen und pseudoethnographischen Daten anregen können. Im folgenden handelt es sich also eher um Impressionen als um analytisch abgesicherte Erkenntnisse.

   Nach langer Karl-May-Abstinenz war ich überrascht, festzustellen, daß die Referenzen auf die materielle Kultur der Indianer, was Umfang und Häufigkeit der Erwähnung angeht, eine untergeordnetere Rolle spielen, als ich in Erinnerung hatte. Überraschend schien mir auch, daß der Autor häufig an die Beschreibung der Erscheinungsformen mit relativ sparsamen sprachlichen Mitteln heranging und weniger Adjektive benützte, als es sonst seinem Stil entsprach. Diese Kargheit hat u. a. vermutlich damit zu tun, daß er die Quellen, die ihm zur Verfügung standen, mit gewisser Vorsicht benutzte. Die damaligen Berichte von der Frontier New Mexicos waren bruch-stückhaft, nicht selten widersprüchlich oder waren unverkennbare Fiktionalisierungen. Trotz der Akribie, mit der in den vergangenen hundert Jahren Materialien über die Stämme des Südwestens zusammengetragen wurden, wird die Dokumentenlage (insbesondere die Mescalero Apache betreffend) noch keinesfalls als zufriedenstellend betrachtet. So erfahren wir aus jüngeren und jüngsten Publikationen, daß es zwar häufige Hinweise auf die Mescalero in Büchern, Reiseberichten und Aufsätzen gibt, jedoch wenig Studien,


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die sich exklusiv und in umfassender Weise mit diesem Stamm befassen.(3)

   Der Eindruck der relativen informativen Kargheit läßt sich zudem auf eine Ökonomie des Schreibens zurückführen, die ihre Verwandtschaft mit den Konventionen des Westerns nicht leugnen kann. Das Ergebnis der Treue zum Genre und einer unsicheren Ethnographie ist eine im Grunde nützliche Vagheit, nützlich, weil die Aussagen Karl Mays zum Zustand der materiellen Kultur der Apache suggestiv bleiben, der Phantasie des Lesers freien Raum lassen und sie doch in dem Glauben wiegen, in eine fremdartige Welt eingeführt worden zu sein.

   Eines scheint sicher: Die Aufzählung und Beschreibung von Objekten weist über sich hinaus. Wenn sich unser Autor auch in diesem oder jenem Einzelfall über die Bedeutung seiner ›Abbildungen‹ ausschweigen mag, so setzt er doch im Verlauf des Erzählens genügend Signale, die es dem Leser erlauben, Zusammenhänge zu erstellen, die über das ausdrücklich Gesagte hinausgehen. Neben den auktorialen Hinweisen und neben unseren Erfahrungen als Leser von Literatur sind es vor allem die Erkenntnisse der sogenannten ›material culture studies‹, die zu einer solchen Interpretation des scheinbar Faktuellen ermächtigen. Die Vertreter dieser Subdisziplin der Amerikanistik gehen von der Überzeugung aus, daß die von Menschen geschaffenen Gegenstände und die Veränderungen der natürlichen Umwelt als ›Surrogate kultureller Ideen‹ (Fred Kniffen) gelten können – eine Wahrheit oder Annahme, die unreflektiert Teil unseres Alltagswissens ist. So darf es nicht verwundern, daß auch Karl May gleichsam auf diesem Instrument spielte und Dinge zu Trägern von Botschaften machte. Daß die beschriebenen Gegenstände nicht so sehr einen Schlüssel zur Apache-Kultur darstellen, sondern vielmehr zur Weltanschauung des Karl May, ist nicht notwendigerweise als Schwäche zu werten: Die Vereinnahmung des Fremden ist ein dichterisches Privileg. Mays Referenzen auf Objekte sind als Teil einer Strategie des Erzählens erkennbar, die auf Belehrung zielt, die den Stellenwert von Personen und Ereignissen hervorheben und letztlich ein Ethos vorstellen oder legitimieren will.

   Nirgendwo wird diese Absicht deutlicher als in Mays Spätwerk ›Winnetou IV‹ (das auch unter dem Titel ›Winnetous Erben‹ veröffentlicht wurde). Hier finden wir im Vergleich zu Mays früheren Werken nicht nur lange deskriptive Abschnitte, sondern auch explizite, vom Autor unmißverständlich vorgetragene Interpretationen des Beschriebenen. Ich beziehe mich vor allem auf die Episode um die Errichtung der Winnetou-Statue und die Charakterisierung der Stadt am Mount Winnetou. Dieser Teil der Erzählung ist ein Dokument der Enttäuschung. Er steht für das Unbehagen eines Produzenten von Fiktion, der zum ersten Mal mit der Wirklichkeit konfrontiert wird, die in seiner Phantasie eine fixe Gestalt angenommen hatte. Es ist das Kla-


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gelied eines Mannes, der eine Vision einer idealen Akkulturation (das Ideal einer neuen germanisch-indianischen Rasse) propagiert hatte und nun feststellen mußte, daß der Prozeß der Anpassung eine kaum kontrollierbare Eigengesetzlichkeit entwickelte. Interessanterweise schildert May nicht den Kulturverfall, wie er ihn auf seiner Reise beobachtet haben mußte – Selbstaufgabe, Pathologien, Verarmung, Alkoholismus der Indianer – , sondern eine Entwicklung, in der die Absage an die Traditionen, der Verlust des Spirituellen, mit einer wahren Gigantomanie einherging. May bestätigt die damals gängige Meinung, daß es sich bei den Indianern um eine sterbende Rasse handelte. Ursache und Zeichen ihres Unterganges ist in seiner Darstellung die Zuwendung zum Künstlichen, zu den Exzessen der Zivilisation, zur Technologie und – zum Panindianismus: Der Mikrokosmos Winnetou-City ist als Symbol der Einheit der Stämme konzipiert, obwohl die Interessen dieser Stämme wie eh und je unvereinbar sind.

   Was zudem auffällt, ist, daß unser Autor bemüht ist, das Schicksalhafte des Niedergangs der indianischen Völker herauszustellen. Ihr Fall ist vorprogrammiert; er ist bereits in der Vergangenheit, in der Prähistorie, angelegt. May liefert über die Architektur des Südwestens die Evidenz für seine These. Im Gegensatz zur Bewunderung, die Experten und Öffentlichkeit den Monumentalbauten von Pueblo Bonito, Mesa Verde, Montezuma Castle u. a. zollten, sieht May vorwiegend ominöse Zeichen. Aus der Sicht der Archäologie gelten diese prähistorischen Wohnwelten als ein beeindruckendes Dokument von Synkretismus sowie einstiger Größe: Hervorgehoben wird in der einschlägigen Literatur das Nebeneinander von Baustilen, die vom einfachen Windschutz bis hin zur turmhohen ›Großartigkeit‹ des Felsenpalastes reichen. An den Anlagen ist erkennbar, daß es sich um Schöpfungen einer sozial differenzierten Gesellschaft handelte. Soweit die Meinungen der Bewunderer.

   Schon bei der Annäherung an das Objekt Winnetou-City wird die kritische Haltung des Betrachters Karl May, dessen Desillusionierung von seiner Frau Klara geteilt wird, deutlich. Die Analogie zu europäischen Entsprechungen, die der Erzähler erstellt, scheint zunächst harmlos genug, endet jedoch in einer abschließenden Bemerkung, die einen Vorgeschmack auf die später folgende Argumentation, auf den Abbau eines Mythos, gibt: Der Boden, auf dem wir ritten, glich keineswegs einem Wildnispfade, sondern einer alten, jämmerlich ab- und ausgefahrenen deutschen Dorfstraße, auf welcher schwere Lastwagen verkehren. Es gab tief eingeschnittene Wagengeleise und Pferdespuren, die darauf schließen ließen, daß die hier transportierten Lasten nicht ohne Tierquälerei bewegt worden waren.(4)

   Mit einem Wort – Tierquälerei – wird hier die gängige ›Lore‹ von der Naturnähe der Indianer, von der Heiligkeit allen Lebens, in Frage ge-


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stellt. Im folgenden ist von der Verstümmelung der Natur die Rede, von Ölpumpen, die die Landschaft entstellen, von Steinbrüchen, die wegen des Kolossalbaus angelegt werden, von einem Wasserfall, der in Ketten geschlagen (S. 398) wird. Zunächst mag man sich noch von dem Eindruck leiten lassen, daß all diese Verwirrungen und Verletzungen indianischer Prinzipien letztlich das fatale Ergebnis des Einflusses von außen seien. Doch dieser Eindruck verflüchtigt sich, sobald wir zur Beschreibung des Pueblos und zu den begleitenden auktorialen Kommentaren kommen.

   Von einigen Übertreibungen und historischen Ungereimtheiten abgesehen, unterscheidet sich Karl Mays Schilderung von Winnetou-City nicht entscheidend von der eines geschulten objektiven Betrachters:

Das »Schloß« bestand nicht etwa aus nur einem oder nur einigen Gebäuden. Es bildete eine Felsenstadt für sich. Die Jahrhunderte und Jahrtausende hatten an ihr gebaut. Darum waren alle amerikanischen Bauarten und Baustile hier vertreten, von dem erstbewohnten Felsenloche und der ersten Kordillerenhütte bis zur altperuanischen Festung, zum altmexikanischen Versammlungshause und zum steinernen Wigwam nördlicher Gegenden. Es gab da gewaltige Felsen- und Adobeswerke nach Art der Pueblostämme . . . Da ragten Mauern, die aus noch größeren Riesensteinen bestanden, als ich z. B. in Baalbek und anderen berühmten orientalischen Orten gesehen hatte. Wir ritten an allen möglichen indianischen Zelten, Hütten, Häusern, Palästen, Balkonen, Veranden, Dächern, Tennen, Scheunen und Schuppen vorüber, die sich wie ein langgestrecktes, festes Mauerband um die Höhe des Berges legten und als steinerne Grüße aus uralter Zeit hinunter in die Tiefe schauten, wo in der Ober- und Unterstadt das kleine Volk der Gegenwart sich mit allen Kräften dagegen wehrte, endlich einmal größer werden zu sollen. Aber so aufrichtig ich die rote Rasse liebe und so gern ich nur Gutes, Edles und Großes von ihr berichten möchte, so muß ich doch der Wahrheit die Ehre geben, und darum offen bekennen, daß alle diese Bauwerke trotz ihrer teilweisen Riesenhaftigkeit mir doch so niedrig und so geistesabwesend vorkamen, daß sie mir weder imponieren, noch mich erfreuen konnten. Sie machten alle einen so – so – – indianischen Eindruck auf mich. Es war nichts an ihnen, was zum Himmel strebte. Wir sahen so wenig Fenster. Es gab kein Verlangen nach freier, gesunder Luft, nach Licht und Tageshelle. Und es gab unter allen diesen Gebäuden kein einziges, welches gleich einer Kirche oder einer Moschee empor zur Höhe strebte. Hiervon bildete der Wachtturm die einzige Ausnahme; aber sein Zweck wies doch auch nur nach unten, nicht nach oben. Er war zur Beherrschung der Tiefe da, nicht aber als Fingerzeig für ein geistiges Aufwärtsstreben.

   . . . Und hier lag das ungeheure Leid einer ganzen, großen, fast untergegangenen Rasse in untrüglichen, steinernen Beweisen vor unsern Augen! Selbst der Wachtturm hatte nicht eigentlich Turmesgestalt, sondern er bildete ein niedriges, vierseitiges Prisma mit vollständig ebener Dachfläche. Die Indianer haben keine Türme, keine Minareh. Sie haben die Winke ihrer Riesenbäume nicht verstanden; sie haben keine Dome gebaut. So sind sie auch geistig an der Erde geblieben. Sie sahen den Vogel fliegen. Der Adler stand ihnen hoch. Ihr stolzester Schmuck bestand aus seinen Federn. Aber es ihm nachzutun und sich über den Boden zu erheben, dieser Gedanke bewegte sie nicht. Fliegen lernen! Fliegen lernen! Wer das


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nicht will, bleibt unten, sei er Volk oder sei er Person. Die andern überholen ihn. Er aber kriecht auf der Erde weiter und wird in ihr so ganz und gar verschwinden, daß von ihm kaum ein Gedächtnis übrig bleibt. Das ist das Schicksal des Indianers, wenn er nicht im letzten Augenblick noch fliegen lernt. (S. 415ff.)

Der hier zur Schau getragene Pessimismus weicht von dem entsprechender zeitgenössischer Traktate ab, die den Indianern und Naturvölkern aus Gründen einer unüberwindbaren und unkorrigierbaren mentalen Unterlegenheit die Fähigkeit zur Zivilisation absprechen. Karl May bemüht sich, eben diese essentialistische Erklärung auszuschließen, als er unmittelbar nach der Beschreibung der Stadt fortfährt:

Dieser Eindruck des Felsenschlosses wurde dadurch gemildert, daß es wohlbevölkert war . . . Die Männer genau wie Winnetou gekleidet, . . . auch die Frauen außerordentlich sauber und intelligenten Auges, die Kinder ebenso. Nirgends die indolenten Papusengesichter, denen man anderwärts begegnet. Und auch nirgends auf den Gesichtern der Ausdruck der stummen Klage oder jenes nationalen Trübsinnes, der auf jede Freude und auf alles Glück verzichtet zu haben scheint. Ich sah nur intelligente Züge, nur heitere Mienen. (S. 417f.)

Was diesem Volk auf geheimnisvolle Weise fehlt, ist der élan vital, und damit die Bereitschaft, das richtige von außen herangetragene Angebot zum kulturellen Aufstieg anzunehmen. Beweis für die Anfälligkeit und die mangelnde Immunisierung gegen ›Zivilisationsschäden‹ ist das Projekt einer Kolossalstatue, durch die Winnetou verherrlicht werden soll. Karl Mays Beschreibung dieser Statue ist im Wortlaut fast eine Kopie der Textstellen, in denen er Winnetous Auftritte in der Vergangenheit immer wieder inszeniert hatte. Doch die Skulptur erweist sich als Fälschung von Wirklichkeit; nicht weil ihr die formale Mimesis nicht gelingt, sondern weil in dem Bemühen, ein Symbol zu schaffen, die Spiritualität verlorengeht.

Mein erster Blick war nach dem Gesicht Winnetous. Es war getroffen, überraschend getroffen. Und doch erschien es mir fremd. Es waren seine Züge, ganz genau seine Züge; aber . . . sie zeigten einen fremden Ausdruck, der ihm im Leben niemals eigen gewesen war. Dieser Ausdruck harmonierte allerdings mit der aggressiven Bewegung, welche der Figur von ihren Verfertigern erteilt worden war. Die Kleidung war mit peinlichster Gewissenhaftigkeit ausgeführt. Die mit Stachelschweinsborsten geschmückten Mokassins, die gestickten Leggins, der eng anliegende, fast faltenlose, lederne Jagdrock, die über die Schulter geschlagene, prächtige Santillodecke, unter welcher die Schlingen des von der rechten Achsel nach der linken Hüfte gehenden Lassos hervorschauten. Am Gürtel hing der Pulver- und Kugelbeutel früherer Zeit. Daneben steckte das Messer, unweit davon eine Pistole und ein Revolver. Den rechten Fuß wie zum Sprunge vorgesetzt, stützte sich die Figur auf die in der linken Hand gehaltene Silberbüchse, während die rechte Hand einen geladenen zweiten Revolver drohend vorstreckte. In dieser vorwärts strebenden Bewegung hatte die Gestalt etwas aal- oder schlangenhaftes. Oder man dachte an einen Panther, der sich aus seinem Hinterhalt hervorschnellt, um sich auf die Beute zu stürzen. (S. 445f.)


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Bezeichnenderweise sind die Schöpfer der Statue Produkte aus einer Fusion von Rot und Weiß. Ihr Werk beweist, daß eine fehlgeleitete Akkulturation eigenartige Früchte hervorbringt. Sie schaffen ein künstliches Symbol der indianischen Identität, dessen Wirkung auf den Raffinessen einer modernen, unindianischen Technologie beruhen soll. Das geplante Spektakel – elektrische Beleuchtung, Feuerwerk und Wasserspiele – ist Ausdruck einer Geschmacksverirrung, in der sich Barbarei und zivilisatorische Hybris paaren. Das politische Ziel der Schöpfer dieser Peinlichkeiten, die indianischen Nationen unter dem Symbol ›Winnetou‹ zu einen, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt.

   Karl May nimmt die Mängel der künstlerischen Konzeption zum Anlaß, seine Vision eines kontrollierten Kulturkontaktes zu entwerfen (eine Vision, die sich am Ende des Buches tatsächlich als Soteriologie entpuppt). Sprachrohr für seine politischen Vorstellungen ist der weise Athabaska: »Es ist der größte aller Fehler, grad Bleichgesichter, die unsere Rasse lieben, von den Beratungen am Mount Winnetou auszuschließen. Kein Mensch steigt ohne die Hilfe anderer Menschen empor. So auch die Völker, die Nationen, die Rassen. Streicht euren steinernen Winnetou und euch so rot an, wie ihr wollt, Ihr werdet durch alle diese Röte es doch nicht verhüten, daß ihr dann gezwungen seid, über euer törichtes Werk noch tiefer als tief zu erröten!« (S. 397)

   In dieser Atmosphäre der Ernüchterung angesichts der indianischen Wirklichkeit leidet sogar die Erinnerung an Winnetou in seiner Funktion als Mittler zwischen den Kulturen. May zeichnet zwar ein pietätvolles Bild des ›Heiligtums‹, das einst das Refugium des Apache-Häuptlings war. Aber er vermittelt den Eindruck, daß dessen Größe auf der einmaligen Fähigkeit und Chance beruhte, das Beste zweier Welten zu verbinden; Ausdruck dieses Synkretismus ist das Ambiente, das Winnetou sich geschaffen hatte, das Haus, das der Erzähler als halb indianisch und halb europäisch (S. 429) beschreibt. In die Schilderung dessen Lebensraums mischt sich eine Prise Herablassung und Mitleid für die letztliche Vergeblichkeit seines Strebens nach Höherem. Über diesen Trend hin zur teilweisen Dekonstruktion des Mythos Winnetou kann auch der Rekurs des Autors auf die Sprache der früheren Indianerromane nicht hinwegtäuschen: Nach einer relativ detaillierten Auflistung der Gegenstände in dem Gebäudeteil des Pueblos, in den sich einst Winnetou aus der Natur und damit aus dem natürlichen Zustand zurückgezogen hat, konzentriert sich die Aufmerksamkeit des Erzählers auf den Arbeitsraum.

Darunter zwei Photographien, die ich für gut getroffen gehalten hatte. Jetzt waren sie ziemlich verblichen. An der einen Wand hingen wohl gegen 20 Blätter mit Versuchen, diese Photographien nachzuzeichnen . . . »Seine Hand ist nicht talentlos gewesen. Er traf, war aber ungeübt, noch nicht einmal Schüler! Es ist das so


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außerordentlich rührend!« In der Arbeitsstube stand – – ein Schreibtisch, ja, wirklich ein Schreibtisch, mit Kästen, Federn, Tinte und vielem Papier. Die Tinte war eingetrocknet. Hier hatte er, der Herrliche, sich im Schreiben geübt. Hier war er, der Bändiger der wildesten Pferde, der Meister im Gebrauche einer jeden Waffe, auf die Jagd nach orthographischen Schnitzern gegangen! (S. 429)

Wie nie zuvor ist Karl May in seinem Spätwerk bemüht, keinen Zweifel darüber zu lassen, welcher Art seine Botschaft ist. Um nicht mißverstanden zu werden, verzichtet er darauf, das Deskriptive für sich selbst sprechen zu lassen: Er kommentiert und interpretiert. Und er will es nicht wie in früheren Texten dem Leser überlassen, sich ein Bild von der Gegenwart und Zukunft des Indianers zu machen. Er liefert mit der verbalen Abbildung der materiellen ›Wirklichkeit‹ der indianischen Gegenwart – im vorliegenden Fall der Wirklichkeit Winnetou-City – gleichzeitig seine auktoriale Interpretation oder zumindest kleine auktoriale Subversionen. Die Kontrolle, die May in seinem Spätwerk über den Leser ausübt, ist in den frühen Indianerromanen nur bedingt oder sporadisch spürbar.

   Da sich mit der Lockerung der Kontrolle durch den Autor der Spielraum möglicher Assoziationen für den Leser merklich erweitert, soll im folgenden lediglich ein Katalog der prominentesten von Karl May angesprochenen Bereiche materieller Kultur zusammen mit einigen Interpretationsmöglichkeiten angeboten werden. Lassen Sie mich zur Einleitung dieses Teils der Abhandlung, zum Thema ›Pueblo‹, zurückkehren, das in der Erzählung von Old Shatterhands Besuch von Winnetou-City eine so zentrale Rolle spielte. Die Pueblos seiner ideologisch unbeschwerteren Erzählungen wiesen keine Merkmale der Gigantomanie auf, die Karl May in ›Winnetou IV‹ anprangert. Wenn von der Puebloarchitektur die Rede war, dann geschah dies, um den Glanz einer Phantasiewelt zu erhöhen oder um seinen Wahrheitsanspruch durch einen Rekurs auf die europäischen Lesern vertrauten Bilder der Neuen Welt zu erhärten oder um zu demonstrieren, wozu Völker auf einer niedrigen Evolutionsstufe fähig sind, wenn sie durch eine Bedrohung von außen herausgefordert werden. Gleichzeitig dienen die Referenzen auf die Fels- und Adobebauten einem dramaturgischen Zweck. Um die Routine konventioneller Verfolgungsjagden zu unterbrechen, erfindet oder rekonstruiert der Autor z. B. eine Pueblo-Fluchtburg, ein wahres Labyrinth aus Räumen und Etagen, die nur über Leitern zu erreichen sind, mit einer Ausstattung, die ein ›glückliches Belauschen‹, eine spannende Flucht, eine Übertölpelung der Feinde erlaubt. Darüber hinaus wird der Pueblostil als so funktional und anziehend geschildert, daß er sogar nicht-indianische, d. h. mexikanische Siedler zur Nachahmung anregt, wobei zu bemerken ist, daß Mexikaner auf Mays Bewertungsskala nicht besonders hoch rangieren und damit schon eine gewisse Einschränkung der Bewunderung be-


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inhaltet ist. In ›Winnetou II‹ schildert May die Estancia del Caballero als ein Bauwerk, das im Stile der Moqui- und Zunni-Bauten errichtet worden war.(5) In die Beschreibung dieses eigenartigen, ästhetisch fragwürdigen und dem europäischen Geschmack fremden Baus mischt sich ein Element der Bewunderung für ausgeklügelte Schutzvorrichtungen und für die erfolgreiche Anpassung an Landschaft und Klima.

   Pueblos sind eine Ausnahmeerscheinung in einem Umfeld architektonischer Armut und Einfachheit: Relikte aus einer kulturell fruchtbareren Vergangenheit. Die baulichen Leistungen der zeitgenössischen Stämme halten einem Vergleich mit ihnen nicht stand. Sie sind im großen und ganzen Dokumente der Existenz einer nicht nur naturnahen, sondern an die Natur gefesselten Rasse, deren ökonomische Ziele und kulturelles Streben denkbar einfach sind. In den Hausformen drückt sich weder Permanenz noch Stabilität aus. Dies entsprach im wesentlichen auch der Wirklichkeit: Die Apache der Berggegenden hatten sogenannte wickiups, d. h. grasgedeckte Zweighütten; die Apache der Ebenen bevorzugten das tipi, beides Objekte, die einem nomadisierenden Dasein angemessen waren.

   Obwohl Einfachheit und Naturnähe der gemeinsame Nenner aller indianischen Behausungen zu sein scheinen, behält sich der Autor doch einen gewissen Spielraum für Differenzierungen vor. Die narrativen Unterscheidungen zwischen gut und böse, wild und diszipliniert, geordnet und chaotisch, freundlich und feindlich können daher auch in der Beschreibung indianischer Architektur ihren Niederschlag finden. Karl May bedient sich in diesem Zusammenhang einer Tradition der Beschreibung und Wertung, die sich im nordamerikanischen Raum bis auf die ersten spanischen Reiseberichte zurückverfolgen läßt: Feindseligkeit, mangelnde Moral, Wildheit haben ihr Pendant in einer strukturellen Regellosigkeit, in einfallslosen Mustern der Siedlungen, in Unsauberkeit. Dagegen tendieren freundliche Stämme dazu, ihre relative soziale und kulturelle Überlegenheit in Bauformen auszudrücken, die ein gewisses Maß von Ordnung, Planung und organisatorischem Talent suggerieren; die Gefälligkeit von Dörfern oder Lagern ergibt sich aus der Ordnung, nicht aus der Schönheit der Konstruktionen.

   Der Mangel an dekorativen Elementen in der Beschreibung der ›Architektur‹ wird ausgeglichen durch eine gewisse Detailfreude, wenn es um die Schilderung indianischer Kleidung und persönlicher Paraphernalien geht. Wenn der Autor auch mehr als einmal Seitenhiebe auf die phantasievollen Ausschmückungen seiner Schreiberkollegen – der Herren Verfasser(6) – verteilt und deren Sensationslust in diesem Kontext anprangert, so verzichtet er doch nicht auf die Möglichkeit, seine Leser in Staunen zu versetzen, die Fremdartigkeit des Aussehens seiner Helden und Antihelden zu betonen und an das ästhetische Empfinden zu appellieren. Ungeachtet seiner Proteste ge-


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gen die Stereotypisierung kann sich May nicht von den Formeln lösen, die der Amerikanist John Cawelti als für den Western typisch identifizierte: dem ›Dandyism‹ des Wilden und der eigenartigen Mischung von Nützlichem, Statussymbolen und Idiosynkrasien, die in der Kleidung des Mannes an der Frontier Ausdruck finden. Das Äußere seiner seriösen Helden, ob Westmann oder Indianer, ist eine Wildnisversion aus Dekorativem und Funktionalem – ist Zeichen »der Mittlerrolle des Helden zwischen Zivilisation und Barbarei«.(7)

   Manche seiner Gestalten zeigen eine ungezügelte Vorliebe für das Außergewöhnliche, Grelle oder Barbarische. Lächerlich oder abstoßend wird die Vorliebe für das schmückende Accessoire, wenn die Eigenwilligkeiten bis zum Exzeß getrieben werden und wenn der Schmuck zum äußeren Zeichen der Gewalt und Grausamkeit wird. Die Kleidung des Schurken ist für gewöhnlich in geringerem Maß am Nützlichkeitsprinzip orientiert. Die Häuptlinge der feindlichen Comanche und Blood tragen die Insignien ihrer Macht zur Schau – und die Insignien der ungezügelten Wildheit und Unberechenbarkeit: ein aufdringlich sichtbares Waffenarsenal, Fransen aus dem Haar getöteter Feinde und Skalps, die auf den Schultern gleich Epauletten(8) angebracht sind und vom Gürtel, vom Schopf baumeln.

   Der Erzähler ist bemüht, in Winnetou ein Gegenbild zu solchen Verkörperungen des Barbarischen zu schaffen, ohne den Eindruck von Macht und Stärke zu mindern und ohne den Appell an die Sinne zu vernachlässigen: Winnetou ist elegant. Seine Auftritte sind, wann immer es die Dramaturgie verlangt, von einer Schilderung seiner Erscheinung begleitet, die – einmal konzipiert – in der Folge wenig Variationen in Tenor und Wortlaut aufweist. Der Autor erstellt über die mehrfache Wiederholung einer ersten originären Version der Beschreibung seines Helden einen Echtheitsanspruch. In einem verletzt er allerdings die selbst auferlegten Regeln der Konsistenz; er ist zunehmend bemüht, die äußeren Zeichen einer kriegerischen und barbarischen Existenz zu verhüllen. Die Skalp-Fransen am Anzug seines Helden verschwinden letztlich aus der Beschreibung:(9) Sie bleiben Figuren vorbehalten, die auf der Seite des Bösen und Unkultivierten agieren. In dem Maß, in dem Winnetou für Selbstdisziplin und eine gerechte Ausübung von Gewalt zu stehen beginnt, werden Bowiemesser und Revolver diskret den Blicken entzogen. Verborgen in elaboraten Hüllen (das Tomahawk im Opossumfell), verletzen die Zeichen einer kriegerischen Haltung nun nicht mehr den Gesamteindruck von Harmonie, Sauberkeit und Ordnung. Als ästhetisch ansprechende Erinnerung an Kämpfe und Siege und als Hinweise auf seine Kulturzugehörigkeit dienen nicht Skalps, sondern die Klapperschlangenhaut im Haar des Helden und eine Kette von Grizzlykrallen um seinen Hals.

   Mit dieser auf eine Charakterzeichnung hin angelegten Beschrei-


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bung kam der Autor der Wirklichkeit der Apachekultur näher, als ihm wahrscheinlich bewußt war. De facto hatten die Apache wie fast alle athabaskischen Völker wenig Interesse daran, Skalps zu erwerben oder sich mit dem Haar oder Teilen aus der Beute toter Feinde zu schmücken. Die Angst vor der Ansteckung oder Verunreinigung durch die Toten war zu ausgeprägt. Das ist, so meine ich, eine zufällige Übereinstimmung zwischen Anthropologie und Fiktion. Karl May ließ sich nicht durch das Gebot einer korrekten Ethnographie in seinem Spielraum einengen. Materielle Gegenstände sprechen von den Eigenwilligkeiten und Eigenarten der Person und erlauben es dem Leser, die Gestalt einer der Kategorien zuzuordnen, auf der die Dramatik der Erzählungen aufbaut. Sie sind Bestandteile alltäglicher und ritueller Handlungen. Unblutige Lösungen von Konflikten werden oft nur dadurch möglich, daß die Helden mit der Bedeutung bestimmter Objekte im indianischen Denken vertraut sind. Connaisseurs wie Old Shatterhand und Winnetou gelingt es, Frieden zu erpressen, indem sie feindliche Häuptlinge ihrer Medizinen berauben, drohen, deren Medizinbeutel zu verbrennen, oder in anderer Weise auf die pseudomagische Geisteshaltung ihrer Kontrahenten eingehen (»Meine Medizin! Meine Medizin!« stammelte er; S. 549). Um der Unterscheidung zwischen Freund und Feind willen wird die eigentlich dominante Ideologie vom Indianer, der sich im Ringen mit der Natur seine ›primitive‹ materielle Kultur schafft, zeitweise unterlaufen. Immerhin sind die Apache Karl Mays erwähltes Volk, das einen Sonderstatus in der indianischen Welt einnimmt. Um dies zu verdeutlichen, scheut sich der Autor nicht, ihnen Leistungen zuzuschreiben, die die Indianer historisch nicht erbrachten, oder Leistungen, die anderen Stämmen vorbehalten waren.

   Dies gilt vor allem für die Beispiele der indigenen Technologie: Der Abbau von Mineralien, der Bau von acequias, d. h. von Bewässerungskanälen, und die geschickte Nutzung der Wasserkraft, von denen der Autor spricht, waren Teil des technischen Know-how der den Apache benachbarten Pueblos. Da die Apache ein nomadisierendes Volk waren, nur mit leichtem Gepäck reisten und nur in sehr begrenztem Maß Ackerbau trieben, lagen solche Erfindungen nicht im Bereich ihrer Möglichkeiten und ihres Interesses.

   So bewundernswert oder besser: bemerkenswert manche Leistungen der Indianer auch in Karl Mays Romanen erscheinen mögen, so bleiben sie doch zumeist im Vorzivilisatorischen stecken. Indianer sind fähig, einfache Landkarten herzustellen. Sie haben eine Briefform erfunden – das ›Sprechende Leder‹, nach der Weise der roten Männer mit der Messerspitze geschrieben und mit Zinnober gefärbt.(10) Aber ihre Schrift ist rudimentär, ein Sammelsurium aus Punkten, Kreuzen, Drei- und Vierecken und kindlich anmutenden Piktographien.

   Ein Wissenszweig und eine Fertigkeit, in der sich sogar eine gewisse


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Überlegenheit des indianischen Know-how manifestiert, ist die Heilkunst. Aber dieses Wissen bleibt weitgehend der außergewöhnlichen Figur Winnetou vorbehalten. Seine Apotheke ist die Natur, seine Fähigkeiten gehen über die der einheimischen Schamanen (die im übrigen in der Wirklichkeit vorwiegend Frauen waren) hinaus, und – was noch wichtiger ist – es handelt sich um eine Fähigkeit zum Guten, ohne Spur von Magie und ohne Spur jener Ambivalenz, die Heilen für gewöhnlich in sogenannten primitiven Kulturen auszeichnet.(11) Die Kunst zu heilen dient als ein weiterer Baustein in der Konstruktion einer mythischen Figur. Die Auflistung von Methoden und Mitteln des Heilens ist eine Ergänzung zu den über die Texte verstreuten Informationen zur natürlichen Umgebung der Apache und deren Umgang mit den Vorgaben der Natur, und sie ist ein Beitrag zur ›Lore‹ einer Menschlichkeit, die sie über andere Stämme erhebt.

   Die Alltagswelt der Apache war – so mein Eindruck aus der Lektüre der Erzählungen Karl Mays – noch relativ unverdorben durch den Kulturkontakt. Dies gilt für den bereits erwähnten Herbalismus, i. e. die Kräuterkunde, die noch nicht gegen die ernste Konkurrenz durch die westliche Medizin anzukämpfen hatte, und für die sogenannten foodways, kurz, die Speisekarte der Apache, deren exotischste Bestandteile, Bärentatze und Pemmikan, wohl jedermann bekannt sind. Obschon der Autor keinesfalls auf Vollständigkeit bedacht war, ließ sich aus der Summe seiner Hinweise auf die Ressourcen des Südwestens immerhin ein Kapitel eines Kochbuches füllen.(12) Manches ist noch immer Teil der Diät des Südwestens: Sage und Mesquite, Maisfladen, in Öl gebackenes Brot, Säfte aus der Yucca-Pflanze und aus den Früchten des Tuna-Kaktus. Es gibt Schlüsselszenen, in denen die Mühsal und Freuden der Nahrungssuche im Mittelpunkt stehen und einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich denke hier an Szenen am Lagerfeuer, Szenen, in denen durch Ausschluß oder Einbeziehung einer Person in den Kreis der Speisenden der Status dieser Person quasi festgeschrieben wird, oder an die Episode, in der Old Shatterhand, aus langer Bewußtlosigkeit erwacht, dank einer mehrmals am Tag verabreichten Fleischbrühe mit Maismehl(13) wieder zu Kräften kommt. Auch mit Blick auf die Beschreibung des Alltäglichen und Unspektakulären, auf die Nutzung natürlicher Ressourcen, ist festzustellen, daß der Autor die Sympathien der Leser zu lenken sucht. Erfindungsgeist, Ausschöpfung der von der Natur gebotenen Möglichkeiten, Feinschmeckertum, Sauberkeit der Zubereitung sind den Sympathieträgern und den fortschrittswilligen Stämmen vorbehalten. Je feindseliger und uneinsichtiger eine Gruppe agiert, desto größer ist die Distanz ihres Geschmacks von den Gaumenfreuden Europas. Am Ende der Skala steht die blanke Abscheu vor der Kost und der Lebensweise minderwertiger Sammlerhorden wie der California Diggers, die im


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übrigen de facto die Buhmänner der Literatur des Westens und der Anthropologie waren: den Tieren näher als den Menschen. Karl May läßt seine Helden vor der Diät der Diggers zurückschrecken, vor dem ekelhaften . . . Kammaskuchen der ›Grabindianer‹, den diese aus einer Wurzelzwiebel in halb verfaultem Zustande bereiten.(14) Die Frage nach der Überwindung des Naturzustandes und nach der Fähigkeit zur Zivilisation werden, wie man sieht, an die unterschiedlichsten Bereiche der materiellen Kultur gestellt.

   Die Erwähnung oder Beschreibung von Dingen dient disparaten Zielsetzungen, nicht zuletzt auch der Bestätigung einer Ideologie. Es lag nicht im Interesse des phantasievollen Gestalters, Realität zu reproduzieren und eine ›richtige‹ oder vollständige Ethnographie zu liefern. Karl May wählte zur Vermittlung seiner Botschaft die Formel, die Teilinformation, entschied sich – so könnte man sagen – für einen erfolgreichen Minimalismus.

   Einem Schriftsteller kann man weder Auslassungen noch Erfindungen zum Vorwurf machen. Selbst auf die Gefahr hin, mir den Zorn der Puristen in der Kulturanthropologie zuzuziehen, möchte ich behaupten, daß Fiktionalität auch ein unvermeidbarer Bestandteil echter Ethnographien ist, und dies nicht nur, weil die Sprache an der Wirklichkeit scheitert. Wenn wir uns diese Tatsache bewußt machen, wird es uns leichter fallen, nicht immer und in jedem Fall nach der Relation von Fakt und Fiktion zu fragen und statt dessen Karl Mays Ethnopoesie zu würdigen.



1 Heinz Stolte: Die Reise ins Innere. Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1975. Hamburg 1974, S. 20

2 Hans Plischke: Von Cooper bis Karl May. Düsseldorf 1951, S. 115

3 Vgl. Handbook of North American Indians. Hrsg. von William C. Sturtevant. Bd. 10. Southwest. Hrsg. von Alfonso Ortiz. Washington 1983, S. 438: »References to the Mescalero in books and articles of a general nature or mainly devoted to the study of other tribes of the Southwest are plentiful, but there are very few books and monographs that deal exclusively with the Mescalero or discuss their history and culture at great length.«

4 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXIII: Winnetou IV. Freiburg 1910, S. 406 – Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.

5 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VIII: Winnetou der Rote Gentleman II. Freiburg 1893, S. 230; vgl. S. 232f.

6 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIV: »Weihnacht!«. Freiburg 1897, S. 118

7 John G. Cawelti: The Six-Gun Mystique. Browling Green. Ohio 1970, S. 45

8 May: »Weihnacht!«, wie Anm. 6, S. 403

9 Man vergleiche die Stelle im ›Ölprinz‹: Die Leggins waren . . . mit dicken Fransen von Skalphaaren besetzt (Karl May: Der Oelprinz. Stuttgart o. J. (1897), S. 241; das Werk ist 1892 entstanden) mit der entsprechenden in ›Winnetou I‹: die Nähte seiner Leggins und des Jagdrockes (waren) mit feinen, roten Nähten geschmückt (Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou der Rote Gentleman I. Freiburg 1893, S. 109).


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10 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896, S. 301

11 Vgl. etwa May: Winnetou II, wie Anm. 5, S. 239: Winnetou, so läßt der Erzähler berichten, sei ein Meister in der Behandlung von Wunden. Er habe heilsame Kräuter aufgelegt . . .

12 Horst Scharfenberg: Zu Gast an fremden Feuern. Bamberg 1975

13 May: Winnetou I, wie Anm. 9, S. 315

14 Karl May: Der Sohn des Bärenjägers. In: Der Gute Kamerad. 1. Jg. (1887), S. 426; Reprint der Karl-May-Gesellschaft 1983


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